Bieke Meller

„Die spannende Story" ...

"Die spannende Story" oder "Entwicklungsförderung durch Judo"

Heute kommt sie 10 Minuten zu spät in den Kindergarten. Die Sonne ihres Lebens sitzt in Hut und Mantel auf der Arme-Sünder-Bank und schaut so böse, wie er nur kann. Die Erzieherin schaut so freundlich, wie sie nur kann. Das Verständnis für berufstätige Mütter ist Programm in diesem Kindergarten.
Das schlechte Gewissen vermiest ihr trotzdem die Laune.

Sie würden aufräumen müssen, endlich mal wieder!
Schon seit Wochen musste die Wäsche im Wohnzimmer trocknen, weil der Wintergarten voll ist mit leeren Kartons, alten Zeitungen, Dosen, Flaschen, Gläser, Tetra-Packs und sonstigen "Wertstoffen". Heute Nacht hatte sie wieder diesen Albtraum, der immer wiederkehrt, wenn die Pferdetür nur noch nach einer größeren Umbaumaßnahme zu öffnen ist: Sie träumt dann immer, sie würde einem plötzlichen Herzschlag erliegen und nach zwei Tagen stünde dann in der Zeitung: "Die offensichtlich geisteskranke Frau wurde in ihrer völlig verwahrlosten Wohnung aufgefunden. Bis zu ihrem Tode hat sie unbeschreibliche Mengen von Müll in ihrer armseligen Bleibe gehortet. Die Nachbarn sind erschüttert..." Schweißgebadet war sie aufgewacht mit dem festen Vorsatz: Heute wird aufgeräumt!
Aber die "Wertstoff"-Sammlung war ja noch lange nicht alles. Vor Wochen waren ihr die Aktiv-Boxen vom Computer kaputtgegangen. Die Neuen waren zum Ausprobieren notdürftig eingestöpselt und standen oder lagen seitdem auf dem Fußboden im Weg herum. Die Kaputten belegten nutzlos ihren alten Platz.
Und gestern hatte sie sich endlich eine Stereo-Anlage gekauft, nur eine kleine kompakte, aber immerhin, endlich richtige Musik im Wohnzimmer.
Aber jetzt steht der ganze Verpackungsmüll auf dem Sofa rum. Die Kabel liegen kreuz und quer. Im Rumpels Tonne ist es sicher ordentlicher.
Und die Höhle des kleinen Löwen lässt ebenfalls deutlich erkennen, wes Löwen Kind er ist. Und natürlich hat der kleine Löwe keine Lust zum Aufräumen. Zuerst muss sie ihm sowieso die neue Stereo-Anlage vorführen. Er ist begeistert, und will jetzt den ganzen Nachmittag lang CD's hören.
Sie will das auch, aber die Arbeit würde sich nicht von allein machen.
Also sucht sie einen Hammer und einige Nägel, aber um an den Werkzeugkasten zu kommen muss sie sich erst durch einen Haufen Kartons durchwühlen. Und es ist ungewiss, ob sie den Hammer überhaupt in den Werkzeugkasten zurückgelegt hatte...

Nachdem alle Kabel aus dem Weg verlegt sind, die alten Aktivboxen in eine Kiste verbannt, die natürlich mitten im Wohnzimmer steht, die neuen angeschlossen und an Ort und Stelle, fällt ihr ein:

Mist, sie müssen doch zum Judo!

Also sieht sie nun ihrem Sohn beim Judo zu.
Und damit es nicht so langweilig wird, hat sie eine angefangene Kurzgeschichte dabei. Die will sie in der Stunde zuende schreiben.
Im Kopf ist die Geschichte schon fertig, sie muss sie nur noch aufschreiben.

Auf der Matte sind vier kleine Jungs und ein kleines Mädchen. Ihrer ist der Kleinste. Mit dem Trainer hatte sie telefoniert, als sie ihr Kind damals angemeldet hatte. Er ist eine Judo-Berühmtheit in der Stadt und hat am Telefon eine unfreundliche -Stimme. Offen gesagt, mochte sie ihn nicht besonders. Aber die Sache mit der Entwicklungsförderung durch Judo war ihr wichtig. Das kluge Kind ist still und verträumt. Judo sollte sein Selbstbewusstsein stärken. Also musste sie über ihren Schatten springen und sich darauf einlassen.
Kinder entscheiden selbst wen sie mögen und wen nicht. Es war Liebe auf den ersten Blick und sie musste neidlos anerkennen, dass der Mann, so muffelig er mit Erwachsenen auch sein mag, ein goldenes Händchen mit Kindern hat.

Aber sie schweift ab. Ihre Geschichte wartet. Seit zwei Wochen schreibt sie jetzt daran, eine heitere Geschichte mit schönem Spannungsbogen und einer Pointe am Ende zu einem heiklen Thema. Warum nur wurde sie nicht fertig damit? Langweilen sie ihre eigenen Ideen?

Jetzt wird es laut auf der Matte. Fünf kleine weiße Gestalten üben das Fallen. Das knallt und kracht und macht einen tüchtigen Lärm. Die Kinder lachen und johlen. Es macht ihnen Spaß. Als sie selbst damals Aikido machte, hat sie die Fallübungen gehasst und schließlich aufgegeben. Ihr kleiner Sohn hat Spaß. Sie freut sich für ihn.

Vielleicht fehlt ihrer Geschichte der richtige Pepp. Ehrlichgesagt, hätte sie schon genug Zeit gehabt, alles fertig aufzuschreiben. Aber es gab hundert Dinge, die interessanter waren.
Seit einigen Tagen reizt es sie mehr, erotische Geschichten zu schreiben. Aber wo könnte man die veröffentlichen? Es soll ja Verlage geben, die so was suchen, aber unter ihrem guten Namen? Sie weiß nicht....

Entwicklungsförderung durch Judo? Es sieht ganz danach aus. Der kleine Mann macht das richtig gut. Wer hätte das gedacht? Und der Trainer bemerkt es, lobt ihn und er ist selig. Kleine Erfolgserlebnisse, genau das, was er braucht..
Nun ja, wer braucht das nicht? Die großen Leute doch auch!
Der kleine Kerl nimmt das Judo richtig ernst, hört gut zu, macht was ihm gesagt wird und jetzt....
Huch, der nimmt richtig Anlauf, legt eine Judo-Rolle nach der anderen hin und hat überhaupt keine Angst. Sie fasst es ja nicht...

Zuhause war inzwischen kein Heinzelmännchen gekommen. Die Verpackung von der Stereo-Anlage liegt auf dem Sofa, die Kiste mit den kaputten Aktiv-Boxen steht mitten im Wohnzimmer, im Wintergarten die "Wertstoff"Sammlung.

Morgen ist auch noch ein Tag!

Ihre Geschichte hat sie längst aufgegeben. Eine ganz alltägliche Trainingsstunde für 5- bis 7-jährige Judo-Anfänger ist spannender als ihre konstruierte Story zum Thema Mülltrennung. Niemand wird etwas lesen wollen, was ihr schon zum Schreiben zu langweilig ist.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.03.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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