Horst Radmacher

Linsengericht

Ein Sonntagvormittag auf einer deutschen Autobahn kann extrem langweilig sein. Besonders, wenn man alleine unterwegs ist. Das Herumdaddeln am Smartphone ist während der Fahrt bekanntlich verboten. So etwas soll ja auch nicht ganz ungefährlich sein.

Ich war an einem solchen Tag auf der A7 unterwegs, Richtung Süden, um einen Schnellkochtopf in Aschaffenburg abzuholen. Den hatte ich über ebay ersteigert. Zustand wie neu, geringfügige Gebrauchsspuren. Sehr günstig. In Vorfreude auf die Neuanschaffung hingen meine Gedanken irgendwann beim Thema Essen fest. Wie ferngesteuert googelte ich schon mal irgend etwas Essbares. Linsengericht, einfach so. Ich bin zwar ein lausiger Koch, aber für ein Süppchen sollten meine Fähigkeiten reichen. Mist! Bei der Eingabe des Suchbegriffs hatte ich vergessen, zum Browser Google Chrome zu wechseln. Ich hatte statt dessen Google Maps weiter benutzt. Jetzt noch ein unübersichtliches Hin- und Hergetippe- und Gewische während der Fahrt? Schien mir zu riskant.


Was war das dann nun? Ich erhielt ein Resultat. Bei Google Maps ploppte jetzt Linsengericht auf. Ich folgte dem Menü: aktueller Standort – Route berechnen – starten. Sensationell. Der Router zeigte mir den Weg zu einem Ziel mit dem Namen Linsengericht, aktuelle Distanz, 64,7 km auf der A7 und dann A66 bis Abfahrt 41. Nun war ich aber gespannt. Und kurze Zeit später sah ich sie dann, die Ausfahrt 41, dick und fett, weiß auf blau: Linsengericht. Nichts wie runter von der Autobahn, rein ins Städtchen. Es war gegen Mittag und ich bekam Appetit. Warum nicht mal einen leckeren Eintopf? Nomen est Omen. Auf dem Gehweg kamen mir zwei Spaziergänger entgegen, ein älteres Paar. Ich hielt an, ließ die Seitenscheibe runter und fragte:

Entschuldigung, ich suche ein Linsengericht.”

Der Mann antwortete:

Dieses ist hier Linsengericht.”

Die Frau:

Genau.”

Ich:

Aber wo isst man hier Linsengericht?“

Die zwei älteren Herrschaften sahen mich zweifelnd an, schoben die Kinnlade vor und zuckten mit den Schultern. Sie schienen überfordert. In diesem Augenblick kam ein Radfahrer heran, hielt an und fragte:

Kann ich behilflich sein?”

Der Herr sucht ein Linsengericht,”

sagte der Mann und zeigte dabei mit der Hand auf mich. Daraufhin der Radfahrer, er hatte inzwischen die farbige Schutzbrille nach oben geschoben:

Aber das ist doch hier.”

Sehn' Sie. Sagen wir doch,”

antworteten die beiden Alten fast synchron. Ich kam mir inzwischen leicht übergriffig vor, also ein letzter Versuch:

Ich meine, ein Linsengericht zum Essen, eine Mahlzeit.”

Ach so. Nein, da können wir Ihnen leider nicht weiterhelfen.”

Plötzlich hellte sich die Miene des Radfahrers auf.

Da fällt mir gerade ein, die Feuerwehr hat heute ihren Tag der offenen Tür. Da gibt's ein warmes Linsengericht.”

Er zeigte mit seiner freien Hand die Straße runter:

Sehn' Sie die Apotheke da vorne? Gleich dahinter, nächste Straße rechts. Dann vielleicht noch 100 Meter auf der linken Seite. Da ist es dann.”

Mir entschlüpfte nur ein verdutztes

Ach was?!”

Das ältere Paar:

Donnerwetter!”

Ich bedankte mich und fuhr in die angegebene Richtung. Und da sah ich es schon. Der Stellplatz vor der Feuerwehr war für ein kleines Fest hergerichtet. Hüpfburg, Tombola-Bude, Bierstand, Grill und: aus einem großen Kessel schöpfte ein Mitglied der Feuerwehr dampfend heiße Suppe, das Linsengericht. Ich aß zwei Portionen davon. Beide mit Wurst und Brötchen, sehr lecker. Nachdem ich meinen Obolus entrichtet hatte, fuhr ich wieder in Richtung Autobahn. Ich hatte mich entschlossen, den Kauf des Schnellkochtopfs wieder rückgängig zu machen. Was soll ich eigentlich damit? Ich koche eh nicht gut. Und falls ich irgendwann Appetit auf ein Linsengericht bekommen sollte, wüsste ich jetzt auch, wo ich eines fände: einfach die A7 Richtung Süden. Irgendwo hinter Fulda an der A66. Da gibt es gleich einen ganzen Ort davon.

Erst während meines dritten Besuchs dort erfuhr ich, dass der Ortsname nicht auf einen Eintopf aus Hülsenfrüchten zurückzuführen sei. Es heißt, dass bei der Rechtsprechung des örtlichen Gerichts im Mittelalter um keiner Linse Wert vom Recht abgewichen wurde.