Pierre-André Hentzien

Fehldiagnose ohne Garantie I

Als die ersten Sonnenstrahlen des jungen Morgens durch das offene Fenster fielen, lag
er noch immer schmerzgekrümmt auf dem Boden.
Irgendwann am Abend zuvor hatten die Qualen begonnen und die Nacht war durch sie ein einziger Alptraum gewesen.
Langsam zog sich der Schmerz zurück, so wie sich eine Schnecke in ihr Haus zurückzieht und Ken war endlich in der Lage auf allen Vieren zum Telefon zu kriechen.
Jede Bewegung schmerzte ihn so sehr, daß er kurz davor war wieder das Bewußtsein zu verlieren.
Als er das Telefon schließlich erreichte rief die nahe Kirchturmglocke die Gläubigen zum Sonntagsgottesdienst.
Zehn Minuten später hörte Ken durch das Glockengeläute die Sirene des Rettungswagens.

Nachdem die Untersuchungen im Krankenhaus beendet waren und alle Ergebnisse vorlagen, betrat der diensthabende Arzt Kens Krankenzimmer, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu Ken ans Bett...
Eine Weile herrschte absolute Stille, dann räusperte sich Dr.Brenner und sagte: "Also Mr.Williams, es ist nicht so ganz einfach zu erklären was ihnen fehlt."
Nervös fuhr sich der Arzt durch sein lichtes, schon leicht ergrautes Haar.
"Sagen sie mir einfach was los ist; ohne diese medizinischen Fachausdrücke und das Rumgedruckse", preßte Ken unter Schmerzen hervor.
Dr.Brenner faßte sich und fuhr fort: "Es ist Krebs im Endstadium - Metastasen in fast allen Organen - keinerlei Heilungschance!"
"Wie lange habe ich noch?", fragte Ken mit einem leichten, kaum vernehmbaren Zittern in der Stimme.
"Das kann man nur schwer sagen", hob Dr.Brenner an.
"Ach hör'n sie doch auf Mann! Los sagen sie schon!"
"In Fällen wie dem ihren verbleiben dem Patienten ein, besten falls zwei Monate", erklärte der Arzt.
Ein paar Augenblicke verstrichen bevor er weiter sprach: "Wir können nichts weiter tun, als ihre Schmerzen zu lindern und ihnen die Zeit, die ihnen noch bleibt, so angenehm wie möglich zu machen - es tut mir wirklich sehr leid!"
"Sparen sie sich ihr Mitleid für Leute die es nötig haben! Sagen sie mir einfach wann ich entlassen werden kann!", fuhr er den Arzt an.
"Morgen früh", antwortete Dr.Brenner knapp, ohne auf die bitteren Worte von Ken einzugehen.
"Eines sollten sie noch wissen", erklärte er, während er aufstand und sich zum Gehen wandte, "es wird Stunden, vielleicht ganze Tage geben, an denen sie schmerzfrei sind und sich absolut gesund fühlen werden, aber das ist auch schon alles was ich ihnen in Aussicht stellen kann. Sie sollten sich also keine Hoffnung machen!"
"Ja, danke", entgegnete Ken abwesend.

Als Ken am nächsten Morgen entlassen wurde, hatte er bereits den Entschluß gefaßt
sein Leben zu beenden.
Er war nicht der Mann, der einen langsamen, qualvollen Tod hätte ertragen können.
Niemand hätte ihn jetzt noch von seinem Vorhaben abgebracht; ein Wunder vielleicht, aber Ken glaubte nicht an Wunder.
Er war ein viel zu rational denkender Mensch, als daß in seinem Kopf Platz für Wunder gewesen wäre.
Noch am selben Tag konnte er alle notwendigen Vorbereitungen treffen.
Er hatte sich in einem spezial Geschäft für Bergsteiger ein Seil gekauft, das stark genug war ihn zu tragen.
Der Hersteller garantierte mit seinem guten Namen für die Qualität seines Produkts und dessen Tragfähigkeit. Das beruhigte Ken; nun konnte einfach nichts mehr schiefgehen.


Noch am selben Abend ging er auf den Dachboden seines Hauses, befestigte das Seil an einem Balken, stellte sich auf einen Stuhl und legte sich die Schlinge um den Hals.
Einen Augenblick zögerte er noch, um zu überlegen, ob auch alles geregelt war:
Hatte er das Licht in der Diele gelöscht? War der Herd ausgestellt? Hatte er im Krankenhaus angerufen um zu sagen, daß er in die Berge fahren würde?
"Nein", sagte er zu sich selbst, "ich habe nichts vergessen!"
Dann trat er gegen die Stuhllehne und spürte einen kurzen Ruck.
Er hörte noch wie der Stuhl zu Boden fiel - dann war es still.

Der Morgen graute schon, als ihn das Telefon aus seiner Bewußtlosigkeit riß.
Ken hustete und rieb sich seinen Hals, an dem er die Striemen, die das Seil hinterlassen hatte, fühlen konnte.
Er raffte sich auf, stieg die Treppe zum ersten Stock hinunter und nahm den Hörer des Telefons in seinem Schlafzimmer ab.
"Mr.Williams? Gut das ich sie noch erwische! Hier ist Dr.Brenner", die Stimme am anderen Ende der Leitung überschlug sich fast, so aufgeregt war der Arzt.
"Man sagte mir, daß sie in die Berge fahren wollen“, fuhr Dr.Brenner fort.
"Ja, das ist richtig", antwortete Ken mit heiserer Stimme, "ich wollte gerade losfahren."
"Wie dem auch sei", entgegnete der Doktor nervös, "ich wollte ihnen unbedingt die freudige Nachricht übermitteln!"
"Welche Nachricht?", unterbrach ihn Ken.
"Nun ja ähm, es ist so, daß einer unser Laboranten ihr Untersuchungsergebnisse vertauscht hat und nun hat sich heraus gestellt, daß sie lediglich unter einer Störung des vegetativen Nervensystems leiden - es ist keine große Sache. Von Krebs kann jedenfalls keine Rede mehr sein!"
Ken begann zu lachen.

"Ist etwas nicht in Ordnung? Sind sie o.k.?", fragte der Arzt.
"Ja, ja, es geht mir gut," preßte Ken unter seinem Lachen hervor, "ich habe nur ein Bergsteigerseil gekauft, das Garantie auf seine Tragfestigkeit hat. Vorsichtshalber habe ich es vor meiner Abreise getestet und es ist gerissen. Stellen sie sich vor, was hätte passieren können, wenn ich nicht so mißtrauisch wäre. Ich werde diesen Fehler gleich reklamieren!"
"Aber freuen sie sich denn gar nicht über die Fehldiagnose........."
Doch Ken hatte den Hörer schon aufgelegt und starrte lachend auf das gerissene Seil.

©Copyright 07.05.1991 Pierre-André Hentzien.. Alle Rechte vorbehalten! Verwendung des Textes, auch Auszugweise, nur mit schriftlicher Zustimmung des Autoren!
PAHPub© 01782322718 „Fehldiagnose ohne Garantie“ (Version I)

Man verschone mich bitte mit Benotungen, ohne eine entsprechende Kritik abzugeben (egal ob positiv oder negativ!).
Ich finde es feige eine 6 zu vergeben, nur weil man einer persönlichen Abneigung zuspricht, aber nicht den "Arsch in der Hose hat", derlei auch kurz zu begründen!
Und für all jene, die dies' dennoch so handhaben: Arm, wer ein Gesicht hat, das der Courage nicht erlaubt sich zu zeigen!
Pierre-André Hentzien, Anmerkung zur Geschichte

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