Julia Atzmanstorfer

Ein Märchen

Er schulterte sein Gewehr ein wenig fester und ging vorsichtig weiter durch das Unterholz. Jeder Atemzug blieb wie eine Sprechblase in der eisigen Luft hängen, ein dünner Schleier aus feinem Schnee bedeckte schon stellenweise den braunen Waldboden. Es war still, nur ein Bach gluckerte irgendwo in der Nähe. Und dann war da noch ein anderes, namenloses und unglaublich schreckliches Geräusch, ein rasselndes Keuchen, ein unter Schmerzen hervorgepreßter Atem. Das dämmrige Licht des Winternachmittags zwang ihn immer wieder zum Stehenbleiben, zur Orientierung. Er war schon ein, zwei Stunden im Wald herumgeirrt, panisch, zitternd vor Kälte und Angst. Er hatte – wenn nicht getötet, so doch grausam verwundet, und er wußte nicht, wen oder was. Eine mächtige Tanne schüttelte eine Wolke pudrigen Schnees über ihm aus, und ihm entfuhr vor Schreck ein nur mühsam unterdrückter Schrei. Sein Herz raste und schlug ihm hart gegen die Brust. Für eine Minute stand er nur da, an den mächtigen Baum gelehnt, und versuchte, sich zu fassen. Er horchte. Das rasselnde Luftholen kam jetzt ganz aus der Nähe.

Eigentlich wollte er ein Reh erlegen, das ihm bei seiner Arbeit als Wildhüter tollwutverdächtig vorgekommen war. Also war er an einem kalten Freitag am frühen Nachmittag noch ausgerückt, um im Wald nach dem Rechten zu sehen. Er hatte seinen Wagen am Rand der Forststraße geparkt, und war zu Fuß Richtung Fütterungsplatz gegangen. Ein bleigrauer Winterhimmel spannte sich sehr weit entfernt über dem Wald, und er durfte den magischen Moment des ersten Schneefalles erleben: den atemberaubenden Moment, wenn dicke schwere Schneewolken einfach sanft in ein leises, langsam niedersinkendes Schneien bersten, in Myriaden federleichter Flocken, die ihren verwirrend schönen Tanz durch den Raum tanzen. Ein rauchiger Duft nach Winter und Schnee erfüllte die Luft und es war, als hätte der Herzschlag der Welt für diese kurze Zeit ausgesetzt.
Er war ein sehr naturverbundener Mann, und er glaubte an eine höhergeordnete Instanz. Er kannte die Geräusche des Waldes sehr genau, konnte fast jeden Vogel an seinem Lied erkennen, jedes Nagetier an seinem Schnattern oder Keckern, an den kleinen leichten Fußspuren, das es hinterließ. Er liebte den Wald mit seinen Tieren, den kühlen Schatten, den er im Sommer spendete, wenn er für seine Begriffe mit seinem dunkelgrünen Dach die schönste Kathedrale der Welt war. Die Menschen aber fürchtete er. Er war das, was man landläufig häßlich nennt. Er war eher klein und untersetzt und er hatte zu allem Überfluß auch noch eine beginnende Glatze, von der ein paar mausbraune, immerzu fettige Haare abstanden. Seine Gesten entbehrten jeder Anmut, und in Anwesenheit anderer Personen wurde er wortkarg und verlegen und ungeschickt, dann zerbrach er manchmal sogar Dinge und schämte sich dafür. Er war pockennarbig, und seine Nase war groß und knollig, seine Ohren abstehend, und die Brauen über den grünlich-braun verwaschenen und eher nichtssagenden Augen zusammengewachsen und selbst für einen Mann viel zu buschig. Er lebte allein, und eigentlich wußte niemand so recht, woher er kam und wie lange er schon hier war. Die Wahrheit war, daß seine Eltern früh verstorben waren, und daß er des Berufes wegen in den kleinen Ort gezogen war. Irgendwo im Mühlviertel hatte er noch eine alte Tante, mit der er aber keinen sehr regelmäßigen Kontakt pflegte. Er war allein ohne sich jedoch allzu einsam zu fühlen. Er hatte das Zeug, sich selbst zu genügen. Der Waldschrat würde wohl nie eine kriegen, sagte man sich im Ort, und ein paar besonders boshafte Stammtischbrüder hatten sogar schon zusammengelegt, um ihm eine Nacht im Bordell zu bezahlen, das zehn Kilometer entfernt neben der Bundesstraße, im Niemandsland zwischen dem Ort und der nächsten Stadt stand und mit roten Herzen in seiner Auslage um die verstohlenen Blicke angeblich braver und bürgerlicher Ehemänner warb. Verlegen und gekränkt war er dennoch hingegangen, und das alternde Mädchen, das ihm von der Chefin des Etablissements schnell zugeteilt worden war, damit der Tolpatsch nicht das Ansehen des Hauses schädigen konnte, hatte Mitleid mit dem scheuen ungelenken Menschen, der ihr in dem kleinen Kämmerchen gegenüberstand und hilflos auf seine rohen Hände schaute. Mit der ganzen Weisheit einer erfahrenen Hure lächelte sie ihn einfach nur aufmunternd an und hörte seinen Geschichten vom Wald zu, die er ihr zunächst stockend, dann aber immer flüssiger und lebhafter erzählte, von denen sie allerdings kein Wort verstand, da sie aus Polen kam. Zum Abschied küßte sie ihn einfach nur auf die bartstoppelige Wange, als hätte sie sein Aussehen vergessen. So behielt er seine Unschuld und erlangte eine Art zweifelhafter Ehre, da die kluge Polin allen bestätigte, daß er sich der Situation angemessen verhalten hatte.
Er bewegte sich im Wald ganz anders als auf der Straße. Sein Atem wurde freier, seine Bewegungen geschmeidiger. Die ganze zusammengekrümmte Gestalt richtete sich auf, der schüchterne Blick bekam etwas waches, prüfendes. Leise und schnell bewegte er sich über den weichen Waldboden und um ihn fiel der erste Schnee. Mit gerunzelten Brauen blieb er stehen und lauschte. Da war ein leises, kaum hörbares Geräusch, ein schleichender Gang, der ihn verfolgte. Wer oder was auch immer ihm nachschlich, es ging, wenn er ging, und blieb stehen wenn er stehenblieb. Es tappte über die Moospölster, und in der Stille des düsteren Nachmittages konnte er einen schnellen Atem ausmachen, und vermeinte schließlich sogar, einen leichten Raubtiergeruch in der rauchigen Luft wahrzunehmen. Das Unheimliche an der Situation war, daß kein wildes Tier in Mitteleuropa oder sonstwo einen Menschen verfolgen würde, und die einzig plausible Erklärung schien ihm die Anwesenheit eines tollwütigen Fuchses, deshalb wurde er noch wachsamer. Es war ihm jetzt dicht auf den Fersen, leichtfüßig und geschickt. Er bekam Angst. Vorsichtig nahm er sein Gewehr von der Schulter. Er haßte es, zu schießen. Und er tat es nur, um unnötige Qualen zu verhindern, kranken oder verletzten Tieren den Gnadenschuß zu geben, niemals aus Spaß oder dem eingebildeten und für ihn völlig unverständlichen Vergnügen der Sportjagd, für die er nur Verachtung übrig hatte. Schweiß stand ihm auf der Stirn, als hinter ihm ein Zweig knackte. Etwas knurrte leise und bedrohlich. Er drehte sich um und schoß in die Richtung des Geräusches, einmal, zweimal. Der doppelte Knall hallte in seinen Ohren wieder. Er atmete schwer, dann hielt er die Luft an. Etwas – oder jemand – hatte laut aufgestöhnt und entfernte sich nunmehr in heller Panik von ihm. Demnach hatte er getroffen.

Es schneite jetzt richtig dicht. Er konnte in dem grauen Licht die Bäume vor ihm nur mehr schemenhaft erkennen. Er fror. Lauschend löste er sich vom Stamm der Tanne und ging langsam in die Richtung, aus der jener schnelle ängstliche Atem kam. Was, wenn er einen der Jäger angeschossen hatte, die hier im Wald wie er ihren Dienst versahen? Wenn er einen Wilderer oder einfach nur einen Spaziergänger getroffen und verletzt hatte, einen dieser dummen Rohlinge, die ihm nur einen dummen Streich spielen wollten? Übelkeit stieg in ihm auf, und seine ängstlichen Gedanken verklumpten sich in seinem schmerzenden Kopf zu einem pochenden Hall: Du hast getötet. Du hast getötet... Die Sicht verschwamm ihm, in dem dämmrigen, fahlen Licht stolperte er hilflos dahin, angeekelt von der schrecklichen Tat, die er meinte, verbrochen zu haben. „Bleiben sie stehen, bitte, bleiben sie wo sie sind“ stammelte er verzweifelt in die eisige Luft. Der krampfige Atem wurde schwächer; was immer da vor ihm floh, es verlor jetzt rasch an Kraft, vielleicht auch an Leben. Er überquerte einen kleinen Bach und stand plötzlich auf einer stillen Lichtung, die der Schnee langsam in seine fahle Decke hüllte. Es war eine Sumpfwiese, deshalb konnte er auch leider keine Spuren erkennen, da das Wasser noch nicht gefroren war und in hunderten kleineren und größeren Pfützen zwischen den zugeschneiten Grasbüscheln stand. Er rannte über die Wiese, wobei er mit den Schuhen immer wieder im schlammigen Untergrund hängenblieb, und hatte endlich wieder trockenen Waldboden unter seinen Füßen, als er das hilflose Keuchen wieder hörte, diesmal von ganz nahe. Er bückte sich und bahnte sich einen Weg durch das dichte Unterholz, blieb hängen und riß sich Jacke und Hände an ein paar Brombeerranken auf. Dann sah er sie.

Sie lag in einem perfekten Halbbogen, ihre großen Pfoten zuckten, und ihre hochgezogenen Lefzen entblößten ein riesenhaftes Gebiß. Sie hechelte, war wohl zu müde um ihn anzuknurren. und über ihre schöne Flanke lief ein Zittern. Ihre schwarze Nase kräuselte sich ein wenig. Jetzt winselte sie leise. Einer seiner Schüsse war ihr direkt in die Brust gedrungen, wo sich das silbergraue Fell langsam von ihrem Blut rötete, der andere hatte sie am Bein getroffen. Er sank auf die Knie und legte die Hände vor das Gesicht. Tränen der Erleichterung mischten sich mit einem namenlosen Gefühl, das er nicht benennen konnte, und rannen ihm über beide Wangen, und er merkte davon genauso wenig wie von der dünnen Schneeschicht, die allmählich seine Schultern bedeckte. Langsam rutschte er auf Knien zu ihr hin, und murmelte beruhigende, sinnlose Worte, als sie angstvoll vor ihm zurückwich. „Ihr versucht also, zurückzukommen in unsere Wälder“, murmelte er erschöpft. Er fühlte, daß er etwas Heiliges, Großes zerstört hatte, ein wunderschönes Geschöpf Gottes. Ihr zäher Kampf gegen das Sterben dauerte lange, und er konnte nicht sagen, wie lange er dasaß im dichten Schneetreiben. Endlich aber sah ihn mit seltsam wissenden und über alles traurigen Blick an, die riesenhafte graue Wölfin, und starb in der endlosen Stille des fahlen Winternachmittags, den schönen Kopf in seinem Schoß, mit einem leisen, endgültigen Ausatmen, das dem letzen Seufzer einer tödlich verwundeten Menschenfrau glich. Und dennoch war sie – nur ein Wolf...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.03.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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