Anja Wolter

Otto

Es war ein heißer Nachmittag im Sommer und der Marktplatz im Herzen von Mainz war erfüllt vom regen Geschnatter und Gelächter derer, die ihren Feierabend im Marktcafé verbrachten.

Laura hatte es sich auf einem der Sessel im Schutz eines Sonnenschirms bequem gemacht und genoss den süßlich-bitteren Duft, der von dem Eiskaffee neben ihr ausging, während die Geräusche aus ihrer Umgebung in die Ferne rückten und sie ihren eigenen Gedanken nachging. Vor ihren Füßen lag zusammengerollt und von der Hitze träge ihre Hündin Leia, die lediglich von Zeit zu Zeit ein Ohr anhob oder leise brummte.

Als Laura die Hand in Richtung ihres Eiskaffees bewegte, richtete sich Leia plötzlich auf und leckte sich mit erwartungsvollem, bittendem Blick über ihre Schnauze. Laura lächelte sie mitleidig an und kraulte sie am Nacken. "Nicht für dich", sagte sie mit einem bedauernden Lächeln.

"Entschuldigen Sie, aber dürfte ich mich vielleicht zu Ihnen setzen? Ist ja sonst nichts mehr frei bei dem Wetter", erklang neben ihr eine zaghafte Stimme. Laura sah auf und blickte in das faltige, aber dennoch freundliche Gesicht einer alten Dame von etwa 85 Jahren, die sie schüchtern anlächelte. Sie war etwas wackelig auf den Beinen und die Hitze machte ihr sichtlich zu schaffen.

"Natürlich", entgegnete Laura höflich und stand auf, um der Alten den Stuhl zurechtzurücken. Sie bedankte sich und streckte seufzend ihre schmerzenden Beine aus.

Laura trauerte gerade der nun gestörten Ruhe nach und überlegte, ob sie aus Höflichkeit etwas sagen sollte, als Leia ihr diese Entscheidung abnahm, indem sie urplötzlich aufsprang und neugierig damit begann, die Beine der alten Frau zu beschnüffeln.

"Leia, Aus!", rief Laura energisch. "Entschuldigung, da war sie leider schneller, als ich gucken konnte." Ihr war die Situation mehr als unangenehm, aber die Alte schüttelte nur lächelnd den Kopf und hielt Leia vorsichtig ihre Hand hin, damit diese dort weiterschnüffeln konnte.

"Das macht doch gar nichts", sagte sie und strahlte über die unverhoffte Zuneigung, die die Hündin ihr entgegenbrachte. "Wissen Sie, ich hatte auch mal so einen Hund, im Krieg damals. Otto hieß er – ein feiner Kerl war das. Sah genauso aus wie ihrer, aber er hatte nur ein Auge."

"Nur ein Auge?", wiederholte Laura mitleidig.

"Ja, das andere hat ihm der Nachbarshund ausgekratzt, als sie um ein Kanninchen gekämpft haben. Wir hatten ja nichts, da waren natürlich auch die Hunde hungrig", bestätigte die Alte und lächelte gedankenverloren. "Das war ein miserabler Wachhund, der Otto, der war ja viel zu feige dafür. Aber im Grunde ein feiner Kerl. Aber wenn die Bomben kamen, hat den keiner mehr gehalten. Dann ist er immer abgehauen und hat sich im Wald versteckt. Wir hatten einen Hof damals, direkt am Wald. Wir sind in den Bunker und haben uns da versteckt und wenn die Flieger weg waren und wir wieder zurück konnten, da hat er immer schon auf uns gewartet."

"Sie haben ihn nicht mitgenommen?", fragte Laura bestürzt und musste unwillkürlich daran denken, was sie machen würde, wenn sie Leia in so einer Lage allein im Wald zurücklassen musste. Ihr graute vor der schlichten Vorstellung.

"Nein", antwortete die alte Dame, "Das ging ja gar nicht. Hunde hätten doch nur Panik bekommen und wären am Ende noch gefährlich geworden." Dann winkte sie dem Kellner, der sie in der Hektik des regen Nachmittagsbetriebs übersehen zu haben schien, und bestellte eine Eisschokolade und zwei Stücke Bienenstich. "Sie sehen so aus, als könnten Sie jetzt ein Stück vertragen", sagte sie schelmisch grinsend zu Laura. Dann fuhr sie in ihrer Erzählung fort.

"Den Otto hätten da keine zehn Ochsen hineinbekommen, ganz wie mein Vater. Der ist immer beim Hof geblieben, hat es nicht über´s Herz bringen können, die vielen Tiere allein zu lassen.

Einmal, da sind wir gerade aus dem Bunker raus und ein gutes Stück noch vom Hof entfernt, haben wir Otto schon bellen hören. Der hat aber auch einen Lärm machen können, sag ich Ihnen! Mein lieber Mann! Und als wir endlich beim Hof ankamen, haben wir ihn dann stehen sehen. Mitten in den Ruinen des Haupthauses hat er gestanden. Und ein Durcheinander war das! Alles lag verstreut in der Gegend herum, ein einziges Schlachtfeld. Und wir standen davor wie drei begossene Pudel, meine Mutter, mein Bruder und ich. Das war das einzige Mal, wo ich meine Mutter wirklich hab schreien hören. Hat gebrüllt, wie am Spieß, weil sie dachte, jetzt hätte sie meinen alten Herrn nun endgültig verloren. Da hat sie endlich mal gemerkt, was sie eigentlich an ihm hatte. Sonst hat sie ja immer nur mit ihm geschimpft. 'Alter Sturkopf', hat sie immer gesagt, 'Irgendwann fällt dem nochmal der Himmel auf den Kopf, wenn der so weitermacht! Und dann werd ich sagen: Ich hab's ihm ja gesagt! Aber dann ist es natürlich zu spät'." Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie damit die schlechten Erinnerungen vertreiben wie eine Fliege. "Der Hans und ich, wir sind dann zum Otto gegangen, weil wir wissen wollten, was er denn hat. Und tatsächlich lag da, inmitten der Ruine, mein Vater unter dem Küchentisch und hat geschlafen. Geschlafen! Können Sie sich das vorstellen?" Die Alte lachte auf. "Da hat der alte Trunkenbold dem Gevatter Tod mal wieder ein Schnippchen geschlagen. War unter den Küchentisch gefallen und als die Decke eingestürzt ist, hat der Tisch ihn davor bewahrt, unter ihr begraben zu werden."

"Ein echter Glückspilz", pflichtete Laura ihr bei und rückte ihren Eiskaffee zur Seite, damit der Kellner, der mit einem Tablett voll duftender Köstlichkeiten aus dem Café kam, den Bienenstich vor ihr abstellen konnte. Die beiden Frauen beäugten den Kuchen mit kindlicher Freude, weil er beiden nach dieser Geschichte unglaublich luxuriös anmutete.

"Und dann?", hakte Laura wieder ein, nun doch gebannt von der Geschichte.

"Dann mussten wir den Hof natürlich wieder aufbauen, so gut es eben ging. Die Nachbarn haben uns sehr geholfen. Das Schlimmste war eher das ganze Vieh, was ja entweder durch die Bombe umgekommen war, oder in alle Himmelsrichtungen davongerannt ist. Naja und als der Krieg dann vorbei war, hab ich im Dorf eine Ausbildung zur Krankenschwester angefangen. Da hab ich auch meinen Mann kennengelernt, einen Doktor", schwärmte sie, "Und jetzt raten Sie mal, wie der hieß!"

Die Augen der alten Frau strahlten plötzlich vor jugendlicher Freude und ließen ihre betagten Züge wieder jung wirken. Laura zog die Schultern hoch und sah ihre neue Bekannte erwartungsvoll an.

"Na, Otto hieß er! Ein feiner Kerl! Hatte immer einen flotten Spruch auf den Lippen und konne manchmal ein richtiger Bengel sein, aber wenn es darauf ankam, war er immer höflich und charmant." Nach einer kurzen Pause richtete sie sich auf und verkündete: "So, nun habe ich aber genug von mir geredet. Erzählen Sie mir etwas von sich."

Das tat Laura; sie redeten, bis die alte Dame müde war und beide fanden, dass es an der Zeit war, nach Hause zu gehen. Und Laura war glücklich, weil sie wusste, dass sie nicht nur eine neue Bekanntschaft gemacht, sondern auch einer alten Dame einen ganz besonderen Nachmittag geschenkt hatte.