Hier ist noch mehr:
Allen Neugierigen
verspreche ich, mich kurz zu fassen. Dies ist nicht ganz einfach, denn es ist
mir schon bewusst, dass die heutigen Ereignisse einen langen Vorlauf haben, den
ich in aller Ausführlichkeit schildern könnte. Um gar nicht erst in die
Versuchung zu kommen, Sie mit allzu vielen Einzelheiten zu behelligen, fange
ich gleich mit dem heutigen Vormittag an.
Die Sonne schien und ich
war so nervös und unkonzentriert wie lange nicht mehr. Umso näher der Uhrzeiger
auf halb elf vorrückte, desto öfter spähte ich in die Richtung, aus der Erwin
für gewöhnlich zu kommen pflegte. Dadurch war ich so abgelenkt, dass ich einem
Kunden versehentlich Ketchup auf die Pommes gemacht habe, obwohl er
ausdrücklich Mayo bestellt hatte. Ein solches Missgeschick war mir noch nie
passiert. Noch nie! Ich bin nämlich überaus korrekt. Wenn mich die Leute für
irgendwas in Erinnerung behalten sollten, dann für meine Korrektheit. Acht nach
elf gab ich die Hoffnung auf, dass Erwin noch kommen würde. Was war nur los mit
ihm? Dies war jetzt schon der vierte Tag, an dem er sich nicht blicken ließ. So
etwas hatte es in den letzten zwölf Jahren noch nie gegeben. Erwin war sonst
jeden Vormittag hier, sogar am Sonntag. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich
in der ganzen langen Zeit nur ein einziges Mal vergeblich auf ihn gewartet. Das
war vor sechseinhalb Jahren, an diesem bitterkalten 17. Februar.
Man kann nicht gerade
behaupten, dass mir Erwin irgendwie ans Herz gewachsen wäre. Ich kenne ihn ja
kaum. Aber jetzt, wo er sich schon den vierten Tag nicht hat blicken lassen,
war ich doch schon ziemlich beunruhigt. Erwin kommt sonst immer gegen halb elf
an meinen Stand und bestellt eine Bockwurst und einen Doppelten. Erst trinkt er
den Doppelten und dann isst er die Wurst. Wenn er aufgegessen hat, trinkt er
noch einen Doppelten. Erwin trinkt gern. Gern und viel. Er hat die andauernde,
grenzenlose und systematische Desorientierung der Sinne so weit vorangetrieben,
dass er sich seit geraumer Zeit für den König von Spanien hält. Ansonsten weiß
ich nicht viel über Erwin. Obwohl er seit zwölf Jahren tagtäglich herkommt,
habe ich mit ihm nie mehr als das Nötigste besprochen. Ich rede nicht besonders
viel. Und Erwin ist auch nicht gerade ein Schwätzer. Das wenige, was ich über
Erwin weiß, habe ich bei seinen Gesprächen mit einem gelegentlich aufkreuzenden
Trinkerkollegen aufgeschnappt.
Nachdem ich etwas
nachgedacht hatte, machte ich vier vor zwölf Feierabend. Ich musste der Sache
jetzt auf den Grund gehen. Noch so einen Vormittag der Ungewissheit würde ich
nicht ertragen können. Also machte ich mich auf den Weg zu dem Haus, in dem Erwin
wohnte. Wo das Haus lag, nämlich in der Berggasse 19, wusste ich zufällig, weil
sich Erwin mal mit seinem Kollegen darüber unterhalten hatte. Nach
zweiundzwanzig Minuten Fußmarsch stand ich vor einem vierstöckigen Altbau, bei
dem etliche Dachziegel fehlten und der Putz von der Hauswand bröckelte. Die
massive Eichentür stand offen, also ging ich hinein. Im Treppenhaus roch es
nach Katzenpisse und Kohlsuppe. Der Boden war mit kaputten Kacheln übersät, die
sich von der Wand gelöst hatten. In der Hoffnung, irgendwelche Hinweise auf
Erwin zu finden, warf ich einen Blick auf die zerbeulten Briefkästen. Auf denen
stand entweder gar nichts oder nur der Nachname, und den von Erwin kannte ich
ja leider nicht. Also ging ich auf den engen Hinterhof, um eventuell in
irgendein Fenster zu schauen. Eine wohlgenährte Frau, die ihre besten Jahre
schon hinter sich hatte, stellte ihren Wäschekorb ab und fragte mich, ob sie
mir helfen könne. Ich erklärte, dass ich einen gewissen Erwin suche und
versuchte, ihn zu beschreiben. Dabei fiel mir auf, dass ich nur einen
verschwommenen Eindruck von Erwin hatte. Obwohl ich ihn seit 12 Jahren täglich
sah und stets mit einer gewissen Faszination beobachtete, war sein Bild blass
und konturenlos geblieben. Erwin war ein Mann ohne Eigenschaften. Die Hausfrau
meinte, bei dem Gesuchten könne es sich nur um Erwin Sommer handeln, der
tatsächlich in diesem Haus gewohnt habe, aber bereits vor einem halben Jahr
ausgezogen sei. Seine neue Adresse könne sie mir leider nicht sagen, da Herr
Sommer sehr zurückgezogen gelebt und so gut wie keinen Kontakt zu den anderen
Mietern gehabt habe. Ich bedankte mich und ging. Dann fiel mir ein, wo ich
Erwin vielleicht finden könnte. Aus Gesprächen zwischen ihm und seinem Kollegen
habe ich entnehmen können, dass sie sich mit anderen Spirituosenliebhabern
immer im Goljadkin-Park treffen, um sich dort in geselliger Runde mit einem
guten Tropfen die Kehle anzufeuchten. Der besagte Park ist recht klein, ich
brauchte also nicht lange, um die Zecher zu entdecken. Es waren fünf Männer,
zwei Hunde und eine Frau. Sie hatten sich einige Holzbänke zusammen geschoben
und offensichtlich jede Menge Spaß. Ich lief erst etwas im Park herum, weil ich
Bedenken hatte, ob ich wirklich nach Erwin Sommer fragen sollte, aber als ich
sah, dass der bereits erwähnte Kollege auch da war, nahm ich meinen Mut
zusammen und ging hin. Nachdem sich die Hunde beruhigt hatten, erklärte ich,
dass ich auf der Suche nach Erwin Sommer sei. Erwins Kollege, ein großer,
kräftiger Kerl mit langen grauen Haaren und einem imposanten Schnauzbart,
zeigte seine sieben Zähne und meinte: „Da musst du auf den Friedhof gehen.“ „Auf
den Friedhof? Wieso?“ „Erwin ist vor zwei Monaten gestorben.“ „Aber das kann
nicht sein. Er hat doch letzte Woche noch eine Bockwurst bei mir gegessen.“ „Dann
ist er entweder auferstanden oder hat einen Doppelgänger.“ Die Zecher lachten,
die Hunde bellten und die Frau kreischte hysterisch. Doch so einfach ließ ich
mich nicht abwimmeln. „Sie sind doch selbst dabei gewesen“, meinte ich mit Nachdruck
zum großflächig tätowierten Wortführer. „Wo soll ich gewesen sein?“ „Bei mir am
Imbissstand. Sie sind doch öfter mal da.“ Der Hüne, der zu jeder Jahreszeit
dasselbe Hawaiihemd trägt, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und
machte ein komisches Geräusch mit seiner Nase. „Das stimmt. Aber letzte Woche
war ich nur mit meiner Mutter da. Übrigens werden deine Würste immer
ungenießbarer.“ Wieder lachten die Zecher, bellten die Hunde und kreischte die
Frau. Als ich dem Wurstverächter schonend beibringen wollte, dass er sich in
jeder Hinsicht irrt, unterbrach er mich und meinte sinngemäß, ich hätte ihn
jetzt lange genug auf den Arm genommen. Weil er mich dabei so drohend
anblinzelte und mir von den verschiedenen Fahnen schon schwindlig geworden war,
zog ich es vor, mich aus dem Staub zu machen. Die ganze Angelegenheit wurde
immer merkwürdiger. Ich ging auf die nächste Polizeidienststelle, um endlich
eine zuverlässige Auskunft über den Verbleib von Erwin Sommer zu erhalten. Der
Polizeibeamte schaute ewig in seinem Computer nach und bestätigte dann, was die
Zecher mir schon gesagt hatten: „Herr Dr. Sommer, Vorname Erwin, ist bereits
seit zwei Monaten tot und auch schon längst beigesetzt.“ Ich wurde nun, was
überhaupt nicht meine Art ist, richtig wütend und vergriff mich fast im Ton: „Das
kann nicht sein! Das ist ein schlechter Scherz! Ich werde Ihnen beweisen, dass
Erwin Sommer noch lebt!“ Aufgebracht verließ ich das Revier. Auf dem Weg nach
Hause fragte ich mich, ob ich vielleicht verrückt geworden war. Aber diesen
Gedanken verwarf ich sofort wieder. Viel wahrscheinlicher war, dass ich das
Opfer einer gut organisierten Verschwörung geworden war. Mir war klar, dass ich
am nächsten Tag nicht würde arbeiten können und stattdessen Erwin Sommer suchen
müsste. Wo ich anfangen sollte, wusste ich noch nicht. Da würde mir schon noch
etwas einfallen. Als ich entschlossen meine Wohnungstür aufschloss, glaubte ich
meinen Augen nicht zu trauen. Am anderen Ende des Flurs stand niemand anderes
als Erwin Sommer. Der, den ich die ganze Zeit gesucht hatte, stand bei mir im
Flur! Um mich zu vergewissern, dass er es wirklich war, machte ich das Licht an
und ging auf ihn zu. Er kam mir entgegen. Stumm standen wir uns gegenüber, nur
einen Meter voneinander entfernt. Er war es tatsächlich! Erwin Sommer. Als ich
grinste, grinste er auch. Als ich meine Hand ausstreckte, tat er es ebenfalls.
Ich wandte mich kopfschüttelnd vom Spiegel ab. Es war wirklich unglaublich! Ich
selbst war Erwin Sommer! Meine Suche hatte endlich ein Ende.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.03.2005.
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