Volker Winkler

Der Auftrag

Er war am Ende. Am Ende seiner Geduld. Am Ende seiner Beziehung. Am Ende seiner Gedanken. Am Ende all seiner Bemühungen, ein glückliches Leben zu führen.
Pacco stierte auf den leicht flimmernden Monitor seines Computers. Die blauschwarze Internetseite mit eisblauer Schrift baute sich vor seinen trüben Augen auf. Teilnahmslos beobachtete er, wie die Bilder und Texte auf dem Bildschirm erschienen und ergriff langsam die Maus. Kleine Rauchwolken stiegen von der weit heruntergebrannten Zigarette in seiner linken Hand auf, die noch immer ihre volle Länge besaß, jedoch zur Hälfte aus Asche bestand. Lautlos fiel sie zu Boden und brannte sich in den vergilbten grauen Teppich. Pacco blickte noch immer apathisch gerade aus.
Da stand es. “Professionelle, diskrete Auftragserfüllung innerhalb von 48 Stunden zu gewünschtem Zeitpunkt“ stand da in riesigen Lettern, deren Farbe eiskalt ins Auge stachen. Er klickte auf einen dunkelblauen Button am linken Rand der Seite: „Ihre Auftragsübersicht“. Eine weitere Seite, in schlichtem grau mit schwarzer Schrift gehalten, öffnete sich. In der Mitte des Monitors erschien eine Digitaluhr.
Paccos Augen wanderten über die Ziffern. Ihre Konturen zeichneten sich klar vor dem Hintergrund ab. Sie waren nicht groß und wirkten keinesfalls bedrohlich, und doch begann sein Herz schneller zu schlagen, eine Erregung, wie schon lange nicht mehr. War es Angst? Vorfreude?  Machtgefühl? Er las die Zeit laut vor: 5 Stunden, 10 Minuten, 34 Sekunden. Sie lief rückwärts.
Zum letzten Mal fühlte er die Schläge seines Herzens so genau, als er seine Frau sah. Er konnte sich noch genau erinnern. Er stand in der Tür, das Glas mit Sekt in der Hand, die Augen auf seine Frau gerichtet. Sie lag im Bett, unbekleidet. - Er wollte sie überraschen und kam 2 Stunden eher nach Hause. Leise hatte er die Haustür aufgeschlossen und sich in die Küche geschlichen. Musik drang aus dem Schlafzimmer an sein Ohr, Entspannungsmusik. Alles lief perfekt. Sie hielt sich da auf, wo er es sich gewünscht hatte. Ihre Stimmung konnte nicht besser sein. Er füllte den teuren Sekt in die frischpolierten Gläser, zog seine schwarzen Büroschuhe aus und schlüpfte aus der Anzughose. Der Schlips flog auf den Rand der Spüle. Die obersten Knöpfe seines Hemdes öffnete er und fuhr sich mit beiden Händen durch seine Haare. Er fühlte sich gut, wie ein wilder Stier. Die Rose im Mund, die Gläser in der Hand, schob  er die angelehnte Schlafzimmertür auf - und biß in den Rosenstiel.
Ja, sie entspannte. Mit weit gespreizten Beinen lag sie auf dem Rücken. Die Arme von sich gestreckt und den Blick in die Ferne durch die Zimmerdecke hindurch gerichtet, lag sie da und genoß. Der Mann fuhr mit einer Gänsefeder über ihre Brustwarze und strich sanft durch ihr Haar. Splitternackt kniete er zwischen ihren geöffneten Schenkeln und blickte in ihr vor Erregung gerötetes Gesicht.
Langsam fiel die Rose aus seinem offenstehendem Mund. Die Zeit fühlte sich so klebrig an, so geschmacklos, unangenehm still - ätzend. Er würgte.
Als der Fremde seine Küsse in die Schamgegend seiner Frau verlegte, sah er in das Gesicht seiner Frau. Sie stöhnte.
Pacco versuchte hilflos zu sprechen, sich zu bewegen, zu atmen - es gelang ihm nicht. Gar nichts gelang ihm. Er stand nur da und sah seine Frau - mit diesem Mann. Wie konnte das passieren. Wie konnte so etwas in seiner Ehe passieren? Warum tat sie das, warum?
„Warum?“ schrie er und stockte nicht minder überrascht als die Liebenden, als er seine Worte vernahm.
Seine Frau senkte ihren Blick und sah ihn an. Sie bebte wimmernd und verfiel in eine Mischung aus hysterischer Verzweiflung, Wut und Schuld.
Er saß nur da. Seine Blicke angstvoll auf Paccos hochroten Kopf gerichtet. Sein Stab fiel in Windeseile in sich zusammen und stellte seine Gedanken zur Schau. Als er seine Offenheit bemerkte, riß er mühsam an der Bettdecke und verhüllte sich, während er vor Scham im Boden versinken wollte. Er sagte keinen Ton, doch Pacco konnte deutlich sein Zittern sehen.
Die Sektgläser schienen ihr Gewicht der Situation anzupassen. Tonnenschwer quetschten sie seine Finger unter der Last. Die Hände wurden ihm weich. Dann fielen die Gläser klirrend zu Boden. Sie zerplatzten inmitten zweier im grellen Sonnenlicht aufflammenden Splitterwolken. Wie Explosionen drangen die Schläge in seine Seele, zerschnitten alles, was für Vertrauen und Liebe und Treue gestanden hatte. Jetzt und heute war der Moment gekommen, den Pacco so oft in seinen Träumen erlebt hatte, nach dem er so oft schweißgebadet erwachte, erleichtert aufatmete und seine neben ihm schlafende Frau zärtlich küßte. Er fühlte sich wie ein Stein, der nur aufgehoben wurde, um anschließend in einen tiefen, dunklen Brunnen zu stürzen, haltlos in die naßkalte Ungewißheit fallend, lieblos weggeworfen von einem Menschen, dessen Herz in diesem Moment zu Eis gefroren war.
Er würgte wieder und drehte sich um.
„Pacco!“ rief sie ihm nach. Er blieb stehen, doch die Stimme hatte nichts liebevolles, nicht von alledem, was er so sehr liebte. Er blickte über seine Schulter, nur um sicher zu sein, daß sein Name aus ihrem Mund kam. Dem Mund, den er so gern küßte, dessen Weichheit ihn so überwältigte, daß sein Atem stockte, wenn er nur einen Augenblick daran dachte. Doch das war nicht dieser Mund. Dieser hatte spitze Zacken und mußte sich hart anfühlen, wie eine Wucherung des zu Eis gefrorenen Herzens.
„Ich liebe dich nicht mehr!“ sagte sie. Die Kniee versagten ihm ihre Dienste. Krampfhaft hielt er sich an dem hüfthohen Flurschrank fest und blickte auf den grauen Teppich, der ihn vor dem unausweichlichen Fall in die Tiefe bewahrte.
„Ich hatte vor, es dir zu sagen, aber ich wollte dir nicht wehtun.“ ... Dir nicht wehtun ... dir nicht wehtun ... Die Worte hallten durch seine Gehirnwindungen, wieder und wieder. Sein Kopf schwirrte, sein Blick verschwamm und dann drehte er sich ruckartig um. Jeden gebliebenen Rest an Kraft zusammenreißend sah er sie an und spürte wie sein Herz brach und eine Wunde aufriß, von der er wußte, daß er sie nie wieder schließen konnte.
„Mein Vater wird dich morgen entlassen! Bitte pack deine Sachen und geh jetzt!“ polterte die ruhige weibliche Stimme in seine Sinne. Seine Mutter sagte ihm schon vor Jahren, daß er einen Fehler gemacht hatte. ‚Ich hab es dir gesagt’, hörte er ihre Stimme schallen, ‚heirate nie eine reiche Fabrikantentochter, nicht die Tochter deines Chefs.’  Und sie hatte recht , in diesem traurigen aussichtlosen Moment hatte seine Mutter recht bekommen. Sein ganzes Leben, alles wofür er eingestanden war, schmolz unter seinen Füßen dahin. Er taumelte, dann sank er zu Boden und es wurde still um ihn. Still und friedlich.
Als er wieder erwachte liebte er diese Stille. Wie warm sie sich um ihn legte und wie gut er sich gefühlt hatte. Kein Ort auf der Welt könnte schöner sein.
In diesem Moment hupte ein Wagen vor dem Fenster seiner Absteige. Fredo, sein einziger Kumpel. Sie kannten sich aus Kindertagen. Er lief aus der Tür auf das Fahrzeug zu. Die Beifahrertür des silbernen Mercedes öffnete sich und der Krauskopf seines Freundes erschien.
Wortlos setzte Pacco sich neben ihn, schloß die Tür und stierte durch die Frontscheibe.
„In welches Café wollen wir denn?“ fragte Fredo und blickte seinen Freund von der Seite an.
„Venezia“ antwortete Pacco kurz. Es war gleich, wohin er gehen würde. Sie würden ihn finden und das sollten sie auch. 1000 € hatte er dafür bezahlt.
Der Wagen bog um die Ecke der nächsten Kreuzung und folgte der kleinen Straße in das wolkenverhangene Stadtzentrum.
Einige Straßen weiter beendeten sie ihre wortlose Fahrt und parkten in einer Seitengasse neben dem Stadtcafé.
Pacco stieg aus und wartete nicht auf seinen Freund. Er atmete tief ein und konnte den Moment nicht erwarten, für den er so viel Geld gezahlt hatte. Mit schlenderndem Schritt ging er durch die Reihen des Cafés und entdeckte einen unbesetzten Tisch. Bedächtig ließ er sich nieder und blickte in den grauen Himmel.
„Ein Tag zum Sterben“ sagte er im Plauderton dahin, als sein Freund den Stuhl zurechtgerückt und Platz genommen hatte.  Fredo runzelte die Stirn und blickte ihn ungläubig an.
„Was ist mit dir , du bist heute so ...“Pacco lächelte. Zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte er zufrieden.
„... Glücklich? Wolltest du Glücklich sagen?“ Er winkte die Bedienung heran und bestellte einen Kaffee und ein zwei große Stücke Torte.
„Wenn ich heute sterbe, dann soll das meine Henkersmahlzeit sein.“ Sagte er ruhig und grinste auf eine widerwärtige Weise.
„Was redest du da? Das Leben geht weiter, auch ohne diese ... “ er rang mit sich und entschied, kein Bezeichnung für Paccos Exfrau zu suchen.
„Nicht , wenn man es verhindert“ Fredos Stirn begann zu glänzen.
„Du machst mir Angst. Was soll das? Hast du was?“ Fredo konnte nicht verbergen, daß Paccos Worte ihn in Panik versetzten. Wollte er sich umbringen? Hier? Vor all den Leuten?
Er sah Pacco an.
„Nein.“ Sagte sein Freund. Fredo schluckte. Er hatte nicht bemerkt, daß er diese Fragen laut ausgesprochen hatte.
„Das Internet hält viele Dienste bereit, man muß nur danach suchen.“ Die Bedienung stellte den Kaffee und beide Tortenstückchen vor Pacco auf den Tisch. Er stopfte sie in sich hinein, daß Fredo fast schlecht wurde. Er erhob sich aufgeschreckt und sah Pacco erbost an.
„Du bist krank Pacco, weißt du das? Krank!“ herrschte er ihn an. Doch Pacco trank seinen Kaffee und stellte die Tasse zurück auf den Tisch.
„Es gibt Zeichen im Leben“ begann Pacco, “Zeichen, wenn der Kuchen im Ofen fertig ist, Zeichen, wenn der Benzin im Wagen zur Neige geht, Zeichen, wenn der beste Freund dich belügt und Zeichen, wenn die Frau einen betrügt.“ Fredo sah ihn fassungslos an. Paccos ruhige Stimme wirkte noch bedrohlicher, als hätte er es geschrieen.
„Und es gibt Zeichen, die über Leben und tot entscheiden.“ Mit diesen Worten stand er, Fredo anblickend, langsam auf, zog ein weißes Taschentuch aus der Tasche und wedelte es in der Luft hoch über seinem Kopf. Dann blickte er ruckartig zur Straße. Fredo sah einen weißen BMW auf der anderen Seite. Ein Mann blickte zu ihnen herüber. In seiner Hand hielt er etwas .. blitzendes. Fredo konnte es nicht erkennen. Doch dann wurde es klarer. Der Mann in dem weißen BMW hielt seine Hand mit dem glänzenden Ding aus dem Wagenfenster. Ein Schuß ertönte. Seltsam naß klatschte es neben Fredo. Der Tisch wurde mit roten Tropfen besprenkelt. Der Motor des Wagens heulte auf und bevor Fredo reagieren konnte, bog er um die nächste Ecke. Dann fiel Pacco zu Boden. Sein Blick auf Fredo gerichtet, dessen Sinne nicht mehr klar zu funktionieren schienen. Doch Pacco lag am Boden.
Regungslos - Tot!

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.03.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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