Andreas Reunnes

Buchvorstellung: Augenblicksbetrachtungen

 

Homepage des Buches: www.augenblicksbetrachtungen.de

 29 Geschichten in wenigen Zeilen zusammenzufassen, ist schlicht unmöglich. Keine Geschichte ist wie die andere, jede hat ihre eigenen Motive, Spannungsbögen und Handlungsstränge. Dieses breite Spektrum verschiedenster Themen macht auch den besonderen Reiz der vorliegenden Sammlung aus.

Wer sich ein eigenes Urteil bilden möchte, sei auf die folgende Leseprobe verwiesen:


Auf der Jagd


Die Kunst des Fallenstellens erfordert vor allem eines: Geduld. Wer seiner Beute nicht nachstellt, wer sie nicht aufscheucht und verfolgt, muss warten können - solange, bis sie von selbst zu ihm kommt.
Wirklich warten können aber nur die Wenigsten, weshalb andere Formen des Jagens in Mode gekommen sind. Einer besonderen Beliebtheit erfreut sich dabei die Treibjagd, deren Beute nicht erwartet, sondern verfolgt wird. Einzeln oder in ganzen Gesellschaften wird dem unterschiedlichsten Wild nachgestellt, ja manchmal scheinen die Jäger sich gerade mit dem zu begnügen, was ihnen begegnet. Erlegt wird am Ende jedoch immer ein zu Tode erschöpftes Tier, das vom langen Lauf einer unbarmherzigen Hatz verausgabt seinen Verfolgern nichts mehr entgegenzusetzen vermag - und das wohl um den Tod betteln würde, wäre es mit Verstand und Sprache begabt.
Diese Art des Jagens ist so verbreitet und ihre Anhänger rühmen ihr Tun so laut, dass man meinen könnte, es gebe gar keine Fallensteller mehr. Doch dem ist nicht so, denn die stille Kunst des Fallenstellens mag selten geworden sein, ausgestorben ist sie nicht.
Auch die Gestalt, die dort vorne im nassen Gras liegt, ist ein solcher Jäger. Die Feuchtigkeit des Morgentaus ist in ihre klamme Kleidung gedrungen und hat sie bis auf die Haut durchnässt - dennoch spürt sie die Kälte kaum. Sie blickt auf die unter ihr liegende Böschung und den angrenzenden Waldrand hinab, diese Betrachtung verschlingt ihre ganze Aufmerksamkeit, kostet ihre ganze Konzentration. Kein noch so schnell entschwindender Schatten, kein noch so leises Geräusch vermag ihr zu entgehen - denn wirklich warten, heißt nicht einfach nur Zeit verstreichen lassen: Warten heißt in Bereitschaft sein.
Ob es hier jagdbares Wild, potentielle Beute gibt, weiß sie nicht, denn niemand kann dergleichen mit Sicherheit voraussagen. Vielleicht ist ihr Warten vergebens, vielleicht sind ihre Anstrengungen von vorneherein aussichtslos. Unentwegt ist ihr wachsamer Blick auf die Lichtung gerichtet, nur diese eine ist ihr bekannt, andere kennt sie nicht. Kommt das Wild hier nicht vorbei, zeigt es sich nicht im Schatten dieser Bäume, so kann sie ihm nicht anderswo auflauern, kann es nicht andernorts erlegen. Sie ist an diesen einen Platz gefesselt, hier muss sich ihr Schicksal entscheiden.
Wie lange sie schon so im nassen Gras liegt und auf eine ungewisse Beute lauert, kann sie nicht sagen. Sie hat es vergessen und es ist ja auch unwichtig, wichtig ist allein die Beute, das Wild: Erscheint es hier, auf dieser Lichtung, und kann sie es erlegen, so ist alles gewonnen - gleichgültig, welche Strapazen dieser Sieg von ihr forderte, wie lange sie auch wartete. Erscheint das Wild jedoch nicht, so hat sie alles verloren und es ist einerlei, ob sie wartete oder nicht.
Zwischen diesen beiden Extremen ist ihr Leben, ihr Warten angesiedelt; ein anderer Ausgang dieser Angelegenheit, eine Überbrückung zwischen beiden ist ihr undenkbar.

In dieses zeitlose Warten, diese ungebrochene und unstillbare Sehnsucht, tritt ein kapitaler Hirsch. Das schwere Geweih stolz zur Schau tragend, den Kopf herausfordernd in den Nacken geworfen betritt er die Szenerie. Er ist ein wahrer König des Waldes - jede Bewegung seines sehnigen Körpers, jede noch so geringe Anspannung seiner gewaltigen Muskeln, lässt die ungebeugten Kräfte ahnen, die dieses imposante Tier entfalten kann. Mit majestätischer Ruhe schreitet er voran, verlässt mit entschlossener Würde das schützende Dunkel des Waldes. Die im Gras kauernde Gestalt hat ihn herbeigesehnt, ihr unbändiges Verlangen und sein eigener, freier Entschluss treiben ihn aus dem Dickicht der Bäume auf die unsichere Lichtung hinaus.
Augenblicklich, ohne dass auch nur ein Herzschlag ungenutzt verstreichen könnte, verkrampft sich ihre Hand, sucht ihr Finger den Abzug; ihre gesamte Wahrnehmung, die eben doch noch ausreichte, die weite Lichtung restlos zu überblicken, ist fokussiert auf den Ausschnitt des Zielfernrohrs, auf das pochende Leben in seiner Mitte; die Umgebung verschwimmt, tritt zurück und verschwindet schließlich ganz - die Welt ist reduziert auf einen Punkt im Fadenkreuz, der Kosmos geschrumpft auf das Zentrum zweier Linien.
Ob nun noch ein Schuss fällt oder nicht, ist bereits bedeutungslos geworden.




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Augenblicksbetrachtungen

Adreas Reunnes
Taschenbuch: 120 Seiten
Verlag: Fischer, Rita G; Auflage: 1 (April 2006)
Sprache: Deutsch
ISBN: 3830108796
Preis: 9,90 €
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 2006-09-24. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).