Heinz-Walter Hoetter

Sechs unheimliche Kurzgeschichten

 


 

       1.Der Seelensammler

  1. Der Maler und sein Bild

  2. Am See mit der „Gumpe und den Weidenbäumen“

  3. Das Totenschiff

  4. Das Versandhaus “Magic“

  5. Die Endzeitbombe

     

     

***


 

1. Der Seelensammler

 

 

In einer geschäftigen Stadt lebte einmal ein junger Kaufmann namens Robert Betzos, der nicht nur fleißig, sondern auch sehr ehrgeiz war. Er hatte es sich nämlich zum Ziel gesetzt, ein reicher Mann zu werden.

 

So arbeitete Robert Betzos jeden Tag von morgens bis abends und machte nur selten eine Pause, weil er sie schlichtweg für völlig überflüssig hielt. Dafür wollte er lieber etwas tun, als faul rumzuhängen.

 

Schon bald wurde sein Terminkalender so voll, dass der junge Kaufmann große Mühe hatte, alles zu schaffen, was er sich vornahm. Trotzdem hielt er durch, strengte sich noch mehr an und arbeitete mehr als je zuvor in seinem Leben.

 

Jahrelang ging das gut und der einstige junge Kaufmann wurde tatsächlich immer reicher und besaß bald ein großes Vermögen, das ihn zum Millionär werden ließ. Er arbeitete nicht nur fleißig weiter, sondern hatte auch eine gute Nase für lukrative Geschäfte.

 

Die Jahre gingen ins Land und der Millionär Robert Betzos wurde nicht nur älter, sondern hatte schon so viel Geld gescheffelt, dass er durch Spekulationsgeschäfte zum Milliardär geworden war.

 

Trotzdem wollte der Milliardär Robert Betzos nicht aufhören. Er wollte einfach noch reicher werden. Er hörte auch dann nicht auf, als er erschöpft und gestresst plötzlich merkte, dass sein Herz krank geworden war.

 

Obwohl ihm seine Ärzte deshalb Ruhe verordneten, hielt er sich nicht an ihre Anweisungen und machte einfach weiter wie bisher.

 

Eines Tages kam der Milliardär Robert Betzos schon in aller herrgottsfrüh in sein Büro, das im letzten Stockwerk seines Wolkenkratzers untergebracht war, als ihn zu seiner großen Überraschung eine seltsame Gestalt in einem schwarzen Umhang empfing und ihn nach seinem Namen fragte.

 

Kennen Sie mich nicht? Ich bin der Milliardär Robert Betzos. Mich kennt doch jeder. Wie sind Sie eigentlich in mein Büro gekommen? Wer hat Sie hier reingelassen, mein Herr?“

 

Die Gestalt kam jetzt auf den Milliardär zu, der etwas zurückwich. Dann sagte sie:

 

Tja, mein lieber Robert. Ich bin der Seelensammler. Ich komme überall rein und werde dich jetzt mitnehmen müssen, weil du schon längst gestorben bist. Dein Körper liegt nämlich seit Mitternacht im Leichenschauhaus und deine Seele wollte es einfach nicht wahrhaben, dass du gestorben bist. Du hast einen tödlichen Herzinfarkt erlitten, mein Guter. Nimm das bitte zur Kenntnis und komme jetzt mit. Ich habe nur wenig Zeit und muss heute noch eine Menge Seelen einsammeln.“

 

ENDE

 

(c)Heinz-Walter Hoetter

 

 

***

 

2. Der Maler und sein Bild

 

 

Ein berühmter Maler lebte schon viele Jahre in einer Großstadt, die für ihre Geschäftigkeit und Hektik in der ganzen Welt bekannt war. Eines Tages beschloss er, sein Leben komplett zu ändern, weil er sich mit wachsendem Alter immer mehr nach Frieden und Ruhe sehnte, die er an diesem Ort des Trubels nicht finden konnte.

 

Irgendwann fing der bekannte Maler damit an, seine Vorstellungen von einem einfacheren Leben in einem Bild festzuhalten. Er malte deshalb eine wunderschöne Landschaft mit einer kleinen Hütte im Wald, die seinen eigenen Vorstellungen und Idealen entsprach.

 

Dann malte er einen schönen Garten und einen sprudelnden Bach dazu. Am Ende erhielt das Bild noch eine hölzerne Bank, die er direkt neben dem Eingang der Hütte platzierte, auf die aber vorerst niemand saß. Vielleicht würde er sich später da selbst reinmalen, wie er sich dachte, weil es ein Ort des Friedens und Ruhe für ihn werden sollte.

 

Als das Bild fertig war, hängte er es in sein Atelier, damit er es jeden Tag betrachten konnte, um sein Vorhaben nicht zu vergessen, das er früher oder später in die Tat umsetzen wollte.

 

Eines Tages besuchte ihn ein düster aussehender Mann, der offenbar Interesse an seinem schönen Landschaftsbild zeigte, weil es ihm besonders gut gefiel, wie er behauptete. Aber der Maler lehnte ab, weil er es nicht verkaufen wollte. Er hatte es nur für sich gemalt.

 

Der Fremde wurde deshalb sehr ungehalten und beschimpfte den Maler, weil er das Bild nicht bekommen konnte. Plötzlich zog der Unbekannte eine Pistole und bedroht damit den Maler, der Angst um sein Leben bekam.

 

Wenn ich schon das Bild nicht bekomme kann, dann will ich das Geld aus ihrem Safe. Ich weiß, dass ein schönes Sümmchen in dem Kasten liegt. Also her damit, aber ein bisschen schnell, wenn ich darum bitten darf.“

 

Der vor Angst zitternde Maler beeilte sich, den Tresor zu öffnen und überreichte dem Mann mit der Waffe in der Hand ein großes Bündel Geldscheine, der zufrieden grinste. In diesem Moment fiel ein Schuß, der den Künstler mitten ins Herz traf, sodass er leblos vor dem Safe zu Boden sank.

 

Um nicht entdeckt zu werden, verließ der Räuber schleunigst das Atelier des toten Malers und verschwand mit dem Geld unerkannt im Großstadtgewirr.

 

Eine Weile später.

 

Das wunderschöne Landschaftsbild mit der kleinen Hütte im Wald veränderte sich plötzlich. Dort, wo die hölzerne Bank neben der Tür stand, saß auf einmal der Maler selbst, der mit einem sehnsuchtsvollen und zufriedenen Blick hinüber zum fernen Horizont blickte.

 

ENDE


 

(c)Heinz-Walter Hoettert

 

 

 

 

***

 

 

3. Am See mit der „Gumpe und

den Weidenbäumen“


 

"Umweltschutz" bedeutet vor allen Dingen zuerst Schutz der Umwelt vor dem Menschen.

***

Dieser Tag war ein guter Tag zum Fische fangen. Die rote Morgensonne lugte gerade am fernen Horizont hervor und der blaue Himmel war hell und klar. So gut wie keine Wolke war zu sehen.

Ich stand auf, ging in die Küche und nahm mir aus dem Regal der Speisekammer ein Stück von dem rohen Fisch. Noch während ich ihn aß, holte ich mir meine Anglerausrüstung samt Stiefel und das zusammengerollte Netz aus dem gegenüber liegenden Abstellraum. Dann zog ich mich an, öffnete leise die Haustür und ging zum See hinunter, von dem man sagte, er sei gefährlich.

„Wie kann ein See gefährlich sein?“ murmelte ich halblaut vor mich hin. „Wenn man umsichtig ist, die Sache gut im Griff hat und Bescheid weiß, was soll einem dann schon passieren können? Die meisten Fische gibt es sowieso in Ufernähe, da muss man nicht unbedingt ins tiefe Wasser. Aber selbst da würde ich mich gut zurecht finden“, sinnierte ich weiter.

Auf dem Weg zum See machte ich einen kleinen Umweg um das Haus der Flints, einem älteren Ehepaar, das erst vor ein paar Jahren dort eingezogen war. Man bekam sie nur selten zu Gesicht, gingen auch zu keiner Bürgerversammlung, hatten sogar Fenster und Türen verriegelt und ein böses Gerücht machte die Runde, dass die Flints irgendwie anders waren als wir. Sie gehörten eigentlich nicht zu uns.
Unterwegs suchte ich im weichen Ackerboden nach einigen Regenwürmern. Diesmal fand ich besonders dicke. „Ihr gebt bestimmt einen guten Köder ab“, sagte ich zufrieden zu ihnen, bevor sie in der durchsichtigen Plastiktüte landeten. Im Gras einer kleinen Waldwiese fing ich dann noch ein paar große Heuschrecken, die man nur fest ins Netz zu stecken brauchte. Wenn man es ins Wasser warf, stürzten sich die Fische sofort darauf, was einen guten Fang garantierte.

Andererseits sagten die Leute aus der Umgebung, dass man die Fische aus dem See nicht essen sollte, weil sie ungenießbar seien und krank machen würden. Aber was wissen die Leute schon vom Fischen? Nämlich nichts! Ich habe sie immer schon gegessen und werde das auch in Zukunft tun, ganz gleich, was die Leute so reden. Mir war das egal.

Am See angekommen ging ich direkt zu einer Stelle, wo ein mündender, breiter Bach im Laufe der Zeit eine tiefe Gumpe ausgespült hatte. Auch standen hier direkt am Ufer mehrere alte Weidenbäume, deren dicht verzweigtes Wurzelwerk wie unheimlich aussehende Saugarme eines Tintenfisches tief ins Wasser der Gumpe hinein reichten. Ich schätzte nicht nur die ruhige Lage dieses Ortes, sondern wusste auch genau, dass sich im Schutz der vielen Weidenwurzeln immer eine große Menge Fische versteckten.

Ich zog die Anglerstiefel an, die mir fast bis an den Bauch reichten und ging vorsichtig ins Wasser, um die Fische nicht zu erschrecken. Ich watete bis in die Mitte der Gumpe hinaus, wo ich im hohen Bogen das Netz ins Wasser warf.

Als ich so im ruhigen Seeufer stand, so still und leise wie ich nur konnte, hörte ich plötzlich ein mordsmäßiges Gepolter und eine Menge Geröll rollte die angrenzende steile Uferböschung herunter, gefolgt von einem dieser Stadtmenschen, die sich überall sinnlos in Gefahr brachten, nur weil sie außerhalb der vorgeschriebenen Wanderwege spazierten. Hilflos nach Büschen und Zweigen greifend rutsche er in die Tiefe, bis er an einem dünnen Bäumchen hängen blieb, das ihn aufhielt. Mit seinen mitgerissenen Steinen und Erdbrocken jedoch hatte er das Wasser mächtig aufgewühlt. Er stellte sich ziemlich ungeschickt an, fuchtelte mit den Armen herum, fand anfangs keinen richtigen Halt und wäre beinahe noch weiter abgerutscht, bis er sich schließlich an dem kleinen Bäumchen einigermaßen festhalten konnte. Es dauerte eine knappe Minute, dann versuchte er, die steile Böschung wieder raufzukrabbeln.

Ich war wütend, weil er die Fische verscheuchte, und so schrie ich zu ihm rüber: „He da, lassen Sie das! Sie verderben mir den Fang, Mister!“
Der Kerl rutsche wieder zurück, hing an dem Bäumchen und kriegte einen fürchterlichen Schreck. Man hätte meinen können, ich wäre ein Gespenst oder was. Seine Augen waren vor Angst weit geöffnet, sein ganzer Körper zitterte, sodass ich ihn schon wieder abrutschen und ins Wasser fallen sah. Damit es nicht soweit kam hielt ich meinen rechten Arm in die Höhe und rief: „Ich stehe hier unten im Wasser und möchte Fische fangen. Sie sollten lieber da runter kommen, bevor noch Schlimmeres passiert.“

Der Mann hielt sich jetzt mit beiden Händen an dem dünnen Bäumchen fest, das sich gefährlich wie ein Bogen krümmte. Aber es brach nicht ab. Dann drehte er sein Gesicht zu mir rüber, und ich wartete einen Moment, bis er mich sehen konnte.

„Sie verscheuchen mir die Fische, Mister“, rief ich ihm noch einmal zu.

„Was, die Fische?“ schrie er zurück. Seine Stimme klang so, als ob Fische für ihn glitschige Ungeheuer wären.

„Ja…, Fische! Ich will welche fangen. Wenn Sie aber länger so ein Getöse machen, wird für mich nichts mehr daraus.“

Ich konnte sehen, wie er nachdachte. Schließlich zog er sich mit aller Kraft hoch, stemmte sich mit den Füßen gegen das Bäumchen und legte sich erschöpft der Länge nach rücklings auf die Böschung. Dann starrte er in den blauen Himmel und sagte: „Von mir aus. Warum nicht? Ich muss mich sowieso ein bisschen ausruhen.“

Ich fing insgesamt drei Fische mit dem Netz, die groß und fett waren. Ich stieß ihnen einen Stock durch die Kiemen und ließ sie in dem nahen Bach schlenkern, damit sie frisch blieben. Ich war gerade dabei, einen vierten Fisch zu fangen, als dieser Stadtmensch offenbar mit seiner Geduld am Ende war. Scheinbar wollte er nicht länger warten.

„Hör mal Junge“, rief er mir zu, „kannst du mir sagen, wo ich hier eigentlich genau bin?“

„Dieser Teil des Sees wird von den Einheimischen ‚Gumpe mit den Weidenbäumen’ genannt. Aber kommen Sie erst mal da runter! Ich kann nicht die ganze Zeit schreien. Reden macht weniger Lärm.“

Er hangelte sich bis zum nächsten Baum, der etwas größer war, ließ sich an den langen Ästen langsam herunter und erreichte nach einigem Hin und Her das sichere Ufer des Sees.

Ich verließ das Wasser und wartete im Uferbereich auf ihn.

„Hallo“, sagte er, als er bei mir war. „Mein Name ist Frank Hellester. – Und wer bis du? Ich darf doch du zu dir sagen – oder?“

Sein Gesicht war blass und seine Augen waren von dunklen Ringen umgeben. Er gab sich wirklich große Mühe, freundlich zu sein. Vor diesem Mann brauchte ich bestimmt keine Angst zu haben, denn von seiner schwächlichen Körperstatur her wäre ich mit ihm jederzeit leicht fertig geworden.

„Ist schon in Ordnung. Ich heiße Thomas Anderson“, sagte ich höflich. „Aber meine Freunde nennen mich nur Tommy.“

„Bist du gerne am See, Tommy?“ fragte er mich.

„Ja, ich bin sehr oft hier unten. Eigentlich die meiste Zeit.“

„Wohnst du hier in der Nähe?“

Mir fiel in diesem Augenblick ein, dass man niemals sagen sollte, wo man wohnt, für alle Fälle. Man konnte ja nie wissen, mit wem man es zu tun hatte.

„Ja. Ich wohne auf dem großen Flint-Anwesen“, log ich, wohlweislich der Tatsache, dass sich unser komfortabel eingerichtetes Ferienhäuschen noch ein ganzes Stück davon entfernt befand.

„Wo liegt das?“

Ich zeigte ihm die Richtung und erklärte ihm, dass es ungefähr einen Kilometer von unserem Standort entfernt liegt.

„Wohnen da viele Leute? Ich meine auf dem Flint-Anwesen?“

„Etwa sechs oder sieben Leute“, log ich abermals. „Wollen Sie da etwa einziehen?“

Der hagere Mann lachte darüber, wobei sein Lachen ehr wie ein Weinen klang.

„Was ist daran so komisch, Mister?“

Im gleichen Moment fiel mir das grüne Zeug an seinen durchnässten Schuhen auf.

„Sie sollten sich den Dreck lieber wegmachen. Der schwimmt hier überall im See herum. Auch die Ufer sind voll damit“, sagte ich mit lauter Stimme zu ihm, um sein weinerliches Lachen zu übertönen.

Der Mann namens Frank Hellester hörte plötzlich auf zu lachen.

„Was für’n Zeug soll ich mir wegmachen? – Warum?“

Er wurde sichtlich nervös.

„Na, das grüne Zeug da an ihren nassen Schuhen und an den Hosenbeinen. Ich selbst bin damit schon mal in Kontakt gekommen. Es brennt auf der Haut wie Feuer.“

Mr. Hellester sprang plötzlich wie von einer Tarantel gestochen von einem Bein auf das andere.

„Was ist das?“ fragte er mich ängstlich.

„Das kann ich Ihnen auch nicht genau sagen. Aber auf der anderen Seite des Sees gab es mal eine Pumpstation und ein ziemlich großes Abflussrohr, das im See endete. Vor einigen Jahren hat man die gesamte Anlage in die Luft gesprengt, die Trümmer weggeräumt und alles wieder renaturiert. Das Rohr wurde nur mit Geröll zugeschüttet. Eines Tage quoll aus der Böschung so eine seltsam aussehende, grüne Flüssigkeit, die sich wie ein Algenteppich auf dem See verbreitete. Aber dieses Zeug wird Ihnen nichts tun, solange Sie damit nicht direkt in Berührung kommen.“

Mr. Hellester machte ein Gesicht, als wollte er wieder lachen. Ich versuchte das zu verhindern, indem ich ihn schnell fragte: „Sie sind einer dieser Forscher aus der Stadt, die den See untersuchen. – oder?“

„Warum fragst du mich das?“

Ich sah ihm an, dass er sich über meine Frage ärgerte. Warum, das konnte ich mir im Augenblick auch nicht erklären.

„Ist schon gut“, sagte ich zu ihm und ging wieder zum See runter, um Fische zu fangen.

Frank Hellester blieb am Ufer stehen und sah zu, wie ich diesmal nach ihnen angelte.

Dann fragte er mich: „Bist du hier geboren worden, Tommy?“

„Nein, hier nicht. Auf der anderen Seite des Sees…, in Lake Mountain. Auf einer Versuchsfarm für neue Pflanzenzüchtungen.“

„Es muss eine großartige Sache sein, auf einer Farm geboren zu sein. Da lernt man selbst als junger Mann ein ganze Menge.“

„Na ja“, antwortete ich ihm, „die meiste Zeit habe ich von der Arbeit meines Vaters nichts mitbekommen. War alles in Sperrbezirke aufgeteilt und streng geheim. Auch für Familienmitglieder gab es keine Sondergenehmigungen, um da irgendwie reinzukommen.“

„Dein Vater war also Pflanzenbiologe?“

„Mein Vater arbeitete damals noch in dieser Versuchsanlage, wo man mit genmanipulierten Pflanzen arbeitete. Die Pumpstation gehörte auch dazu. Eines Tages wurde das Projekt eingestellt, weil es zu viele Proteste dagegen gab. Kurze Zeit später wurde alles dem Erdboden gleichgemacht und die Landschaft in den Urzustand zurückversetzt. Wir zogen weg nach Kalifornien und mein Vater kaufte sich vor ein paar Jahren ein kleines Wochenendhäuschen auf dieser Seite des Sees, weil ihm der so am Herzen liegt. Ich verbringe jedes Jahr zusammen mit meinen Eltern die Ferien hier, und wir sind erst vor drei Tagen angekommen. So schlimm, wie es dieses Jahr mit dem grünen Zeug ist, so schlimm war es allerdings noch nie. Im Prinzip stört mich das aber nicht.“

Mr. Hellester schaute aufmerksam in der Gegend herum. Nachdenklich sagte er: „Mir ist aufgefallen, dass sich die Bäume um den See herum verändert haben. Die Kiefern zum Beispiel haben eine rötliche Nadelfärbung bekommen. Habt ihr das auch schon bemerkt?“

Ich watete wieder aus dem tiefen Wasser, ging ans Ufer und legte die Angel ab.

Skeptisch blickte ich mein Gegenüber an und sagte: „Nicht nur die Bäume haben sich verändert, auch die andere Vegetation. Manche Blumen erscheinen mir größer geworden zu sein. Andere wiederum haben ihre Blätter verändert. Vielleicht werden manche von ihnen absterben, vielleicht aber auch nicht. Angeblich soll der Smog daran Schuld sein, der aus dem zugeschütteten Boden der ehemaligen Versuchsanlage kommt…, das sagen jedenfalls die Leute hier aus der Umgebung.“

Aus Mr. Hellesters Augen drang auf einmal so ein seltsam scharfer Glanz. Ich wusste in diesem Moment, dass ich zuviel gesagt hatte. Deshalb versuchte ich so gut wie möglich, die Sache zu verharmlosen und fuhr fort: „Hier reden sie alle ganz normal über die Probleme mit der Umwelt. Auch meine Eltern haben mir gesagt, wenn ich mal erwachsen geworden bin, müssen wir selbst einen Weg finden, mit den Schwierigkeiten einer veränderten Umwelt fertig zu werden.“

Der Mann nickte.

Wie sieht es nördlich von hier aus“, wollte Mr. Hellester wissen.

„Nicht so schlecht. Es gibt jetzt nur mehr Geburten in der Gegend dort als früher. Aber warum fragen Sie mich das alles?“

Mr. Hellester sah mich jetzt ganz fest an, so von Mann zu Mann.

„Tommy, glaubst du, du könntest mir sagen, wie ich dorthin komme?“

„Sie können die alte Straße nach Norden nehmen“, sagte ich hilfsbereit. „Aber auf dieser Straße werden Sie unterwegs mit Sicherheit auf Polizei und Militär stoßen. Der beste Weg ist der zur Küste und dann einfach nach Norden. Wie gesagt, immer an der Küste entlang.“
„Dachte ich mir, dass sie die Gegend abgeriegelt haben“, sagte er grübelnd und rieb sich mit der rechten Hand übers Kinn. Nach einer Weile des Nachdenkens stellte er mir eine Frage, die ich für ziemlich seltsam hielt.

„Weißt du eigentlich, wie eine Gesellschaft funktioniert, ich meine so eine menschliche Gesellschaft, wie sie in den Städten existiert“, fragte er mich.

„Natürlich weiß ich das“, antwortete ich ihm. „Sie stellen mir schon die ganze Zeit so komische Fragen. Was soll das eigentlich?“

Er machte jedoch in dieser Art weiter.

„Und du verbringst einen großen Teil deiner Freizeit hier am See und fängst Fische und isst sie roh?“

„Klar doch. Sie schmecken roh richtig gut. Wir sind eine Familie von Fischessern. Meine Mutter steckt sie sogar in den Teig und brät sie, was ich persönlich nicht so gut finde. Ihr zuliebe aber esse ich den Fischkuchen und tue so, als würde er mir schmecken.“

„Ihr esst also nur Fische und nichts anderes?“ fragte mich Mr. Hellester, dessen Gesicht einen ängstlichen Ausdruck bekam.

„Ja natürlich! Was glauben Sie denn? Wenn ich wollte, könnte ich auch ins Wasser springen und die Fische so jagen. Ich bevorzuge allerdings die klassische Art des Fischfangs – mit Angel oder Netz.“

„Aber wie kannst du sie in diesem Wasser fangen, das schon nach wenigen Zentimetern milchig trübe wird?“

„Wenn ich unter Wasser sehen will, dann schließe ich dabei nicht die Augen, wie ein normaler Mensch, sondern lasse über meine Augen Nickhäute gleiten. Ich zeige es Ihnen mal…,etwa so. Schauen Sie her!“

Hellester trat auf einmal einen Schritt zurück. „Nickhäute...? Was ist denn das? Du bist ein Mutant! Ihr seid alle Mutanten. Dein Vater, deine Mutter, die ganze Familie. Deshalb seid ihr ans Meer gezogen. Ich habe es geahnt! Ihr seid aus dem Sperrbezirk ausgebrochen und habt euch unter die normalen Menschen gemischt“, stammelte er voller Entsetzen und rannte von mir weg, als ob ich ein Werwolf oder ein Außerirdischer von einem fremden Planeten wäre.

Ich musste mit dem Kopf schütteln, als ich Mr. Hellester wie ein gehetztes Wild die steile Böschung raufkriechen sah. Der Mann spielte den vom Wahnsinn Verfolgten.

Dann zog ich meine Anglerstiefel aus, nahm den Stecken mit den Fischen und machte mich auf den Heimweg. Meine Eltern würden sicherlich wütend auf mich sein, dass ich schon so frühmorgens zum See runter gegangen bin und alleine Fische gefangen habe. Nun, ich konnte nur hoffen, dass ich sie mit dem üppigen Fang besänftigen konnte. Schlimmer war allerdings die Tatsache, dass ich ihnen von meiner Begegnung am See erzählen musste. Es würde sie bestimmt mächtig aufregen, dass ich Mr. Hellester, woher der auch immer gekommen sein mag, meine kleinen Augenhäute gezeigt habe, so wie damals dem alten Ehepaar Flint, die uns seitdem wie die Pest meiden.


 

Ende

(c)Heinz-Walter Hoetter

 

 

***

 

4. Das Totenschiff


 

Es ist schon sehr, sehr lange her, da kam ein einsames Schiff übers weite Meer. In einem Hafen legte es an, doch an Bord war nur noch ein einziger Mann. Jeder konnte es deutlich sehen, etwas Schlimmes war wohl geschehen. Am hölzernen Ruder war der totkranke Steuermann mit Seilen fest gebunden, seine Haut übersät mit hässlich eiternden Wunden. Er lebte noch als man ihn fragte: „Was ist mit dir und der Mannschaft geschehen?“ Der Sterbende nur leise mit stockender Stimme sprach: „Mein Gott, ihr müsst gehen! Ich bin von allen, die mal an Bord gewesen, der Rest. Bleibt nicht auf diesem verfluchten Schiff, denn ich habe an Bord die Pest. Sie wütete mitten unter uns, es war wie ein schreckliches Totenfest. Nur ich hielt hier solange aus, denn ich wollte wieder nach Haus. Ihr müsst das verstehen. Lasst mich meine Heimat noch einmal sehen." Das waren seine letzten Worte sodann und kurz darauf verstarb der arme Steuermann. Die Leute aber in Furcht und mit Schrecken in Panik riefen: „Wir müssen das Schiff anzünden und mit Brennöl begießen!“


Bald brannte das Schiff lichterloh und jeder im Hafen war darüber froh. Doch die Freude dauerte nicht lange an. Denn der Schwarze Tod hatte sich heimlich von Bord geschlichen und war der Feuersbrunst geschickt ausgewichen. Über tödliche Rache er nun sann. Krank wurde schon bald der erste Mann. Mit jedem Tag wurden es mehr, hier draußen im kleinen Hafen, mit seinen weiten Küsten am Meer. Sie starben dahin wie die Fliegen, der Pesttod konnte sie alle nach und nach besiegen. Bald gab es keine Überlebenden mehr. Das schöne Land wurde wüst und leer. Eine Zeit später dann, unten im stillen Hafen, wie von unsichtbarer Geisterhand, das verkohlte Schiff plötzlich wieder neu aus der verbrannten Asche entstand. Danach fuhr es hinaus ins dunkle Abendrot und auf dem Wind umwehten Deck stand ganz allein im flatternden Gewand nur der Schwarze Tod. Auf der Fahrt in das nächste Land hielt er mit bösem Blick das Steuer ganz fest mit bleich knöcherner Hand. Irgendwann sein unheimliches Totenschiff schließlich am fernen Horizont langsam verschwand.

(c)Heinz-Walter Hoetter


 


 


 

***

Das Versandhaus “Magic“


 

Mr. Bob Fuller hatte am letzten Sonntagabend bis tief in die Nacht hinein mit seinen Stammtischfreunden ordentlich einen getrunken und lag jetzt immer noch leicht angeduselt in seinem Bett, als es an diesem späten Montagvormittag draußen an der Tür plötzlich klingelte.

Schlagartig wachte er vollends auf, starrte ein wenig verwirrt zuerst zum halboffenen Fenster hinaus, wo er einen wunderschönen blauen Himmel erblickte, sah dann auf die laut vor sich hin tickende Uhr, die gleich links von ihm auf der schlichten Schlafzimmerkommode stand und erschrak etwas darüber, als er bemerkte, wie weit die Zeit schon voran geschritten war.

"Ach du Scheiße, ich habe mich total verschlafen. Das kommt davon, wenn man in meinem Alter den Genuss von Alkohol unterschätzt. Früher konnte ich das Zeug besser vertragen, aber da war ich ja auch noch jünger... ", murmelte Fuller mit halblauter Stimme sinnierend in sich hinein, schlug mit einer heftigen Armbewegung die wärmende Bettdecke zurück, verließ das Bett und hastete aus dem Schlafzimmer barfuß durch den angrenzenden Flur, der direkt zur gläsernen Eingangstür seiner geräumigen Penthousewohnung führte.

Noch während er auf die geschlossene Tür zu ging, erkannte er bereits die vertrauten Körperumrisse seines Postboten und Paketzustellers Jack Howard, dessen massiger Leib sich durch das trübe, milchig weiße Glas leicht verschwommen abzeichnete.

Nebenbei drückte Mr. Fuller den grünen Öffnungsknopf auf der handlichen Fernbedienung, die sich in einer Akku-Ladestation gleich neben der Garderobe in unmittelbarer Nähe des Wohnungseinganges befand. Die moderne Tür aus stabilem Panzerglas bewegte sich augenblicklich zur Seite und verschwand leise surrend rechts in einem etwa ein Zentimeter breiten Wandschlitz.

Kaum stand sie offen, strahlte ihn der übergewichtige Jack Howard auch schon breit grinsend an.

Mit freundlicher Stimme sagte er: "Einen schönen guten Tag, Mr. Fuller! Tut mir leid, dass ich Sie offenbar aus dem Bett geklingelt habe, aber hier ist ein Paket für Sie, das ich noch heute unbedingt bei Ihnen abgeben soll. Bitte entschuldigen Sie nochmals die Störung! - Also..., da ist es. Sie müssen den Erhalt nur noch eigenhändig quittieren. Bitte unterschreiben Sie deshalb einfach hier unten auf dem kleinen Bildschirm! Benutzen Sie dazu den Spezialstift meines tragbaren Datengerätes!"

Bob Fuller nahm das Paket ohne lange zu zögern entgegen, stellte es aber sofort wieder ab, um mit dem besagten Spezialstift etwas umständlich seinen Namen auf dem Mini-Farbbildschirm des klobigen Datengerätes zu kritzeln.

Als das geschehen war, bedankte sich Jack Howard sogleich höflich bei seinem langjährigen Kunden und wünschte ihm zum wiederholten Male einen schönen Tag. Dann verschwand er kurz darauf in dem wartenden Etagenaufzug und ließ sich nach unten ins Erdgeschoss des Hochhauses bringen.

Während Mr. Fuller die schwere Glastür per Knopfdruck wieder zufahren ließ, nahm er das Paket an sich und ging damit rüber ins Wohnzimmer, wo er es neugierig von allen Seiten betrachtete. Der Absender war ein für ihn völlig unbekanntes Versandhaus für magische Artikel, das sich irgendwo in der Megametropole New York befand.

Kopfschüttelnd entfernte er die Verpackung aus braunem Papier und öffnete ein wenig später den oben zugeklebte Karton vorsichtig mit einer Schere. Zwischendurch dachte Mr. Fuller intensiv darüber nach, ob er irgendwann einmal in der Vergangenheit eine Bestellung bei diesem Versandhaus aufgegeben hatte. Aber er fand nicht den geringsten Hinweis darauf, dass er das mal gemacht haben soll.

Schließlich kramte er aus der mittlerweile offenen Kartonage ein seltsam aussehendes Tuch hervor, das ausgebreitet eine Kantenlänge von etwa einem Meter aufwies. Genau in der Mitte des weißen Quadrates befand sich eine hässlich aussehende, pechschwarze Kreisfläche mit einem Durchmesser von etwa achtzig Zentimetern.

Als nächstes entdeckte Mr. Fuller ein beschriftetes Blatt Papier auf dem freigelegten Kartonboden, das anscheinend eine kurze Bedienungsanleitung für das schwarz-weiße Tuch darstellte. Es bestand gerade mal aus einer Seite, die allerdings vorne und hinten bedruckt war.

Mr. Bob Fuller begann damit, den Text sorgfältig durchzulesen.

Sehr verehrte Kundin, sehr geehrter Kunde!

Wir freuen uns sehr darüber, dass wir Sie als Kundin / als Kunde unseres Versandhauses gewinnen konnten. Das beiliegende "magische Tuch" wird Ihnen sicherlich gefallen und bestimmt viel Spaß machen, denn es ist wirklich ein äußerst ungewöhnliches Produkt, welches wir nur ganz wenigen, auserwählten Personen zukommen lassen, die wir durch ein spezielles Auswahlverfahren ermittelt haben. Sie sind eine davon, Mr. Fuller.

Herzlichen Glückwunsch!

Lesen Sie die kurze Anleitung auf der Rückseite gut durch und verwenden Sie das "magische Tuch" bitte genau nach Vorschrift, denn nur dann wird es Ihnen garantiert große Freude bereiten.

Ihr Team vom Versandhaus Magic

Als Bob Fuller die "Bedienungsanleitung" auf der Rückseite des Blattes durchlas, musste er unwillkürlich lachen, denn offenbar war er der Narretei irgendwelcher unbekannter Spaßvögel auf den Leim gegangen, wie er dachte.

Doch der zu lesende Text klang allerdings irgendwie überzeugend. Also las er weiter.

Liebe Kundin, lieber Kunde!

Wir möchten Ihnen nachfolgend kurz erklären, was sie mit dem "magischen Tuch" grundsätzlich so machen können.

Bitte breiten Sie es immer mit der schwarzen Kreisfläche nach oben liegend aus, sodass es stets flach auf der von Ihnen ausgewählten Stelle liegt bzw. hängt, ganz nach Ihrem Belieben.

Achten Sie aber stets darauf, falls Sie es in der hängenden Position benutzen sollten, dass es von der verwendeten, senkrechten Fläche nicht abfallen kann. Das gilt auch für den liegenden Gebrauch. Es darf auch hier nicht wegrutschen. In beiden geschilderten Fällen könnte das für Sie fatale Folgen haben. Wenn Sie allerdings unsere Warnhinweise strengstens beachten, kann Ihnen und den verwendeten Gegenständen nichts passieren.

So, das war's dann auch schon.

Die überaus bemerkenswerten Eigenschaften des "magischen Tuches" dürfen Sie jetzt selbst ausprobieren. Nehmen sie deshalb probeweise für den Anfang einfach irgendeinen Gegenstand Ihrer Wahl, z. B. einen schlichten Pappbecher, und stellen sie ihn direkt auf die schwarze Fläche ab. Sie werden umgehend feststellen, dass er einfach darin verschwindet. Probieren Sie es gleich mal aus! Unser Produkt heißt ja auch nicht umsonst "magisches Tuch". Wie dieser Trick genau vor sich geht bzw. funktioniert, das ist und bleibt allerdings unser Geheimnis, welches wir Ihnen verständlicherweise nicht verraten dürfen. Persönliche Anfragen, in welcher Form auch immer, werden von uns nicht beantwortet. Bitte haben Sie dafür Verständnis!

Und noch etwas Wichtiges gibt es da, worauf wir Sie unbedingt hinweisen möchten.

Das "magische Tuch" ist nur auf Sie ganz persönlich abgestimmt bzw. geeicht. Bei anderen Personen funktioniert es nicht. Die magischen Fähigkeiten unseres Produktes sind daher grundsätzlich nicht übertragbar.

Wir wünschen Ihnen dennoch viel Spaß bei der Verwendung des "magischen Tuches"!

Ihr Team vom Versandhaus Magic

***

Mr. Bob Fuller betrachtete jetzt voller Skepsis das vor ihm liegende weiße Stoffding mit dem schwarzen Riesenpunkt auf der Oberseite. Irgendwie kam er sich plötzlich albern bei dem Gedanken vor, dass er dem schriftlichen Inhalt der sog. "Bedienungsanleitung" auch noch Glauben zu schenken bereit war.

Trotzdem hatte er mittlerweile das Tuch aus lauter Neugier auf dem Wohnzimmertisch der Länge nach ausgebreitet. Er wollte es gleich hier an Ort und Stelle selbst ausprobieren, um in Erfahrung zu bringen, ob an der ganzen Sache möglicherweise doch etwas Wahres dran war.

Er schaute sich deshalb im Wohnzimmer nach einem geeigneten Gegenstand um. Er entschied sich für einen Apfel, den er aus der Obstschale nahm, die auf dem Sideboard direkt hinter ihm stand und setzte ihn ohne lange zu zögern auf die schwarze Kreisfläche.

Und tatsächlich geschah das schier Unglaubliche.

Kaum hatte Mr. Fuller den Apfel losgelassen, verschwand dieser auch schon prompt im "magischen Tuch", gerade so, als wäre das gesamte schwarze Rund nur ein einziges großes Loch.

Verwundert über diesen höchst geheimnisvollen Vorgang griff Mr. Fuller mit der rechten Hand jetzt selbst tief ins schwarze Loch hinein und fingerte darin herum wie in einem schlecht zugänglichen Abwasserrohr. Es dauerte nicht lange, da hielt er den Apfel wieder unversehrt in seiner Hand. Der ganze Vorgang setzte Mr. Fuller in großes, ungläubiges Erstaunen. Er konnte es kaum fassen, dass es überhaupt so etwas gab, das allen Naturgesetzen zuwiderlaufen schien. Er dachte jetzt auf einmal darüber nach, welche anderen Möglichkeiten ihm das "magische Tuch" vielleicht sonst noch so zu bieten hätte, außer Gegenstände darin verschwinden zu lassen.

Da kam ihm plötzlich eine Idee, die ziemlich abenteuerlich klang. Irgendwie hatte er dabei das komische Gefühl, als käme sie nicht von ihm selbst, sondern jemand würde sie ihm zuflüstern.

Als Angestellter einer großen Bank könnte er sich jetzt ganz einfach mit Hilfe des "magischen Tuches", und ohne den dazu notwendigen Schlüsseln, ungehindert Zugang zum Innern des massiven Tresors verschaffen, der sich im hinteren Teil des Erdgeschosses der Bankfiliale befand. Er musste nur auf eine günstige Gelegenheit warten.

Mr. Fuller dachte sich daher einen Plan aus.

Wenn alle übrigen Beschäftigten am Wochenende zur üblichen Zeit Feierabend machten, nach Hause gingen und er aufgrund einer wichtigen Arbeit noch da bleiben würde, dann könnte er das "magische Tuch" in Ruhe dazu verwenden, um die stabile Eingangstür des Tresorraumes von Innen zu öffnen, wodurch er im nächsten Schritt mit Hilfe des Tuches kinderleicht an das Geld im Tresor ohne große Schwierigkeiten heran käme.

Die stabile Eingangstür des Tresorraumes lässt sich zudem nur von Außen mit einem Spezialschlüssel öffnen, den er sowieso nicht besaß und auch gar nicht für sein Vorhaben bräuchte. Von Innen ließ sich die Stahltür des Tresorraumes allerdings bequem und ungehindert wieder öffnen, was Mr. Fuller wusste. Der Tresor selbst konnte ebenfalls nur mit ganz bestimmten elektronischen Schlüsseln sozusagen "vorgeöffnet" werden, wobei er noch durch eine täglich wechselnde Zahlenkombination zusätzlich abgesichert wurde. Niemand käme also auf die Idee, ihn, den kleinen Angestellten Bob Fuller, des Bankraubes zu verdächtigen, wenn er das "magische Tuch" dazu benutzte, um die begehrten Dollars aus diesem monströsen Stahlkasten zu holen.

So wartete Mr. Fuller geduldig auf eine günstige Gelegenheit, um seinen Plan ausführen zu können.

An irgend einem Freitagnachmittag war es dann schließlich so weit. Das Wochenende stand vor der Tür und alle Mitarbeiter freuten sich darauf, endlich nach Hause gehen zu dürfen, außer Mr. Fuller, der anderes im Sinn hatte.

***

Mr. Bob Fuller saß an seinem Schreibtisch und legte sich gerade einige wichtige Dokument eines Großkreditkunden zurecht, als sein Chef, Mr. Georg Marino, den Büroraum betrat. Ohne lange abzuwarten fing er zu reden an.

"Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit einmal ganz persönlich bei Ihnen bedanken, Mr. Fuller. Ich habe gehört, dass Sie sich an diesem Freitagnachmittag mit der Kreditangelegenheit eines unserer wichtigsten Kunden beschäftigen wollen, obwohl ja eigentlich auch für Sie schon längst das Wochenende begonnen hat. Wir haben es somit Ihnen zu verdanken, dass wir dem Kunden alle wichtigen Kreditunterlagen bereits schon am kommenden Montag nächster Woche unterschriftsreif vorlegen können. Ich weiß, Sie sind einer unserer besten Kreditsachbearbeiter, der die betreffende Angelegenheit ohne Schwierigkeiten zu einem erfolgreichen Abschluss bringen wird. Dessen bin ich mir ganz sicher. Bei der nächsten Gehaltserhöhung werde ich Sie deshalb entsprechend berücksichtigen. Darauf können Sie sich verlassen, Mr. Fuller. Ich wünsche Ihnen noch ein schönes Wochenende. Wir sehen uns dann am Montag wieder."

"Ganz bestimmt, Mr. Marino. Ich wünsche Ihnen ebenfalls ein schönes Wochenende!"

Der Bankangestellte schaute seinem Chef noch ein paar Sekunden lang hinterher. Er wollte sich ganz sicher sein, ob er auch wirklich gehen würde.

Mr. Marino marschierte tatsächlich gleich runter in die Tiefgarage, wo er sein Fahrzeug geparkt hatte, öffnete das breite Garagentor und verließ mit seinem Mercedes die Parkgarage über die rückwärtige Ausfahrt das Bankgebäudes.

Jetzt befand sich Bob Fuller ganz allein in der Bankfiliale. Er saß im Erdgeschoss seines Büros, das schräg gegenüber des Tresorraumes lag. Niemand würde jetzt noch die Ausführung seines Planes verhindern können. Im Tresor lagen weit über acht Millionen Dollar, an die er jetzt ohne Schwierigkeiten heran kommen würde.

In aller Ruhe holte er das "magische Tuch" aus seiner ledernen Aktentasche, marschierte damit schnurstracks hinüber zum Tresorraum und hielt es an die rechte Wand gleich neben dem Türstock, etwa in Höhe der Türklinke. Dann griff er beherzt in die schwarze Fläche und drückte von Innen geschickt die Klinke runter. Die Stahltür war damit offen.

Obwohl er alle Zeit der Welt hatte, arbeitete Bob Fuller dennoch zügig daran, das "magische Tuch" an den über zwei Meter hohen Stahltresor zu halten. Dann riss er zwei Klebestreifen von der mitgebrachten Kleberolle ab und befestigte damit die beiden oberen Ende des Tuches genau in der Mitte des Tresors. Die unteren Enden befestigte er auf die gleiche Art und Weise.

Danach ging Mr. Fuller zurück in sein Büro und holte sich einen dieser großen, reißfesten Plastiksäcke, den er direkt vor dem Tresor platzierte. Dann fing er damit an, das gebündelte Geld nacheinander von innen rauszuholen, indem er immer wieder tief in die schwarze Kreisfläche des "magischen Tuches" griff und zwar solange, bis er fast jede einzelne Etage des Tresors leer geräumt hatte. Nur an die Geldbündel ganz oben kam er einfach nicht heran. Kurzerhand ließ er sie einfach liegen.

Am Ende lagen in dem randvollen Plastiksack mehr als fünf Millionen Dollar, wie er grob schätzte. Genug Geld jedenfalls, um damit locker vorzeitig in den Ruhestand zu gehen. Außerdem würde er mit diesem netten Sümmchen ein üppiges Leben führen können. Trotzdem wollte Mr. Fuller nicht einfach so abhauen, sondern noch mindestens ein Jahr in der Bank unauffällig weiter arbeiten, um keinen Verdacht gegen ihn aufkommen zu lassen.

Als er schließlich auch mit der übrigen Arbeit fertig war, schaffte Mr. Fuller den prall gefüllten Geldsack runter in die Tiefgarage, wo er wie immer seinen Range Rover neben der Garagenein- und -ausfahrt auf seiner persönlichen Stellfläche geparkt hatte.

Gerade war er dabei, die wuchtige Hecktür seines Wagens zu öffnen, als er draußen plötzlich ein Auto kommen hörte, das oben an der Schlüsselsäule mit laufendem Motor anhielt und offenbar in die Tiefgarage wollte. Mr. Fuller ließ den Geldsack los, sah kurz durch eines der schmutzigen Plastikfenster des großen Garagentores und erblickte voller Entsetzen seinen Chef Mr. Georg Marino, der unverhofft noch einmal zurück gekommen war, weil er wohl etwas vergessen hatte. Mr. Fuller wollte jedoch auf gar keinen Fall mit dem Geldsack ausgerechnet von seinem Chef entdeckt werden. Fieberhaft dachte er über eine schnelle Lösung des Problems nach.

In diesem Moment fiel ihm blitzartig das "magische Tuch" wieder ein. Er wollte es dazu benutzen, um kurzzeitig darin zu verschwinden. So schnell er konnte, kramte er es aus seiner Aktentasche hervor und breitete es auf der Parkfläche in gebührendem Abstand neben seinem Range Rover aus. Mit aller Kraft drückte er dann den widerspenstigen Geldsack durch die etwa achtzig Zentimeter breite Fläche. Als Mr. Fuller das geschafft hatte, verschwand er anschließend selbst darin, was ihm überhaupt keine großen Probleme bereitete, weil er ein schlanker Typ war.

***

Mr. Marino hatte tatsächlich in seinem Chefbüro etwas liegen gelassen, und zwar seine über alles geliebten Havanna Zigarren, die er sich extra fürs Wochenende in sein Büro hat kommen lassen. Sie lagen gut verpackt oben in einer Zigarrenschachtel aus Holz in einem Regal hinter seinem Schreibtisch.

Mittlerweile befand sich das Garagentor im geöffneten Zustand und Mr. Marino steuerte seinen schweren Mercedes runter in die Tiefgarage. Als er Mr. Fullers Range Rover sah, parkte er sein Fahrzeug einfach direkt daneben, schaltete den Motor ab und stieg aus. Dabei trat er rein zufällig auf das "magische Tuch", hob es verwundert vom Boden auf, betrachtete es eine Weile unschlüssig von allen Seiten und warf es schließlich kopfschüttelnd in eine Mülltonne, die ganz in seiner Nähe stand.

Woher sollte Mr. Georg Marino denn auch wissen, dass es sich hierbei um ein ganz besonderes Tuch mit magischen Kräften handelte, das er achtlos weggeworfen hatte?

Jetzt, da es nicht mehr an seiner Stelle lag, war es zur Todesfalle für Mr. Bob Fuller geworden, der irgendwo in der Dunkelheit eines unbekannten Nichts einsam und verlassen auf seinem prall gefüllten Geldsack hockte. Er war lebendig eingeschlossen worden. Angst stieg in ihm auf, die sich bald in eine unkontrollierte Panik verwandelte.

In dem Moment nämlich, als Bob Fuller bemerkte, dass das "magische Tuch" nicht mehr an seiner richtigen Stelle lag, begann er wie von Sinnen um Hilfe zu rufen. Immer wieder und wieder hallten seine verzweifelten Schreie durch das dunkle Nichts. Er saß in der Falle und würde qualvoll sterben müssen. Das wusste er jetzt. Bei diesem Gedanken schrie Mr. Fuller noch lauter als zuvor, aber niemand konnte ihn hören.

***

Als Mr. Georg Marino mit der Schachtel Havanna Zigarren in die Tiefgarage zurück kehrte, wunderte er sich darüber, dass der Range Rover von Mr. Fuller immer noch auf seinem Parkplatz stand.

Eigentlich hatte er das schon öfters erlebt, denn Fuller hatte so seine sonderbaren Marotten und ging manchmal im nah gelegenen Park einfach ohne Absprache mit seinem Chef ein paar Runden spazieren, vor allen Dingen dann, wenn ihm der Arbeitsstress zu viel wurde. Deshalb dachte sich Mr. Marino auch nichts weiter dabei, marschierte hinüber zu seinem Wagen und stieg ein.

Als er gerade die Fahrertür schließen wollte, glaubte er, einen leisen Hilfeschrei unter seinem Fahrzeug gehört zu haben. Er hielt gespannt inne, konnte aber plötzlich nichts mehr hören.

Ich muss mich wohl getäuscht haben, dachte er so für sich, startete den Motor der Mercedes Limousine und verließ über die rückwärtige Ausfahrt der Tiefgarage das Bankgebäude. Oben, an der Schlüsselsäule, hielt er noch einmal an, drückte den Schließknopf und das breite Garagentor fuhr langsam herunter.

Stille machte sich in dem Gebäude breit. Bisweilen schien es so, als würde jemand jämmerlich um Hilfe rufen. Doch die Rufe wurden bald leiser, bis sie ganz verstummten.

Nur ein schwarzer Rabe saß plötzlich krächzend oben auf dem Dach der Bankfiliale und flog wenige Augenblicke später eilig davon.

***

Megametropole New York. Ein ziemlich schäbiger Hinterhof irgendwo im Stadtteil Manhatten.

Der alte Mann mit der hässlichen Hakennase im Gesicht und dem weiten Schlapphut auf dem Kopf saß gebückt vor einem hölzernen Tisch und faltete gerade ein großes weißes Tuch sorgfältig zusammen, auf dessen Oberfläche ein großer, pechschwarzer Kreisrund zu sehen war. In Reichweite, auf einem abgewetzten Stuhl, stand ein geöffneter Karton, der anscheinend als Verpackung für das Tuch dienen sollte.

Der Alte sprach bei seiner Arbeit leise vor sich hin, als sei das, was er sagte, nicht für fremde Ohren bestimmt.

"Schön, dass du wieder da bist, mein 'magisches Tuch'. Ich dachte schon, du würdest diesmal etwas länger wegbleiben. Aber wie ich sehe, hat es nicht lange gedauert, bis du mir wieder eine neue Seele gebracht hast. Was würde ich nur ohne dich machen? Die Seele von Mr. Bob Fuller hat mich um viele Jahre jünger und frischer werden lassen, auch wenn sie schon etwas verdorben war. Ich brauche aber noch weitere Seelen, um mich wieder in einen junge Mann verwandeln zu können. Deshalb muss ich dich leider gleich wieder losschicken. Diesmal geht es weit aufs Land hinaus, wo ich einen verzweifelten Farmer ausfindig gemacht habe, der sich hoch verschuldet hat und dringend Geld braucht. Bringe ihn schnell mit deiner Zauberfähigkeit auf böse Gedanken, damit er es bald so macht, wie dieser gierige Bob Fuller. Lass' diesen Farmer auf irgendeine Art und Weise sterben, damit ich bald über seine Seele verfügen kann. Ich verlasse mich auf dich. Wenn alles vorbei ist, werde ich dich wieder dauerhaft in den Raben zurück verwandeln, der du vorher warst. Weil du mir schon so viele Jahre immer treu gedient hast, werde ich dein Leben durch einen Zaubertrank ebenfalls verlängern, damit du noch für sehr lange Zeit bei mir bleiben kannst. So..., ich werde dich jetzt in diesem Karton gut verpacken und dann zur Post bringen. Ich hoffe, du kehrst als Rabe bald wieder zurück und bringst mir die Seele des Farmers mit."


ENDE


 

(c)Heinz-Walter Hoetter


 


 

***


 

6. Die Endzeitbombe


 


 

Mai 2006

Mein lieber Sohn Mark!

Seit Mitte des letzten Jahres bin ich nun schon unterwegs und ständig auf Reisen. Deine Mutter, mit der ich so viele Jahre meines Lebens glücklich verheiratet war, bevor unsere Ehe meines unruhigen Forscherlebens wegen zerbrach, wird mich sicherlich nicht vermissen, du aber schon, wie ich denke. Ich bin weiß Gott kein guter Vater gewesen und anstatt mich um dich zu kümmern, treibe ich mich überall in der Weltgeschichte herum.

Ich weiß, ich weiß, mein Sohn! Ich informiere dich noch nicht einmal darüber, wo ich mich gerade aufhalte und auch über meine augenblickliche Arbeit erfährst Du so gut wie gar nichts. Es tut mir wirklich alles sehr leid, mein lieber Mark! Vieles ist in der Vergangenheit geschehen und manches hätte ich bestimmt besser machen können. Ich kann meine Fehler leider nicht mehr gut machen, dafür ist es jetzt zu spät.

Mach’ Dir bitte trotzdem keine Sorgen um mich! Mir geht es gut! Heute muss ich wohl rückblickend zugeben, dass mir meine wissenschaftliche Arbeit oft wichtiger war, als unser gemeinsames Familienleben. Ich war nie ein guter Ehemann und Vater gewesen. Bitte verzeih mir, mein Sohn!

Du wirst Dir bestimmt mittlerweile schon die Frage gestellt haben, warum ich Dir ausgerechnet jetzt einen Brief schreibe. Nun, dafür gibt es einen äußerst gewichtigen Grund, wie ich Dir im Nachfolgenden schildern werde.

Was würdest Du davon halten, wenn ich Dir sage, dass ich einer ganz großen Sache auf die Spur gekommen bin, die mir Anfangs so unglaublich erschien, dass ich mich selbst damit schwer getan habe, sie zu glauben? Meine Entdeckung stellt eine wissenschaftliche Sensation ersten Ranges dar und sie wirft alle bisherigen Theorien über das plötzliche Massensterben der Dinosaurier am Ende der Kreidezeit über den Haufen.

Du hast mich als junger Mann oft danach gefragt, warum die Dinosaurier ausgestorben sind. Was habe ich Dir erzählt? Kannst Du Dich noch daran erinnern?

Vor etwa 65 Millionen Jahren verschwanden die Dinosaurier ganz plötzlich von der Bildfläche der Erde. Es gibt viele Katastrophentheorien darüber, warum die Herrschaft dieser gigantischen Riesenechsen über die Erde gegen Ende des Erdmittelalters in der Kreidezeit ein jähes Ende fand.

Wie oft haben wir beide uns immer wieder darüber unterhalten, welche der angeführten Theorien wohl zutreffen könne. Wir fragten uns, ob es damals im Erdmittelalter zu einer einschneidenden Klimaveränderung kam, wodurch eine schlimme Eiszeit ausgelöst wurde. Das vorher so reichhaltige Nahrungsangebot der Reptilien verschwand zusehends, bis sie schließlich an anhaltender Unterernährung und Hunger starben. Möglicherweise änderte sich auch die gesamte Pflanzenwelt, was den Sauriern nicht gut bekam, weil sie die neu entstandene Vegetation nicht verdauen konnten.

Oder hatte es gar eine kosmische Katastrophe gegeben? War der Einschlag eines gewaltigen Asteroiden oder Kometen daran schuld gewesen, dass das Leben damals auf der Erde fast völlig vernichtet wurde? All diese verschiedenen Theorien sind bis auf den heutigen Tag nur vage Vermutungen der Wissenschaftler geblieben – nicht mehr und nicht weniger und keine dieser fragwürdig gebliebenen Theorien sind von den Gelehrten jemals schlüssig bewiesen worden.

Was würdest Du wohl dazu sagen, wenn ich behaupte, dass Dein Vater seit geraumer Zeit einen absolut unwiderlegbaren Beweis dafür gefunden hat, dass die Dinosaurier am Ende der Kreidezeit durch eine ganz andere Ursache vernichtet worden sind?

In den vielen zurückliegenden Jahren meiner intensiven Forschung als Paläontologe (und Geologe, wie Du weißt) bin ich erst letztes Jahr auf ein unglaublich altes Relikt gestoßen, dessen Existenz ich bis heute eisern für mich behalten habe, weil es im wahrsten Sinne des Wortes einen „hochbrisanten Stoff“ in sich birgt, der das Leben auf der gesamten Erde nachhaltig verändern wird.

Eigentlich wollte ich seinerzeit nur 65 Millionen Jahre altes Sedimentgestein untersuchen und nach Fossilien graben, bis ich völlig unverhofft auf dieses höchst eigenartige metallisch aussehende Ding im Boden jener Wüste gestoßen bin, die in prähistorischer Zeit einmal den Grund eines von Leben nur so wimmelnden, tiefen Urmeeres bildete.

Wie gesagt, niemandem erzählte ich bisher davon, was ich dort in den sandigen, ausgetrockneten Erdschichten des einstmals urzeitlichen Meeres aus dem Mesozoikum gefunden habe.

Mir liegt heute nichts mehr daran, der übrigen Menschheit mein dramatisches Geheimnis zu offenbaren! Du bist die einzige Ausnahme, mein Sohn. Dir vertraue ich mein Wissen an. Ich verlasse mich auf Dich! Meine Entdeckung birgt eine höllische Wahrheit in sich, die absolut tödliche Konsequenzen für die gesamte Menschheit haben wird.

Mein schreckliches Geheimnis teile ich nur mit Dir. Niemand sonst soll davon erfahren. Vielleicht ist es auch besser so, denn die Menschheit wird bald von einer fürchterlichen Katastrophe heimgesucht werden, die mit Sicherheit ihren Untergang ein für allemal besiegelt. Deshalb bin ich auch zu der Überzeugung gelangt, dass sie von ihrem bevorstehenden Ende auf gar keinen Fall etwas erfahren sollen. Wie unschuldige und ahnungslose kleine Kinder überlasse ich sie ihrem unvermeidlichen Schicksal. Aus Liebe zu ihnen werde ich sie ohne Angst und Verzweifelung sterben lassen, wenn die Apokalypse eintritt. Stell’ Dir einmal vor, die Menschen erführen davon, dass ihr unwiderrufliches Ende kurz bevorsteht. Es käme zur Anarchie. Chaos und Panik brächen aus und pure Verzweiflung griffen um sich. Das kann ich ihnen nicht antun.

Ja, mein lieber Sohn! Schon bald wird der Wind der Zeit durch ihre zerstörten Städte sein einsames Lied singen. Für immer!

Mark, die ganze Sache hat auch für Dich tödliche Konsequenzen! Entweder Du nimmst die Mitteilungen, die ich hier für Dich niedergeschrieben habe, als gegeben zur Kenntnis oder Du lässt es sein! Ganz wie Du willst.

Du solltest meine Worte aber dennoch sehr ernst nehmen, denn das Unvermeidliche wird auch Dich treffen. Das Unglück wird jeden ereilen. Auch mich.

Und nun zu meinem sensationellen Geheimnis. Bitte behalte es unbedingt für Dich! Erzähl’ keinem anderen Menschen davon! Versprich es mir!

Wie ich schon vorhin andeutete, fand ich vor einiger Zeit ein unheimliches Artefakt einer außerirdischen Rasse am äußersten Rand einer unter den Paläontologen gut bekannten Wüste. Sie war einstmals von einem riesigen, urzeitlichen Meer bedeckt.

 

Ja, Du hast richtig gelesen! Das seltsame Gebilde, auf das ich im Wüstensand gestoßen bin, ist nicht von Menschenhand erschaffen worden. Da bin ich mir heute ganz sicher. Mir liegen klare Beweise vor.

Anfangs wollte ich selbst nicht daran glauben, auf was ich da in etwa zwei Meter Tiefe unter der kargen Oberfläche des Wüstenbodens mit meinem Ausgrabungsgerät, einem Mini-Spezialbagger, gestoßen bin.

Mein mitgeführter Kompass zeigte schon vorher ganz in der Nähe der späteren Ausgrabungsstelle eine außergewöhnlich starke magnetische Abweichung an, was mich aus Neugier dazu veranlasste, eben genau an dieser Stelle unverzüglich mit den Grabungen zu beginnen. Es dauerte nicht lange, da stieß ich auf die glatte Oberfläche eines außergewöhnlich harten Metalls unbekannter Herkunft. Während meiner gesamten wissenschaftlichen Laufbahn als Paläontologe und Geologe habe ich derart Ungewöhnliches vorher noch nie zu Gesicht bekommen.

Du wirst mich deshalb sicherlich auch verstehen können, wenn ich Dir sage, dass mich von diesem Moment an ein unwiderstehlicher Entdeckungsdrang gepackt hat. Ich befinde mich seit der Zeit hier ganz allein in der Wüste. Meinem geschundenen Körper kann man die Strapazen und Entbehrungen der letzten Monate mittlerweile gut ansehen. Mein Körpergewicht ist um mindestens ein Drittel zurück gegangen. Ich bin nur noch ein Schatten meiner selbst.

 

 

Nur wenige Male habe ich diesen Ort verlassen, um mich mit ausreichender Menge Wasser und Proviant einzudecken. Ich tat das so unauffällig wie möglich. Zwischendurch habe ich Dir auch diesen Brief geschrieben und ihn nachts heimlich in einen der wenigen Briefkästen geworfen, die es hier in diesen heruntergekommen Kleinstädten am Rande der Wüste gibt, ohne mir überhaupt sicher zu sein, dass Dich mein Schreiben jemals erreichen wird.
 

 

Jetzt befinde ich mich seit einigen Tagen wieder am Fundort des Artefaktes. Der Strapazen wegen bin ich nur zweimal von hier weg gegangen. Hoffentlich erreicht Dich mein Brief noch rechtzeitig! Sei nicht traurig, wenn ich Dir mitteile, dass dies das letzte Lebenszeichen von mir sein wird.

Es hat sich nämlich nachträglich durch meine weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen herausgestellt (ich bin mir dessen sogar ganz sicher, weil ich mich auch in der Metallurgie und Kernphysik einigermaßen gut auskenne), dass es sich bei meiner eigenartigen Entdeckung um eine gigantische, außerirdische Superbombe handeln muss, deren ungeahnte Vernichtungskraft alles übersteigt, was Menschen sich überhaupt vorstellen können. Ich hab’ ihr daher den treffenden Namen „Endzeitbombe“ gegeben.

Ich nehme auch einmal an, dass sie sich vielleicht sogar durch meine bloße Anwesenheit in ihrem Innern möglicherweise von selbst in Gang gesetzt hat. Ungewöhnliches spielt sich seit dem ab. Das komische Ding surrt, brummt und vibriert an allen Ecken und Kanten und der sandige Boden zittert wie Espenlaub.

Unheimlich ist auch, dass diese Superbombe wahrscheinlich schon seit 65 Millionen Jahre hier unten im prähistorischen Wüstenboden gelegen haben muss. Ich konnte das durch spezielle Zeitdatierungsmethoden ganz klar nachweisen. Meine Experimente habe ich gleich mehrmals wiederholt und jedes Mal kam ich zum gleichen Ergebnis. Sie kann nicht aus unserer Zeit stammen. Das steht für mich zweifelsfrei fest. Das seltsame Metall der äußeren Hülle besteht aus einer Legierung, die ich noch nie gesehen habe. Ihre Zusammensetzung gibt mir andauernd neue Rätsel auf.

Auch die Dimensionen der gewaltigen Bombe sind wahnsinnig beeindruckend. Bis jetzt konnte ich allerdings nicht feststellen, wie groß sie wirklich ist. Ihre Form ist die eines riesigen Kegels, weil sie aufgrund meiner Messungen einwandfrei von einer ausgedehnten Oberfläche nach unten hin spitz zuläuft. Ich schätze einmal, wegen ihrer klar erkennbaren Strukturen, die mir meine Scanner auf den Monitoren angezeigt haben, dass sie bis zu zwei oder drei Kilometer tief in den Boden hinab reicht.

Dann entdeckte ich zufällig einen kreisrunden Eingang, der in das Innere des explosiven Kolosses führte. Zu meinem allergrößten Erstaunen öffnete sich der Zugang ganz ohne mein eigenes Zutun. Wahrscheinlich sollte ich ihn finden.

 

 

Aus lauter Neugier bin ich hinein gestiegen. Vorsichtig habe ich mich jeden Tag ein Stück weiter in den dahinter liegenden Gang gewagt und ich sag’ Dir, das Ganze sieht innen aus wie ein unbemanntes Raumschiff, denn nirgendwo konnte ich irgendwelche Steuereinheiten erkennen.

Es gibt nur einen einzigen Hallen ähnlichen Raum, der aussieht wie das Abbild einer mittelalterlichen Kathedrale, allerdings nur viel kleiner. Alles ist in einem fluoreszierenden Licht getaucht. Die sagenhafte Technik des außerirdischen Artefakts sieht man so gut wie gar nicht. Man kann sie nur hören. Sie arbeitet leise und verborgen im Hintergrund, und das wahrscheinlich schon seit 65 Millionen Jahren, wenn ich mich nicht irre. Das ist schier unfassbar! Ich kann es nicht glauben, dass es so etwas überhaupt gibt.

Die kleine Halle hat etwas Heiliges an sich. Ganz hinten, dem Eingang direkt gegenüber liegend, befindet sich ein magisch aussehendes, metaphorisches Gebilde, das ich beim besten Willen mit den mir zur Verfügung stehenden Worten einfach nicht beschreiben kann. Es verändert ständig seine Form. Als ich den Raum zum ersten Mal betrat, fing es schwach zu leuchten an, flimmerte und flackerte wie ein alter Fernsehbildschirm und formte sich in wenigen Augenblicken zu einer menschenähnlichen Gestalt, die verblüffende Ähnlichkeit mit mir selbst hatte.

 

Diese faszinierende menschenähnliche Illusion, die offensichtlich aus reiner Energie aufgebaut wird, leitete auch die Vernichtungssequenz ein, die sich unter anderem darin äußerte, dass sie eine geraffte Darstellung der gesamten Erdgeschichte in plastischen 3D-Bildern präsentierte – und zwar in einer Endlosschleife, die sich seitdem mit einer kontinuierlich ablaufenden Geschwindigkeit wiederholt.

Jeder Ablauf- oder Darstellungszyklus dauert ungefähr einen Monat, dann änderte sich das erdgeschichtliche Thema wieder. Es gibt genau 12 visuelle Abläufe davon, die sich nahtlos aneinander reihen.

Das Energiewesen spricht seltsamerweise in meiner eigenen Sprache zu mir. Wie es das in so kurzer Zeit geschafft hat ist wirklich unglaublich faszinierend. Dabei habe ich in seiner Gegenwart eigentlich nicht viel geredet.

Von dieser gespenstisch anmutenden Gestalt aus reiner Energie habe ich im Verlauf meiner Untersuchungen herausgefunden, dass es sich bei dem seltsamen Koloss um eine Art Antimateriebombe handeln muss, die meinen Berechnungen zufolge gegen Ende des Jahres 2006 zur Zündung kommen wird. Genau zu diesem Zeitpunkt endet der Ablauf der in Gang gesetzten Vernichtungssequenz. Dann wird die gewaltige Superbombe allem Anschein nach explodieren.

Bis zum diesem Punkt Null werde ich mich als Paläontologe und Geologe damit beschäftigen mein bisher erworbenes Wissen über die vergangene Erdgeschichte der letzten 300 Millionen Jahre mit Hilfe dieser visuell ablaufenden Vernichtungssequenz zu vervollständigen.

Wenn ich dann über den wahren Ablauf der Erdgeschichte Bescheid weiß, muss ich mein gesamtes Wissen leider mit in den Tod nehmen. Welch eine Ironie!

Ja, mein Sohn, du ahnst nicht, was ich sehen durfte. Ich konnte die wechselnden Herrscher des Lebens über die Erde betrachten, alles entstehende und vergehende Leben erblicken, das vor 225 Millionen Jahren im Mesozoikum, Trias, Jura und Kreide begann und das Zeitalter der Dinosaurier war. Dann, am Ende der Kreidezeit, eine unfassbar gigantische Explosion. Die Sonne verfinsterte sich, das Leben auf der Erde schien vernichtet. Ich sah die Dinosaurier aussterben. Dann unheimliche Stille überall. Ein ganzes Zeitalter lang. Ich wurde Zeuge davon, wie uralte Riesenbäume abstarben, bis an den Horizont reichende Sumpflandschaften austrockneten um dann wieder gewaltigen Laubwäldern Platz zu machen.

Bei der Betrachtung der ungeheuren Explosion am Ende der Kreidezeit stellte ich mir instinktiv die Frage, wie die nächste Detonation wohl die weitere Erdgeschichte dieses Planeten beeinflussen wird.

 

Doch die Geschichte in der Erdneuzeit, dem Känozoikum, ging weiter. Nach dem Aussterben der Dinosaurier und anderer Reptilien entwickelten sich im Tertiär die Säugetiere zu den vorherrschenden Lebewesen. Ich beobachtete, wie sich der Mensch entwickelte, der erst vor 2 bis 3 Millionen Jahren in Erscheinung trat.

Ich frage mich immer wieder, wer diese geheimnisvollen Fremden aus dem All wohl sind? Wo kommen sie her? Wie sehen sie aus? Aus welchem Winkel des Universums haben sie ihre Antimateriebomben zu uns auf die Erde geschickt? Sind sie eine außerirdische Rasse, die mit ihrem weit überlegenen technischen Wissen aus den unendlichen Fernen des Alls heraus auf die Geschicke des Lebens auf dem Planeten Erde Einfluss nehmen wollen und in für menschliche Begriffe unvorstellbaren Zeiträumen denken?

Wenn diese 65 Millionen Jahre alte monströse Antimateriebombe aus der Kreidezeit explodiert, wird die Erde in ihren Grundfesten erbeben, altbekannte Kontinente, Landschaften, Seen und Gebirge vielleicht verschwinden und neue sich aus dem verborgenen Schoß der Erde wieder auftun. Meere werden verdampfen. Die Sonne wird sich verdunkeln, wie schon einmal vor 65 Millionen Jahren. Dann werden abermals die meisten Lebewesen auf diesem Planeten der Vernichtung anheim fallen. Einige jedoch werden überleben, dessen bin ich mir gewiss. Die Natur wird aus ihnen neuartiges Leben entstehen lassen, andersartige Kreaturen, die sich den veränderten Umweltbedingungen anpassen. So hat es Mutter Natur schon immer gemacht. Sie findet immer einen Weg.

Es erscheint mir heute unfassbar! Diese unbekannte, außerirdische Macht hat der Kreatur Mensch Millionen Jahre lang Zeit gegeben, sich zu entwickeln und jetzt läuft die Ära des Homo sapiens sapiens ab! Unerbittlich teilen wir das gleiche Schicksal, wie das der Dinosaurier am Ende der Kreidezeit.

Mein lieber Sohn! Bleib’ wo du bist und suche nicht erst nach mir! Du wirst mich nicht finden! Genieße Dein restliches Leben! Wenn Du dieses Schreiben von mir in Deinen Händen hältst, ist die gesamte Menschheit bereits ihrer totalen Vernichtung durch diese fürchterliche Endzeitbombe wieder ein paar Schritte näher gekommen. Mittlerweile steht sie am Anfang des zehnten Zyklusses und ihr geheimnisvoller Mechanismus arbeitet gnadenlos und unerbittlich weiter. An dieser Stelle möchte ich den Brief an Dich beenden...

Ich bete für uns alle!

Dein Dich immer liebender Vater


Steven


 

Ende


 

©Heinz-Walter Hoetter


 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Heinz-Walter Hoetter).
Der Beitrag wurde von Heinz-Walter Hoetter auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.12.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

Bild von Heinz-Walter Hoetter

  Heinz-Walter Hoetter als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Hauskater Moritz erzählt selbst von Ernst Dr. Woll



In Märchen, in Fabeln, können Tiere sprechen. Was in dieser Weise in den 9 Kurzgeschichten ein Hauskater erzählt basiert auf vielen wahren Begebenheiten.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Unheimliche Geschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Heinz-Walter Hoetter

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Parasit von Heinz-Walter Hoetter (Science-Fiction)
Du böser, böser Junge..., Teil I. von Klaus-D. Heid (Unheimliche Geschichten)
Der schneeweiße Hase von Christa Astl (Gute Nacht Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen