Alexander Brück

Vollmond


Die Beine taten ihm weh. Voller Schmerz lief er weiter. Die tausend kleinen Stiche, die durch seine Füße und Waden bis zu den Oberschenkeln verliefen,  waren lähmend und befreiend zugleich.  Es war, als ob die Müdigkeit und die schweren Beine ihn an seiner Mission hindern wollten. Doch so schnell würde er nicht nachgeben. Er würde weiterlaufen, bis er sein Ziel erreicht habe. Denn er wusste, dass er auf dem richtigen Weg war.
Der Tag des Versicherungsunternehmers Mendelsohn hatte begonnen wie jeder andere. Naja, sagen wir fast. Heute war er erst gegen 9 Uhr im Büro gewesen. Ein Stau hatte ihn aufgehalten.  Auf der Hamburger Allee hatte sich jemand aus dem Fenster gestürzt. Ein junger Mann, nicht gerade bekannt. Im Schneckentempo fuhren die Autos an dem rot-weißen Absperrband vorbei. Dahinter waren nur schemenhaft die Kreideumrisse zu erkennen, mit der die Polizei die Position der Leiche markiert hatte. „Was treibt einen Menschen dazu, sich umzubringen“, ging es Mendelsohn im Vorbeifahren durch den Kopf. In seinen nun 47 Lebensjahren hatte er kein einziges Mal auch nur den Hauch einer Lebensmüdigkeit verspürt. Warum auch? Er war immer glücklich gewesen. Nach dem Abitur konnte er sofort in das Versicherungsunternehmen seines Vaters einsteigen und arbeitete sich bis zum stellvertretenden Geschäftsführer hoch. Das Schicksal meinte es gut mit ihm, denn in seiner damaligen Abteilungsleiterin sollte er seine zukünftige Ehefrau finden. Gemeinsam zeugten sie drei Kinder, bezogen ein wunderschönes Haus am Stadtrand mit einem Garten, der von der Kreativität und dem grünen Daumen der jungen Ehefrau lebte. Zu guter Letzt hatte Mendelsohn inzwischen ein ordentliches Vermögen angehäuft und konnte sich und seiner Frau jeden Luxus leisten, der ihnen in den Sinn kam. Keine schlechte Bilanz also. In all den Jahren hatte er nie den Wunsch verspürt, etwas zu ändern. Die Härte und Konsequenz, mit der der Fensterspringer sein Leben beendet hatte, machten ihn ein wenig nachdenklich. „Wie  verzweifelt muss er gewesen sein, um seinem Leben so radikal ein Ende zu setzen“, fragte er sich.
In seinem Büro im dritten Stock angekommen, begrüßte Mendelsohn wie an jedem Morgen Frau Schindler und Frau Hegele, die beiden Sekretärinnen im Vorzimmer der Kanzlei, und ging schnurstracks weiter zur Kaffeemaschine. Der allmorgendliche Koffeinschub. Er brauchte ihn, um auf Touren zu kommen. Frau Schindler und Frau Hegele, schon seit 20 Jahren bei Mendelsohn & Partner angestellt und immer zuverlässig, schwatzten wie üblich über das zurückliegende Wochenende. „Schläft dein Mann zurzeit auch so schlecht“, fragte die Schindler. „Ja, er kommt überhaupt nicht zur Ruhe und wälzt sich die ganze Nacht nur so im Bett herum“, antwortete ihre Kollegin. „Es ist Vollmond, der bekommt vielen nicht“, fügte Frau Hegele noch hinzu. „Man sagt ja, dass der Vollmond eine euphorisierende Wirkung auf manche Menschen habe, wie eine Droge. Manche springen dann sogar aus dem Fenster.“ Frau Schindlers Worte ließen Mendelsohn zusammenzucken. Er schüttelte dieses Unbehagen jedoch schnell von sich ab und ging zur Tagesordnung über. „Was für ein Geschwätz“, dachte er sich. „Vollmond…die Menschen finden auch immer Ausreden für ihre Probleme!“ Er begann mit der Arbeit. Kundenakten durchsehen, neue Klienten anwerben, telefonieren. Der ganz gewöhnliche Alltag. Doch das seltsame Gefühl, das das Gespräch der Vorzimmerdamen in ihm ausgelöst hatte, hielt weiter an. Den ganzen Tag über war es, als ob ihn etwas juckte. Er konnte aber nicht sagen, was es war. Gegen Abend wurde es immer schlimmer. Die beiden Sekretärinnen hatten sich soeben in den Feierabend verabschiedet. Mendelsohn legte die Akten beiseite. Er hielt es nicht länger aus. Er schloss die Tür der Kanzlei hinter sich ab und beschloss, nach Hause zu fahren. Dort würde er schon zur Ruhe kommen. Draußen angekommen war die Straße in ein gedämpftes, silbriges Licht getaucht. Der Vollmond thronte über der Stadt und machte die Nacht zum Tage.  
Mendelsohn war fast an seinem Auto angekommen, da packte es ihn endgültig. Er ließ seine Aktentasche fallen und rannte los. Er rannte durch die ganze Stadt, vorbei an Blechlawinen, die nur schleppend vorwärtskamen, vorbei an jugendlichen Draufgängern, die in kleinen Grüppchen lässig durch die Straßen schlenderten, sogar vorbei an der Stelle, an der am Morgen ein junger Mann ziemlich unsanft auf dem Asphalt aufschlug. Der Versicherungsunternehmer beschleunigte noch einmal sein Tempo und raste stadtauswärts, bis er Häuser und Fabriken hinter sich ließ und sich weite Felder vor ihm ausbreiteten. Der Vollmond hing mittlerweile drohend und grell über der Ebene. Er würde ihm den Weg durch die Nacht leuchten, würde ihn zum Ziel führen. Seine Beine waren fast am Ende, doch mit jedem Schritt spürte er eine unglaubliche Befreiung, als ob er einen Stahlkäfig mit bloßen Händen auseinanderbrechen könnte. Und mit jedem Blick, den er auf das gleißend helle Licht des Mondes warf, verstärkte sich dieses Gefühl. Mendelsohn fragte sich, warum er es nicht schon viel früher getan hatte. Wahrscheinlich war erst jetzt der Zeitpunkt gekommen. Er wusste nur eins: Es fühlte sich unglaublich gut an und es war richtig. Es war Vollmond.    

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.08.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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