Ute Abele

Zur Geisterstunde


Mitten in der Nacht - zur Geisterstunde – fand eine Feuerzeremonie im Rohbau des neuen Hindu-Tempels statt, und wir - einen Tag vor unserer vedischen Hochzeit - waren natürlich dabei. Es waren 50 bis 60 Menschen da. Aus Indien war ein tantrischer Heiler und vedischer Priester namens Citeshvara, gekommen, der die Zeremonie durchführte. Mit dem Feueropfer würde er alle am Ort befindlichen Geister einschließlich der Geister aller Anwesenden zum Mond senden, von wo aus sie befreit und an die Orte geleitet würden, von denen aus sie wieder inkarnieren könnten. Dies war alter vedischer Brauch zur Reinigung eines Orts und gleichzeitig zur Heilung gebundener Seelen.

Der Priester formte mit gefärbtem feinen Sand verschiedene Linien und Kreise... dabei wurden Lieder gesungen und Gebete gechantet. Meisterhaft machte er das, der Sand rieselte ganz gleichmäßig durch seine Hände und es entstanden wunderschöne Ornamente. Das Feuer loderte nach einer Weile sehr hoch... Citeshvara sang vedische Verse, von denen jeder mit "svaha" endeten, was soviel wie „Amen“ bedeutet. Obst, Blumen und Süßigkeiten wurden dargebracht und gesegnet. Danach ging der tantrische Priester herum und "sammelte" die Geister der Anwesenden ein, denn manche Geister hängen sich nach vedischem Glauben an Menschen, weil sie sich von der materiellen Existenz nicht lösen können und sie es nicht schaffen, weiterzugehen.

Citeshvara ging zurück zum Feuer und erklärte, viele der Geister wären froh, auf diese Weise befreit zu werden. Außerdem hätten wir jetzt noch die Gelegenheit - falls wir Feinde hätten - diese Feinde jetzt zu benennen. Sie würden dann durch das Feuer getötet werden!

Allen stockte der Atem. Wie? Meinte er das wahrhaftig ernst? Sie sollten getötet werden? Ja, er meinte es sehr ernst. Er lächelte und wartete. Niemand wagte sich auch nur zu bewegen, alle saßen wie gebannt da, mucksmäuschenstill. „Und? Niemand hat Feinde? Gut.“ Er hatte immer noch dieses ganz besondere Lächeln auf den Lippen, schaute noch einmal in die Runde, wartend... immer noch war es knisternd still und niemand meldete sich, und so setzte er die Zeremonie fort.

Ich vergaß dieses Lächeln nicht. Es stand vor meinen Augen, als wollte es mir etwas sagen... und das tat es dann auch, allerdings erst einige Tage später. Das Lächeln sagte: „Ihr lieben Leute... was sind denn Feinde? Ihr werdet doch nicht meinen, dass es um irgendwelche Menschen geht, mit denen ihr wie viel Streit auch immer gehabt haben mögt? Nein! WAS sind Feinde??? Nun?“

"Die Feinde sind eure eigenen inneren Zustände, eure Zweifel, euer Unglaube, eure Faulheit in spirituellen wie materiellen Dingen, eure Unaufrichtigkeit, eure Inkonsequenz, euer Neid, eure Eifersucht... und muss ich noch mehr aufzählen...?“, fragte das Lächeln.

Nein.

Svaha.








 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.03.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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