Irmgard Schöndorf Welch

Erlebnis im Sturm

 *







ERLEBNIS IM STURM


Eines Tages hatte Karin M. ein ‚mystisches Erlebnis‘, so wie viele Menschen Ähnliches in der einen oder anderen Form kennen. Es war während eines Kuraufenthalts. An einem Septembernachmittag ging sie durch den Wald. Allein. Sie fühlte sich auf einmal aller irdischen Schwere enthoben, ja entrückt. Später versuchte sie, das Geschehnis in poetischer Form, doch wahrheitsgetreu, festzuhalten:


Und dann ein Sturm

Wie ein Kind oder ein kleines Tier
schweifst du im Wald umher,
und es ist Herbst.

Du treibst dich herum,
wunschlos,
auf der Suche nach gar nichts.
Wind wäscht deine Haut.
Luftdurchtränkt atmet jede deiner Poren Leben.
Du bist Natur.

Und es geschieht, dass der Himmel schwarz wird,
denn es kam ein Wetter auf in der Ferne.
Wie hundert Ströme braust es heran.
Dann ist es rings um dich und überall.
Es ist ein Beben und Zerren in den Wipfeln der Bäume,
dass sie sich niederkrümmen,
dass das Wurzelwerk losreißt
und der Urgrund wankt.

Die stärkste Macht fegt die Erde,
bricht die Stämme um,
bricht auch in dich ein,
löst in dir Wissen,
das der Mensch in seinen Genen durch die Zeiten trägt
und du spürst
ein seltsames
HEIMWEH

Auf einmal dröhnt dir im Aufruhr der Winde
wie aus Schöpfungsdunkel die Brandung,
das Brüllen der Fluten,
als vor Jahrmillionen
die Meere sich formten
in brodelnder Gase Hexenkessel ...
der Erde Anfang - und auch deiner!

Das mächtige Toben des Sturmes
erinnert dich an das Gestiebe deiner Brüder
der Planeten und Sonnen
in ihrem rasenden, endlichen Lauf.
Denn alles ist eins,
und wir sind aus gleicher Materie.

Sturm herrscht im Universum
so wie auf unserem Planeten,
denn sie kreisen nicht lautlos, die Sterne,
sie tönen und tosen gewaltig,
das All widerhallt
von ihrem mächtigen Klang.

Und du, Mensch, bist mitten im großen Sog,
der dich ergriffen hat mit Urgewalt.
Du lässt dich fallen in diese Kraft,
sie reißt deine kleine Seele mit sich davon,
fort aus Raum und Zeit,
noch darüber hinaus,
hinein in die Mitte des Großen,
des Ganzen,
dorthin, wo der UNFASSBARE ist,
der UNBEKANNTE
G O T T.

Und bei dir sind Millionen Verwandte,
von SEINEM Wesen und vom Stoff der Sterne.
Schwer stürzt ihr ihm alle entgegen.
E R fängt euch auf wie ...
Staub.

**********


Dieses Gedicht empfanden manche Leute - als Karin es einmal ins Forum gesetzt hatte - als zu kalt, gefühllos ... sie sagten, es wärme die Seele nicht.
„Wie ein tönern‘ Erz oder eine klingende Schelle“, kam es einem Leser sogar vor. Karin - obwohl sie es immer noch liebte, bemerkte, dass ihr Text kein Versmaß hatte, er war weder Lyrik, noch Prosa und wenn man ihn las, holperten die Worte, wie rostige Räder über ein Kopfsteinpflaster.

So beschloss die Verfasserin, eine verständlichere, lesbarere Form daraus zu entwickeln. Eine Art lyrische Prosa. Sie nannte die Geschichte:





Spaziergängerin im Herbst:
 
Wie ein Kind oder ein kleines Tier
schweift sie durch den Wald,
wunschlos
mit flüchtigen Schritten.

Herbst ist es,
Zeit der Nebel und schweren Dünste.

Lena treibt sich herum,
auf der Suche nach gar nichts.
Wind wäscht ihre Haut.
Von Luft durchtränkt
atmet jede ihrer Poren
Leben.
Sie ist Natur.

Aber
schwarz wird auf einmal der Himmel,
denn es kam ein Wetter auf in der Ferne.
Da ist ein Beben und Zerren
in den Wipfeln der Bäume,
dass sie sich niederkrümmen,
dass das Wurzelwerk losreißt
und der Urgrund wankt.

Wo soll sie jetzt Unterschlupf finden
mitten im Hochwald,
so weit entfernt von Häusern und Menschen?
In Minuten ist sie
vom Regen
bis auf die Knochen durchnässt.

Wie hundert Ströme braust er heran.
Sturm!
Dann ist er rings umher
und überall.

Sie spürt:
die stärkste Macht fegt die Erde,
bricht die Stämme um,
bricht auch in sie ein.

Im rasenden Aufruhr der Winde
tönt ihr auf einmal wie aus dem Dunkel der Schöpfung
die Brandung.
Sie hört
das Brüllen der Fluten,
begreift,
wie vor Jahrmillionen
die Meere sich formten
im Hexenkessel brodelnder Gase,
wie aus Chaos und dem ewigen Funken
das Leben begann,
aller Geschöpfe Anfang
... und auch ihrer.

Da erkennt sie auf einmal,
die Lösung des Rätsels,
woher wir kommen,
wohin wir gehen.

Und
sie spürt sie in sich ein Wissen,
das der Mensch in den Genen
vielleicht schon immer
durch die Zeiten trägt,
das er weitergibt an seine Kinder.

Und es ergreift sie
ein großes
HEIMWEH.

Plötzlich hört sie
im Wüten des Sturmes
das wilde Gestiebe ihrer Brüder,
der Planeten und Sonnen
in ihrem rasenden, endlichen Lauf.
Denn sie kreisen nicht lautlos, die Sterne,
sie toben gewaltig durchs All.
Das Universum erschüttert ihr Klang.

Lena läuft staunend
durch Sturm und Regen.
Unverletzbar ist sie
mitten im großen Sog,
der sie ergriffen hat mit aller Macht.

Sie lässt sich fallen in diese Kraft
und sie reißt ihre Seele davon,
fort aus Raum und Zeit,
hinein in die Mitte des Alls
und darüber hinaus,
wie ein geworfener Stein,
so stürzt sie
dem UNFASSBAREN entgegen,
dem UNBEKANNTEN
GOTT.

Da spürt sie: mit ihr sind
Millionen Verwandte,
von SEINEM Wesen und vom Stoff der Sterne.
Sie fallen ihm alle zu.
Und ER...
wird sie auffangen wie Staub.

*

Später, als sie dann zu den anderen Gästen ins Ferienhotel, in die Normalität des Lebens zurückkommt, da verblasst das Erlebnis des kosmischen Wunders schlagartig und all ihre Euphorie schwindet dahin.
‚Ich bin die gleiche wie vorher‘, muss sie feststellen, ‚oberflächlich und klein ...‘

*


Dieser Versuch ist so missraten, dass ihn das virtuelle Literatur-Forum, in dem sie ihn gepostet hat, flugs zur Bearbeitung und Entwirrung in die ‚Schreibwerkstatt‘ überweist.

Kritiker, Mitdenker und Lyrikverständige sind sich über eines im Klaren: Man kann einen so abstrakten, esoterischen Stoff nicht auf DIESE simple Art behandeln. Sie geben Ratschläge, sehen die Mängel ... der Text ist nicht wirklich bildhaft, nicht mitreißend genug, vermittelt dem Leser nicht wirklich das einschneidende seelische Erlebnis, auch nicht jetzt, wo sie es durch eine Protagonistin namens Lena zu vermitteln sucht.

Mit der Darstellung des Geschehens, das sie so unsagbar beeindruckt hat, hat Karin die größten Schwierigkeiten. Sie, die sonst frisch und tatenfroh ihre ‚Werke‘ schnell herunterschreibt, versucht, nun bastelnd und ziemlich ratlos, ihr Gedicht doch noch in ein angemessenes Kleid zu hüllen.

Nun beschließt sie, das Erlebnis ganz realistisch zu erzählen und fast ohne Pathos:



Eine Frau geht spazieren. Allein. Ungemäht sind die Wiesen. Kräuter und Blütenstauden, hoch wie Büsche, wachsen ihr bis an die Schultern.
Indianersommer. Die Luft riecht nach Sonne. Gelber Hahnenfuß langt ihr ins Gesicht. Grasähren kitzeln ihre Haut.
Eine Schafherde weidet friedlich. Der Schäfer schläft.
Sie läuft weiter.

Die Tannen– und Buchenhaine im Umkreis hat schon seit Jahren keines Försters Hand mehr gepflegt ... da wächst ein Urwald heran.

Wie ein Kind oder ein kleines Tier schweift die Frau umher. Kurgast ist sie oben in der Klinik am Berg.

Sie treibt sich herum, wunschlos, auf der Suche nach gar nichts. Luft wäscht ihre Haut. Winddurchtränkt atmet jede ihrer Poren Leben. Sie ist Natur.

Da geschieht es, dass der Himmel schwarz wird, denn es kam ein Wetter auf in der Ferne. STURM ... wie hundert Ströme rauscht er heran. In der Luft ein Brausen wie von hundert schäumenden Katarakten. Es ist ein Zerren in den Wipfeln der Bäume, dass sie sich niederkrümmen, dass das Wurzelwerk losreißt und der Urgrund wankt, ein Dröhnen ist rings um sie und überall. Dann stürzen die Wasser vom Himmel.

Die Frau im peitschenden Regen, vom Wind vorwärtsgetrieben, rettet sich in den Wald. Sie ist weit vom Kurhaus entfernt.

Die stärkste Macht fegt jetzt die Erde, bricht Stämme um, bricht auch in sie ein. Löst in ihr Erinnerung, die das Menschengeschlecht vielleicht in seinen Genen durch die Zeiten trägt. Sie spürt großes ... HEIMWEH.

Die Frau läuft weiter im Tosen des Sturmes, wird fortgerissen, zurückgetragen, in Urzeiten hinüber, vielleicht zu den ersten Tagen der Erde ... Und sie hört im Aufruhr der Winde aus Schöpfungsdunkel die Brandung, das Brüllen der Fluten, als vor Jahrmillionen die Meere sich formten im Hexenkessel brodelnder Gase.
Der Anfang der Erde - und auch ihrer!

Jenseits des Sturmwinds und Regens, jenseits des pechschwarz gewordenen Himmels, spürt sie das Gestiebe ihrer Brüder, der Planeten und Sonnen in ihrem rasenden Lauf. Denn sie kreisen nicht lautlos, die Sterne, sie tosen gewaltig durchs All. Das Universum erschüttert ihr Klang.

Auf einmal ist auch sie im großen Sog und er ergreift sie mit Urgewalt. Er reißt ihre kleine Seele mit sich fort aus Raum und Zeit, hinein in die Mitte des Alls und ... darüber hinaus.

Ihre Haut glüht wie im Fieber, das Hirn ist wacher denn je, jede Windung von Wärme durchwogt.
Da fühlt sie die UNBEKANNTE Macht, die alles Lenkende ... sie spürt auf einmal das EINE, den EINEN und weiß: jede Substanz – auch die Ihre - ist von SEINEM Wesen und aus dem Stoff der Sterne.

Mit allen Pflanzen, Tieren, Menschen ist sie eins in diesem Augenblick. So stürzt sie ihm schwer entgegen ...
G O T T.
E R wird sie auffangen wie ... Staub.
Tief berührt ist ihr Herz.
Sie spürt:
‚Ich habe die Wahrheit gefunden.‘

Mit brennenden Wangen, bebend und außer sich, kommt sie Stunden später zum Kurhaus. Auf ihrem Zimmer zieht sie rasch das regennasse Zeug aus, fönt ihr Haar trocken, wechselt in ihr schönstes Kleid, denn unten im Saal wird gleich eine Tanzband spielen.

Sie betritt den Raum. Unter den männlichen Gästen ist auch der eine, der ihr so sehr gefällt. Er schaut zu ihr hin. Sie lächelt ihm zu.

Die große Erleuchtung, das kosmische Wunder, das, was sie eben bis in die Wurzeln aufwühlte, das gerade dabei war, ihr Leben in größere, heiligere Bahnen zu lenken ... es hat sich verflüchtigt. Alles um sie und in ihr ist genau so wie vorher.
Sie denkt nur ans Tanzen und an den Mann.
Aber draußen, vor den hermetisch verschlossenen Fenstern tobt noch immer der Sturm.
--


O je. Jetzt hat Karin das hohe Erlebnis verwässert. Nein ... so geht es auch nicht!

Als letzten Versuch, anderen diese wahre Geschichte, die für sie etwas sehr Besonderes ist, zu vermitteln, geht sie hin und wirft wieder all den plaudersamen Ballast weg, der nur vom Kern ablenkt. Sie kehrt zur ersten Fassung zurück:



Es könnte geschehen
 
wie ein Kind oder ein kleines Tier
streifst du im Wald umher
und es ist Herbst

du treibst dich herum
auf der Suche nach gar nichts
Wind wäscht deine Haut
deine Poren atmen Leben
du bist wunschlos
du bist Natur

doch schwarz wird auf einmal der Himmel
denn ein Wetter kam auf in der Ferne
es braust wie Flüsse heran
wird zum rasenden Sturm
da ist ein Beben und Reißen
in den Wipfeln der Bäume
Äste stürzen wie Halme
bis das Wurzelwerk losreißt
und der Urgrund wankt
die größte Macht fegt die Erde
dringt auch in deine Seele ein

plötzlich dröhnt dir im Aufruhr der Winde
wie aus Schöpfungstagen die Brandung
wie das Brüllen der Fluten
als vor Jahrmillionen
ein eiserner Wille
aus Chaos und brodelnden Gasen
die Meere schuf:
Beginn allen Lebens

in dir wächst ein Wissen
dass vielleicht deine Ahnen in ihren Genen
durch die Zeiten gerettet,
in dir wächst die Sehnsucht
nach ewiger Heimat

das heftige Toben des Sturmes
ist wie das Gestiebe
der Planeten und Sonnen
in ihrem rasenden endlichen Lauf
sie sind deinesgleichen
denn alles ist eins
du bist aus gleicher Materie

und nirgends ist Stille
sie kreisen nicht lautlos die Sterne
sie tosen gewaltig durchs All
das Universum erschüttert ihr Klang

du Menschlein bist mitten im Sog
überlass dich der Kraft
sie reißt deine Seele davon
in die Weiten des Raumes hinein
und darüber hinaus
wo der Unbekannte ist,
der Unfassbare

G O T T

Bei dir sind Millionen Verwandte
von SEINEM Wesen
und vom Stoff der Sterne
so stürzt ihr ihm alle entgegen

E R fängt euch auf
wie ... Staub

***************


Kompliziert, kompliziert. Nein, so kommt sie nicht weiter. Zum Löschen sind Karin ihre Verse aber zu schade. Sie beschließt, das Ganze einfach ruhen zu lassen. Irgendwann wird sie den Faden wieder aufnehmen.
Nur nicht heute.
‚Und morgen auch nicht‘, denkt sie.
‚Ich verschiebe es bis nächstes Jahr!‘

‚Oder zum St. Nimmerleinstag‘, flüstert in ihr eine kleine, dämonische Stimme ...



*



Copyright Irmgard Schöndorf Welch, April 2003

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Irmgard Schöndorf Welch).
Der Beitrag wurde von Irmgard Schöndorf Welch auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.03.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Irmgard Schöndorf Welch als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Zeit - Im Fluss des Jahres von Rainer F. Storm



"Zeit - Im Fluss des Jahres" heißt die Anthologie, in der heiter und leicht, gelegentlich auch nachdenklich, der Wandel der Jahreszeiten, sowie Erinnerungen an die Heimatstadt von Rainer F. Storm, wie auch Aufenthalte am Meer und in den Bergen reflektiert werden.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Besinnliches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Irmgard Schöndorf Welch

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

In einer fremden Welt von Irmgard Schöndorf Welch (Wie das Leben so spielt)
Meine Straße von Monika Klemmstein (Besinnliches)
Ein Königreich für eine Lasagne von Uwe Walter (Satire)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen