Wolf-Rüdiger Guthmann
Der Tisch
Neulich bin ich durch die Stadt gelaufen,
da sah ich einen Sperrmüllhaufen.
Ganz zu oberst, sauber und frisch,
stand weggeworfen auch ein Tisch.
Halbbedeckt mit einer Matte,
zeigte er nen Teil der Platte.
Ich zog schnell die Matte fort
und besah mir dann den Ort.
Cirka hundert Jahre alt,
gutes Holz, gesunder Wald.
Die Oberfläche gebeizt und geschliffen,
Handballenpolitur inbegriffen.
Die Ecken gerundet, nicht abgeschrägt,
damit sich keiner daran schlägt.
Man sah, dass dort ständig Leute saßen,
die nicht nur tranken oder aßen.
Ich fand kleine Tintenstriche,
aber auch noch Nadelstiche
und gleichmäßige Kratzerspuren,
die durch Arbeit widerfuhren.
In der Mitte, zentral vom Rand,
sicher der heiße Topf einst stand.
Das Furnier war dort erhellt
und durch die Hitze leicht gewellt.
Was mag der Topf enthalten haben?
Vielleicht Kartoffeln für den Magen?
Oder war es Arbeitsleim
für die Lohnarbeit daheim?
Man müsste kleine Proben schaben
und ein Chemielabor dann haben.
Vielleicht würde sich auch nur herausstellen,
dass Skat gespielt hier die Gesellen.
Könnte der Tisch uns selber berichten,
gäbe es sicher absurde Geschichten.
Während ich Tisch und Platte besah,
war plötzlich das Sperrmüllauto da.
Da er auf dem Haufen stand,
nahm man den Tisch zuerst in die Hand.
Die Beine in die Luft gestreckt,
wurde er in den Schacht gesteckt.
Da sah ich des Tischlers Schrift:
„Für das Naumburger Postwaisen-Stift“
2011 © Wolf-Rüdiger Guthmann
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.11.2012.
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