Nach einigen Minuten betrat
Adam lautlos die Küche und lehnte sich unbeteiligt an den Türrahmen. Annemaries
rotschwarz gestreifter Strickpulli hing über der Stuhllehne. Auf dem Tisch
standen zwei leere Gläser. Zwei Löffel lagen daneben. Auf der Spüle ruhte die
beschlagene, mit Hagebuttentee gefüllte Teekanne. Adam hasste Hagebutte.
Annemarie hatte ihn jetzt bemerkt und lächelte ihn an. Dabei zeigte sich ihr
entzückendes Grübchen. Vergnügt nahm sie den Honig aus dem Vorratsschrank und
stellte ihn auf den Tisch zu den Löffeln und Gläsern. „Wo warst du, Adam?“ „Ich
habe mir nur was angezogen.“ „Und was hast du da hinter deinem Rücken?“ fragte
Annemarie in freudiger Erwartung. „Nichts“, antwortete Adam wahrheitsgemäß. „Nichts?
Soso. Nichts also“, konstatierte Annemarie enttäuscht. „Was hast du denn
erwartet?“ Annemarie zuckte mit den Schultern, strich sich eine verirrte
Strähne aus der Stirn, nahm die Teekanne und setzte sich an den kleinen
Küchentisch. Als sie ihr Teeglas füllte, tat sie das derart konzentriert, dass
ihre Kiefernknochen hervortraten. Adam, der noch immer im Türrahmen lehnte,
ärgerte sich, dass Annemarie ihm nicht auch einen Tee anbot. Kurz entschlossen
setzte er sich auf den Stuhl ihr gegenüber und schaute zu, wie sie verzweifelt
versuchte, das verklebte Honigglas zu öffnen, das er selbst schon seit
Ewigkeiten nicht mehr aufbekommen hatte. Er sah, wie ihr die Anstrengung das
Blut in den Kopf schießen ließ und ihr Gesicht zu einer Fratze verzerrte. Er
hoffte, dass sie ihn um Hilfe bitten würde. Diesen Gefallen tat ihm Annemarie
nicht. Um nicht abzurutschen, umwickelte sie den Deckel des Glases mit einem
Teil ihres T-Shirts. Ein unangenehmes Knirschen verkündete schließlich ihren
Erfolg. Sie verrührte den Honig mechanisch …und sagte kein einziges Wort. Nur
der Löffel, der gegen das Glas schlug, war zu hören.
Klack-Klack-Klack. „Dein
Mantel, der ist doch neu, oder?“ hörte sich Adam nach einer Weile sagen.
Annemarie rührte weiter in ihrem Glas, den Löffel fest in der Hand. Adam
fürchtete schon, sie würde nicht antworten. „Den haben mir meine Eltern
geschenkt. Zum Geburtstag.“ Adam spürte, wie ihm der Kopf anschwoll. „Oh nein,
heute ist ja der Einundzwanzigste... Herzlichen Glückwunsch.“ „Schon gut. Du
musst mir nicht gratulieren. Ich habe ja nichts geleistet.“ „Ja, das ist
richtig, aber..., na egal...“
Klack-Klack-Klack. Während
es draußen dämmerte, ging Adam gedanklich die Munitions- und Nahrungsvorräte der
Truppe durch. „Glaubst du, dass das mit uns beiden noch einen Sinn hat?“ fragte
Annemarie, da sie keine Antwort erhalten hatte, bereits zum zweiten Mal. „Warum
denn nicht?“ „Kann sein, dass ich mich täusche, aber ich habe den Eindruck,
dass du gar nicht an einer Beziehung mit mir interessiert bist.“ „Wie kommst du
denn darauf?“ „Ganz einfach. Du hörst mir nicht zu. Du rufst mich nie an. Du
vergisst meinen Geburtstag.“ „Tut mir leid, ich bin momentan etwas im Stress. Du
weißt, ich muss meinen Roman zu Ende schreiben. Dann noch essen, schlafen und
vergessen.“ „Das sehe ich ja auch ein, aber…“ „Was aber?“ „Du fährst zu oft
nach Darmstadt.“ „Aha, daher weht der Wind! Du bist eifersüchtig auf Leander!“ „Weil
du für ihn immer Zeit hast. Ihr seht euch in letzter Zeit fast täglich. Ich
dagegen muss dich um ein Treffen regelrecht anbetteln.“ „So ist es ja nun auch
nicht. Aber ich gebe zu, der Kontakt mit Leander bedeutet mir sehr viel. Er
inspiriert mich, er motiviert mich, er bringt mich in meiner kreativen
Entwicklung voran.“ „Und mit mir kannst du gar nichts anfangen.“ „So sieht es
vielleicht aus, aber du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben.“ „Das musst
du mir erst noch beweisen.“ „Wie denn?“ „Indem du dich entscheidest: er oder
ich.“ „Unsinn. Das ist gar nicht nötig. Ihr seid inkommensurabel… Was ich sagen
will: Leander ist keine Konkurrenz für dich. Der Austausch mit ihm findet auf
einer ganz anderen Ebene statt.“ „Er oder ich.“ „Bleib ruhig, Annemarie. Ich
kann dir Leander vorstellen. Du wirst ihn mögen. Er wird dich bestimmt auch
mögen. Wir könnten etwas zu dritt unternehmen.“ „Ich will ihn nicht kennen
lernen.“ „Warum nicht? Er ist sogar hier, nebenan im Schlafzimmer. Er wird
jetzt nämlich erst mal eine Weile hier wohnen.“ „Das wird ja immer schöner!“
„Aber versteh doch…“ „Nein, hör auf jetzt. Ich habe genug!“ Annemarie stützte
ihr Kinn auf die Hände und massierte ihre geschlossenen Augen. Adam starrte auf
Annemaries Hände. Die Minuten vergingen. Draußen war es dunkel geworden. Den
Blick fest auf die Küchenuhr gerichtet, trank Annemarie den letzten lauwarmen
Schluck Tee. Seufzend stellte sie Glas und Löffel ins Spülbecken. Leise zog sie
die Wohnungstür hinter sich zu.
Adam blieb wie versteinert
sitzen und schaute verschwommen auf den leeren Stuhl ihm gegenüber. Nach einer
Weile stand er auf, nahm das große Tranchiermesser aus dem Block und prüfte mit
dem Daumen vorsichtig dessen Klingenschärfe. Er wollte sichergehen, dass er auf
Anhieb einen sauberen Schnitt hinbekam. Nichts war ihm in diesem Augenblick
wichtiger. Er sah, dass das Messer gut war und er war zufrieden. Voller
Zuversicht griff sich Adam das aufgetaute Rinderherz, von dem er einen Streifen
abschnitt, den er sorgfältig zerkleinerte. Er schob sich ein kleines Häufchen
des feinen Fleischbreis in die linke Hand und schlich in sein Schlafzimmer. Auf
dem Tisch in der Mitte des Raumes stand ein riesiges Aquarium, dessen einziger
Bewohner, ein neunzig Zentimeter langer, farbenprächtiger
Pfauenaugenbuntbarsch, gelangweilt vor sich hindöste. Adam klopfte mit dem
Knöchel gegen die Scheibe und ließ das Rinderherzmus ins Wasser sinken. Leander
liebte Rinderherz. Er verschlang die Fleischkrümel, bevor sie den Grund
erreichten.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.03.2005.
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