Germaine Adelt

Treffpunkt: Schönhauser

Als ich die Straße entlang ging, hoffte ich noch immer, dass es sich nur um einen Alptraum handelte. Ich hatte keine Erinnerung daran, wie ich hierher gekommen war. Es konnte also nur ein böser Traum sein. Die Stöckelschuhe liefen sich auf dem Kopfsteinpflaster sehr unbequem und für einen kurzen Moment überlegte ich, sie auszuziehen. Aber es war zu kalt und zu nass um es wirklich zu tun.

Jemand war hinter mir. Ich konnte ihn zwar nicht hören, aber ich spürte es ganz deutlich. Mich umzudrehen wagte ich nicht und so wurden meine Schritte noch schneller, als sie es ohnehin schon waren. Wenn ich irgendwann dann doch flüchten müsste, würde ich die Schuhe ausziehen, aber noch wollte ich das nicht tun. Niemand konnte mir garantieren, dass ich schneller wäre als mein Verfolger, den ich nach wie vor hinter mir vermutete.

Der Regen hatte mich inzwischen so durchnässt, dass es mir langsam nichts mehr ausmachte. Die Sachen klebten an mir fest und ich sah sicherlich aus, als ob ich unentwegt weinte. Meine Füße waren so durchgeweicht, dass es einfach nicht mehr darauf ankam. Und so zog ich diese unbequemen Schuhe aus. Im Gehen, ohne mich umzudrehen. Einen Blick nach hinten wagte ich noch immer nicht. Abbiegen, das wäre es. Ich müsste abbiegen in irgendeine Seitenstraße. Da könnte ich unauffällig einen Blick riskieren und gleichzeitig den Verfolger abschütteln. Aber es war aber keine Seitenstraße zu sehen. Doch dann wusste ich ganz plötzlich, dass die nächste Querstraße bald kommen würde. Ich kannte diese Gegend von irgendwo her und besorgt fragte ich mich, wie Freud wohl diesen Traum interpretieren würde.

Verwundert blieb ich für eine Sekunde stehen. Doch mir wurde klar, dass ich weiter musste. Ich sah hinunter auf meine schmerzenden Füße, als könnten sie mir erzählen wie lange sie noch durchhalten würden. Dann entdeckte ich das Blut. In großen Tropfen, vermischt mit dem Regen, fiel es direkt auf meine Zehen. Zitternd tastete ich mein Gesicht ab, das übersät war mit Wunden und mir wurde schwarz vor Augen. Ich stöhnte leise, ohne es zu wollen und nun liefen wirklich Tränen über mein Gesicht. Meine Knie wurden weich und meine Hoffnung das Bewusstsein nicht zu verlieren, zerschlug sich, als ich hart auf dem Straßenpflaster aufprallte.

Dann sah ich ihn, wie er sich über mich beugte. Er war ein eher kleiner Mann, um die vierzig und eigentlich eine sehr vertrauenswürdige Erscheinung. So wie man sich den Taxifahrer oder den Hausmeister wünschte. Besorgt und wild gestikulierend redete er auf mich ein. Aber ich konnte ihn nicht verstehen, das Rauschen des Regens übertönte alles.

Entschlossen hob er mich hoch und trug mich den Weg zurück, den ich vor ihm davongelaufen war. Es war eine absurde Situation. Nachts, die Straße menschenleer, trug mein Verfolger mich wie eine Prinzessin auf seinen Händen durch den Regen. Ich konnte seinen Herzschlag spüren, da er mich fest an sich presste. Eine barmherzige Ohnmacht überrannte mich und mein letzter Gedanke war die Hoffnung, dass sein immer schneller werdender Herzschlag nur von der körperlichen Anstrengung kam.

 

    Ich war in einem Raum, soviel war sicher und ich lag in einem Bett. Vermutlich hatte er mich gefesselt. Ich fühlte mich zu schwach um zu flüchten und überlegte panisch was zu tun sei, als eine Männerstimme auf mich einredete: „Hallo, hören Sie mich!“

Verwirrt von dieser eigenartigen Frage, spürte ich wie mir jemand mit großer Kraft einen harten Gegenstand an die Fingerknöchel presste. Nur mühsam gelang es mir keine Regung auf diesen Schmerz zu zeigen.

„Hallo, machen Sie doch die Augen auf!“

Meine Angst wurde immer größer. Ein Mann der mich verfolgt hatte und mich jetzt folterte, verlangte allen Ernstes meine Kooperation. Er wurde immer lauter und ungeduldiger. „So machen Sie doch die Augen auf!“

Die Schmerzen an meiner linken Hand wurden immer unerträglicher. Viel unerträglicher war die Tatsache, dass mir tatsächlich jemand systematisch Schmerz zufügte.

„Lassen Sie das!“, zischte er und sogleich ließ der Schmerz nach. Es waren also zwei, die sich zudem noch siezten. In welcher Hölle war ich hier gelandet.

Irgendwann hatte ich das Gefühl, wieder allein im Raum zu sein und ich öffnete ganz vorsichtig meine Augen. Überzeugt davon, dass man mich in der Dunkelheit gefangen hielt, war ich umso überraschter, als mich Sonnenstrahlen durch das Fenster blendeten. Es sah fast so aus, als ob ich mich in einem Krankenhaus befand. Aber angesichts der stattgefundenen Quälereien, konnte es nicht so sein. Und wie zum Beweis zeichneten sich noch immer die Druckstellen an meinen Fingergelenken ab. Mühsam richtete ich mich auf. Ich musste hier raus und es kostete mich eine Menge Überredungskunst meinen Kreislauf dazu zu bringen, zu funktionieren. Systematisch entfernte ich alle Schläuche und Kabel von und aus meinem Körper. Ich war gerade fertig, als ein Mann vor mir stand.

„Legen Sie sich wieder hin. Sie sind viel zu schwach um aufzustehen.“

Es war die Stimme von vorhin. Es war aber nicht der kleine Mann von der Strasse. Der hier sah aus wie ein Arzt.

„Bleiben Sie wo Sie sind“, fauchte ich, „und fassen Sie mich nicht an!“

„Beruhigen Sie sich. Sie sind in einem Krankenhaus und es wird Ihnen nichts passieren.“

„Tatsächlich?!“, herausfordernd hielt ich ihm meine gepeinigte Hand hin.

Er seufzte leise: “Schmerz-Reiz-Test. In der Notfallpraxis bewährt, ist es zum Aufwecken von Patienten meiner Meinung nach nicht besonders geeignet.“

„Sie haben mich angebrüllt“, schmollte ich.

Er setzte sich und rieb sich müde die Augen.

„Hab ich das? Können Sie mal sehen. Alles schon Routine geworden. Sie waren wach, oder? Klar waren Sie das. Muss alles sehr verwirrend für Sie gewesen sein.“

Mein Kreislauf forderte seinen Tribut und ich legte mich wieder hin. Noch immer misstraute ich diesem Mann und dieser Situation. Das alles zu erklären war schlicht unmöglich.

„Sie hatten einen Unfall“, begann er leise, „gestern auf der Schönhauser Allee. Ein Taxi musste einem Tanklaster ausweichen, der ins Schleudern geraten war. Eine größere Katastrophe ist so wohl verhindert worden. Aber am Ende der Ereigniskette sind Sie dann von dem Taxi erfasst worden. Soweit ich weiß, traf den Taxifahrer wohl keine Schuld, aber wie das dann so ist. Sie sollen meterweit durch die Luft geschleudert worden sein ...“

Ich starrte die Decke an und hatte auch nicht vor, dies zu ändern. Die Geschichte war ein wenig zu bizarr um wirklich wahr zu sein.

„Na ja und als der Taxifahrer den Notarzt gerufen hatte und dann zu Ihnen eilte, sind Sie zum Erstaunen aller aufgestanden und geradewegs in die Kopenhagener Straße gelaufen.“

Es hörte sich alles sehr plausibel an. Jedoch hatte seine Geschichte einen Haken. Niemals hatte ich einen derartigen Unfall erlebt. Fehlte nur noch, dass er von Amnesie anfing.

„Sie sind einfach losgelaufen. Wie auf der Flucht, und der arme Taxifahrer immer hinter Ihnen her. Die ganze Kopenhagener Straße entlang bis fast zur Ystader Straße. Er hat wohl gerufen und auf Sie eingeredet, aber Sie haben nichts gehört. Vermutlich ein Knalltrauma, oder einen vorübergehende traumatische Taubheit. Und das dafür typische Summen im Ohr haben Sie wohl als Regen gedeutet.“

Er gab sich sichtlich Mühe, mir alles bis ins kleinste Detail zu erklären. Allerdings wusste jeder, wie unendlich lang die Kopenhagener Straße ist und ich konnte unmöglich so schwer verletzt den weiten Weg bis zur Ystader Straße bewältigt haben.

„Wissen Sie was das Schönste ist. Bis auf ein paar Blessuren im Gesicht, die vollständig abheilen werden, ist Ihnen nichts weiter passiert. Keine Knochenbrüche, keine inneren Blutungen. Ein Wunder, wenn Sie mich fragen. Das konnte der arme Taxifahrer natürlich nicht wissen und ist tausend Tode gestorben, als er das viele Blut gesehen hat, das aus der Platzwunde an Ihnen herunterlief.“

Noch immer starrte ich die Zimmerdecke an. Das hatte was. So musste ich in keinen Dialog treten und auf nichts reagieren. Zwar stimmte seine Geschichte bis hierher, aber da war noch immer der Unfall, den er mir einreden wollte. An den ich mich nicht erinnern konnte, aber mit Sicherheit erinnert hätte.

„Ihr Bruder kommt gleich. Er hat mir erzählt, dass sie in Ihrer Jugend in der Ystader Straße gewohnt haben. Das erklärt ihren langen Fußweg. Wahrscheinlich wollten sie völlig verwirrt von den Ereignissen, einfach nur nach Hause. Obwohl dort seit Jahren nicht mehr ihr zu Hause ist. Die Leute machen nach Unfällen die kuriosesten Sachen und entwickeln oft übermenschliche Kräfte um ihre Ziele zu verfolgen.“

So sehr ich auch versuchte irgendeine Erinnerung an das Geschehen zu finden, da war nichts. Doch er redete und redete von Dingen die ich gemacht haben soll. In die Oper wollte ich mit meinem Bruder gehen. Der hätte ganz plötzlich von einem erkrankten Arbeitskollegen Karten bekommen. Die Zeit war sehr knapp, und daher haben wir uns in der Schönhauser Allee an der U-Bahn treffen wollen, um Zeit zu sparen.

Ich glaubte ihm kein Wort. Wenn ich mich schon nicht an den Unfall erinnern sollte, dann aber doch wohl an die Verabredung mit meinem Bruder. Besonders dann, wenn ich tatsächlich einen Bruder hätte. Es konnte nicht sein, dass ich nicht mehr wusste, was ich eine Stunde vorher getan hatte. Geschweige dann, dass ich mich nicht an angebliche Brüder erinnern sollte. Ein Spiegel musste her. Ich musste in einen Spiegel sehen und wenn dies ein Traum war, würde ich dann darin etwas anderes entdecken als mich selbst und der ganze Spuk wäre vorbei.

Eine Schwester betrat das Zimmer, in der Hand hielt sie ein Telefon. Sie lächelte mich an, aber ich traute noch immer niemanden hier. Vielleicht war sie es sogar, die mich mit diesem Schmerz-Reiz-Tick gepeinigt hatte.

„Dr. Ebert, für Sie.“

„Lassen Sie mich raten“, brummte er, „Herr Liretti ...“

Bevor er den Raum verließ, deutete er schweigend auf die Infusionsflasche, die über mir hing. Noch immer lächelnd kam die Schwester auf mich zu um mich erneut zu verkabeln und zu verdrahten. Mit der Infusionsnadel in der Hand, klopfte sie wie versessen auf meinen Handrücken, obwohl meine Venen längst so angestaut waren, dass sie fast zu platzen drohten und mit letzter Kraft und Entschlossenheit zog ich meine Hand weg. Ich wollte nur noch raus hier, raus aus diesem Alptraum. Meine Tränen liefen und es kostete mich große Beherrschung nicht zu schluchzen.

„Der Taxifahrer möchte Sie besuchen“, flüsterte der Arzt, der plötzlich wieder neben mir stand und deutete geheimnisvoll auf den Telefonhörer.

Ich nickte nur. Vielleicht konnte ich mich aus dieser absurden Situation nur befreien, wenn ich mich erneut meinem Verfolger stellte. Die Deutung von Siegmund Freud zu den Ereignissen wollte mir nicht einfallen. Nur noch mit Mühe konnte ich mich wach halten und so beschloss ich einfach zu schlafen. Meine Hände legte ich schützend an meinen Bauch und schloss die Augen. Getragen von der Hoffnung endlich aus diesem Alptraum zu erwachen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.03.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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