Manchmal schleicht sich eine Depression ein. Sie ist das Resultat vieler
verschiedener Ereignisse, die zeitlich oft weit auseinander liegen. Zuerst wird
es dem Betroffenen nicht bewusst, womit er es zu tun hat. Es gibt aber auch
Patienten, die noch nicht mal großartig mit schlechter Laune zu tun hat, bis
sie ein einziges Ereignis so aus der Bahn wirft, das an ein normales Leben
danach gar nicht mehr zu denken ist.
Und Martin war so ein Patient.
Patient Martin
Die Autobahn A1 in Richtung Dortmund war frei. Und zwar richtig frei. Martin Gohl sah auf den Tacho
seines schwarzen 5-er BMW: 180 Sachen. An sich nichts besonderes, es sei denn,
man befindet sich in einer Tempo 100-Zone. Auf dem dreispurigen Teilstück, einige
Kilometer von der Rheinbrücke und knapp 25 Kilometer vor seinem Heimatort
Wermelskirchen entfernt, merkte Martin mal wieder, das die Geschwindigkeit in
diesem Wagen kaum spürbar war. Lässig lehnte er in seinem Recaro-Sportsitz,
setzte seinen Blinker nach links, um dem Passatfahrer vor sich die
Dringlichkeit seiner Geschwindigkeit zu demonstrieren. Der tat wie ihm geheißen und fuhr auf die
linke Spur. Genau so, dachte Martin, genau so mag ich das. Er tippte mit seinem
rechten Fuß das Pedal noch mal an, beschleunigte auf 200 und raste an dem
Passat vorbei, der allem Anschein nach auf der Mittelspur parkte.
Seine Frau beschwerte sich oft über seinen Fahrstil. “Wer schneller
fährt, steht eher im Stau.” Martin dachte an den Standardspruch seiner Frau und
grinste. Von wegen, kein Stau bis Hollywood, dachte er sich. Und bös ist sie
auch nicht, wenn ich früher zu haus bin.
Martin war Geschwindigkeit gewöhnt. Als Wirtschafts- und Finanzberater
war er oft Schnell unterwegs. Genau so schnell war er in seinem Beruf. Nicht
unüberlegt, aber schnell. Mit seinem Charme und seinem immer gepflegtem
Auftreten hatte er so manche Versicherungspolice verkauft, von der die Kunden
vorher nicht mal geträumt hatte. “Wenn du willst, kannst du einem Eskimo eine
Feuerversicherung verkaufen”, hatte ein
Kollege mal zu ihm gesagt. Nun, so abwegig war das gar nicht. Er liebte es, den
Leuten Versicherungen zu verkaufen, die sie im Leben nicht brauchen würden.
Und er liebte es, schnell zu fahren. Immerhin hatte er den Firmenwagen im
Griff, er war sich sicher, dass er schnell genug reagieren konnte, wenn es
brenzlig würde. Bei 50.000 gefahrenen Kilometern im Jahr hatte er genug
Routine, um mit jeder Situation fertig zu werden. Und selten genug war er sonntags
um die frühe Nachmittagszeit auf der Autobahn unterwegs, er genoss es, die
Sonntagsfahrer zu erschrecken und die freie linke Spur sein eigen zu nennen.
Martin sah in den Rückspiegel. Er hatte ihn etwas nach unten geneigt und
sah in das zufriedene Gesicht seines 2-jährigen Sohns Kevin. Er schlief tief
und fest, Martin hatte das Gefühl, je schneller er fuhr, desto ruhiger schlief
der kleine.
Er schaute auf seine Uhr. Halb drei. Bis zum Kaffee zu hause würde er es
locker schaffen. Silke, seine Frau, hatte ein paar Freunde eingeladen, und so
musste der Sonntagsbesuch bei seinen Eltern etwas kürzer ausfallen als sonst.
Vor ihm tausche ein Baustellenschild auf. Verengte Fahrspuren auf der
Rheinbrücke, Tempo 80. Er beschloss, sich an die angegebene Geschwindigkeit zu
halten, da in diesem Bereich öfter Geschwindigkeitskontrollen durchgeführt
wurden. Die vertane Zeit würde er nach der Baustelle locker wieder aufholen.
Martin lies den BMW ausrollen, bis er auf 90 Kilometer runterzog. Er war
noch immer auf der linken Spur. Ungefähr 100 Meter vor ihm, fuhr einer der
wenigen Lkws auf der rechten Spur.
Martin zog auf die mittlere Spur, um einen Motorradfahrer vorbei zu lassen.
Kurz vor der Brücke begann der Baustellenbereich, und durch die verengten
Fahrspuren musste Martin ziemlich nah an den LKW heranfahren.
Und dann änderte sich Martins Leben.
Martin bemerkte zuerst, dass seine Knie weich wurden. Und er begann zu
schwitzen. Seine Hände fingen plötzlich an zu zittern. Martins erster Gedanke
war: Herzinfarkt. Das haben viele Männer, auch in seinem Alter. 35.
Herzinfarkt. Es sah den Lkw neben sich bedrohlich näher kommen. Und plötzlich
wurde ihm klar, dass er dabei war, sein Bewusstsein zu verlieren. Er starrte
auf die Spur, hielt das Lenkrad verkrampft fest und riss die Augen auf. Jetzt
nicht schlapp machen, mehr konnte er nicht denken. Mach nicht schlapp, Alter,
das ist nichts. Nichts weiter. Alles um ihn herum schien plötzlich völlig
unscharf zu sein und zu verwischen, Martin wischte sich den Schweiß von der
Stirn. Da begannen sich seine Augen unkontrolliert hin- und herzu bewegen. Er
konnte keinen Punkt mehr fixieren, alles verschwamm. Er begann zu brüllen. Zu
brüllen wie ein Fallschirmspringer, dem kurz vor dem Boden klar wird, das sich
dieser Scheißschirm nicht öffnen wird. Er brüllte wie am Spieß. Kurze Bilder
flackerten wie in einen Videoclip vor seinen Augen: Seine Eltern, die seinen
Sohn auf den Armen hielten, seine Frau, die den Kaffeetisch deckte, sein letzter Kunde, den er erst am Freitag
über den Tisch gezogen hatte. Wirre, zusammenhangslose Bilder.
Nur nicht schlappmachen, nicht jetzt. Sein Schreien wurde zum wimmern.
Kevin war inzwischen wach und fing an zu weinen. Martin bekam das schreien mit,
aber nicht von einem Kind, das im Fond seines Autos sitzt, vielmehr war es ein
Schrein aus weiter Ferne. Er drehte sich zu Kevin herum, und sein Sichtfeld
schien die Kopfbewegung zu verzögern, wie in Zeitlupe. Kevin sah ihn ängstlich
an. Plötzlich gab es auf dem Dach des BMW einen schweren Schlag, und Martin
riss den Kopf abrupt nach links. Er war von der mittleren Spur auf die linke
geraten und hätte beinahe den Motorradfahrer gestreift. Der hatte Martin
gesehen und im letzten Moment mit seiner Faust aufs Dach geschlagen.
Jetzt sah Martin fast gar nichts mehr. Er fühlte sich, als ob er durch
einen viel zu engen, dunklen Tunnel fahren würde. Angst. Er hatte nackte Angst.
Sein Herz raste. Er sah nach rechts, keine Standspur. Er konnte nicht halten
und nicht lange mehr lange fahren, das war ihm noch klar. Jetzt nicht
schlappmachen. Martin riss das Steuer wieder nach rechts und gab Vollgas. Er
konnte nicht sagen, wie schnell er war, er wusste nur, dass er halten musste.
Nur nicht hier.
Die Bausstelle war hinter der Brücke zu Ende, aber “Scheiße”, hier war
nur eine Rechtsabsbiegespur und kein gottverdammter Standstreifen. Martin gab noch
einmal Gas und schrie, was das Zeug hielt, um ja nur nicht bewusstlos zu
werden. Ein paar hundert Meter später sah er verschwommen einen Pannenstreifen
auf der Seite, zog an einem Twingo vorbei, steuerte nach rechts, bremste ab und
stoppte den Wagen.
Als er anhielt, würgte er den BMW ab. Er lies seinen Kopf auf das Lenkrad
fallen, seine Atmung ging schwer. Kevin weinte immer noch. Martin richtete sich
auf, sein Gesicht war blutunterlaufen. Er zitterte am ganzen Körper, er hatte
kaum noch Gewalt über seine Bewegungen. “Kevin”, dachte er. Tausend Gedanken
schossen ihm durch den Kopf. Was, wenn er bewusstlos wird? Wenn er nicht mehr
aufwacht? Was wird aus Kevin? Außerdem wusste er, dass Kevin sich aus seinem
Kindersitz alleine losmachen konnte. Was, wenn er auf die Bahn rennt...?
In diesem Moment übergab sich Martin übers Armaturenbrett. Nicht nur das, vielmehr speite er. Ein
Schmerz machte sich breit, und für einen Moment verlor er komplett die
Kontrolle über sich und sank auf den Beifahrersitz. Er röchelte, hielt sich die
Hand vor das Gesicht und kotzte jetzt den Fußraum voll. Kevin weinte nicht mehr
Kevin schrie.
Nach unendlich scheinenden Sekunden beruhigte sich Martins Magen wieder.
Er richtete Sich langsam auf. Seine Hände umfassten das Lenkrad, alles war
voller Schleim und – Blut. Martin öffnete unbeholfen die Fahrertür und
versuchte langsam auszusteigen. Er setzte den linken Fuß auf die Straße und
griff mit der linken Hand auf das Fahrerdach, um sich hochzuziehen. Der
Windstoß des vorbeirasenden LKWs riss beinahe die Fahrertür ab, Martin wurde
durch den Luftstoß gegen die Tür gepresst und fiel fast auf die Straße der LKW
hupte in einem durch, was Martin unter Schock setzte und Kevin vollends aus der
schon nicht mehr vorhandenen Fassung brachte.
“Ein Auto, verdammt...” Martin schmiss die Fahrertür ins Schloss und
stützte sich auf die Motorhaube. Mit der rechten Hand winkte er dem entgegenkommenden
Verkehr zu. Benommen sah er die Autos Wie kleine Tennisbälle an ihm vorbeirauschen,
einige hupten. Er glaubte sogar ein Auto zu sehen, deren Insassen ihm genauso
entgegenwinkten, wie das der lustige Mann am Straßenrand machte.
Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrich. Ein Auto bremste kurz vor ihm
ab und hielt ungefähr 100 Meter vor ihm auf dem Pannenstreifen. Der Wagen
setzte zurück, Martin drehte sich um. Eine Frau stieg aus dem Wagen.
“Um Himmels Willen, was ist mit Ihnen?” fragte die Frau.
Martin sah aus der Heckscheibe zwei Kinder, die nachschauten, was Mami da
machte. Martin röchelte. “Mein Kind.... nehmen sie... brauche Hilfe....” Er
sackte vor dem BMW zusammen. Die Frau versuchte ihn zu stützen. Martin griff
mit letzter Kraft in seine Jackentasche und zog seine Geldbörse heraus. “Mein
Ausweis... bitte nehmen sie mein Kind... rufen sie Hilfe....” Er sah die Frau
an die vor ihm kniete. “Bitte...” sagte er.
Dann wurde es schwarz um ihn.
“Wermelskirchen?”
“Ne, lass mal, direkt nach Leverkusen, für alle Fälle.”
“Tja, dann müssen wir bis Burscheid und wieder drehen.”
“Unser Freund hier hält das hoffentlich aus.”
Martin öffnete die Augen. Er sah ein weißes Dach, hörte ein Martinshorn.
Er nahm die Stimmen war, und sah, wie sich ein Gesicht über ihn beugte.
“Hallo...hören sie mich?”
Martin spürte, das ihm der Hauptteil seiner Körperfunktionen den Dienst
versagten. Er wusste nicht einmal, ob ihm heiß oder kalt war. Er versuchte sich
zu erinnern, was passiert war, sah verschwommene Fragmente. Die Baustelle, sein
Körper, die Geschwindigkeit, der LKW, sein Winken, sein Kotzen, sein
Sohn....Kevin. Kevin...
“Kevin”, sagte Martin. Er hatte
sein Kind irgendwem in die Arme gegeben, wildfremd, nie gesehen. Sein Kind war weg.
“KEVIN!”
“Wer ist Kevin?” fragte der Sanitäter neben ihm.
“Was hat er gesagt?” fragte der Fahrer.
“Er sagt hier irgendwas von einem Kevin. War noch jemand im Auto?”
“Nein,” sagte der Fahrer. “Ein Kindersitz war hinten drin, das war alles.
“Verflucht”, sagte der Sanitäter und drehte sich wieder zu Martin.
“Hallo, war ein Kind im Auto?”
Er rüttelte Martin. “Hören sie mich? Hatten Sie ein Kind dabei?
Martin sah ihm in die Augen. Er griff ihm an den Kragen. “Kevin” sagte
er, bis er wieder bewusstlos wurde.
“Das ist jetzt unsere vierte Sitzung. Herr Gohl, wenn ich ihnen helfen
soll, müssen wir schon ein wenig zusammenarbeiten.”
Martin zuckte zusammen. In Gedanken lies er den Befehl des Psychiaters, noch
mal zum Anfang seiner Depressionen zurückzugehen, zu. Das war vier Jahre her.
Er hatte die Situation auf der Autobahn vor Augen, seinen Zusammenbruch, die
Angst um sein Kind. Er sah seine Frau mit seinem Kind im Krankenhaus
erscheinen, dankbar, das eine fremde Frau ihren Sohn unversehrt nach hause
brachte, nachdem sie den Notarzt gerufen hatte. Er sah sich drei Wochen in der
Klinik, in der an ihm herumgedoktert wurde, er sah die vielen vergeblichen
Versuche der Ärzte, eine eindeutige Diagnose zu stellen, die von Epilepsie bis zum Hirntumor alles
umfassten. Die vielen Psychologen, die er bis dahin aufgesucht hatte, weil er
nach diesem Vorfall kein normales Leben mehr führen konnte. Panikattacken an
öffentlichen Plätzen, Nervenzusammenbrüche. Dazu kamen die Tabletten. An
Autofahren war seitdem sowieso nicht mehr zu denken. Und so verlor er auch
seinen Job. Und irgendwann auch seine Frau. Und er wusste zum verrecken nicht.
Warum. Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er Angst hatte. Angst.
“Herr Gohl, ich weiß, sie wollen das nicht,” sagte der Psychiater. “Aber
ich bin mit meinem Latein am Ende. Ich habe da einen sehr guten Freund und
kompetenten Ansprechpartner in solchen, Herrn Doktor Masano. Er arbeitet in der
Stiftung Tannenhof, einer Klinik für psychisch Kranke. Ich werde gerne einen Termin mit ihm machen, um zu sehen,
ob sie vielleicht in einer stationären Therapie mehr für sie tun können.” Er
sah Martin an.
Martin dachte über seinen Sohn nach, der am kommenden Wochenende das
erste Mal seit 5 Wochen zu ihm zu Besuch kommen wollte. Das erste Mal seit
langer Zeit. Er würde mit ihm reden, spielen, mit ihm toben, kuscheln, auf den
Spielplatz gehen, mit Freunden spielen, ins Kino gehen, Spaß haben, glücklich
sein.
Er sah den Psychiater an.
“Rufen sie ihn an.”
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (René Großmann).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.03.2005.
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