Hermann Larsen

Treponema pallidum reloaded

Geneigter Leser – ich hoffe, ich darf Sie so nennen… wenn nicht, bitte ich, meine Aufdringlichkeit zu entschuldigen, denn es liegt mir fern, Sie belästigen zu wollen (es ist vielmehr das dringende Bedürfnis, Sie zu warnen, das mich so vertraulich werden lässt) – ich rate Ihnen davon ab, weiter zu lesen! Trotz meiner inneren Erregung aufgrund des frischen Eindrucks der Ereignisse habe ich noch die neurophysiologische Kapazität für die Befürchtung, dass ich Ihnen mit meinem egozentrischen Bericht Ihre Zeit – die ja aufgrund ihrer Knappheit landläufig als kostbar angesehen wird – rauben könnte. Das ist nun eines jener Vergehen, dessen ich mich nicht schuldig machen möchte. Meine Empfehlung ist also dahingehend, dass Sie diese stümperhaften Zeilen ungelesen beiseite legen (und wenn möglich vernichten) und sich wieder mit vollem Eifer Ihren eigenen Angelegenheiten widmen. Sie können mir glauben: Sie würden sich und – in aller Bescheidenheit – auch mir einen großen Gefallen tun. Sollten Sie zu dem Menschenschlage zählen, dem eine gewisse Unschlüssigkeit, ja Zaudersucht zu Eigen ist, räume ich Ihnen gerne noch etwas Bedenkplatz ein:

 

 

 

 

 

Hier ist noch mehr:

 

 

 

Allen Neugierigen verspreche ich, mich kurz zu fassen. Dies ist nicht ganz einfach, denn es ist mir schon bewusst, dass die heutigen Ereignisse einen langen Vorlauf haben, den ich in aller Ausführlichkeit schildern könnte. Um gar nicht erst in die Versuchung zu kommen, Sie mit allzu vielen Einzelheiten zu behelligen, fange ich gleich mit dem heutigen Vormittag an.

Die Sonne schien und ich war so nervös und unkonzentriert wie lange nicht mehr. Umso näher der Uhrzeiger auf halb elf vorrückte, desto öfter spähte ich in die Richtung, aus der Erwin für gewöhnlich zu kommen pflegte. Dadurch war ich so abgelenkt, dass ich einem Kunden versehentlich Ketchup auf die Pommes gemacht habe, obwohl er ausdrücklich Mayo bestellt hatte. Ein solches Missgeschick war mir noch nie passiert. Noch nie! Ich bin nämlich überaus korrekt. Wenn mich die Leute für irgendwas in Erinnerung behalten sollten, dann für meine Korrektheit. Acht nach elf gab ich die Hoffnung auf, dass Erwin noch kommen würde. Was war nur los mit ihm? Dies war jetzt schon der vierte Tag, an dem er sich nicht blicken ließ. So etwas hatte es in den letzten zwölf Jahren noch nie gegeben. Erwin war sonst jeden Vormittag hier, sogar am Sonntag. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich in der ganzen langen Zeit nur ein einziges Mal vergeblich auf ihn gewartet. Das war vor sechseinhalb Jahren, an diesem bitterkalten 17. Februar.

Man kann nicht gerade behaupten, dass mir Erwin irgendwie ans Herz gewachsen wäre. Ich kenne ihn ja kaum. Aber jetzt, wo er sich schon den vierten Tag nicht hat blicken lassen, war ich doch schon ziemlich beunruhigt. Erwin kommt sonst immer gegen halb elf an meinen Stand und bestellt eine Bockwurst und einen Doppelten. Erst trinkt er den Doppelten und dann isst er die Wurst. Wenn er aufgegessen hat, trinkt er noch einen Doppelten. Erwin trinkt gern. Gern und viel. Er hat die andauernde, grenzenlose und systematische Desorientierung der Sinne so weit vorangetrieben, dass er sich seit geraumer Zeit für den König von Spanien hält. Ansonsten weiß ich nicht viel über Erwin. Obwohl er seit zwölf Jahren tagtäglich herkommt, habe ich mit ihm nie mehr als das Nötigste besprochen. Ich rede nicht besonders viel. Und Erwin ist auch nicht gerade ein Schwätzer. Das wenige, was ich über Erwin weiß, habe ich bei seinen Gesprächen mit einem gelegentlich aufkreuzenden Trinkerkollegen aufgeschnappt.

Nachdem ich etwas nachgedacht hatte, machte ich vier vor zwölf Feierabend. Ich musste der Sache jetzt auf den Grund gehen. Noch so einen Vormittag der Ungewissheit würde ich nicht ertragen können. Also machte ich mich auf den Weg zu dem Haus, in dem Erwin wohnte. Wo das Haus lag, nämlich in der Berggasse 19, wusste ich zufällig, weil sich Erwin mal mit seinem Kollegen darüber unterhalten hatte. Nach zweiundzwanzig Minuten Fußmarsch stand ich vor einem vierstöckigen Altbau, bei dem etliche Dachziegel fehlten und der Putz von der Hauswand bröckelte. Die massive Eichentür stand offen, also ging ich hinein. Im Treppenhaus roch es nach Katzenpisse und Kohlsuppe. Der Boden war mit kaputten Kacheln übersät, die sich von der Wand gelöst hatten. In der Hoffnung, irgendwelche Hinweise auf Erwin zu finden, warf ich einen Blick auf die zerbeulten Briefkästen. Auf denen stand entweder gar nichts oder nur der Nachname, und den von Erwin kannte ich ja leider nicht. Also ging ich auf den engen Hinterhof, um eventuell in irgendein Fenster zu schauen. Eine wohlgenährte Frau, die ihre besten Jahre schon hinter sich hatte, stellte ihren Wäschekorb ab und fragte mich, ob sie mir helfen könne. Ich erklärte, dass ich einen gewissen Erwin suche und versuchte, ihn zu beschreiben. Dabei fiel mir auf, dass ich nur einen verschwommenen Eindruck von Erwin hatte. Obwohl ich ihn seit 12 Jahren täglich sah und stets mit einer gewissen Faszination beobachtete, war sein Bild blass und konturenlos geblieben. Erwin war ein Mann ohne Eigenschaften. Die Hausfrau meinte, bei dem Gesuchten könne es sich nur um Erwin Sommer handeln, der tatsächlich in diesem Haus gewohnt habe, aber bereits vor einem halben Jahr ausgezogen sei. Seine neue Adresse könne sie mir leider nicht sagen, da Herr Sommer sehr zurückgezogen gelebt und so gut wie keinen Kontakt zu den anderen Mietern gehabt habe. Ich bedankte mich und ging. Dann fiel mir ein, wo ich Erwin vielleicht finden könnte. Aus Gesprächen zwischen ihm und seinem Kollegen habe ich entnehmen können, dass sie sich mit anderen Spirituosenliebhabern immer im Goljadkin-Park treffen, um sich dort in geselliger Runde mit einem guten Tropfen die Kehle anzufeuchten. Der besagte Park ist recht klein, ich brauchte also nicht lange, um die Zecher zu entdecken. Es waren fünf Männer, zwei Hunde und eine Frau. Sie hatten sich einige Holzbänke zusammen geschoben und offensichtlich jede Menge Spaß. Ich lief erst etwas im Park herum, weil ich Bedenken hatte, ob ich wirklich nach Erwin Sommer fragen sollte, aber als ich sah, dass der bereits erwähnte Kollege auch da war, nahm ich meinen Mut zusammen und ging hin. Nachdem sich die Hunde beruhigt hatten, erklärte ich, dass ich auf der Suche nach Erwin Sommer sei. Erwins Kollege, ein großer, kräftiger Kerl mit langen grauen Haaren und einem imposanten Schnauzbart, zeigte seine sieben Zähne und meinte: „Da musst du auf den Friedhof gehen.“ „Auf den Friedhof? Wieso?“ „Erwin ist vor zwei Monaten gestorben.“ „Aber das kann nicht sein. Er hat doch letzte Woche noch eine Bockwurst bei mir gegessen.“ „Dann ist er entweder auferstanden oder hat einen Doppelgänger.“ Die Zecher lachten, die Hunde bellten und die Frau kreischte hysterisch. Doch so einfach ließ ich mich nicht abwimmeln. „Sie sind doch selbst dabei gewesen“, meinte ich mit Nachdruck zum großflächig tätowierten Wortführer. „Wo soll ich gewesen sein?“ „Bei mir am Imbissstand. Sie sind doch öfter mal da.“ Der Hüne, der zu jeder Jahreszeit dasselbe Hawaiihemd trägt, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und machte ein komisches Geräusch mit seiner Nase. „Das stimmt. Aber letzte Woche war ich nur mit meiner Mutter da. Übrigens werden deine Würste immer ungenießbarer.“ Wieder lachten die Zecher, bellten die Hunde und kreischte die Frau. Als ich dem Wurstverächter schonend beibringen wollte, dass er sich in jeder Hinsicht irrt, unterbrach er mich und meinte sinngemäß, ich hätte ihn jetzt lange genug auf den Arm genommen. Weil er mich dabei so drohend anblinzelte und mir von den verschiedenen Fahnen schon schwindlig geworden war, zog ich es vor, mich aus dem Staub zu machen. Die ganze Angelegenheit wurde immer merkwürdiger. Ich ging auf die nächste Polizeidienststelle, um endlich eine zuverlässige Auskunft über den Verbleib von Erwin Sommer zu erhalten. Der Polizeibeamte schaute ewig in seinem Computer nach und bestätigte dann, was die Zecher mir schon gesagt hatten: „Herr Dr. Sommer, Vorname Erwin, ist bereits seit zwei Monaten tot und auch schon längst beigesetzt.“ Ich wurde nun, was überhaupt nicht meine Art ist, richtig wütend und vergriff mich fast im Ton: „Das kann nicht sein! Das ist ein schlechter Scherz! Ich werde Ihnen beweisen, dass Erwin Sommer noch lebt!“ Aufgebracht verließ ich das Revier. Auf dem Weg nach Hause fragte ich mich, ob ich vielleicht verrückt geworden war. Aber diesen Gedanken verwarf ich sofort wieder. Viel wahrscheinlicher war, dass ich das Opfer einer gut organisierten Verschwörung geworden war. Mir war klar, dass ich am nächsten Tag nicht würde arbeiten können und stattdessen Erwin Sommer suchen müsste. Wo ich anfangen sollte, wusste ich noch nicht. Da würde mir schon noch etwas einfallen. Als ich entschlossen meine Wohnungstür aufschloss, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Am anderen Ende des Flurs stand niemand anderes als Erwin Sommer. Der, den ich die ganze Zeit gesucht hatte, stand bei mir im Flur! Um mich zu vergewissern, dass er es wirklich war, machte ich das Licht an und ging auf ihn zu. Er kam mir entgegen. Stumm standen wir uns gegenüber, nur einen Meter voneinander entfernt. Er war es tatsächlich! Erwin Sommer. Als ich grinste, grinste er auch. Als ich meine Hand ausstreckte, tat er es ebenfalls. Ich wandte mich kopfschüttelnd vom Spiegel ab. Es war wirklich unglaublich! Ich selbst war Erwin Sommer! Meine Suche hatte endlich ein Ende.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.03.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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