Birgit Enser

Hanna und der dunkle Wald

Es war einmal ein kleines Mädchen, das lebte mit Mutter und Großmutter in einer kleinen Hütte auf einer Wiese am Rande eines großen Waldes. Niemand aus der Familie hatte es jemals gewagt, tiefer in den Wald vorzudringen, und auch das Mädchen bekam immer wieder von den beiden Frauen zu hören, wie gefährlich es dort sei, dass es wilde Tiere gäbe, und die Geschichte von Rotkäppchen und dem bösen Wolf kannte wohl jedes Kind.
Das Mädchen, nennen wir es Hanna, war beliebt, man hatte sie gern um sich. Meist saß sie irgendwo abseits und sang ein bisschen vor sich hin, oder sie beobachtete die Vögel, die so hoch oben am Himmel flogen, über den Wald hinweg, weit fort von der Wiese und der Hütte. Jedesmal bekam Hanna schreckliches Fernweh, und sie träumte manchmal, dass ein Vogel mit goldenen Flügeln käme und sie mitnähme in ein fernes Land.

Eines Tages kam ein großer brauner Bär auf die Wiese. Hanna erschrak, genau wie Mutter und Großmutter, doch der Bär war freundlich, und so lud man ihn zum Essen ein. Nach dem Essen ließ sich der Bär von den drei Frauen das Fell kraulen und brummte dabei behaglich. Dann sah er nachdenklich Hanna an und meinte: ´Ich suche schon lange eine Gefährtin, und du, mein liebes Kind gefällst mir gut. Ich denke, du bist die Richtige.´
Mutter und Großmutter waren überwältigt, denn der Bär war groß und stark, er würde gut für Hanna sorgen und auf sie achten. Natürlich hatten sie gemerkt, dass das Kind sich oft am Rande des Waldes aufhielt, und sie machten sich Sorgen, dass es sich irgendwann tiefer in das dunkle Dickicht vorwagen würde.
Hanna hatte den Bären liebgewonnen, und auch sie sah, dass er groß, stark und gutmütig war. Er würde sie beschützen, und vielleicht würde sie mit ihm zusammen in den Wald gehen können.

So war es also beschlossene Sache, man feierte ein schönes Fest, in dessen Anschluss Hanna und der Bär sich aufmachten, zu seiner Höhle zu gelangen. Der Weg ging immer am Rande des Waldes entlang, und schließlich fragte Hanna: ´Wohnst du im Wald, Bär?´ - ´Nein´ brummte der Bär. ´Meine Höhle liegt dort oben auf dem Hügel.´ Hanna dachte nach. ´Wirst du mit mir in den Wald gehen, Bär?´ Der Bär schaute sich erstaunt um. ´In den Wald? Was willst du im Wald? Mädchen wie du gehen nicht in den Wald.´ Damit drehte er sich wieder um und ging weiter.
Hanna war traurig, hatte sie doch so sehr gehofft, der Bär würde ihr den Wald zeigen. Allein traute sie sich nie dorthin und doch zog er sie magisch an.
Aber Hanna war ein braves Mädchen und so blieb sie mit dem Bären in seiner Höhle. Sie fühlte sich oft einsam, also schenkte er ihr eines Tages zwei kleine Kätzchen. Hanna war glücklich, sie spielte mit den Katzenkindern, sorgte für den Bären und kochte ihm seine Lieblingsspeisen. Und sie vergaß den Wald, sie ging sogar kaum noch aus der Höhle.

Als die Kätzchen größer wurden und begannen, vor der Höhle herumzuspielen, schaute Hanna ihnen oft sehnsüchtig zu, und sie dachte daran, wie sie früher den Vögeln nachgeschaut hatte, die sich mit ihren fröhlichen Liedern hoch in die Lüfte erhoben hatten.
Irgendwann hielt sie es vor Neugierde nicht mehr aus, ging vorsichtig zum Waldrand und versuchte, durch die dichten Büsche ins Innere zu schauen.

Da hörte sie plötzlich eine dunkle Stimme. ´Du bist aber sehr neugierig, was?´ Hanna sah erschrocken in die Richtung, aus der die Stimme kam. ´Wer bist du? Wo bist du?´ - ´Na, hier bin ich, im Wald.´ Hannah knief die Augen zusammen, und da konnte sie dann auch neben einem großen Baum den Wolf sehen. Sie wich zurück. ´Von dir habe ich gehört. Du bist der böse Wolf.´
´Ach, nun mach dir mal nicht gleich ins Hemd,´ meinte dieser ´Es wird viel geredet, und soweit ich weiß, ist Rotkäppchen mit dem Jäger ganz glücklich geworden.´
Hanna musste kichern. Der Wolf war wirklich ganz anders, als man ihn ihr beschrieben hatte. Sicher, er hatte riesige Zähne, seine Augen blitzten gefährlich, und doch hatte er ein freches Grinsen im Gesicht, dass sie sich einfach zu ihm hingezogen fühlen musste. Also ging sie näher zu ihm hin.
´Na, wusst´ ich´s doch´ meinte er. ´Du bist ein neugieriges kleines Ding, ich glaub´, ich mag dich. Wenn du möchtest, dann zeige ich dir den Wald. Ich bringe dich auch brav wieder in deine Höhle zurück.´ Er hob eine seiner riesigen Pranken. ´Pfadfinderehrenwort!´
Hanna sah sich um. Der Bär war nicht da, sie war ganz allein auf der Wiese. Sie konnte zurück sein, bevor er und die Kätzchen wiederkamen.

Sie atmete tief ein, um sich Mut zu machen und tat einen großen Schritt.

Was sie dann sah, glaubte sie kaum, denn es war gar nicht finster in dem Wald, im Gegenteil, es war schön hell und luftig, der Wolf führte sie an tanzenden Elfen vorbei, an Zwergen bis hin zu einem kleinen See. Er lockte sie, darin zu baden, und so legte Hanna ihre Kleidung ab und begab sich langsam in´s Wasser. Es war gar nicht kalt, sie tauchte ein, kam mit einem Lachen wieder hoch und schaute den Wolf an. ´Es ist herrlich´ rief sie.
Der Wolf schüttelte lachend den Kopf. ´Sag ich doch, Kind. Ich wüsste zu gern, wer euch Mädchen immer einredet, im Wald sei es gefährlich.´ Er zwinkerte.
Hanna legte sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Sie schaute glücklich hinauf zum blauen Himmel, an dem ihre Freunde, die Vögel, kreisten. Doch als sie sich lächelnd aufrichtete, um zu dem Wolf zurück zu kehren, war er fort.
´Wolf? Wolf, wo bist du? Lass mich nicht allein. Du wolltest mich zurückbringen zu meiner Höhle.´

Hanna geriet in Panik und sie lief ziellos kreuz und quer durch den Wald. Viele Tiere begegneten ihr, sie hatte schreckliche Angst und der Wald schien plötzlich immer dichter und immer dunkler zu werden. Ich laufe in die falsche Richtung, dachte sie, also machte sie kehrt, weil sie glaubte, hier bald zu ihrer Höhle und zum Bären zu finden.
Als es Nacht wurde, war sie zu müde, und sie legte sich neben einen Baum und deckte sich mit Laub zu. Im Traum erschien ihr eine alte Frau, die sie traurig ansah. ´Du hast dich schlimm verirrt.´ sagte sie. ´Ja´ schluchzte Hanna. ´Ich finde den Weg zurück nicht.´ ´Zurück wohin?´ fragte die alte Frau. ´Na, zum Bären, ich muss zurück zu meinem Bären. Ich kann hier nicht bleiben. Der Wolf hat mich gelockt und nun hat er mich im Stich gelassen.´
Die alte Frau lachte und meinte: ´Ach der! Ja, auf den fällt aber auch jede herein.´ Sie zwinkerte und sah sich um. ´Im Vertrauen, Kind, ich auch. Aber ich bereue nichts.´ Sie schloß die Augen und seufzte.
´Aber was mach´ ich denn jetzt?´ rief Hanna. ´Entschuldige, ich war mit meinen Gedanken weit weg.´ grinste die Alte und sah dann Hanna nachdenklich an. ´Du willst also zurück. Wie du meinst. Ist vielleicht auch besser für dich.´ Dann drehte sie sich um und verschwand.

Am nächsten Morgen erwachte Hanna tränenüberströmt und sah sich um. Der Wald war lichter geworden, und wenn sie sich anstrengte, konnte sie in der Ferne die Wiese durch die Bäume schimmern sehen. Sofort sprang sie auf und rannte los. Tatsächlich, kurze Zeit später stand sie vor der Höhle.
Als der Bär zurückkam, fiel sie ihm glücklich um den Hals, froh, dass ihr Abenteuer vorbei war. Sie kochte ihm wieder seine Lieblingsspeisen, spielte mit den Katzen und ging nicht mehr nach draußen. Doch irgendwann träumte sie von dem kleinen See, und sie glaubte beinahe, wieder das Wasser auf ihrer nackten Haut zu spüren. Sie nahm sich ein Herz und ging zu dem Bären.

´Bär?´ sie stupste ihn leicht an, dass er brummte. ´Bär, ich hab gehört, in dem Wald, da soll es einen See geben, in dem man herrlich baden kann. Wirst du mal mit mir dort hingehen?´
´Von wem hast du denn das nun wieder gehört?´ fragte er ungeduldig. ´Bist du denn nicht zufrieden mit mir und der Höhle? Hast du nicht alles, was dein Herz begehrt? Du hast keine Sorgen, kannst tun und lassen, was du willst. Ich bin doch gut zu dir, oder nicht?!´ Seine Stimme wurde lauter und Hanna bekam Angst.
Sie zog sich von ihm zurück, sah den Kätzchen beim Spielen zu und träumte weiter ab und zu von dem See. Manchmal kam ein Händler vorbei und erzählte grausame Geschichten über den Wolf, wobei der Bär sie immer wissend ansah, als ob er sagen wollte: ´Siehst du, was dort für Gefahren lauern? Bleib lieber hier bei mir.´

Hanna wurde älter, und wenn sie in den Spiegel schaute, fing sie an zu weinen. Oft saß sie am Eingang der Höhle, streichelte die Kätzchen und sah sehnsüchtig zum Wald hin, in der Hoffnung, der Wolf käme noch einmal vorbei.

Doch sie sah ihn nie wieder.

Und wenn sie nicht gestorben ist, dann ......................

Nein, Halt! Stop! Dies ist ein modernes Märchen, träumen wir also weiter.

An einem furchtbar regnerischen Tag saß Hanna wieder am Eingang der Höhle, als sie im Wald etwas rascheln hörte. Neugierig näherte sie sich. Konnte es sein? War der Wolf zurück?

´Bist du es, Wolf?´ rief sie. Sie hörte ein lautes Fluchen. ´Mist, jetzt ist mir was ins Auge gekommen.´ Hanna strengte sich an, etwas zu erkennen, doch das Wesen blieb im Dunkeln. ´Bist du der Wolf?´ fragte sie nochmal. ´Nein, ich bin nicht der Wolf! Was habt ihr nur immer mit dem Wolf? Als wenn er der einzige wäre, der sich im Wald auskennt. Da kann man es einem hmpft (Hanna konnte das Wort nicht verstehen) nicht verübeln, wenn er sich zurückzieht und mit nichts mehr was am Hut haben will.´
Hanna lief aufgeregt am Waldrand auf und ab. ´Ja, wenn du nicht der Wolf bist, wer bist du dann?´ ´Sagte ich das nicht grade? Außerdem, wofür ist das wichtig? Mir ist lieber, du weißt nicht zu viel über mich. Stell dir vor, du bekämst Appetit, nicht auszudenken, was?´ Er lachte. ´Bleib du mal hübsch in deiner Höhle. Weiter als bis hier zum Waldrand traust du dich eh nicht, also was soll´s?´
Hanna wurde sauer. ´Woher willst du das wissen, ich war schon im Wald. Ich war auch im See.´ - ´Ist ja toll, Mädchen. Da kannste dir ´nen Ei drauf ..... Na egal. Und? Hat´s dir im See gefallen?´ Hanna kam ins Schwärmen und erzählte von ihrer Begegnung mit dem Wolf, bis sie plötzlich ein lautes Schnarchen vernahm. ´Hey´ rief sie ´Schläfst du etwa?´ - ´Aber nein´ meinte das seltsame Wesen. ´Aber du entschuldigst bitte, ich muss unbedingt was essen. Also, man sieht sich.´ Hanna geriet in Panik. ´Ja? Wann denn? Wo denn? Wie finde ich dich?´ - ´Ach, ich find dich schon.´ hörte sich noch ´Halt die Ohren steif.´ ´Ja, aber, wie soll ich dich denn nennen?´ ´Sag Leo oder Gott was weiß ich denn?!´ Dann war er weg.

Seitdem ging Hanna regelmäßig zum Waldrand und wartete auf Leo. Sie sprachen viel miteinander, und er wurde ihr ein wirklich guter Freund, doch es fuchste Hanna, dass Leo sich ihr nie zeigte. Er konnte sich daraus einen richtigen Spaß machen.
Aber Hanna war gerne hier mit Leo zusammen, und langsam begann sie auch zu begreifen, dass sie fort musste von dem Bären. Sie würde sich nie in den Wald wagen, wenn sie bei ihm bliebe.

´Nimmst du mich denn mit in den Wald?´ fragte sie Leo. ´Nun wart´s mal ab.´ sagte er ´Einen Schritt nach dem nächsten. Was bist du immer so ungeduldig?´ Hanna hörte, wie er sich das Fell kratzte und schaute neugierig in die Richtung. ´Bleibst du wohl weg.´ schimpfte Leo. ´Aber warum denn?´ Hanna war ratlos. ´Warum kommst du nicht mal raus zu mir. Oder ich komm mal in den Wald, nur ein bisschen.´ Doch Leo verschwand wie immer im Dickicht des Waldes und ließ Hanna sprachlos und mit offenem Mund zurück. Wie üblich.

Hanna bereitete sich aber nun langsam auf ihr neues Leben vor, und Leo stand ihr zur Seite.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann zanken sie sich immer noch. Oder?


Birgit Enser
30.05.2003

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