Uta Fernkäse

Morgenduft´s Reise

„Das
ist ja seltsam“, dachte Richard, als er am Strand entlang lief und
plötzlich einen roten, herzförmigen Apfel vor sich im Sand
liegen sah. „Wie bist du denn hierher gekommen?“ Vorsichtig hob
er den Apfel in seine Hände und umfasste ihn, als wäre er
der kostbarste Schatz auf Erden. Zwischen seinen kleinen Fingern
fühlte er die glatte, seidige Schale, die das Innere des Apfels
beschützte. Seine kleine Nase stupste an den Apfel und nahm die
Brise des fruchtig süßen Lebens wahr. Behutsam schüttelte
er ihn ein wenig und hielt seine Ohren an die duftende Frucht. Da
hörte er ein leises Kichern. „Hallo, ich heiße
Morgenduft“, sagte der Apfel fröhlich zu ihm. Richard hielt
kurz seine rechte Hand an sein Basecap und begrüßte den
Apfel ebenfalls. „Du bist schön“, antwortete er, als wäre
es das Natürlichste auf der Welt, sich mit einem Apfel zu
unterhalten. „Was hat dich denn hierher verschlagen?“ „Das ist
eine lange Geschichte“ erwiderte Morgenduft schmunzelnd. „Willst
du sie hören?“ Der
Junge nahm in dem warmen Sand Platz und lauschte neugierig der
Erzählung des Apfels.
„Ich
bin zusammen mit meinen Geschwistern in den idyllischen Berghängen
aufgewachsen, da wo uns fast das ganze Jahr die Sonne verwöhnt.
Das ist wichtig, denn so erhalten wir dieses strahlende Aussehen und
den fruchtig süßen Geschmack. Wir verbrachten zusammen
viele erfreuliche und heitere Stunden in den sonnendurchflutenden
Rainen. Es war ein wunderbares Gefühl, so faul an den Bäumen
zu baumeln und darauf zu warten, heranzuwachsen und reif zu werden.
Doch mit der Zeit wurde es mir langweilig. Ich konnte mir nicht
vorstellen, dass dies im Leben alles sein sollte. Als Apfel kann man
doch nicht nur dazu bestimmt sein zu warten, bis man ausgereift genug
ist, um dann verkauft oder als Saft verarbeitet zu werden? Ich wollte
in die große weite Welt hinaus und Abenteuer erleben! Aber wie
sollte ich das anstellen? Ich saß in dem Baum fest. Mein
Apfelleben sollte wohl so sein, wie es als Apfel eben ist. Durch
dieses Bewusstsein wurde ich von Tag zu Tag trauriger. Ich weinte
mich jeden Abend in den Schlaf. Keiner schien mein nächtliches
Schluchzen zu hören. Alle
waren viel zu sehr damit beschäftigt, rot und resch zu werden.
Doch ich musste etwas tun. Mit aller Kraft versuchte ich vom Baum zu
fallen. Sehnsüchtig hoffte ich auf einen schweren Sturm, der
mich von dem Leben befreite. Aber nichts geschah. Ich blieb mutlos an
dem Ast hängen. Allerdings hatte ich vor lauter Anstrengung
aufgehört zu wachsen. Ich blieb so klein, wie ich war, mit
dieser eigentümlichen Herzform. Eines Tages war es dann soweit.
Wir wurden gepflückt und verlesen. Ich kam nicht auf den breiten
Wagen, sondern wurde in eine Stiege gelegt und für die Touristen
am Straßenrand zum Verkauf bereitgestellt. Du kannst dir nicht
vorstellen, wie glücklich mich das machte! Meine Wünsche
sind erhört wurden. Schon ein paar Stunden später landete
ich in dem Korb einer älteren Dame. Sie legte mich behutsam ganz
oben auf die anderen Äpfel. Doch ich verlor den Halt, als sie
eilig in ihr Auto stieg. Ich purzelte unbemerkt aus ihrer Tasche und
rollte frohen Mutes den Berg ins Dorf hinunter. Vor den Füssen
eines kleinen Mädchens, das mit ein paar Jungs Fußball
spielte, blieb ich liegen. Ohne mich nur anzusehen, versteckte sie
mich in ihrer Jackentasche. Müde und erschöpft von der
langen Reise kuschelte ich mich in das Bett. Ich spürte meine
schmerzenden Schrammen, die ich durch den Sturz davontragen musste.
Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte, aber ich war
erleichtert, dem vorgeschriebenen Apfelleben entkommen zu sein. In
tiefer Freude schlief ich in der Tasche des Mädchens ein. Ich
erwachte erst, als ich mit einem Schlag in den Sandstrand fiel. Ich
wusste nicht, was geschehen
war. Wie bin ich von den Bergen zum Meer gelangt? Aber mir gefiel es,
hier ungestört am Ufer zu liegen. Ich beobachtete die
braungebrannten Menschen, die an mir vorbeieilten. Ich spürte
den Wind, der den salzigen Geschmack des Meeres zu mir wehte. Ich
fühlte die Wellen, die mich immer wieder berührten und
versuchten, mich ins Wasser zu spülen. Ich genoss die Sonne, wie
sie unterging und sich mit dem Meer vereinte. Das musste Freiheit
sein! Die ganze Nacht lag ich hier, um die Sterne zu beobachten und
dem Wellenspiel zu lauschen. Nun hast du mich entdeckt. Ich habe
Abenteuer erlebt und Kämpfe ausgestanden. Es war wunderbar und
ich fühle endlich das Glück in mir, was ich gesucht habe.
Aber jetzt ist die Zeit gekommen, um Abschied zu nehmen. Es ist mir
eine ganz besondere Ehre von dir gegessen zu werden.“
Richard
streichelte nachdenklich den Apfel und drückte ihn an sich. Er
tastete nach den Narben von Morgenduft, die ihn zu etwas ganz
Besonderem machten. Noch nie in seinem Leben hatte er einen so
starken und eindrucksvollen Apfel kennen gelernt. Er erlebte seine
weiche samtige Schale, spürte diesen aufregenden Duft und
lauschte seinem seligen Gesang. Die Welt um ihn herum war
stehengeblieben. Er hörte nicht die Stimme seiner Mutter, die
nach ihm rief und die Möwen, die schreiend über seinem Kopf
kreisten. Er saß zusammen mit Morgenduft und genoss diesen
friedlichen Augenblick. Schließlich biss Richard voller Wonne
und Hingabe in den Apfel und empfing diesen süß-säuerlichen
Geschmack. Er war der beste Apfel, den er je gegessen hatte. Er aß
ihn auf und es blieben nur die kleinen braunen Kerne übrig, die
er sich glücklich lächelnd in seine Jackentasche steckte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.11.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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