Hüseyin Akdemir

Andere Bräuche


„Feiern Sie auch dieses Jahr Weinachten?“ fragte Herr Schulte, unser Nachbar.
 
Ohne nachzudenken antwortete ich spontan „Ja, natürlich“.
 
Ich bin Türke und lebe seit achtundzwanzig Jahren hier in Duisburg. Unsere Nachbarn sind ausnahmslos Deutsche und ich bin mit einer Deutschen verheiratet. Vielleicht spielt das eine Rolle, schließlich hat er mich nicht gefragt, ob wir dieses Jahr zum Mond fliegen!
 
„Aber Sie haben gewiss andere Bräuche als wir hier“, bohrte mein Nachbar weiter.
 
„Wie denn anders?“, Das wüsste ich selber gerne“, konnte ich Herrn Schulte nicht gut antworten. Ebenso konnte ich nicht entgegnen: „Was heißt denn Weihnachten feiern? Wir feiern überhaupt nicht Weihnachten!“ denn die Schultes waren ja die einzigen Nachbarn, zu denen wir Kontakt hatten.
 
„Nein, nein“, beteuerte ich also „ Wir feiern Weihnachten genau wie Sie hier, und wir beschenken uns auch, mit dem einzigen Unterschied, daß wir keinen Weihnachtsbaum haben. Das aber ist nicht unsere Schuld. In unserer anatolischen Steppe gibt es keine Tannenbäume. Und wenn Sie tagelang suchten, sie finden nur ein paar Besenreise.“
 
Und da hatte ich nun nicht gelogen. Wir zu Hause beschenken uns, auch wenn das nicht allgemein üblich ist, denn schließlich braucht man dazu Geld. Und wie viele haben schon Geld in der Türkei? Wir nennen solche Gaben auch nicht Weihnachtsgeschenke, sondern Neujahrsgeschenke. Um bei der Wahrheit zu bleiben, fällt uns bei dem Gedanken an Neujahr, wenn wir schon etwas kaufen sollten, der Hahn oder Puter ein, den wir zu Feier des Tages schlachten würden. Das ist für unsereinen der größte Luxus.
 
Als ich meiner Frau von meinem Gespräch mit Herrn Schulte berichtete, verschlug es ihr zunächst die Sprache, so dann war nur ein „Oh Gott, oh Gott“ zu hören. Wenn sie sich über etwas ärgert, reagiert sie immer so. Und je nachdem wie sehr sie sich ärgert, folgen noch viele „Oh Gott, oh Gott“. Was für ein Glück, jetzt war es nur eins.
 
„Was hast Du dem Herrn Schulte bloß erzählt? Du weißt doch, daß wir jedes Jahr zu Weihnachten bei meiner Mutter eingeladen sind. Du weißt genau, daß Du für mich nicht Weihnachten zu feiern brauchst“. „Aber jetzt sieht die Sache anders aus. Jetzt geht es darum, den Nachbarn zu zeigen, wie angepasst ich bin. Was schlägst Du also vor?“
 
„Wenn ich das wüsste!“
 
„Aha, deine Mutter ist die Rettung.  Diesmal komme ich mit zu ihr und wenn wir gefragt werden, waren wir eben bei Deiner Mutter“.
 
„Das ist ja leicht gesagt. Aber sie werden denken daß wir sie anschwindeln, wenn sie nicht mit eigenen Augen sehen, wie am Weihnachtsabend an unserem  Baum die Lichter brennen. Alle unsere Nachbarn sollen auch uns Weichnahten feiern sehen. Auch die Frau von Gegenüber. Sie hat mich doch neulich dreist gefragt, ob wir einen Gebetsteppich zu Hause haben“.
 
„Tja, da es keinen anderen Ausweg zu geben scheint, beginnen wir am besten schon jetzt mit dem Vorbereitungen.“
 
„Wie viele Tage bis Weihnachten bleiben uns denn noch?“ fragte ich meine Frau.
 
„Also“ sagt sie. „Zuerst müssen wir einen Tannenbaum kaufen. Dann müssen wir für ihn einen Platz nahe am Fenster finden, wo ihn alle Nachbarn sehen können.“
 
„Wie teuer ist so ein Baum?“
 
„Nicht so teuer. Das hängt von der Größe ab, höchstens 30 Euro.“
 
„Dreißig Euro? Dann will ich keinen. Ich gebe doch nicht   30 Euro für einen Baum aus, der nur ein paar Tage hält.“
 
„Ich rufe meine Mutter an, lade sie ein“, sagte meine Frau.
 
„Gut, dann fragst Du sie, ob sie den Baum vom letzten Jahr noch hat.“
 
         Ihre Mutter nahm die Einladung sofort an, doch sie hatte den Baum vom letzten Jahr nicht mehr.
 
„Ich könnte ja einen Baum aufs Fenster mahlen. Ich kann ja ganz gut zeichnen, wie Du weißt“, meinte ich.
 
„Sei nicht albern.“
 
„Muß es denn ein Tannenbaum sein?“ Wir fällen den Baum aus  unserem Garten.“
 
„Meinst Du, meine Mutter wäre unfähig, den Unterschied zwischen einem Kirschbaum und einer Tanne zu bemerken?“
 
„Was tun wir also?“
 
„Da bleibt nur eine Alternative: Du gehst und kaufst einen Tannenbaum. Du kannst die Suppe auslöffeln, die Du Dir eingebrockt hast.“
 
         Eigentlich legt meine Frau auf solche Feierlichkeiten keinen Wert. Wir feiern noch nicht einmal unsere Geburtstage. Aber dieses Mal war es ihr Ernst. Sie hatte die Fragerei der Nachbarn gründlich satt. Ich täusche mich wohl nicht, wenn ich behaupte, daß die Nachbarn mehr entgegenkommen gezeigt hätten, wäre sie nicht mit einem Ausländer, sondern mit einem außerirdischen Wesen verheiratet… Plötzlich kam mir eine glänzende Idee.
 
„Wo wohnte noch mal Deine Kollegin Rosi?“, wollte ich wissen.
 
„Was hat sie denn damit zu tun?“
 
„Nun sag schon. Wie hieß die Straße?“
 
„Waldweg.“
 
„Das war’s. Alles bestens. No Problem.“
 
„Das verstehe ich nicht.“
 
„Da gibt’s nichts zu verstehen. Einfach Wald. Im Wald gibt es Bäume.“
 
„Bist Du verrückt? Wenn Du erwischt wirst, sitz Du. Und dann wirst Du abgeschoben.“
 
„Denkest. Ich gehe doch nicht sofort. Ich warte bis es Nacht wird und wenn alle schlafen, gehe ich und hole einen kleinen Tannenbaum. Es ist doch nicht weit bis zum Wald. Höchstens fünf Minuten zu Fuß.“
 
„Lieber nicht. Das ist gefährlich. Es könnte Dir etwas zustoßen. Es wäre besser Du kaufst einen Baum.“
 
         Es ging nicht darum, einen Baum zu kaufen. Diese verrückte Lösung ließ mich nicht mehr los und erschien mir verlockend und toll zugleich. Wenigstens wollte ich mir einen eigenen Weihnachtsbaum schneiden, so wie wir unsere Opfertier auch selber schlachten… Mitternacht war schon längst vorbei. Ich nahm die Säge, zog mich warm an und verließ das Haus in Richtung Wald. Der Mond beschien alles taghell. Die Taschenlampe brauchte ich nicht. Wie ich ein bisschen ängstlich und aufgeregt, in den Wald eindrang, hielt ich Ausschau nach einem geeigneten Baum. Dabei hatte ich das Gefühl, verfolgt zu werden. Ehrlich gesagt, wäre ich sofort umgekehrt, hätte ich Herrn Schulte diese Antwort nicht gegeben.
 
         Ich ging immer weiter in den Wald hinein. Da gab es viele Tannenbäume. Aber die waren alle viel zu Gross. Wie ich darüber nachdachte, wie ich am besten ans Werk gehen sollte, tauchte plötzlich eine dunkle Gestalt vor mir auf.
 
„Halt! Sie dürfen keinen Baum schlagen.“
 
Vor Schreck blieb mir das Word im Halse stecken. Ich wusste zwar, daß ein Mensch vor mir stand, brachte aber keinen Ton heraus. Mir war wie einem, der im Traum schreien möchte, aber nicht kann. Da hörte ich mein eigenes stimmchen  fragen: „wer ist da?“
 
„Sehen Sie das nicht?“
 
„Was sehe ich nicht?“
 
„Mich natürlich, mich! Sehen Sie mich nicht?“
 
Dann ging das Licht seine Taschenlampe an und beleuchtete ihn langsam von oben nach unten.
 
„Sehen Sie jetzt mich?“
 
Es war ein junger Mann, Mitte Zwanzig, von oben bis unten grün bekleidet. Nur seine Stiefeln waren gelb. Dann sagte er:
 
„Ich bin im Verein der Waldfreunde. Da wir wissen, was zu dieser Jahreszeit los ist, haben wir eine Aktion gestartet. Seit drei Tagen halten wir Wache. Sie sind nicht der erste, den wir auf frischer Tat ertappen.“
 
„Sind Sie deshalb so grün?“
 
„Werden Sie nicht frech“, meinte er. „Hauen Sie ab. Und Ihre Säge lassen Sie hier.“
 
         Zuerst wollte ich meine Säge nicht abgeben. In dem Moment, als zwei seiner Freunde auftauchten, ließ ich meine Säge brav los und machte mich lammfromm auf den Heimweg.
 
Wie gut, daß es keine Polizisten waren, dachte ich bei mir. Dann dachte ich an meiner Frau. Wie würde ich dastehen? Zu dem noch ohne Säge… Ich kehrte zurück wie ein Krieger, doch weder als Märtyrer noch als Held. Immer wieder ging es mir durch den Kopf: „Ich Märtyrer, ich Held! Und die Säge zum Teufel!“
 
         Plötzlich sprang einer aus dem Gebüsch heraus. Mir wurden die Knie weich. Einen Augenblick lang dachte ich, es wäre ein Hund. Gleich wird er mich anfallen. Der Schweiß schoss mir aus allen Poren. Als ich gerade um Hilfe schreien wollte, sagte der Mann vor mir:
 
„Sie brauchen einen Tannenbaum, oder?“
 
„Ach, was? Ich gehe nur so spazieren.“ Etwas besseres fiel mir nicht ein.
 
„Nun, hören Sie schon auf. Ich weiß doch, dass Sie gerade erwischt worden sind. Sie sind schon der Vierte, der heute Nacht „nur so spazieren geht“ Ich weiß was Sie wollen. Mit 10 Euro sind Sie dabei!“
 
„Wie Zehn Euro?“
 
„Sie geben mir zehn Euro, dafür können Sie sich einen Tannenbaum aussuchen, schon fertig geschlagen.“
 
„Im Ernst?“
 
„Klar. Überzeugen Sie sich selbst. Da hinten liegen sie.“
 
Gut, dass ich meine Brieftasche dabei hatte. Ich habe ihm zehn Euro gegeben, aber Trinkgeld wollte er nicht haben… So nahm ich meinen Baum auf die Schulter und ging erhobenen Hauptes nach Hause… Merkwürdig, der Baumverkäufer hatte  auch grüne Sachen an…
 
         Als ich zu Hause den Baum im Wohnzimmer in eine Ecke stellte, machte meine Frau große Augen. Gott sei Dank hat sie nicht gefragt, wo die Säge geblieben war.
 
         Bald hatten wir unseren baum so schön geschmückt, dass wir jeden Abend  die Gardinen bei Seite zogen und alle Lampen anmachten. Die Kugeln leuchteten in allen Farben. Und wir fotografierten uns gegenseitig vor unserem Baum, der sehr groß war.
 
         Einen Tag vor Weihnachten legten wir alle Geschenke, die wir für uns, die Mutter und den Bruder meiner Frau  gekauft hatten, unter das Prachtexemplar von Weihnachtsbaum. Damit es nach noch mehr aussah, packten wir einige von unseren dicken Büchern hübsch ein und legten sie dazu.
 
         Am Heiligen Abend waren die Mutter und der Bruder meiner Frau bei uns. Unser Baum wurde gelobt. Alles lief wunderbar. Nur wie peinlich war es, als ich meiner Schwiegermutter „ich gratuliere Dir zum Weihnachtsfest!“ sagte. Sie hingegen kannte sich in unseren Sitten und Gebräuchen bestens aus.  Sie würde mir nie „ich gratuliere Dir zum Ramadan-Fest!“ sagen.
 
         Nach den Feiertagen fanden wir eine Karte im Briefkasten, auf der geschrieben stand: „Herzliche Weihnachtsgrüße aus Paris… Ihre Nachbarn Schulte…“
 

 
                                                                               Von Hüseyin Akdemir
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.01.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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