Der Wind treibt Nebelschwaden über den Fluss. Der lehmige Tau der einbrechenden Nacht benetzt die Ufer des Ganges. Müde schleppt sich der Ganges im Halbdunkel dem Meer entgegen. Eine Barke stösst auf dem Uferkies knirschend auf. Radschi und sein Freund schauen von ihrer Unterhaltung auf. Schwarz verschleierte Mohammedanerinnen entsteigen eine nach der anderen dem Boot. Der einen fällt ein Buch von ihrem Stapel, den sie vor sich trägt. Radschi bückt sich, um es für sie aufzuheben. Sie bückt sich ebenfalls. Der Wind fegt die stickige Schwüle des Tages über den Fluss hinweg und der Mohammedanerin den Schleier aus dem Gesicht. Radschi schaut in das eben geschnittene Antlitz der erschrockenen Kayla. Er übergibt ihr das Buch, sie nimmt es und eilt davon, den anderen Studentinnen hinterher.
Der Ventilator vertreibt die stickige Luft nur mühsam.
„Willst du ein kühles Bier ?“ kommt Jörgs Frage aus der Küche.
„Ja klar“, antworte ich.
Ich gehe aus dem weiss getünchten Wohnzimmer auf die dunkle Terrasse. Jetzt um 20 Uhr ist es noch schwül warm. Man hört aus dem beleuchteten Nachbarhaus die Melodie des Hits aus dem letzten Hindu-Film. Auf der Strasse unter uns sind noch lautstark Strassenhändler zugange. Die schwachen Batteriefunzeln schwingen an den Ständern und Fahrrädern. Die erkalteten Fertiggerichte in den Alu-Töpfen haben all ihren Geruch und Überzeugungskraft verloren.
Gegenüber sitzt eine Familie zu Tisch und feiert ein kleines Fest. Wohlige Gewürzgerüche steigen aus ihrem Wohnzimmer auf. Ein Fahrradtaxi setzt einen Fahrgast am Ende der Strasse ab.
Eine Windböe treibt die Ausdünstungen der Grosstadt vor sich her über unsere Terrasse hinweg.
„Unglaublich der Gedanke, dass all diese Millionen von Menschen hier auf engstem Raum zusammenleben,“ sag ich zu Jörg. Er nickt.
…Die Rundbögen sind festlich geschmückt, der Marmorboden bedeckt mit frischen Blüten. Die Tänzer nehmen Aufstellung. Radschi kämpft sich durch das Meer der fröhlichen Hochzeitsgäste, der Backwaren und Begrüssungstrunke. Seine Schwester an seiner Seite ermahnt ihn: „Und denke daran, wir sind Gäste bei diesen Mohammedanern und wollen es auch bleiben.“
Bunte Stoffbahnen sind zu einem Stern in der Mitte des Platzes vereint. Die Tänzerinnen gehen verneigt in Ausgangsstellung. Sie hüllen die Hochzeitsgäste ein mit ihrem Charme und dem frischen Duft ihrer Schminke.
Die Saiten erklingen und stimmen vorsichtig den Eröffnungstanz an; die Mädchen rollen ihre Körper vor und zur Seite. Gemeinsam stimmen sie die feine Melodie an. Sie lassen die roten, blauen, gelben, weissen Tücher um sich tanzen. Die Gruppe bewegt sich schwebend durch den Raum, bis von der Seite die Männergruppe auf sie stösst. Radschi lehnt sich an die kühle Säule. Er sieht die anderen Gäste nicht mehr. Er sieht nur noch die Vorsängerin. Da entdeckt auch Kayla ihn, sie läuft rot an vor Schrecken und Freude. In diesem Moment haben zwei Herzen schon die nächste Hochzeit geplant.
Jörg hält den Wagen nahe an seinem Lieblingsrestaurant. Die Strassenhändler rufen „The Indian Telegraph ! The Indian Telegraph !“ „Oranges, good oranges!“
Ein übel riechender Bettler mit leprazerfresssenen Händen fleht uns um eine paar Rupien an. Jörg hält noch nicht einmal inne, sondern geht einfach weiter.
Wir steigen die Steintreppe in den ersten Stock. Oben angekommen fühlt er sich verpflichtet, mir etwas zu sagen: „Wenn du drei Jahre wie ich hier wohnst, stumpfst du ab. Es gibt so viel Elend, und man kann nur so wenig tun.“
Eine Wolke aus Gewürzen, Stimmen und Geschirrklappern empfängt uns; der grosse Saal ist mit gut angezogenen Gästen gefüllt. Es ist Samstagabend, da geht‘s hier zur Sache !
„Hier hab ich das beste Curry meines Lebens gegessen.“ erklärt Jörg.
Auch das hotteste. Ich werde diesen Abend das scharfe Curry mit viel kühlem Bier abmildern…
…Radschi und Kayla müssen aus ihrem Dorf fliehen; zu sehr sind sie dort bekannt, und zu sehr ist allen die Regel bekannt, dass Hindus und Mohammedaner nicht einander heiraten. In der Grosstadt Bombay finden sie in der Anonymität Unterschlupf und Radschi bei einer Zeitung einen gut bezahlten Job. Kayla muss sich ihre Selbständigkeit erst erlernen; in ihrer Familie war sie sicher und umgeben von ihren vielen Verwandten; jetzt hat sie nur noch eine Sicherheit, das ist ihr Hindu-Mann.
Sie gebiert Zwillinge: der eine erhält den Namen Ali, der andere den Namen Tiku. Doch die Grosstadt brodelt vor Armut und Verzweiflung. Die vier müssen auf sich aufpassen und wissen, dass sie alleine sind.
Eines Tages muss Radschi als Zeitungsreporter den Führer der Hindu-Nationalisten befragen. Der geschminkte Fanatiker gibt dem Journalisten ungeschminkte Antworten: „Wenn die Mohammedaner endlich von ihrer aggressiven Religionsexpansion ablassen würden, könnten wir endlich in unserem Hindu-Staat in Frieden leben.“ Radschi fühlt sich nicht gut, er bricht das Interview ab, entschuldigt sich, dass er keine Luft bekommt.
Das zweite Interview führt Radschi in die Moschee. Der islamische Schulleiter bedauert: „Während der tausend Jahre, in denen dieses Land von Mohammedanern geführt und entwickelt wurde, gab es nie soviel Unruhe und Bedrohung wie jetzt, wo einige hinduistische Hitzköpfe uns in den Bürgerkrieg führen wollen.“
Radschi hört ihm zu und fühlt sich mehr und mehr krank; alles dreht sich um ihn, die Hitze erdrückt ihn, er will sich übergeben.
Ich sehe sie vor allen anderen. Sie hat ein dunkles, tief braunes, freundliches Gesicht, die Haare sind nach hinten gesteckt, sie trägt eine weisse Bluse und einen kurzen, westlich geschnittenen Rock, der ihre wunderbaren Beine zum Vorschein kommen lässt und unterhält sich aufgeregt mit einem Typ, der hoffentlich nur ihr Bruder ist. Da ist noch eine anderes Mädchen und ein zweiter Junge dabei. Hat Jörg diese indische Schönheit gesehen ?
Souverän schlägt er mir (auf deutsch) vor, in der Reihe vor der Gruppe Platz zu nehmen.
…Kayla ist mit ihren Kindern auf dem Stadtteil-Markt, als die Lynch-Unruhen ausbrechen. Sie hört Schmerzensschreie und Hilferufe, bevor sie die Gruppe der Männer sieht. Rasch zerrt sie die Kinder in ein Haus, gerade rechtzeitig bevor die vermummten Gestalten mit ihren blutverschmierten Macheten auf den Marktplatz laufen. Mit Tränen in den Augen entschuldigt sich Kayla zitternd bei den Hausbewohnern, bevor sie durch den Hinterausgang die Flucht sucht. Die Zwillinge folgen ihr, unverständig und verängstigt. Durch den aufgewirbelten Staub dann wieder Rufe. „Schnell“, ruft die Mutter, aber es ist zu spät, sie wird von ihren Kindern, die noch auf der anderen Strassenseite sind, getrennt. Noch ein letztes Zeichen, sich gut zu verstecken, und jeder muss für sich selbst sorgen.
Die Männer werfen Feuerfackeln links und rechts auf die Häuser. Das Feuer faucht von den Dächern, Asche fällt vom Himmel. Die Brandstifter stürmen in das Haus, in das Kayla geflüchtet ist; sie muss um ihr Leben hasten. Mit wackligen Schritten wagen sich die beiden Kleinen auf die menschenleere Strasse. Zu früh.
„Wie heisst du ?“ schreit ein Mann und greift hart nach Tiku. Der feste Männergriff presst dem Jungen das Blut aus dem Arm; in der anderen Hand hält er das benutzte Messer.
„Tiku“, antwortet der Junge und starrt auf das vom Messer tropfende Blut.
„Und du ?“ wendet sich der Hindu-Nationalist an Ali.
„Er ist mein Bruder“, sagt Tiku fest. Der Mann blickt ihm scharf ins Gesicht und entdeckt keine Lüge.
Er lässt die weinenden Zwillinge stehen und flüchtet, bevor aus den prasselnd brennenden Häusern eine zweite Gruppe, mit Gewehren und Macheten bewaffnet, stürzt. Rote Halbmondsicheln sind auf ihre Hemden, Kopfbinden und Hosen gezeichnet.
„Deine Name !“ heischt ihr bärtiger Anführer Ali an.
Der sagt kleinlaut den Kalifennamen und stellt sich schützend vor seinen Bruder.
Der Film hat nicht begonnen. Ich erzähle Jörg etwas von Agra und Jaipur, die ich gestern besucht habe. Plötzlich vernehme ich, wie jemand hinter mir deutsch spricht. Ich drehe mich ungelenk um und schaue in ein lächelndes Gesicht.
„Hallo“, sage ich stockend. Bevor ich bis zur Unkenntlichkeit erröte, hilft mir Jörg aus der Patsche: „Wie kommt es, im schönen Indien die Sprache Goethes zu hören ?“
„Tja, da staunt ihr“, sagt die dunkle Schönheit keck. „Aber mein Vater ist indischer Niederlassungsleiter eines deutschen Maschinenbauers.“
„Unsere Familie hat fünfzehn Jahre in Mannheim gewohnt“, ergänzt ihr Bruder grinsend.
Ich fühle mich, als ob ich viele tausend Kilometer Flugreise in wenigen Sekunden hinter mich gebracht hätte. Innerlich jubilierend, frage ich jetzt fröhlich: „Kann man denn hier wenigstens irgendwo ein richtiges Bier trinken ?“
„Um deinen Bierbauch zu pflegen ?“ fragt die Kesse zurück.
„In unserer Stammkneipe gibt es ein tolles indisches Bier, das auf einen eingewanderten englischen Braumeister zurückgeht“, schlägt der Bruder vor.
„Das hört sich gut an“, meint Jörg, „also dann bis gleich nach dem Film.“
„Aber sicher !“ grinst die indische Fee, und in diesem Augenblick geht die Saalbeleuchtung aus.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.03.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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