Hans Pürstner
Das Ungeheuer vom Nessdeich
Das alte Bodemann Heim in
Finkenwerder
lag idyllisch zwischen Kirche, Friedhof und reetgedeckten
Bauernhäusern nicht weit vom Nessdeich
entfernt. Umringt von Gräben, Kanälen und Froschteichen lebten in
unmittelbarer Umgebung zahlreiche Geschöpfe der Tierwelt, gelegentlich tauchte
sogar eine mir bislang unbekannte Gattung von winzigen Fröschen mitten in der
Küche auf. Munter hopsten sie darin herum, waren sich offensichtlich nicht der
Gefahr bewusst, von einem von uns aus Versehen zertreten zu werden. Jeden
Vormittag besuchte uns auch ein dicker fetter Kater aus der Nachbarschaft, er
wusste aus langjähriger Erfahrung, wann wir das Aufschneiden von Wurst und
Schinken beenden und ihm die angefallenen Reste servieren würden.
Nicht dass er sich besonders
dankbar darauf gestürzt hätte, nein, oft schnupperte er bloß gelangweilt an
einem Stück Leberwurst, probierte gnädig den Rohschinken, um sich sodann mit
erhobenem Haupte von dannen zu schleichen. Nicht ohne uns zuvor zum Abschied einen
Blick zwischen Stolz und Verachtung
zuzuwerfen.
So lebten wir also umgeben von
freier Natur, immer gegenwärtig, überraschend uns unbekannten Kreaturen zu
begegnen. Wenn ich mich frühmorgens bei noch stockdunkler Nacht auf den Weg von
der Bushaltestelle zum Heim machte, geschah es häufig, dass ein riesiger Hund
aus dem Nichts auftauchte, mich interessiert beschnupperte und danach wieder
verschwand. Solche Schreckensmomente war ich ja inzwischen gewohnt. Aber das
war alles nichts gegen das angsterfüllte Geschrei, das ich eines Tages aus dem
Speisesaal schallen hörte. Irgendetwas Furchtbares musste dort geschehen sein.
Dazwischen war die sonore Stimme des Hausmeisters zu hören, der die Bewohner
anscheinend erfolglos zu beruhigen versuchte. Immer lauter wurden die Stimmen,
immer näher kam der Hausmeister, in der Hand einen Stock. Der Himmel weiß, was
er damit wollte, welche Bestie er verfolgte. Plötzlich ein markerschütternder
Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Martina, unsere Köchin,
ansonsten nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen, stand auf einem wackeligen
Stuhl, die Augen weit aufgerissen und deutete sprachlos vor Entsetzen Richtung
Speisesaal. Ganz klar, sie musste es gesehen haben, das Ungeheuer vom
Nessdeich, das seit Jahrzehnten in den Köpfen der Leute herumspukte. Inzwischen
war auch Günther, der Hausmeister zu uns gestoßen, den bedrohlichen Stock hatte
er bereits zur Seite gestellt, und nun sah auch ich die Ursache der riesigen
Aufregung. Vor uns saß eine süße kleine Maus, zitternd vor Angst, und völlig
erschöpft von der Treibjagd, die auf sie veranstaltet worden war. Gottergeben
schaute sie uns an, als ob sie sagen wollte: Macht was ihr wollt mit mir,
aber bitte hört auf mich zu jagen! Martina ließ sich endlich dazu bewegen,
von ihrem rettenden Stuhl herunterzukommen, immer noch misstrauisch, obwohl wir
doch mittlerweile die Maus in einem Müllsack sicher verstaut und draußen im
Garten wieder freigelassen hatten.
Was für ein Erlebnis, kaum einer
von uns wird es je vergessen!
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.04.2005.
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