Melanie Brönner

Der Klang der Glocke

Eisige Kälte durchzieht die Nacht. Wind peitscht durch die Dunkelheit. Ein alter Mann, dürr, gebrechlich und fast erfroren kämpft allein gegen die Macht der Natur. Verbissen läuft er gegen den Sturm an. Sein durchlöcherter Mantel weht im Wind. Durch seine ausgetretenen Schuhe dringt der Schnee und jeder Schritt sticht ihn mitten ins Herz. Er atmet schwer. Schweiß, das einzige, was sein ausgemergelter Körper noch hervorzubringen vermag, wandelt sich sofort zu Eis. Tausende kleiner Nadeln bedecken davon sein Gesicht. Kaum kann er seinen Weg erkennen. Doch er läuft von einer inneren Kraft getrieben weiter. Stück für Stück arbeitet er sich in dieser Winternacht voran. Sackt in einer Schneeböe ein, zieht sich heraus. Kein Stern ist am Himmel zu sehen. Auch der Mond hält sich bedeckt. Da! Aus der Ferne hört man das schwache Läuten einer einzelnen Glocke. Der Wind will ihren Klang davon tragen. Das Rauschen nimmt zu und dröhnt in den Ohren des Alten. Als wollte der Sturm ihm sagen: „Wo willst du hin, alter Mann? Dein Weg ist hier zu Ende. Deine Zeit ist gekommen. Wehre dich nicht. Hier wird dein Grab sein.“

Doch der alte Mann gibt nicht auf, noch nicht. Angestrengt lauscht er. Die Glocke steht ihm bei. Auch sie läutet unerschrocken weiter. Ihr dünner Ton übertrumpft den Wind. Und der Alte lässt sich von ihr den Weg weisen. Blind nur dem Klang der Glocke folgend, läuft er weiter und weiter. Tief gebeugt. Er hält ein kleines Bündel fest an seinen mageren Körper gedrückt. Endlich. Ein schwaches Licht wird deutlich. Ein Dorf. Menschen. Nur noch ein Stück. Weiter und immer weiter. Dann ist er dort. Auf dem Marktplatz. Das Licht kommt direkt aus der kleinen Kirche. Von daher kam auch das Glockenläuten. Er erreicht die Kirchentür. Greift nach der Klinke. Kann sie mit seinen steif gefrorenen Fingern kaum fassen. Drückt sie schwerfällig herunter. Wärme und Licht kommen ihm entgegen. Noch ein Schritt. Er fällt zu Boden. Am Ziel. Er hat es geschafft. Sein Bündel bewegt sich und schreit. Ein dünner Schrei nach Leben. Jetzt endlich ist der Weg des alten Mannes zu Ende. Er hat den Kampf gegen den Sturm gewonnen. Er gibt sein Leben gegen das des Kindes.

 

 

 

© Melanie Brönner, 2004

 

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