Andreas Seidel

Nicki

Der Toaster warf die ersten Schnitten aus und die ganze Küche duftete bereits nach frisch gebrühtem Kaffee, als ich zum Frühstück kam. Allerdings sah ich um vier Uhr morgens noch aus wie jemand, der auf die Zinken gelatscht und dem dann der Stiel zwischen die Hörner geknallt ist und ich bewunderte immer wieder den Badezimmerspiegel, dass er meinen Anblick um solche Uhrzeiten widerspruchslos ertrug. Ich war nun mal ganz und gar kein Frühaufsteher.
Aber mein Blick erhellte sich schlagartig, als meine Frau aus dem Bad kam. Nur mit einem Handtuch bedeckt, wie einen Turban um die frisch gewaschenen Haare gewickelt, stand sie in der Tür wie die Natur sie geschaffen hatte. In Gedanken dankte ich der Natur auf Knien für diese üppige Phantasie in Fülle und Anmut, die bei jeder Bewegung alles andere vergessen ließ. Dieser Anblick entschädigte sogar für das fürchterlich miese Wetter draußen. Denn es war noch dunkel und dichter Nebel ließ nicht einmal einen Blick zu den Nachbarn zu. „Na das kann ja ne lustige Tour werden heute“, dachte ich, als ich aus dem Fenster in dieses Mistwetter sah. Doch sofort tauschte ich den mit Sprühregen durchsetzten Nebel draußen wieder gegen den Anblick meiner Frau ein.
„Schatz, Dein Frühstück steht auf dem Tisch“, sagte sie lakonisch als ihr bewusst wurde, wie ich sie ansah.
„Och schade, ich würde lieber…..!, antwortete ich mit einem verschmitzten Lächeln und zwinkerte ihr liebevoll zu.
Dann setzte ich mich an den duftenden Frühstückstisch und genoss einen großen Schluck Kaffee.
Dieses Mistwetter draußen machte mir nicht die leiseste Lust aufs Arbeiten. Also goss ich noch Kaffee nach und ließ mir den nächsten Toast schmecken. Belustigt sah ich auf die Uhr.
Ich musste an all die anderen Arbeiter denken, die immer so hektisch zur Arbeit hetzten, um ja pünktlich zu kommen.
Mir konnte das nicht passieren. Denn als Lokführer bei der Bahn hatte ich die seltene Sicherheit, dass der Zug ohne mich garantiert nicht losfährt.
Also lehnte ich mich zurück und drehte das Radio etwas lauter.

„Denk daran beim Immobilienmakler vorbeizuschauen, wenn du Feierabend hast“! rief  Iris aus dem Bad, in das sie wieder hin verschwunden war, weil ihr Turban um die nassen Haare partout nicht so wollte, wie sie es gern hätte. „Klar mache ich“, brummte ich kaum hörbar zurück und machte mich an die letzte Toastschnitte.
Der letzte Schluck Kaffee war alle und ich machte mich auf den Weg. Ich stieg ins Auto und fuhr ziemlich rasch los, da es doch schon recht spät geworden war. Der Weg zur Arbeit führte mich an dem Haus vorbei, welches meine Frau und ich uns kaufen wollten, und so konnte ich jeden Tag einen Blick auf unser künftiges Anwesen werfen.
Heute allerdings war es etwas anderes. Denn kaum hatte ich das Grundstück inmitten gespenstischer Nebelschwaden erblickt, sah ich dort im verwilderten Vorgarten ein kleines Mädchen. Ihr Kleid, dessen Farbe ich nur in etwa ahnen konnte, war pitschnass und die lustigen Blümchen darauf konnte man vor Schmutz auch kaum noch sehen. Irgendwie hatte sie bei jedem Schritt eine unnatürlich gekrümmte Haltung. Es sah so aus, als hatte sie durch eine kaputte Wirbelsäule einen schweren Haltungsschaden davongetragen.
Trotzdem lachte sie bei jeder Bewegung. Aber immer wieder verschwand sie in den dichten Nebelschwaden.
Im Arm trug sie eine zerlumpte Puppe mit abgerissenem Kopf, die sie dennoch wie ihren Augapfel zu behüten schien.
Ich parkte meinen Wagen am Wegrand und stieg aus. Was in aller Welt hatte die Kleine so früh am Morgen hier zu suchen? Noch dazu bei diesem Sauwetter? Es würde noch Stunden dauern, bis es überhaupt nur etwas hell werden würde. Müsste sie denn nicht zu Hause sein oder sich bald auf den Weg zur Schule machen?
Ich stieg aus um zu fragen, was sie denn hier wollte, so früh am Morgen. Doch kaum sah sie mich kommen, rannte sie mit finsterer Miene fort und verschwand im dichten Nebel.
Etwas irritiert ging ich wieder zurück zum Auto und tastete mich durch dieses Mistwetter zur Arbeit.  Die ganze Schicht hindurch ging mir die Kleine  nicht mehr aus dem Kopf.
Was hatte sie dort gewollt?
Hatte sie kein Zuhause?
Nach Feierabend fuhr ich erneut an diesem Anwesen vorbei. Das Wetter war besser geworden und es regnete auch nicht mehr. Aber es war nirgends auch nur eine Spur von diesem Mädchen zu sehen. So fuhr ich weiter zum Immobilienmakler, um die Kaufgebote anderer Interessenten für das Anwesen einzuholen.
Am nächsten Tag war es das gleiche Mistwetter wie am Tag zuvor. Heute hatte ich erst abends Dienst und so ging ich zu Fuß zu diesem Anwesen, um mich dort einmal genauer umzusehen. Neblig wie es auch heute war, konnte ich erst im fahlen Schein einer Straßenlaterne Einzelheiten des Vorgartens ausmachen. Doch kaum in der Nähe angelangt, spielte dort wieder dieses kleine Mädchen in ihrem patschnassen, schmutzigen Kleid.
Ihre Haare waren blutverklebt und ihre Zöpfe trieften wie eine Regenrinne. Anscheinend hatte sie eine stark blutende Verletzung am Kopf. Hatte sie die gestern auch schon?
Ich wusste es nicht mehr ob, mir das aufgefallen war. Doch sie schien sich überhaupt nichts daraus zu machen. Sie lachte fröhlich und spielte mit ihrer Puppe. Und wie von Geisterhand bewegt, schwebte sie wieder und wieder mitten  in diese Nebelschwaden hinein. Mir schauderte bei diesem Anblick. Wie zum Teufel kann man ein Kind nur so verkommen lassen. Was musste dieses Kind nur für Eltern haben. Ich war fest entschlossen ihr zu helfen, so ich es denn konnte. Also kletterte ich über den Zaun, der das Anwesen umgab und ging um das Haus herum. Die Kleine versteckte sich immer wieder vor mir. Oder wollte sie nur spielen? Aber sie hatte mich wahrscheinlich gar nicht gesehen. Denn als ich in eine Pfütze patschte drehte sie sich erschrocken um und rannte – ihre zerlumpte Puppe mit dem abgerissenen Kopf fest umklammernd -- in den dichten Nebel hinein und war verschwunden. Ich ging wieder nach Hause und konnte immer noch nicht so recht begreifen, wo die Kleine herkommen könnte. Aus unserem Ort war sie garantiert nicht. Hier kannte jeder jeden.

Meiner Frau hatte ich von all dem noch nichts erzählt. Sie würde wohl gleich die Polizei alarmieren. Was wohl auch das Beste gewesen wäre. Aber ich beschloss, die Sache in die eigene Hand zu nehmen. Ich wollte die Kleine zu ihren Eltern – so sie denn welche hatte – zurückbringen oder aber sie in ein Heim bringen, wo man sich um sie kümmern würde. Dieses verwilderte und anscheinend verwaiste Mädchen tat mir Leid.
Am nächsten Morgen verzog sich der Nebel langsam und so etwas wie die Sonne schickte sich an, den restlichen Tag doch noch etwas zu erhellen. Doch so richtig konnte sie sich mit ihrer gegen Herbstende nachlassenden Kraft nicht durchsetzen.
Dafür legte sich ein seltsam schwärzlicher Schatten über den meist grauen Tageshimmel, der diesem eine mysteriöse, geisterhafte Stimmung verlieh. Am darauf Folgenden Abend war ich wieder auf dem Weg zur Arbeit. Unterwegs – noch vor dem Anwesen – traf ich einen meiner Nachbarn.  
Ich erzählte ihm von der Kleinen.  
„Da hat seit langem niemand mehr gespielt“. sagte er. Na, er musste es wissen. Wenn überhaupt jemand etwas wusste, dann er. Denn dieser künftige Nachbar war der lokale Klatschreporter.
„Vielleicht habe ich ja auch nur Geister gesehen“, in diesem dichtem Nebel kein Wunder, gab er mir zu denken.
Aber so richtig glaubte ich nicht daran. Nein, ich habe sie wirklich gesehen.
Ich hasste den Herbst. Denn kaum hatte die Sonne vorsichtig durchblicken lassen, dass es sie auch noch gab, legte sich wieder dichter Nebel über die Abenddämmerung. Und wieder nahm diese mysteriöse schwärzliche unheildrohende Färbung des Abendhimmels den letzten Sonnenstrahlen ihre Chance, den immer dichter werdenden Nebel aufzuhalten.  Den Weg zur Arbeit fuhr ich fast nur im Schritttempo.
Und auch heute spielte auf dem Anwesen dieses Mädchen.
Sie hatte wie jeden Tag dasselbe patschnasse, schmutzige Kleid an. Und wie immer hielt sie ihre zerlumpte Puppe mit dem abgerissenen Kopf fest im Arm. Seltsamerweise schien sie aber dennoch nicht krank zu werden.
Ihre klatschnassen, blutverschmierten Haare klebten auf ihrer Schulter und ich hatte keine Ahnung, wann sie sich das letzte Mal gewaschen hatte. Wieder hielt ich an, um mit ihr zu sprechen. Doch kaum erblickte sie mich, rannte sie wie immer fort in den dichten Nebel hinein und war spurlos verschwunden. Wen auch immer ich in unserer Ortschaft nach diesem Mädchen fragte, niemand hat sie je geseh

                                                          *******

Meine Arbeit als Lokführer machte mir bei diesem Nebel besonders zu schaffen. Gerade Nachts schien sich dieser Nebel auch noch zu verstärken. Im Herbst ist das zwar eine Normalität, doch irgendwie war in diesem Nebel alles anders. So, als wollte mir eine schemenhaft undurchsichtige Wand jegliche Sicht versperren, fuhr ich mit meinem Zug ins dichte Nichts hinein. In der – so komisch das auch klingt – fahlen, hellen Dunkelheit tauchten gelegentlich die Spitzenlichter entgegenkommender Züge auf. Denn die Lichter meiner Lok vermochten die undurchdringliche Dichte des Nebels in der Nacht nur um ein paar Meter aufzuhellen. Für den Bruchteil einer Sekunde erhellten die Lichter der entgegenkommenden Züge die Nacht, in die ich mit meinem Zug hineinfuhr. Dahinter rauschten, geisterhaft aus den Nebelschwaden auftauchend, die Waggons an mir vorbei und nicht einmal der Fahrtwind vermochte dieses düstere Dickicht des Nebels aufzureißen.

Wie Milchglas sahen die Scheiben meiner Lok aus. Ich stierte mir regelrecht die Augen aus dem Kopf nach jedem Signal, welches jeden Moment aus der schemenhaften Dunkelheit auftauchen konnte. Ein Schauer des Grauens lief mir über den Rücken, denn in solchen Situationen erinnerte ich mich meistens an Horrorfilme, wie „Nebel des Grauens“ oder so in der Art.
Und dann auch noch meine eigenen Erlebnisse mit diesem verwahrlosten Mädchen in einem solchen mysteriösen Nebel. Fast sah ich da schon einen Zusammenhang und begann mir einzureden, alles nur zu träumen. Nur das leise Rauschen der Fahrmotorlüfter meiner Lok hinter mir und die Fahrtgeräusche des Zuges suggerierten eine Art von Normalität.
Plötzlich zuckte ich erschrocken zusammen. Die Seitentür des Führerstandes war aufgegangen und ein frischer Luftzug kam herein. Und damit auch der Nebel. Erschrocken blickte ich zur Seite und wollte gerade die Tür wieder zuwerfen, als ich auf dem Sitz neben mir dieses kleine Mädchen sitzen sah. Ich war kreidebleich vor Schreck. In ihrem patschnassen schmutzigen Kleid und den blutverklebten Haaren saß sie unvermittelt auf meiner Lok. Ihre zerlumpte Puppe mit dem abgerissenen Kopf fest im Arm.
Traurig sah sie mich an.
„Bitte kauft das Haus nicht, dort möchte ich wohnen!“, sagte sie mit angstvoll hoffendem Blick und war genauso schnell wieder verschwunden wie sie da war. Die Tür des Führerstandes war noch offen, doch ich saß wie angewurzelt auf meinem Sitz hinterm Fahrschalter. Der Nebel drang zu mir herein und ich fühlte regelrecht, wie auch mein Verstand langsam vernebelte. Ich fühlte mich wie in einen Horrorfilm versetzt, als plötzlich die Bremsen meines Zuges zu quietschen begannen. Abrupt in die Realität zurückgeholt, ahnte ich was los war. Der Dichtungsring eines Luftschlauchs war geplatzt und verpasste meinem Zug durch den Druckverlust der Bremsluft eine Zwangsbremsung. „Auch das noch, und dann noch in diesem Nebel“.
Ich war hellauf „begeistert“!
Mit Mühe das eben erlebte beiseite zu schieben, musste ich nun in diesen Nebel und in die Dunkelheit hinaus, einen blöden Dichtungsring wechseln. Der Zug hielt mit einem scharfen Ruck und ich schaltete die Lüfter aus. Augenblicklich war es im wahrsten Sinne des Wortes totenstill. Nur die durch die Reibung der Bremsen erwärmten Radreifen der Waggons knisterten leise. Ich suchte aus der Ersatzteilkiste einen neuen Dichtungsring und machte mich auf den Weg nach hinten.
Mitten in der Schwärze der Nacht hörte ich am dreizehnten Waggon das Geräusch ausströmender Druckluft.
Ich hatte die Stelle gefunden. „Na prima! Auch noch der dreizehnte! Das passt ja alles wie die Faust aufs Auge“, brummte ich ungehalten. So schnell es ging wechselte ich die Dichtung, als durch den Nebel das Geräusch eines heran Nahendes Zuges zu hören war. Ich stellte mich in die Lücke zwischen zwei Waggons und wartete ab, dass der Zug vorbei fuhr. Doch seltsamerweise kam kein Zug. Nur die Geräusche waren zu hören und der Fahrtwind verwirbelte etwas den Nebel. Aber von einem vorrüberfahrenden Zug war nichts zu sehen, obwohl ich nur ein paar Meter vom Nebengleis entfernt stand. Obwohl ich geradeaus sah und eigentlich die vorbeirauschenden Waggons hätte zählen können, sah ich nichts -- einfach nichts. Im Gegenteil, noch während der Zug vorüber führ, sah ich auf der Straße neben der Bahnstrecke ein Auto vorbei rasen, als währe es sternenklare Nacht.
Die Geräusche des sich entfernenden Zuges, der nie kam, verschwanden in der undurchsichtigen milchig- nebligen Dunkelheit. Nun begriff ich gar nichts mehr.
Mehr taumelnd als gehend, stolperte ich die Schwellen des Nachbargleises wieder zurück in Richtung meiner Lok als der Nebel plötzlich durchsichtig zu werden schien. Ich glaubte wieder das Mädchen in der Dunkelheit zu sehen. Eine schemenhafte Gestalt stand wenige Meter vor mir, entfernte sich aber mit jedem Schritt den ich mich zu nähern versuchte.
„Mein Gott, was ist nur los in dieser Nacht“? Ich begriff gar nichts mehr.

Ein weiteres Auto raste auf der Strasse neben der Bahnstrecke vorbei, als sei es sternenklare Nacht.  Langsam glaubte ich Gespenster zu sehen oder den Verstand zu verlieren. Es konnte doch nicht nur bei mir neblig sein? Und ringsherum war klare Sicht?  Das ging doch nicht! Es sei denn ich wurde irre. Aber plötzlich stand wieder dieses Mädchen vor mir. Ihr patschnasses schmutziges Kleid auf der Haut. Und obwohl es gar nicht regnete, waren ihre Haare wie immer vor Nässe und Blut verklebt. Erlag ich einem Hirngespinst? Langsam glaubte ich an alles. Ich ging auf der Strasse weiter nach vorn zu meiner Lok. Doch schon nach wenigen Metern war der Nebel wieder derart dicht, dass ich nicht mal meinen Zug sehen konnte. Nur ein schwacher Schimmer wenig lichtstarker Glühlampen verriet mir, dass ich bei meiner Lok angekommen war.
Ein schrilles Pfeifen aus der Ferne kündigte einen weiteren entgegenkommenden Zug an.
„Na hoffentlich ist der diesmal echt“, dachte ich lakonisch, während ich schnell die Tritte zum Führerstand erklomm. Tatsächlich war mir richtig schlecht von all diesen Ungereimtheiten.
Und da sah ich sie wieder.
Dieses kleine Mädchen wurde mir langsam unheimlich.
Sie stand im Nebengleis und sah traurig zu mir hinauf. Ich kam nicht mehr dazu, sie vor dem nahenden Zug zu warnen. Geisterhaft tauchten die Lichter der Lok und die Waggons aus dem Nebel auf und verschwanden ebenso schemenhaft hinter mir in der trüben Finsternis. Das schwache Licht meiner Lok machte alles nur noch grauenhafter. Doch als der letzte Waggon in der Dunkelheit verschwunden war, stand sie immer noch da. Dort, im Nebengleis. Dort, wo eigentlich der entgegenkommende Zug fuhr. Aber sie stand da.  Nur ihr nasses Kleid mit den lustigen Blümchen flatterte im Fahrtwind, so als wäre der Zug durch sie hindurch gefahren.
„Was in aller Welt willst Du von mir“? Brüllte ich.
Ach, was soll’s. Ist doch eh alles nur ein Traum.
Zumindest hoffte ich das. Ich prüfte das Funktionieren der Bremsen meines Güterzuges nach dem Wechseln des Dichtungsringes und fuhr weiter.
Doch kaum setzte sich der Zug in Bewegung, kam die Kleine plötzlich in mein Gleis herüber und lief vor mir her.
Immer schneller lief sie, denn immer schneller fuhr ich. Wie in Trance begann ich die Kleine zu jagen, brachte meinen Zug auf Höchstgeschwindigkeit, ohne das kleine Mädchen jedoch einzuholen. Sie rannte auch bei einer Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern noch vor mir her. Und plötzlich lachte ich wie ein kleines Kind, das nicht begreift was gerade geschieht.
Hätte mich in diesem Zustand jemand gesehen, wäre mir ein Termin bei den “Jungs mit den weißen Turnschuhen“ sicher gewesen.
Doch dann, als würde mich eine Faust in vollem Lauf treffen, riss der Nebel plötzlich auf.
Sterne funkelten über mir und ich konnte schon auf einige Kilometer Entfernung die Lichter meines Heimatortes sehen.
„Gott sei Dank, der Nebel hat ein Ende“, dachte ich erleichtert und sehnte mich nach Feierabend. Es war nicht mehr weit, bis ich meinen Zug ans Ziel gebracht hatte, da sah ich von weitem schon einen weiteren Zug mir entgegenkommen.
„Endlich“!
Ich war erleichtert. Der Nebel war zu Ende. Eine Wetterscheide, wie sie oft in der Nähe größerer Flüsse oder Wälder vorkommt, beendete das grauenhafte Nichts der Trübheit des Nebels.
Erleichtert grüßte ich den Lokführer des entgegenkommenden Zuges durch Auf- und Abblenden der Lichter meiner Lok.
„Der Ärmste“ dachte ich, denn dieser Kollege fuhr in etwas hinein, aus dem ich nur mit Mühe entkam.
Nun war mein Feierabend nicht mehr weit und ich würde bald wieder zu Hause sein.
Ich beruhigte mich zusehends und sah gelassen den vorüber ziehenden Waggons meines Kollegen nach.
Am Bahnübergang vor dem Bahnhof auf den ich gerade zu fuhr, wartete eine Kolonne Autos und die Straße entlang sah ich das Anwesen, welches bald mir und meiner Frau gehören sollte. Ängstlich blickte ich um mich, doch nirgends war das kleine Mädchen zu sehen.
Der letzte Waggon des entgegenkommenden Zuges hatte gerade den Bahnübergang passiert, und ich war mit meinem Zug kurz davor, als ein weißes Kleid mit lustigen Blümchen über die Gleise flatterte.     Mir direkt vor den Zug.
Ein dumpfer Aufprall und das kurze Krachen brechender Knochen brachten mir den Nebel und alles Grauen dieser Welt schlagartig zurück.
Voller Entsetzen hielt ich meinen Zug an. Ich stieg von der Lok herunter und rannte zurück. Mir war klar, wen ich erwischt hatte!
Ich hoffte zwar mich  zu irren. Aber diese traurige Hoffnung zerschlug sich mit dem Anblick einer auf dem Bahnsteig liegenden zerlumpten Puppe.
Ihr Kopf war abgerissen und in einer großen Pfütze neben dem Bahnübergang lag in einem patschnassen Kleid der zertrümmerte Körper eines kleinen Mädchens. Ihr Haar klebte vor Blut und die lustigen Blümchen auf ihrem Kleid waren vor lauter Schmutz kaum noch zu erkennen.
Entsetzt stand ich da und konnte wieder keinen klaren Gedanken fassen. „Sie!! Sie sind schuld!! Sie haben sie getötet“!!!  schrie mir jemand ins Gesicht, als ich neben der Kleinen stand. Die Leute am Bahnübergang hatten wohl mitbekommen, dass ich der Lokführer des Zuges war, als ich die Schienen entlang gerannt kam.
Nur eine Frau stand schweigend und schluchzend hinter mir. Sie musste von ihrem Mann gehalten werden, damit sie nicht zusammenbrach.
In diese schaurige Situation hinein klingelte mein Handy.
Nur zögernd und verstört ging ich ran. Es war meine Frau.
Sie wollte wissen, ob ich denn auch schön arbeite.

Wortlos und wie in Trance sagte ich nur kurz „Ja“. Außerdem teilte sie mir mit, sie habe im Katalog beim Immobilienmakler ein anderes Haus gesehen, auf das wir nicht erst auf das Höchstgebot mehrerer Käufer hätten warten müssen. Sie habe sofort zugesagt und auf unser eigentliches Anwesen verzichtet.
Eine Familie mit einer reizenden kleinen Tochter habe darauf hin den Zuschlag bekommen.
Mein Entsetzen wurde immer größer.
„Oh, Nicki! Warum hast Du das getan“? weinte die Frau hinter mir.
Sie musste wohl auch gesehen haben, als ich zurückgerannt kam, dass ich der Lokführer des Zuges war.
Regelrecht irre vor Schmerz und Wut kam sie auf mich zugerannt und wollte mir anscheinend an die Gurgel.
„Sie haben mein Kind umgebracht!“ schrie sie völlig heiser.
Ihr Mann musste sie auffangen, als sie daraufhin ohnmächtig zusammenbrach. Betreten blickte ich zu Boden und wusste nicht, wie ich reagieren sollte.
„Wir haben gestern Abend gerade das Anwesen dort drüben erworben“, sagte der Mann und blickte in Richtung des Hauses, welches eigentlich Meines hätte werden sollen und in dem ich dieses kleine Mädchen seit geraumer Zeit gesehen hatte.
„Als der Güterzug vorüber war habe sich Nicki losgerissen: 
 „Ich bin als erster zu Hause!“  rief sie und sei plötzlich losgerannt“, sagte der Mann hinter mir, der seine Frau immer noch stützen musste.
Und so rannte die kleine Nicki mir direkt vor den Zug.
Nun lag sie in dieser Pfütze genau so da, wie ich sie immer gesehen hatte.
In einem patschnassen Kleid, dessen lustige Blümchen vor Schmutz kaum noch zu sehen waren. Ihre Haare waren Blut verklebt und der durch den Aufprall zertrümmerte Körper unnatürlich verkrümmt.
Ich gab ihr die kleine Puppe, die ich vom Bahnsteig aufgehoben hatte und deren Kopf nun abgerissen war, in ihre kleinen Hände und wandte mich traurig ab.
Sie hatte in Gedanken wohl schon in dem Haus gewohnt und gespielt. Genau so wie ich.
In Gedanken wohnte ich ja auch schon in dem neuen Haus mit dem verwilderten Vorgarten. Und deshalb fuhr ich auf dem Weg zur Arbeit auch immer wieder dort vorbei.
Ihre kleine Kinderseele hatte wohl alles vorausgesehen. Deswegen erschien sie mir in meinen Gedanken.
Außer meinen Zug. Den hatte sie nicht gesehen!

Und es gibt Situationen, da hasse ich meinen Job wie die Pest!

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.03.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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