Birgit Seitz

Die Verachtung

Die Verachtung

Manchmal frage ich mich, wohin die Verachtung verschwunden ist. Ich meine, mich daran zu erinnern, dass sie doch noch vor kurzem da war. Aber wenn ich dann nachsinne, wann ich sie das letzte Mal gespürt habe, vermag ich nicht mehr, mich an einen genauen Zeitpunkt zu erinnern. Ich kann nicht mehr benennen, ob es lange her ist oder nur einen Augenblick.

Jahrelang habe ich sie gepflegt, habe sie an meine Seite gestellt und ihr befohlen, dort zu bleiben. Nicht auf die Art, dass ich sie gebeten hätte, zu mir zu kommen und sie dann nicht mehr losgelassen hätte. Sie kam zu mir, von allein, ungebeten, plötzlich spürte ich sie. Sie schien schon länger dort zu sein, aber weil sie ein bislang fremdes Gefühl war, konnte ich sie nicht gleich erkennen. Meine Wut, die einstmals der Verachtung Platz gemacht hatte, hatte sich unerwartet von mir verabschiedet. Dieses Gefühl der Wut, diesen Zorn, schon beim Anblick dieses Menschen, von dem ich meinte, er würde nur existieren, um mir mein Leben schwer zu machen – es muss sich unmerklich aufgelöst haben. Ob ich es hätte festhalten können? So, wie ich es danach jahrelang schaffte, die Verachtung festzuhalten?
Wissen Sie, Verachtung kostet Kraft. Wut kostet noch viel mehr Kraft. Ob meine eigene Seele mir zur Auflage gemacht hatte, ab jetzt zu verachten und nicht mehr zu wüten? Nein, es war sicherlich nicht meine Seele, vielmehr war es meine Selbstachtung? Aber nein, meine Selbstachtung kann es auch nicht gewesen sein, die der Wut den Platz eingeräumt hatte und letztendlich die Verachtung eingeladen hatte, zu bleiben. Meine Selbstachtung verbietet doch solcherlei Gefühle? Meine Selbstachtung strebt doch nach Professionalität? Da kann sie sich doch so etwas nicht erlauben? Wut ist niemals professionell, Verachtung kann es demnach auch nicht sein.

Aber eigentlich ist die Frage danach, was Wut und Verachtung zuließ, zweitrangig. Nun, wo sich die Verachtung leise davongeschlichen hat, frage ich mich nur, wie ich das Fortgehen zulassen konnte. Sie hat mich beschützt, die Verachtung. Sie – diese klarere Form von Widerwillen, hat mich davor beschützt, angreifbar zu sein. Unmenschlichkeit und Destruktivität konnten mir nichts anhaben, denn ich hatte sie an meiner Seite. Ich habe sie ja auch gepflegt. Was man pflegt, schätzt man wert. Und meine Wertschätzung galt ihr, einfach nur deshalb, weil sie sich zwischen das, was schlecht war und das, was in mir ist und was es zu schützen galt, gestellt hatte. Nein, sie hatte nicht sich gestellt – ich hatte sie dahin gestellt. Nur manchmal musste ich laut rufen, um mich zu vergewissern, ob sie noch da sei. Eine treue Begleiterin, eine Freundin, eine Beschützerin.
Nun ist sie verschwunden, wahrscheinlich schon länger, aber ich habe es erst jetzt gemerkt.

Nicht, weil das, was es zu schützen galt, nun nicht mehr zu schützen gilt, nein. Auch nicht, weil das, wovor es zu schützen galt, nun nicht mehr existiert. Auch das ist noch da. Aber, und wahrscheinlich hat deshalb die Verachtung gemeint, nicht mehr gebraucht zu werden, die existente Bedrohung ist keine mehr. Kennen Sie das? Jahrelang meint man, eine Bedrohung wäre groß und monströs. Man schützt sich, so gut es geht. Und dann irgendwann, in einem ganz kleinen Moment, wird man gewahr, dass die Bedrohung nur deshalb so groß war, weil man zu nah an ihr dran war. Ein kleiner Rückschritt – und das Große wird klein. Manchmal sogar ganz klitzeklein, obwohl man nur einen Schritt zurück gegangen ist. Erstaunlich. Ja, das ist es.
Vielleicht war die Verachtung auch erstaunt. Wenn ja, habe ich es nicht gespürt. Aber die Bedrohung habe ich gespürt – wie sie seufzend in sich zusammengesunken ist, wie ein Luftballon, in dessen Gummiwand man die Nadel hineingestoßen hatte.
Eigentlich war es klar: Ich halte einen Ballon auch von mir fern, wenn ich die Nadel hineinstoße. Und plötzlich ist sie nur noch eine schlabberige Hülle. Existent, aber leer. Erstaunlich, ja. Und amüsant.
Die Verachtung war groß. Sie hinterlässt eine große Lücke.
Ich denke, Mitleid kann ihren Platz einnehmen.

© Birgit Seitz, Februar 2005

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.03.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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