Hermann Larsen

Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben


Adam Braun war wieder einmal in einer aussichtslosen Situation. Der Kopf tat ihm sehr weh, und sein Arm wurde immer steifer, so dass die geringste Bewegung ihm fast unerträgliche Schmerzen bereitete. Während er mit dem gesunden Arm die lederne Weinflasche erhob, blickte er zu dem hellen, hohen, blauen Frühsommerhimmel auf. Er war jetzt zweiundfünfzig Jahre alt, und er war überzeugt davon, dass er zum letzten Mal diesen Himmel sah. Er hatte gar keine Angst vor dem Sterben, aber es ärgerte ihn, dass man ihn auf diesem Hügel umstellt hatte, der zu nichts anderem taugte als zum Sterben. Er setzte die Flasche ab und konzentrierte sich auf ein Geräusch, das aus Richtung Segovia an sein Ohr drang. Es war trotz der Entfernung gut vernehmbar und ihm nur allzu vertraut. Zu oft hatte er es schon hören müssen. Mit Mühe richtete er seinen Oberkörper auf und starrte in die ihn umgebende stille Finsternis. Er fragte sich, wo er war. Eben hatte er noch mit dem alten Anselmo und den anderen die Brücke gesprengt und nun lag er in diesem dunklen Raum. Er hielt den Atem an und lauschte. Nach einer sekundenlangen Ewigkeit klingelte es dann zum zweiten Mal. Laut und lang anhaltend. Adam warf die Bettdecke zur Seite und tappte fluchend in langer Unterhose und Socken zur Wohnungstür. Er trug immer zwei Paar Socken übereinander, weil er so leicht kalte Füße bekam. Besonders jetzt im Dezember. Adam linste durch den Spion, seufzte kurz, zog die Sicherheitskette ab und öffnete die Tür. Annemarie strahlte ihn mit ihren blauen Augen an und breitete die Arme zur Begrüßung aus. Adam klopfte ihr unentschlossen auf die Schulter. „Genau so habe ich mir eine Begrüßung nach einer Woche vorgestellt“, meinte Annemarie missmutig. „Komm erst mal rein. Hier ist es mir zu frisch.“ „Hast wohl gerade geschlafen?“ Adam brummte zustimmend und starrte auf seine Gänsehaut übersäten Arme, die er vor der Brust verschränkt hielt. Annemarie lächelte verständnisvoll und hängte ihren Mantel akkurat über einen Kleiderbügel. Nachdem sie sich vor dem trüben Garderobenspiegel einige halb getaute Schneeflocken aus ihrem kastanienfarbenen Haar gewischt hatte, widmete sie sich noch einmal ausgiebig ihrem Mantel. Die Ärmel wurden glatt gestrichen, die Schulterpartie gerichtet, die Taschen geleert. Adam stand, den rechten Fuß auf dem linken parkend, regungslos daneben. „Du glaubst gar nicht, wie kalt es draußen ist“, sagte Marie, ihre roten Hände reibend. „Ja, der Sommer ist wohl endgültig vorbei.“ „Ich könnte jetzt jedenfalls einen heißen Tee vertragen.“ „Ich auch. Am besten, du machst gleich eine ganze Kanne.“ „Welche Sorte?“ „Ist mir egal.“ „Na gut, dann gehe ich mal in die Küche.“ „Pass auf, dass du den Vorhang nicht abreißt!“ „Kommst du nicht mit?“ „Doch, doch. Gleich. Ich muss mir nur schnell etwas überziehen.“ „Verstehe“, meine Annemarie mit Mitwissermiene.

Nach einigen Minuten betrat Adam lautlos die Küche und lehnte sich unbeteiligt an den Türrahmen. Annemaries rotschwarz gestreifter Strickpulli hing über der Stuhllehne. Auf dem Tisch standen zwei leere Gläser. Zwei Löffel lagen daneben. Auf der Spüle ruhte die beschlagene, mit Hagebuttentee gefüllte Teekanne. Adam hasste Hagebutte. Annemarie hatte ihn jetzt bemerkt und lächelte ihn an. Dabei zeigte sich ihr entzückendes Grübchen. Vergnügt nahm sie den Honig aus dem Vorratsschrank und stellte ihn auf den Tisch zu den Löffeln und Gläsern. „Wo warst du, Adam?“ „Ich habe mir nur was angezogen.“ „Und was hast du da hinter deinem Rücken?“ fragte Annemarie in freudiger Erwartung. „Nichts“, antwortete Adam wahrheitsgemäß. „Nichts? Soso. Nichts also“, konstatierte Annemarie enttäuscht. „Was hast du denn erwartet?“ Annemarie zuckte mit den Schultern, strich sich eine verirrte Strähne aus der Stirn, nahm die Teekanne und setzte sich an den kleinen Küchentisch. Als sie ihr Teeglas füllte, tat sie das derart konzentriert, dass ihre Kiefernknochen hervortraten. Adam, der noch immer im Türrahmen lehnte, ärgerte sich, dass Annemarie ihm nicht auch einen Tee anbot. Kurz entschlossen setzte er sich auf den Stuhl ihr gegenüber und schaute zu, wie sie verzweifelt versuchte, das verklebte Honigglas zu öffnen, das er selbst schon seit Ewigkeiten nicht mehr aufbekommen hatte. Er sah, wie ihr die Anstrengung das Blut in den Kopf schießen ließ und ihr Gesicht zu einer Fratze verzerrte. Er hoffte, dass sie ihn um Hilfe bitten würde. Diesen Gefallen tat ihm Annemarie nicht. Um nicht abzurutschen, umwickelte sie den Deckel des Glases mit einem Teil ihres T-Shirts. Ein unangenehmes Knirschen verkündete schließlich ihren Erfolg. Sie verrührte den Honig mechanisch …und sagte kein einziges Wort. Nur der Löffel, der gegen das Glas schlug, war zu hören.

Klack-Klack-Klack. „Dein Mantel, der ist doch neu, oder?“ hörte sich Adam nach einer Weile sagen. Annemarie rührte weiter in ihrem Glas, den Löffel fest in der Hand. Adam fürchtete schon, sie würde nicht antworten. „Den haben mir meine Eltern geschenkt. Zum Geburtstag.“ Adam spürte, wie ihm der Kopf anschwoll. „Oh nein, heute ist ja der Einundzwanzigste... Herzlichen Glückwunsch.“ „Schon gut. Du musst mir nicht gratulieren. Ich habe ja nichts geleistet.“ „Ja, das ist richtig, aber..., na egal...“

Klack-Klack-Klack. Während es draußen dämmerte, ging Adam gedanklich die Munitions- und Nahrungsvorräte der Truppe durch. „Glaubst du, dass das mit uns beiden noch einen Sinn hat?“ fragte Annemarie, da sie keine Antwort erhalten hatte, bereits zum zweiten Mal. „Warum denn nicht?“ „Kann sein, dass ich mich täusche, aber ich habe den Eindruck, dass du gar nicht an einer Beziehung mit mir interessiert bist.“ „Wie kommst du denn darauf?“ „Ganz einfach. Du hörst mir nicht zu. Du rufst mich nie an. Du vergisst meinen Geburtstag.“ „Tut mir leid, ich bin momentan etwas im Stress. Du weißt, ich muss meinen Roman zu Ende schreiben. Dann noch essen, schlafen und vergessen.“ „Das sehe ich ja auch ein, aber…“ „Was aber?“ „Du fährst zu oft nach Darmstadt.“ „Aha, daher weht der Wind! Du bist eifersüchtig auf Leander!“ „Weil du für ihn immer Zeit hast. Ihr seht euch in letzter Zeit fast täglich. Ich dagegen muss dich um ein Treffen regelrecht anbetteln.“ „So ist es ja nun auch nicht. Aber ich gebe zu, der Kontakt mit Leander bedeutet mir sehr viel. Er inspiriert mich, er motiviert mich, er bringt mich in meiner kreativen Entwicklung voran.“ „Und mit mir kannst du gar nichts anfangen.“ „So sieht es vielleicht aus, aber du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben.“ „Das musst du mir erst noch beweisen.“ „Wie denn?“ „Indem du dich entscheidest: er oder ich.“ „Unsinn. Das ist gar nicht nötig. Ihr seid inkommensurabel… Was ich sagen will: Leander ist keine Konkurrenz für dich. Der Austausch mit ihm findet auf einer ganz anderen Ebene statt.“ „Er oder ich.“ „Bleib ruhig, Annemarie. Ich kann dir Leander vorstellen. Du wirst ihn mögen. Er wird dich bestimmt auch mögen. Wir könnten etwas zu dritt unternehmen.“ „Ich will ihn nicht kennen lernen.“ „Warum nicht? Er ist sogar hier, nebenan im Schlafzimmer. Er wird jetzt nämlich erst mal eine Weile hier wohnen.“ „Das wird ja immer schöner!“ „Aber versteh doch…“ „Nein, hör auf jetzt. Ich habe genug!“ Annemarie stützte ihr Kinn auf die Hände und massierte ihre geschlossenen Augen. Adam starrte auf Annemaries Hände. Die Minuten vergingen. Draußen war es dunkel geworden. Den Blick fest auf die Küchenuhr gerichtet, trank Annemarie den letzten lauwarmen Schluck Tee. Seufzend stellte sie Glas und Löffel ins Spülbecken. Leise zog sie die Wohnungstür hinter sich zu.

Adam blieb wie versteinert sitzen und schaute verschwommen auf den leeren Stuhl ihm gegenüber. Nach einer Weile stand er auf, nahm das große Tranchiermesser aus dem Block und prüfte mit dem Daumen vorsichtig dessen Klingenschärfe. Er wollte sichergehen, dass er auf Anhieb einen sauberen Schnitt hinbekam. Nichts war ihm in diesem Augenblick wichtiger. Er sah, dass das Messer gut war und er war zufrieden. Voller Zuversicht griff sich Adam das aufgetaute Rinderherz, von dem er einen Streifen abschnitt, den er sorgfältig zerkleinerte. Er schob sich ein kleines Häufchen des feinen Fleischbreis in die linke Hand und schlich in sein Schlafzimmer. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes stand ein riesiges Aquarium, dessen einziger Bewohner, ein neunzig Zentimeter langer, farbenprächtiger Pfauenaugenbuntbarsch, gelangweilt vor sich hindöste. Adam klopfte mit dem Knöchel gegen die Scheibe und ließ das Rinderherzmus ins Wasser sinken. Leander liebte Rinderherz. Er verschlang die Fleischkrümel, bevor sie den Grund erreichten.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.03.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Über den Tag hinaus zu schauen, heißt für mich, neben dem Alltag, dem normalen Alltäglichen hinaus, Zeit zu finden, um das notwendige Leben mit Gefühlen, Träumen, Hoffnungen, Sehnsüchten, Lieben, das mit Lachen und Lächeln zu beobachten und zu beschreiben. Der Mensch braucht nicht nur Brot allein, er kann ohne seine Träume, Gefühle nicht existieren. Er muss aus Freude und aus Leid weinen können, aber auch aus vollem Herzen lachen können. Jeder sollte neben dem Zwang zur Sicherung der Existenz auch das Recht haben auf romantische Momente in seinem Leben.

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