Irmgard Schöndorf Welch

MINOU 2. Buch: DER SIZILIANER ( Roman )

 


*

 



Das ist die direkte Fortsetzung von
Minou


Der Sizilianer


Hier führe ich die Kapitel des Romans im Vorhinein auf – damit Du, lieber Leser, es leichter hast, Dich durchzufinden Die Kapitel können auch einzeln verstanden werden, da ich vor einem jeden eine kurze Zusammenfassung gemacht habe über das, was vorausging. Man kann also ruhig auch einmal Abschnitte des Textes überblättern.

Die einzelnen Kapitel:

Seltsame Herren
Ein besonderes Mahl
Wasserwelt
Taormina Nacht
....

Die verlorene Stimme.
Heimlichkeiten
Orangenhaine
Taormina Tag
Der Vulkan
.....

Das Haus am Etna.
Nacht mit Ernando
Ein Ferienglück
Intermezzo ... zuhause in Marienstock
Ernandos Brief
....

Wieder Sizilien. Minous Job im Campeggio
Überraschung
Arrivederci, amore
....

Botschaften vom Polyglott
Das Treffen
Minous neue Wohnung
Minou ist behütet und umsorgt
Nikos ist attraktiv für sein Alter
Ein leichtes Leben
Alessandra Sanpedro
Minou verursacht einen Sturm im Wasserglas
Minou schreibt einen Roman
....

Interessante Abendeinladung
Unter Sternen
In der Nacht ist Ernando plötzlich da
Phyllis ist verlassen worden
Santuzza
Elke di Berlino
Als wärst du mein Vater ...
Kino 1957
Nikos hat eine Affäre, Gott sei Dank
The games people play
Minou tut keinen Schritt ohne Nikos
Garagenjunge
Die Töchter des Portinaio
Nikos hat ‚ernste Absichten‘
....

Ernandos Spiele
Minou ... wieder ein neuer Job
London School 1958/59
Alpen- und andere Gipfel
Frühsommer-Ausbruch 1959
Il grande Finale
....



Der Sizilianer



Was vorherging:

1955. Die 16jährige Minou lebt in Marienstock mit Vater, Stiefmutter und den kleineren Geschwistern und arbeitet als Angestellte auf dem Fernsprechamt in Brückenstadt. Eines Tages fährt sie mit einer Jugendreisegesellschaft im Urlaub nach Süden. Bei dem Ort Villa San Giovanni rollt der Zug auf die Fähre. Dann überqueren sie die Straße von Messina. SIZILIEN

*





SELTSAME HERREN

Nun erreichen sie das Land, wo jeder Zentimeter Boden beladen ist mit dem Schicksal antiker Völker. Der Zug fährt jetzt wieder auf festem Boden: Sizilien. Dass es einst die Kornkammer von Cäsars römischem Weltreich war, hatte Frau Wahlen, die Lehrerin, gesagt. "Von immer neuen Völkern wurde die fruchtbare Insel unterworfen, Phöniziern, Griechen, Römern, Vandalen, Arabern, Normannen, Staufen, Spaniern. Die Herrscher, die Sizilien besaßen, besaßen den Schatz des Abendlandes."
Sonst hatten die Schülerinnen nicht viel über Sizilien erfahren, so wie sie ihr ganzes geografisches Wissen flüchtig, wie im Schnelldurchlauf, bekommen hatten.

Die Namen der Orte, durch die sie kommen, stehen im Reiseführer. Und auf Bahnsteigschildern. Der Zug rast an den meisten vorbei:

Messina,
Tremestieri,
Ali Terme,
Nizza di Sicilia,
Rocca Lumera,
Santa Teresa di Riva,
San Alessio Siculo,
Mazzaro,
Taormina,
Giardini Naxos
Alcantara,
Fiumefreddo di Sicilia,
Mascali
Riposto,
Acireale,
Aci Castello,
Aci Trezza
Catania,
Augusta
Lentini,
Fontane Bianche
Avola
Noto Marina

Deutschland ist weit weg. Hier wird das Leben farbiger sein. Man spürt das.
Was für eine Sprache, was für ein Klang, Namen voller Geheimnis!


Das Ziel der Reisenden ist irgendwo bei Siracus. Eine Ferienanlage am Strand: ‚Mare Luce.‘
In dieser Stunde schimmert das Meer wie grüne Limonade. Durchsichtig, kristallklar. Minou kann es kaum erwarten, hinein zu tauchen.
Weiße Bungalows stehen verstreut auf glitzerndem Sand zwischen Strand und Pinienwäldchen. Blumen blühen. Rot. Flammende Beete. Pelargonien. Hibiskus. Der Sommer lodert in satten Farben.

Je zweien aus der Gesellschaft teilt man einen Bungalow zu. Christel und Minou werden beisammen wohnen. Jede dieser einfachen Steinhütten besteht aus nur einem Raum. Toiletten und Duschen liegen in einem gesonderten Gebäude, wie es auf Campingplätzen üblich ist.
Im Bungalow zwei simple Feldbetten. Darauf zusammengefaltet ein paar Wolldecken, grau, rau. Spartanisch. Ein Stuhl. Ein Kleiderständer. Wandregale. Auf die Regale werden die Mädchen später ihre Habseligkeiten aus den Koffern schichten.

Sie werfen sich gleich aufs Lager. Strecken alle viere von sich. Jubeln ... denn ihr Bungalow ist auf eine Klippe gebaut und ein brandneues Panoramafenster füllt die ganze Seite der einen Wand. So kann man sogar vom Bett aufs Meer sehen, über die weite Bucht. Bis dahin, wo Horizont und Wasser sich vereinen.
In der Brandung, an den Küsten ragen Basaltfelsen. Schwarz, bizarr. Die hat der Vulkan Etna vor Millionen Jahren dorthin geschleudert.
Von einer Landzunge leuchtet hell ein Fischerdörfchen herüber. Ein anderes zerfließt vage im Lichtgeflimmer der Ferne.
Nachts wird es geheimnisvoll aussehen, wenn über Meer und Bucht die Sterne stehen.
Die Mädchen werden den Ozean auch bei Sturm erleben, wie er sich röhrend bäumt in grauschwarzer, drohender Allmacht. Oder die träge See an den meisten Sommertagen. Die Farbe der Tage wird sonnengelb sein. Die der Nächte ein magisches Blau, so schreibt Minou später in ihr Tagebuch.

Erstes Abendessen in Mare Luce.
Die jungen Leute nehmen es im Freien auf einer Terrasse ein. Das Hotel und dazugehörige Restaurant sind erst im Entstehen begriffen. Alles ist provisorisch. Die – einstweilige - Essterrasse grenzt mit einer Seite an die Wand des zukünftigen Speisesaals und ist nach drei Seiten hin offen. Auch zum Meer hin.

Eine hölzerne Pergola spannt sich über die Terrasse, grün von Pflanzengewirr überrankt, besät mit roten und violetten Blütensternen. Darunter - wie sonderbar – baumeln, in weit gespannten Fischernetzen Seepferdchen und Muscheln, dazu Kraken, Schwertfische, ein Hai ... aus Bakelit.
Mediterranes Dekor. So glaubt man, mögen die Gäste aus dem Norden es gern.

Die Jungen und Mädchen sehen sich auf dieser offenen Terrasse um. Die Tische sind mit weißem Leinen bedeckt. Auf jedem Tisch steht eine rundbauchige Chiantibottel. Leer. Tropfkerzen stecken die Ober darauf. Immer neue. Immer verschiedenfarbige. Die Kerzen flackern, brennen rasch herunter. Buntes Wachs fließt wie Bäche. Über grünem Glas wird es zu bunten, pittoresken Rinnsalen und Mustern erstarren.

Jeweils in Sechsergruppen nimmt man an den Tischen Platz.
Die jungen Mädchen aus Deutschland haben sich hübsch gemacht, glühen vor Erwartung und blicken doch scheu in die Runde. Denn ihre Reisegruppe ist nicht die einzige hier. Es gibt auch ‚les Francais.‘
Und drüben sitzen Engländer. Boyscouts.

"Zu den Mahlzeiten im Speisesaal müsst ihr euch aber FESTLICH kleiden", hat man den Deutschen zuhause eingeschärft. Die Eltern wissen, was sich gehört. Auch sie haben Fernreisen gemacht. Vor dem Krieg. Mit ‚Kraft durch Freude‘. Die meisten Leute aber noch nie. Minous Vater nicht. Und Lisa nicht. Doch Tante Zilli zweimal.

Jetzt beim Abendessen tragen die Mädchen Kleider mit schwingend weiten Röcken. Darunter Petticoats. Wolkenzart erscheinende, unten mit Spitzen und Rüschen besetzte, dabei richtig steife Gebilde aus Nylon und Tüll, die bei jedem Schritt wippen, knistern. Dazu flache Ballerinenschuhe. Oder sehr hochhackige Pumps mit Pfennigabsätzen.
Manche haben ihr langes Haar zu Pferdeschwänzen gebunden, andere es um topfkratzerartige Gebilde aus drahtähnlichem Geflecht gewuchtet, mit Haarnadeln festgezurrt und sich so einen züchtigen, aber üppigen Dutt gebastelt.
Die, die den ganzen Zirkus satt hatten, haben die langweilige Pracht schon zuhause abschneiden lassen. Tragen 'Meckyfrisuren', das sind kurze, fransig geschnittene Wuschelköpfchen, mit denen man wie ein Igel aussieht.

*

Minous hellbraunes Haar ist ausnahmsweise offen heute und reicht ihr bis über den halben Rücken. Sonst trägt sie es immer als Pferdeschwanz und zusätzlich an den Enden umgeschlagen und festgesteckt, damit es nicht herum baumelt. Aber ihre Bananenspange ist gerade eben auseinandergebrochen. Und nur ein Gummiband ... nein, das wäre stillos. Gott sei Dank hat sie die Haare vorher unter der Dusche gewaschen. So sehen sie einigermaßen hübsch aus ... na ja.

Sie trägt auch ihr bestes Kleid, ein unglaubliches Preiswunder ( Kaufhaus Schnapp ... wir wissen schon ) ein ‚Prinzess-Cocktail-Kleid, ärmellos, züchtig hochgeschlossen, aus pfefferminzgrünem Taft-Moirée. Vorn auf der Brust prangt eine handtellergroße Schleife, ebenfalls grün, doch in etwas abstechender Schattierung. Das Kleid ist in der Taille eng, der weite, geraffte Rock erst auf der Mitte der Hüfte angesetzt. Das lässt Minous Taille dünn erscheinen. Hauchdünn. Auf ihre Taille ist sie stolz. Vorne am Rock wogt eine zweite überdimensionale Schleife. Sie hatte die beiden Dinger zu Hause schon einmal abgetrennt. Aber da sah das Ganze öd aus wie ein Christbaum ohne Kugeln und sie hat sie wieder angenäht. Nun ... wenigstens die Farbe ist schön, frühlingsfrisch wie Maibowle und steht ihr ziemlich gut, findet sie.
Unter dem weiten Rock trägt sie einen dieser modischen Petticoats. So raschelt und knistert auch Minou bei jedem Schritt wie Geschenkpapier an Weihnachten.

*

Jetzt erscheinen die zwei schönsten deutschen Mädchen.
Marlene, blond - für jene Zeit unglaublich hoch gewachsen - und schon längst von den jungen Burschen heimlich zur Jane Mansfield der Reisegesellschaft erkoren. Marlene kommt in einem hellblauen, prall anliegenden Etuikleid aus leichtem Jersey auf die Terrasse gestöckelt. Begeisterte Pfiffe. Marlene lächelt.
Hinter ihr Christel, braunhaarig, haselnussig, wenn auch etwas müde. Christel in weißer Spitzenbluse und schwarzem Rock. Aber keinem gewöhnlichen Rock. Eng ist er geschnitten, hauteng über Po und Hüften, doch bei den Knien unten beginnt ein Streifen aus Plissee, ein bei jedem Schritt sich auffächelnder Plissee. Zu solchen Sachen tragen die Mädchen natürlich SEHR hochhackige Schuhe. Die beiden setzen sich an den Tisch, zu Wolfgang, Klaus, Minou und Werner, der ihnen bereits Stühle frei gehalten hat.

Von drüben starren die Engländer herüber. Hagere Kerle. Knorrige Typen. Rot verbrannt ihre mageren Fuchsgesichter. So sehen sie fast alle aus. Steif und linkisch. Sie stoßen mit den Ellenbogen Gläser um, verschütten Wein. Sie lachen ständig mit dröhnenden Stimmen.
"Hey, beautiful what is your name?" ruft jetzt einer der Engländer.
Er meint Christel. Die wird rot:
"Christel", stottert sie: ... "but I cannot speak English." (kicher, kicher!)
"Well, Christy, we are going to have a party tomorrow night. You can find our tents in the pine-forest right on the ocean. Will you come? Will you bring your german friends too ... boys and girls?"
"O ja, wir kommen, klar", sagt Wolfgang auf englisch.
Das ist der Auftakt internationaler Beziehungen...

Es gibt in Mare Luce auch eine Gruppe Schweden. Von denen wird man bald Unbändiges raunen. Und hoch Interessantes: Dass die überhaupt keine Moral hätten, diese Skandinavier. Dass sie nachts bei den Felsen badeten. Splitternackt. Sich Frauen aufrissen. Und nur das EINE wollten ...
Mit geheimnisvollen Zeichen bedeutet Helga den Mädchen an ihrem Tisch, näher zu ihr zu rücken - die deutschen Jungen sollen es nicht mitbekommen:
"Mir ist eben etwas passiert, ich traue mich fast gar nicht, es zu erzählen!"
Und sie flüstert ihnen eine Geschichte zu, die kann man ihrer schieren Ungeheuerlichkeit wegen kaum für möglich halten:
"Als ich eben im Meer bin, da kommt dieser lange Kerl - schaut um Gottes Willen nicht hin ... dort drüben sitzt er - also er kommt auf mich los. Na ja, ich dachte, er sieht nett aus. Wir haben ein bisschen geredet und geplantscht, nah am Ufer, ihr wisst ja, ich kann nicht schwimmen. Er hat mich irgendwann gepackt und getaucht, alles ganz harmlos, wie man eben so miteinander herumalbert! Da begrapscht er mich plötzlich, ihr wisst schon ... anders. Begrapscht mich! Ein wildfremder Mensch!! Ich hab' mich natürlich gewehrt. Und wie! Aber, was denkt ihr, hat der gemacht?"
Allgemeines Atemstocken ...
"Der hat versucht, mir mein Bikinihöschen herunterzuziehen!"
"Das gibt's nicht!"
"Doch, er hat versucht, mir das Höschen herunterzuziehen!!"
"NEIN!"
"Das kann nicht wahr sein, das ist der Gipfel", flüstern, zischeln sie wild durcheinander. Aufgewühlt bis in ihre züchtigen Seelen, bestarren sie alle unverhohlen den Wüstling.
Er, Schwede natürlich, grinst frech herüber und schaufelt weiter lässig sein Essen in sich hinein.

Zu dieser ersten Mahlzeit auf italienischem Boden gibt es – wie erstaunlich - Spaghetti mit Tomatensoße. Wahlweise Pizza. Dazu Vino rosso. Für jeden ein Achtel-Liter-Krügchen.

Mit der Dunkelheit kommt die Kühle. Man fröstelt ein wenig in der Seeluft. Ein paar Tage später werden die Mädchen sich Stolen gekauft haben. Aus maschinell gemachter Häkelspitze. Massenware auf südlichen Märkten. Blütenweiß und kuschelweich. Gerade warm genug für Mittelmeernächte im Freien. An ihren Stolen wird man in jenen Jahren in Restaurants und beim Abendbummel auf den Promenaden die Touristinnen erkennen.

Manchmal fegt eine Windbö heftig über die Tische. Dann verlöschen auf den Chiantiflaschen die Kerzen. Der Ober Giovanni kommt jedes Mal, zündet mit Streichhölzern die Flämmchen wieder an und redet dabei in einem fort. Er ist zwei Jahre lang in München Kellner gewesen, sagt er stolz und freut sich - mit den Signorinas im besonderen - Deutsch zu sprechen. Auch die jungen Mädchen bleiben nicht lange schweigsam. An diesem Abend, nach der langen Reise ohne Schlaf, sind sie alle aufgedreht wie selten zuvor.

Plötzlich stocken die lauten Gespräche auf der Terrasse, als ob man das Kabel eines Mikrofons mit einem Ruck durchschneidet und ‚aus‘. Da ist nur noch das Rauschen des Ozeans.
Sogar Giovanni hält beim Servieren in seinem Redeschwall inne. Denn Besucher sind gekommen. Eine Gruppe von zirka zwölf Herren. Die gehören nicht hierher. Hierher passen sie auch nicht. Die sizilianischen Kellner überbieten sich plötzlich an Arbeitseifer. Die gerade einen Schwatz hielten, räumen geschäftig gebrauchtes Geschirr weg, das lang schon herumstand oder sie wischen mit Tüchern über ohnehin saubere Tische. Der Geschäftsführer eilt herbei und begrüßt die offensichtlich wichtigen Gäste, ein verlegenes Grinsen dunkelrot im Gesicht.

Die Neuankömmlinge tragen helle ... Maßanzüge? Aus Seide? Und weiße! Schuhe. Männer von einer merkwürdigen, den deutschen Jugendlichen ungewohnt erscheinenden Eleganz, die aber gut zu olivfarbener Haut und brilliantineglänzendem Rabenhaar passt.

Einer ist fett. Wuchtig wie ein Koloss. Mit dem Haupt einer Urweltechse und auch deren kalten Augen. Zwischen wabrig gedunsenen Lippen hängt ihm eine Zigarre. Ein anderer ist winzig, uralt, knochendürr. Ein Gnom.
Auch die meisten anderen Männer sind weder gutaussehend, noch sympathisch und dennoch ... souverän.

Die jungen Leute an den Tischen begaffen verwundert die eigenartige Gesellschaft.
Marlene stößt den Kellner Giovanni in die Rippen. Deutet zum Podest.
"Sind Herren aus Rom und Catania", flüstert Giovanni und zuckt die Achseln, als wolle er sagen: "Mehr weiß ich auch nicht!"

*

Minou erscheinen sie wie zwielichtige südamerikanische Haziendaherren oder Bosse, die man manchmal in Krimis sieht. Zwei oder drei dieser Typen sehen zumindest interessant aus, recht hochgewachsen, mit kühnen, römischen Nasen und scharfgeschnittenen Zügen.
Männer, die Frauen gefallen könnten, zum Beispiel erfahrenen Frauen wie Marlene, denkt sie. Ihr gefallen sie nicht.
Sie tragen Sonnenbrillen. Dabei ist es draußen inzwischen fast Nacht. Beinahe alle diese Herren tragen Sonnenbrillen. Das erinnert Minou noch mehr an Finstermänner im Film.

Da erblickt sie den EINEN ... und fällt fast um. So groß, so schön ist er, wie sie noch nie im Leben einen Mann gesehen hat. Stolz, ernst steht er da inmitten dieser Leute ... schlank, fast hager, doch von auffallender Statur.
Etwas unsagbar Dunkles, Fremdes ist um ihn. Sie weiß mit einem Schlag: ER ist es, auf den sie gewartet hat. Er ist ... Teja, der zum Leben erwachte Held ihrer Mädchenträume.

Tatsächlich starren viele Augen diesen Mann an. Hoch ragt er aus der Gruppe seiner Begleiter. Versteckt sich nicht hinter einer Sonnenbrille und trägt keinen hellen Anzug, sondern Schwarzes. Und dazu hat er eine braune Lederjacke locker über die Schultern geworfen. Sein kurzgeschorenes, sehr dunkles, afrikanisch gekräuseltes Haar hebt den schönen Kopf, die markanten Züge noch mehr hervor.

Als Minou zum zweiten Mal in seine Richtung schaut, sieht er geradewegs in ihre Augen. Da weiß sie plötzlich ... es war niemals Teja, der ferne Ostgotenkönig ... es ist von Anfang an ER gewesen, von dem sie geträumt hat. Auf Ihn hat sie gewartet, er war gemeint ... schon immer.
Sie fühlt es in dieser Sekunde: das kann nur eine Fügung des Schicksals sein!
Nach keinem anderen Mann als ihm hat sie sich je gesehnt! Das weiß sie auf einmal mit der Klarheit ihrer sechzehn Jahre.
Schon spürt sie einen seltsamen Schmerz im Leib, ein Ziehen in den Eingeweiden, etwas Sonderbares, das sie nie gekannt hat. Schwindelig wird ihr ... o Gott, jetzt nur nicht umkippen!

Minou weiß von dem Moment an, dass ihr noch nie ein Mann wichtig gewesen ist im Leben. Nur dieser. Dieser Mann im tiefen Sizilien! Er ist ihr vertrauter als irgend jemand auf der Welt ... und er ist fremd, fremd und fern wie das Universum.
Sie zittert. Ihr Mund ist trocken, sie kann keinen Bissen mehr schlucken. Auch nicht, als sein Blick sie längst losgelassen hat.

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ER begrüßt jetzt mit kaum merklichem Nicken den herbeieilenden Chef des Restaurants.
Schnell werden drei Tische zu einer Tafel zusammengeschoben, mit weißem Leinen bedeckt. Umständlich nehmen die neuen Gäste Platz. Eifrig flitzen die Kellner hin und her, wieseln um die Herrschaften herum.

Der Sizilianer, dessen bloßer Anblick Minous Gefühle so aus der Bahn geworfen hat, beschaut sich die Mädchen auf der Terrasse. Sie interessieren ihn. Junge Frauen interessieren ihn immer. Er ist ein südländischer Mann. Und, wenn die Situation es erlaubt, will auch er DAS EINE. Er weiß, er hat freie Auswahl. Zurückweisung erfährt er selten. Zeit hat er wenig.
"Der Conte hat bis jetzt noch jede Frau ins Bett bekommen, die er haben wollte", sagen sie in seiner Umgebung. "Sie fallen ihm zu, wie reife Früchte, die Damen der einheimischen Gesellschaft - mit Betonung auf ‚Gesellschaft‘- und die verrückten amerikanischen Ladies oben in Taormina."
Er hat diesen Ruf...
Ernando Sascala besitzt jenes ‚Etwas‘. Man weiß, er hat schon immer Verwüstungen angerichtet in weiblichen Herzen.
"Che uomo!", sagen seine Landsleute, "ein Verführer." Aber es heißt auch: "Er ist ein Mann von Ehre. Un vero Signore."
Die Menschen seiner Umgebung neiden dem Conte das ‚Glück in der Liebe‘ nicht. Meinen, dass es ihm zustehe. Einem wie ihm!
Frauen ... Er bekommt sie alle mit wenig Aufwand. Und die kleinen Touristinnen erst recht, die damals NICHT so leicht zu haben sind, wie die Herren der Schöpfung rund ums Mittelmeer gern glauben möchten und denen die meisten einheimischen Machos vergeblich nachschmachten. Die blutjungen Dinger aus dem Norden ... SEINER dunklen Anziehungskraft sind sie nicht gewachsen.
Dieser Mann lässt also die Augen neugierig über die Gesichter der frisch angekommenen Mädchen wandern. Zwei, drei wirklich hübsche kann er sogleich ausmachen.
Und aha ... da ist sie ja, die Kleine. Am Nachmittag war sie ihm schon aufgefallen, als sie im trägerlosen, knöchellangen Blumenkleid mit ihren Freundinnen am Meer entlang gelaufen war. Nur von rückwärts hatte er sie gesehen. Zum Zopf geflochten war ihr langes Haar, ihr Hals dünn, hochaufgeschossen der junge Körper, der kindliche Rücken noch winterweiß, die Hüften eng und sperrig. Diese schmalen Hüften! Es war immer die übertriebene Schlankheit, die solchen Mädchen etwas Reines, Unberührbares gab und ihn besonders anzog.

Jetzt sieht er ihr zum ersten Mal ins Gesicht ... sieht, dass sie ihn furchtsam anstarrt.
Er ist überrascht, denn ihr Gesicht hatte er sich anders vorgestellt: flach, süß, unbeschrieben. Das ist es nicht. Statt dessen Züge, die von durchlebter Leidenschaft zu sprechen scheinen. Das verwundert ihn. Schwarz ummalt hat sie ihre großen Augen, unter denen tiefe Schatten der Müdigkeit liegen. Wie eine Unschuld wirkt sie nicht. Auch nicht strahlend. Ihr dünner Körper ist zwar der einer Halbwüchsigen in der Schwebe zwischen Kind- und Frau-Sein, der Ausdruck ihres geschminkten Gesichts aber ist nicht mehr kindlich. Und sie ist ein nervöses, nicht sehr selbstbewusstes Ding. Das sieht er an ihren fahrigen Handbewegungen, an ihrem Blick, der unsicher aufgibt und den Seinen nicht zu erwidern vermag.

Es sitzen blühendere und schönere Mädchen hier auf der Terrasse. Aber seine Aufmerksamkeit schweift zu ihr zurück.
Die Kleine ist weiß geworden wie die Wand, als er sie jetzt mustert. Sie zieht die Schultern um ein Unmerkliches ein. Nur ihm sichtbar. Als wolle sie sagen: "Beschützen Sie mich, seien Sie freundlich!" Dann schaut sie starr vor sich auf den Tisch. Als wage sie nicht mehr, nach oben zu sehen.
Taktik, denkt er belustigt ... du spielst mir eine Schüchternheit und Bescheidenheit vor, die auch du nicht mehr hast, kleine Komödiantin.
*

Minou hat keine Ahnung von Männerspielereien, von Umwerbung ohne Liebe, und von den flüchtigen Begierden eines Schürzenjägers. Sie spürt seine Augen ... die brennen sich in ihr Herz. Sein Blick trifft sie ins Mark ... da ist er schon zu ihrem düsteren Abgott geworden. Sie bebt am ganzen Körper. Nicht sichtbar. Innen um so mehr.

Sie hört, wie der Sizilianer ein paar schnelle Worte – befehlend - zu dem Geschäftsführer sagt. Ungewöhnlich, fast heiser ist seine Stimme. Der Klang vibriert in Minous Inneren weiter. Auch, als der Mann längst aufgehört hat, zu reden.

*

Die italienischen Signori nehmen jetzt an der schnell hergerichteten Tafel Platz. Das Kellnerteam widmet sich nur noch ihnen. Die hungrigen jungen Touristen können lange warten. Sie sind vergessen. Edle Gerichte schleppt man in Eile zu der neu angekommenen Gesellschaft hinüber.
Der Küchenchef kommt hin- und wieder an den Tisch der illustren Gäste und entschuldigt sich mit unterwürfigen Worten für Mängel, die es wohl gar nicht gibt.
Der mit dem Echsenhaupt beruhigt ihn und würdigt beinahe jede neue Speise - kaum ist sie gebracht - auf seine Art, indem er die Spitzen von Zeige-, Mittelfinger und Daumen zusammendrückt, sie laut schmatzend küsst und diese Küsse mit weit ausholender Geste ihm, dem Bereiter der Köstlichkeiten quasi durch die Luft entgegenwirft: "Superb" ruft er, "superb ... è veramente meraviglioso ... Tonio."

Während der Mahlzeit haben die Herren am Tisch offensichtlich wichtige Dinge zu besprechen. Mit gedämpften, doch erregten Stimmen diskutieren sie unaufhörlich. Wobei es zwei gibt, deren Ansichten anscheinend hart aufeinanderprallen. Jeder scheint seinen Anhang unter den Begleitern zu haben. Der Fette, Krötenhäuptige mit der Zigarre, der anscheinend ‚Don Arione‘ heißt, und ER, Minous Mann aller Männer, den sie ‚Conte‘ nennen.
Die Herren lassen sich zum Essen nur mäßig Wein bringen. Später viel Espresso. Einer hat einen Aktenkoffer bei sich, macht Aufzeichnungen. Man breitet Papiere aus. Unterschriften werden geleistet.

Bald geht Don Arione mit einem Teil der Gesellschaft. Die verbliebenen Sizilianer legen ihr ernstes Benehmen schlagartig ab wie ein zu enges Jackett. Endlich bestellen sie Wein. Witzeln mit den Kellnern herum, während ihre Augen durch den Raum zu den Tischen wandern, wo noch einige junge Ausländerinnen mit ihren Kumpeln rauchend und plaudernd beisammen sitzen. Verfangen sich an Blondhaar. Busen. Beinen. Dort bleiben sie kleben.

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Minou am Nebentisch lässt ihn, den sie ‚Conte‘ nennen, nicht mehr aus den Augen, was nicht weiter auffällig ist, da der Herzjagen-Verursachende ihr mit dem Rücken zugewandt sitzt.

Als ER aber dann nach kurzer Zeit mit seinem Anhang das Lokal verlässt, ist es Minou, als habe die Nacht ihren Glanz verloren. Von dieser Minute an zählen die deutschen Gefährten für sie nicht mehr. Ebensowenig die Schweden, die Franzosen.

Über die Terrasse fegt der Wind. Löscht die Kerzen auf den Chiantiflaschen diesmal endgültig. Geruch nach Salzfluten, Muscheln, Algen. Der Wind kommt von Afrika her übers Meer und trägt in sich alle Wildheit und Verlockung unbekannter Welten, spürt Minou. AFRIKA liegt von der Südwestspitze Siziliens nur hundertfünfzig Kilometer entfernt", hat der Reiseleiter gesagt.

Draußen ist es jetzt dunkel.
Marlene, Klaus, Wolfgang und Minou wandern am Strand entlang. Das Wasser ist heller als der Himmel. Wellen rollen mit klatschendem, saugendem Geräusch auf den Sand. Jede Welle ist anders. Manche überschlagen sich schäumend, bedrohlich, sprühen Gischt weithin, wenn sie drüben über die Felsen stürzen. Wieder andere gleiten flach heran, verlaufen harmlos im Sand.
Es ist kühl geworden. Der Ozeanwind. Geruch nach Freiheit.

Das Meer ist das Herz der Welt und die Wellen sind ihr pulsierender, nie aufhörender Herzschlag. Nicht eine Minute wird er aussetzen bis ans Ende der Zeiten. Die Welt ist ein einziger Organismus, denkt Minou mit ihrem übererregten Hirn ... und was im Kleinen im menschlichen Körper geschieht, wiederholt sich hier in unendlicher Größe!

Faszinierend ist dieses Herannahen, dieses Zurückweichen der Wellen. Und sonderbar ... wie bei der Bahnfahrt heute morgen, als das Meer plötzlich leuchtend vor Minous Augen lag und ihr war, als habe sie es schon immer gekannt, so ist es ihr auch jetzt - während sie am Ufer entlang läuft - nicht fremd. Die unendliche Weite, das Wellentosen, dieses grandiose Schauspiel, es scheint ... vertraut.
Mit dem Mann, den sie ‚il Conte‘ nennen, ist es genau so, sie fühlt, als hätte sie auch ihn schon immer gekannt. Der Gedanke überflutet sie mit merkwürdigen Schauern.

Die vier jungen Leute sind endlich doch erschöpft. "Gehen wir schlafen!"

Aber im Bungalow kommt Minou nicht zur Ruhe. Christel auch nicht. Die beiden laufen noch einmal gemeinsam hinunter zum Meer. Barfuß, mit baumelnden Sandaletten in den Händen stapfen sie durch den noch warmen Sand. Und sie reden von IHM, der anscheinend nicht nur auf Minou einen tiefen Eindruck gemacht hat, dessen Persönlichkeit und Funktion ihnen aber unklar ist. Beide stellen fest, dass sie einen Mann wie ihn WAHNSINNIG lieben könnten. Beide fangen an, verlegen zu lachen. Sie schämen sich voreinander.
"Leider ist er ein Frauenverführer", sagt Christel mit all dem Ernst und der Erfahrung ihrer siebzehn Jahre und zieht ihre kleinen Brauen runzelnd hoch. Er hat mich eben mit seinen Blicken fast DURCHBOHRT..."

Da staunt Minou. War es ihr doch vorgekommen, als hätte er nur sie so angesehen.

Von der nahen Landzunge ragt il faro, der Leuchtturm, in den tintenblauen Himmel. Sein quittegelber Lichtkegel fällt weit hinaus aufs Meer. Wandert in einem großen Halbkreis über das Wasser. Immer hin und her, her und hin. Wie ein mächtiger Suchscheinwerfer.

Christel und Minou stapfen in den Wellen, die beim Zurückweichen ihre Füße immer mit ansaugen, so, als wollten sie sie ins Tiefe hineinziehen. Dagegen muss man sich stemmen. Ihre Röcke haben die Mädchen hochgerafft. Eine Woge schlägt ihnen plötzlich fast bis zur Brust. Übergießt sie mit schäumender Gischt. Sie kreischen. Ihre Höschen sind klitschenass vom Meerwasser.
Später im Bett reden sie noch eine Weile. Von all den neuen Eindrücken.

*




EIN BESONDERES MAHL

Der erste sonnengleißende Urlaubstag dehnt sich ins Unendliche. Die jungen Deutschen liegen von morgens bis abends am Strand. Lassen sich durchglühen von der aufputschenden Hitze, die aus Himmel und anthrazitfarbenem Sand in ihre Körper flutet. Sie genießen die Seeluft und das Meer, das hier um die Felsen tief ist, glasklar und grün wie Türkis. Man hört nur das rhythmisch klatschende Aufschlagen der Wellen.

Das Gelände von Mare Luce gehört allein den jungen Touristen. Durch einen zirka drei Meter hohen Maschendrahtzaun ist die gesamte Ferienanlage – das Campeggio - von den öffentlichen Stränden abgetrennt. Der Zaun reicht sogar zirka fünfzig Meter weit ins Meer hinaus. Damit sollen Unbefugte gehindert werden, über den Wasserweg auf dieses Territorium einzudringen.

*

Minou überwindet ihre Furcht vor der Tiefe und schwimmt mit den Mutigen zur Zattera, einem ziemlich weit vom Ufer entfernten, treibenden Floß jenseits der Brandung. Die Zattera ist auf dem Ozeangrund fest verankert, sonst wäre sie längst von der Strömung weggespült worden. Man legt sich auf die schaukelnden, hölzernen Bohlen. Zum Trocknen. Zum Bräunen. Zum Mit-einander-Reden. Zum Flirten.
Minou aber, gefangen in ihrem sehnsüchtigen Traum, kann nur an den EINEN denken: den ‚herrlichen‘ Mann, den sie gestern zum ersten Mal gesehen hat.

Über die kindischen Sprüche und Anmachversuche ihrer gleichaltrigen Kumpel kann sie sich nicht freuen. Aber, obwohl ihre Gedanken in anderen Gefilden - und so weiter - würde sie bestimmt enttäuscht sein, wenn man sie hier auf einmal nicht mehr beachtete.

*

Die Französinnen am Strand haben ihre Augenlider lila, gelb, knallgrün angepinselt. Das sieht stark aus! Sie haben kleine Farbkästen bei sich. Das gibt es zu Hause in Deutschland noch nicht. Schminke, die selbst im Meerwasser hält! Toll!
Doch auch die deutschen Mädchen sind keine grauen Mäuse. Selbst beim Strandspaziergang glänzen modebewusste Frauen wie Christel und Minou mit stilvollem Schuhwerk. Es sind das die berühmten Zoccoli, die kosten wenig am Kiosk von Mare Luce. Es sind robuste, fersenlose Pantoletten mit sehr hohen, dünnen Absätzen – ganz aus Holz - und nur mit ein oder zwei Lederstreifen über dem Rist, damit sie beim Laufen nicht von den Füßen fallen. Mittels dieser tollen Dinger wirkt ein Mädchenkörper in der Bewegung gleich doppelt so sexy ... Besonders am Badestrand und als Ergänzung zum Bikini sind sie sehr angebracht. Da sinkt man in Sandlöchern ein. Stolpert über Lavabrocken. Bricht sich fast den Hals ... Egal. Zoccoli mit ihren superhohen Absätzen lassen nämlich beim Herumstolzieren die Beine ein ganzes Stück länger wirken, als sie wirklich sind. So werden aus Teenagern im Badeanzug elegante, ätherische Wesen. Mit perfekten Körperproportionen! Nie kämen eitle Geschöpfe wie Christel oder Minou auf die Idee, im Bikini vor aller Augen BARFUß zu laufen. Sie wollen doch nicht aussehen wie kurzbeinige Zwerge!
Dagegen die schwedischen Girls! Die kommen sogar zu den Mahlzeiten in ausgelatschten Jesussandalen herbeigeschlurft. Mit klitschenassem Blondhaar und schlabbernden Trainingsklamotten. Das schmälert ihr Selbstbewusstsein aber nicht im Geringsten.
"Das sind alles Flittchen", meint Ute. "Die geben sich mit jedem ab ..."
"Einen Stolz haben die keinen!"
"Apropos Stolz... guck' dir doch die Helga an!"
Es ist wahr, ihre ureigene Landsmännin, die Helga Schmitz und ihr skandinavischer Belästiger von gestern – begrapscht hat er sie im Wasser, um es milde auszudrücken – sind bereits ein Herz und eine Seele. Er darf ihr sogar den Liegestuhl zum Strand tragen. Und den Rücken lässt sie sich von ihm einölen. Die Schamlose ... wer hätte das gedacht?
"Ist die noch zu retten??"
Abendessen am zweiten Urlaubstag. Spaghetti alle vongole. Anschließend ‚Blaue Nacht‘.
Im Anblick des leuchtenden Meeres tanzen sie zur Music-Box. Schmuseweichen Tango, oder Rock around-the-clock. Sie trinken roten Wein vom Etna und manche ein bisschen mehr als das erlaubte Achtelchen. Zum Teufel mit Herrn Kanutz, dem Reiseleiter, und seinen Vorschriften!

Beziehungen knüpft man quer durch die Nationen. Manche fangen sogar an, sich zu verlieben.

*

Als die Mädchen am nächsten Mittag zum Essen gehen, ist ER, der Herrliche, auf einmal auch da.
Auf ihrem Weg zur Speiseterrasse hört Minou schon von weitem seine unverwechselbare Stimme. Schnell will sie davonlaufen.
"Feigling", zischt Christel, "du kommst mit", und zieht sie am Arm weiter. Als sie IHN aber an ihrem Tisch sitzen sieht, inmitten der deutschen Kumpel, da wird Minou schlecht. Vor lauter Aufregung. Schwindlig. Eine Kreislaufmattigkeit. Sie reißt sich zusammen. Mit aller Kraft.

Herr Kanutz, der Reiseleiter, hat sich eben einen Stuhl herangezogen und unterhält sich jetzt auf italienisch mit dem Conte. Sie scheinen sich zu kennen.
Der Sizilianer bricht mitten im Satz ab, als die Mädchen zögernd zum Tisch kommen. Er steht auf, reicht Christel und Minou die Hand mit einer Selbstverständlichkeit, als habe er nur auf die beiden gewartet.
"Ernando Sascala", stellt er sich vor.
Minou kann keinen Ton sagen. Da fragt er sie lächelnd nach ihrem Namen. Auf französisch. Sie wird kreideweiß. "Hermine Kern!" stammelt sie. Ihr Gleichgewicht ist vollends dahin. Ihr schwankt der Boden unter den Füßen. Dennoch ... sie muss sich ja irgendwie an ihren Platz setzen.
Später auf ihrem Stuhl spürt Minou: ER blickt sie manchmal von der Seite her an. Sie fühlt seine Augen auf ihrer Haut. Doch vielleicht ist es Einbildung? Sie wagt nicht, zu ihm hin zu sehen.

Er spricht kein Wort Deutsch, die jungen Deutschen sprechen nicht SEINE Sprache. So verständigt man sich stockend, mehr schlecht als recht, mit ‚un peu de francais‘, das einige von ihnen in der Schule gelernt haben.
Ernando Sascala redet wenig. Und dominiert die kleine Gesellschaft. Trotz seiner Schweigsamkeit.

Er dominiert besonders Minous Gedanken. Alles an ihm ist ... Teja ähnlich. Und doch ... anders. Fremd. Er ist schon jetzt der dunkle Fürst ihrer Träume. Sie spürt heiße Wellen über ihre Haut rieseln, wenn seine Augen auf ihr ruhen, oder wenn sie glaubt, dass er sie ansieht. Einmal, als sie hochzublicken wagt, begegnet sie tatsächlich seinem ernsten Blick.

*

Der Conte möchte von den jungen Leuten wissen, was sie denn heute am liebsten zu Mittag essen würden.
"Spaghetti natürlich!"... Nein, ohne Quatsch ... sie wären so ziemlich mit allem zufrieden. Wissen auch nicht, was sie großartig antworten sollen. Da lässt er den Küchenchef rufen. Unterhält sich mit ihm. Knapp. Präzise. Bald wuseln die Kellner mit aufgeregt roten Köpfen um ihren Tisch herum, als wären im ganzen Restaurant keine anderen Gäste zu bedienen.

Der rätselhafte Sizilianer scheint heute die sechs jungen Deutschen an diesem Tisch froh machen zu wollen. Denn für sie allein wird jetzt Besonderes aufgetragen: Eine riesige Silberplatte mit Vorspeisen: rosigen Shrimps, Sardellen, Geflügelfleisch, gefüllten Oliven, Baby-Maiskolben, Baby-Zwiebeln und Salaten aller Art, von Artischocken, Avocado, Bohnen, Tomaten bis Paprika und und ...
Antipasti sind das, ein Begriff, den damals kein Deutscher kennt. Dazu gibt es frisches, noch warmes Weißbrot und Butter, die nach Knoblauch schmeckt. Köstlich all das.

Dann der nächste Gang: roher, rosa Schinken in dünne Scheiben geschnitten, die weich und würzig auf der Zunge zergehen und dazu eisgekühlte Melonen-Schnitzen.
Komisch ... Räucherschinken UND zuckersüße Melone, wie passt das zusammen? Schmeckt aber ... delikat.

Aha, Sascala will wieder einmal punkten - sagt sich Kanutz – was legt er hier nur für einen Aktivismus an den Tag? Als ob es sich um weiß Gott was für eine bedeutende Sache handele und nicht um ein simples Mittagessen für ein paar Heranwachsende. Eines nimmt er dem Conte jedoch ab: dass es ihm Spaß macht, den jungen Leuten die sizilianische Küche vorzuführen und kulinarische Abwechslung ins Mahlzeiten-Einerlei zu bringen.

Der Chefkoch steht schon wieder am Tisch und harrt auf die Befehle, die der Conte für die Fortgestaltung des Mahles gibt.
Nach einiger Zeit wird eine herrlich duftende Fleischspeise gebracht. Es ist ein riesiger Rollbraten.
"Farsumagru", erklärt Kanutz, "das heißt auf deutsch, ‚der falsche Magere‘. Den Inhalt von scharf gewürzten Schweinsbratwürsten drückt man aus der Pelle in eine Schüssel. Dazu Rinderhackfleisch, Zwiebeln, duftende Mittelmeerkräuter, Petersilie. Alles wird in Olivenöl angebraten, dann langsam gegart und ergibt die Füllung. Danach rollt man diese Füllung in einen großen, dünn geschnittenen, rohen Rindfleischwickel ein, tut Würfel aus Schafskäse und ganze, hartgekochte Eier mit hinein. Nun wird der Fleischwickel mit Garn zugebunden, die entstandene Riesenroulade mit der schon gegarten Füllung kommt wieder in die Pfanne und wird noch einmal gebraten." Eine sizilianische Spezialität.
Dazu gibt es kräftige, würzige Sauce mit viel Knoblauch, Tomaten, Paprika. Und Mini-Kartoffeln.
Schmeckt toll.

Ein Gedeck, das man rasch für den Conte aufgelegt hat, schiebt er zur Seite. Nein, er wird nichts essen. Er ist in Eile ...
Während die jungen Leute kräftig zulangen, erteilt er dem noch immer herumstehenden, weiß bemützten Meister der Töpfe und Tiegel einen neuen, geheimnisvollen Befehl.

Als nächstes serviert Giovanni den sechsen dann eine überdimensionale Platte mit herrlichen gedünsteten Fischspezialitäten, garniert mit Kräutern, Zitronen-, Zwiebel- und weißen Calamari-Ringen. In der Mitte thront zur Krönung ein Hummer. Leuchtend rot. Oder eine Languste? Ist auch egal. Dass es besondere Sachen sind, sieht und schmeckt man ...

Die anderen Jugendlichen starren inzwischen von allen Seiten herüber.
Was ist denn da los? Während sie ihre Spaghetti mit Tomatensoße stoisch in sich hineinstopfen, scheint am Nachbartisch der kulinarische Luxus ausgebrochen zu sein.
"Kann man das bestellen?"
"Nein!"
Staunend erleben sie mit, wie immer neue Köstlichkeiten zu den plötzlich Privilegierten hingeschleppt werden.

*

Minou kennt ‚frutti di mare‘ überhaupt nicht, hat so etwas noch nie gesehen.
Sie ist jedoch viel zu aufgeregt, um die Herrlichkeiten richtig zu genießen, weil ER ja ... ach, seine Nähe erfordert all ihre Kraft. Sie kann den zweifellos fantastischen Geschmack der Speisen nicht wirklich würdigen.
SEINE Anwesenheit ... o Gott, die Aufregung nimmt ihr fast den Atem! Irreal ist das ... Dieser Mann hat ihr gesamtes Denken besetzt! Alles übrige gleitet an ihr vorbei.
Sie spürt es sofort, wenn er sie ansieht. Obwohl sie gar nicht zu ihm hinzuschauen wagt. Er spricht ab und zu mit ihr. Wenige Worte. Ob ihr dies oder jenes schmecke, will er lässig wissen. Sie wird blass, dann rot, dann blass.
Als man zum Abschluss ‚i gelati‘ bringt - eine Eisbombe, ein Gebilde von Größe und Aussehen einer Riesentorte - ist er schon gegangen. Furchtbar schade.
Es ist kein GEWÖHNLICHES Speiseeis, denkt Minou. Da sind alle süßen Aromen des Südens vereint. Es enthält frische Pfirsich-, Erdbeer-, Birnen-, Orangenstückchen. Und gelierte Früchte. Und Marzipan, Schoko, Karamell. Alles in bunten Lagen, Schicht auf Schicht übereinander getürmt wie bei einer Biskuit-Torte. Nuss- Mandel, Pistaziensplitter oben drauf. Ein Kunstwerk. Eine Cassata Siciliana.

Die Clique findet, dass es unfair wäre, diese Köstlichkeit allein aufzuessen. Einen Teil von Fleisch und Fisch hat man schon an die Nachbartische weiter verteilt. Auch von der Eisbombe bekommen die Umsitzenden nun Stücke auf die gierig herüber gehaltenen Teller. Solange der Vorrat reicht.
Zum Schluss werden die Sechs – und nur sie, wie merkwürdig - von den Kellnern noch kostenlos mit Espresso verwöhnt.

Nach der üppigen Mahlzeit, als Christel und Minou ihren Bungalow betreten, schwebt ihnen Blütenduft entgegen. Duft von Rosen. Das kann nicht sein! Ist es aber doch. Ein riesengroßer Strauß steht in einem Tonkrug auf dem Regal. Weiße und rosa Rosen! Pastellzarte Schönheit in diesem kargen Raum. Daneben ein Korb mit Süßigkeiten und Gebäck. In knisterndem Zellophan einzeln verpackt Nougat, kandierte Früchte, Marzipan, Pralinen, Schoko. Die Mädchen sind vor Staunen starr ... ein Geschenkkorb, den man so nur im Schaufenster von teuren Konditoreien sieht. Das ist ja abenteuerlich! Wie Hollywood.
"Das kann nur eine noble Geste der Direktion für Neuankömmlinge sein!" Christel läuft gleich zu Marlene und Helga, um zu sehen, ob die auch ... Nein, sie haben NICHTS ... Und das sizilianische Zimmermädchen, das am anderen Morgen die Betten macht, tut, als Minou es fragt, unwissend ... lächelt aber.

*




WASSERWELT

Am nächsten Tag, nach dem Mittagessen kommt der Conte in Begleitung von zwei Freunden auf einem großen Motorboot zur Marina. Ein strahlend weißes Boot. Das ist für die Begriffe der Deutschen unglaublich luxuriös. Eine Jacht!!

Da rennen sie alle hin. Quetschen und drängeln sich vor. Viele von den bittenden, bettelnden, nur mit Badezeug bekleideten Jungen und Mädchen nimmt Ernando Sascala auf. Am Ende sind fast zwanzig Leute im Boot.
Minou hat mit den Ellenbogen gekämpft, sich nach vorn gearbeitet .
Und ER will sie ja mit dabei haben! Zumindest kommt ihr das so vor, denn ... er lächelt in ihr Gesicht hinein, fasst ihre Hand – das tut er übrigens bei allen - hilft ihr über den kurzen, schwankenden Steg herüber.

Christel ist in diesem Augenblick nicht am Strand. Minou fragt den Sizilianer, ob sie schnell ins Bungalow laufen und die Freundin holen solle, die sicher furchtbar gern auch ... Er hört nicht recht zu, ist gerade mit den anderen beschäftigt. Nun wird Christel den Ausflug verpassen!

Der Conte und seine beiden Freunde sind, im Gegensatz zu ihren Gästen, korrekt angezogen. Sportlich bekleidet.

Aufbrüllt der Motor. Das Boot stiebt davon. So schnell, dass die jungen Leute vor Überraschung schreien.
An den zerklüfteten Steinklippen von Brucoli fliegen sie vorbei, der schwarzen, aus dem Basalt des Etna entstandenen Felsenküste, bizarr und wild. Fast ohne Pflanzenwuchs.
Die Geschwindigkeit! Der Wind im Haar!
Später zieht in der Ferne die Häusersilhouette der Großstadt Catania auf. Verschwommen im Dunst. Kilometerlange, gleichförmige Sandpisten bilden jetzt das Ufer. Ernando hält sich fern davon. Hier ist der Strand ziemlich unspektakulär.
.
Ein Stück hinter Catania eröffnet sich ihnen aber dann die wahre Schönheit des Küstensaumes.
Sie rasen dahin, vorbei an Acitrezza. Dem uralten Fischerdorf. Matt-pastellfarben die Häuser, teils verwittert, unzugänglich, bilden sie ein Bollwerk zur See hin. Die Häuser haben mehrere Stockwerke. Verzierte gelbliche Steinfassaden. Der Putz bröckelt. An den Fenstern sind die Rollläden aus Holz heruntergelassen. Das alte Acitrezza besitzt auch eine Art Hafen voller abgenutzter Barken, deren Farbanstrich nur noch zu ahnen ist. Die Fischerflotte? Hier scheinen die einheimischen Kähne unter sich zu sein. Eine malerische, unaufgeräumte kleine Marina, in die sich bisher kein neues, weißes Boot verirrt hat. Dieser Strand ist menschenleer. Verlassen. Hoch auf einem klippenartigen Hügel dräut ein trutziges, finsteres Kastell. Aci Castello. Zitrusgärten, Orangenhaine ziehen sich die Höhen hinauf zur Burg.

Bei Acireale kreuzen sie jetzt zwischen den ‚ciclopi‘. Jenen schwarzen, kahlen Basaltklippen, die als Sensation aus dem Meer ragen. Ernandos Boot mit den jungen Leuten gleitet leicht übers Wasser. Der Himmel ist von tiefstem Blau. Es gibt hier kaum Wellen, die Oberfläche der See kräuselt sich nur wenig. Heiß ist der Wind, liebkost ihre Gesichter.

"Hier kann man gut schwimmen und tauchen", sagt der Conte. Er drosselt den Motor.
"Später", rufen die jungen Leute, "später!" Sie wollen vorwärts. Geschwindigkeit spüren. Weite. Ferne ...
Da sausen sie wieder los. Oft ist es, als berühre das große motoscafo die Wasseroberfläche kaum. Minou hat die Angst vor der Tiefe überwunden. Jetzt kann sie das schwerelose Dahinfliegen richtig genießen..

Sie rasen nun ziemlich nah an der Küste vorbei. Der Anblick ist immer anders. Nun sind es breite, beige-gelbe Strände mit den bunten Sprenkeln der Sonnenschirme ... und auf farbig ausgebreiteten Liegen ganz winzig ... Menschlein.

Gewimmel an den vereinzelten, belebteren Playas. Manchmal ist das Meer schwarz von Badenden. Aber nur das Streifchen nah am Ufer. Wenn man es vom Motorboot aus sieht, muss man lachen, so nah am Land kleben die Schwimmer, während man selbst auf offener, weiter See dahin stürmt und alles wie in einem Film vorbei fliegt.

Menschenwimmelnde Sandstreifen wechseln ab mit einsamen Urwelt-Schotterstränden, wo seit Jahrhunderten niemand mehr lagert. Und mit wilden, klippigen Küsten aus Lavagestein.

An anderen Stellen haben Anwohner Stufen in den Fels gehauen. Abenteuerliche Gehplanken führen hinunter zum Meer. In einer Art Hühnerleitersystem. Auf schwarzen Klippen kleben morsche Geländer und wackelig aussehende, komisch konstruierte Stege. Die führen aus der Höhe zu winzigen Buchten. Wo der Liegeplatz zwischen Steinquadern gerade groß genug ist, ein Handtuch zu breiten, oder zwei. Geheime Badeplätze sind das, nur für Eingeweihte zugänglich. Aber gerade dort ist das Wasser am reinsten. Am tiefsten. Unendlich klar und grün.

Dann wieder Fischeransiedlungen am Strand. Gewusel von Barken in kleinen Buchten. Die Barken sind wohl hundert Jahre alt. Verwittert. Farbreste, blau, gelb auf grauem Holz. Zum Malen schön.

Woanders wieder wohnen womöglich die Reichen. Da wachsen subtropische Gärten bis zum Ozean hin. In sattem Grün. In üppigen Parks taucht ab und zu eine Villa auf, ein Schloss in der Pracht haushoher blühender Kletterpflanzen. Vanillegelb, rosa oder weiß wie Zucker sind die halb versteckten Mauern.
All diese Schönheit reiht sich ein, Perle für Perle, in die kostbare Kette, die der Meeressaum hier bildet ... an der östlichen Küste Siziliens.

Da erscheint in der Ferne auf einer Felsenzunge SIE, die Königin aller sizilianischen Städte. Taormina. Herrlich. Hoch über der See gelegen. Die Vieltausendjährige. Die von Dichtern seit altersher Besungene. Häuser und uralte Paläste ziehen sich die grünen Hügel hinauf. In Pflanzendickicht, in üppige Gärten eingebettet edle Pensionen, Luxus-Hotels im Stil des neunzehnten Jahrhunderts. Das Weiß der Gebäude, die satte Blütenpracht! Oben auf dem Berg die eigentliche, die antike Stadt.. Getaucht in vormittägliches Sommerlicht. Ein mystischer Anblick. Von hier unten, vom Meer aus, gleißt Taormina wie eine Fata Morgana. Zu schön, um Realität zu sein. Und hinter der Silhouette der Stadt erhebt sich in seiner ganzen Majestät der Etna. Mit Schnee bedeckt noch jetzt im Juni sein langgezogener Gipfel. Pur steht er, in einsamer Schönheit. Unberührt. Der große, gefährliche Berg. Zum Greifen nah. Und doch fern.

Schreiend machen sich die jungen Leute gegenseitig auf die Landschaft aufmerksam. Man muss schreien, um das Geräusch des Motors und des Fahrtwindes zu übertönen.

Später auf dem Rückweg stoppt Ernando das Boot draußen im Meer, dort wo er vorher schon angehalten hatte, bei den kahlen Felsen der Ciclopi. Acitrezza, die kleine Stadt, kann man von hier, vom Ozean, vom Fuß der aus dem Wasser ragenden Klippen, nicht sehen. Von Acitrezza aus sieht man aber sehr wohl i Ciclopi. Es ist ein berühmtes Postkartenmotiv, das man überall zu kaufen kriegt: ‚Acitrezza e i ciclopi.‘

Die Formationen mitten im Meer sind ziemlich steil nach oben zulaufende nackte, schwarze Felsen von bis zu 70 Metern Höhe, die - wie die Sage erzählt - der Riese Polyphem dem Odysseus und seinen Seefahrern einst hinterher geworfen hat. Die Hellenen waren zuvor, festgeklammert unter den Bäuchen einer Schafherde, aus jener dumpfen, unterirdischen Höhle entflohen, in die dieser Unhold sie gestopft hatte, praktisch als Frischfleisch, um sie, einen nach dem anderen bei Bedarf aufzufressen. Sie hatten ihm jedoch im Schlaf das einzige Auge ausgestochen, das er besaß. Deshalb konnten sie nun auch, versteckt unter den Zottelfellen der Tiere, entkommen. Welcher Riese wäre da NICHT ausgeflippt? Aus Wut über seine Blindheit und in teuflischem Schmerz wuchtete ihnen Polyphem also diese Felsen in die Quere, als die Griechlein gerade mit Mühe ihr Schiff erreicht hatten. Die Brocken verfehlten die Helden und ihr Segelgefährt nur um Haaresbreite, erzählt Homer.

In Wirklichkeit aber ist ein anderer Riese für die Felsenklippen von Acitrezza verantwortlich: Etna, der mächtige Vulkan. Er schleuderte hier in sagenhafter Zeit seine Lava ins Meer.

Dass Odysseus sich mit seinen Freunden in dieser Gegend aufhielt, scheint aber plausibel. Sizilien war den Griechen, die sich im ganzen Mittelmeer herumtrieben, schon früh vertraut. Und es wurde ihre Lieblingskolonie. Überall auf der Insel sind die Spuren von ihrem Denken und Tun erhalten geblieben. Reste ihrer Städte, Ruinen ihrer Tempel, die Marken ihres Daseins und ... die Mythen. So steht es im Reiseführer. Auch die 'ciclopi‘ sind darin beschrieben.
Diese Felsen sind eine Biosphäre für sich. Dort im Ozean haben Untersee-Riffe zusammen mit den aus dem Wasser ragenden, sonnenheißen Basaltklippen eine eigene Lebenswelt geschaffen. Nicht groß genug, dass ein Mensch da länger bleiben könnte, aber ein Paradies für Insekten, Echsen und Amphibienwesen.
Der Conte stoppt das Fahrzeug an diesem magischen Ort, mitten zwischen den Felsen im offenen Meer, das an dieser Stelle still ist wie ein verzauberter, türkisfarbener Teich.

Bald springen die mutigeren der Gäste kopfüber von Deck ins kristallklare Wasser. Doch mit Ernando Sascalas striktem Befehl, stets in Rufnähe des Bootes zu bleiben! Die Feigeren hangeln sich an einer Strickleiter hinab. Vorsichtig. Grässlich linkisch tun es Marlene und Minou. Der Conte selbst bleibt zurück.

Minou blickt durch die Scheibe der Taucherbrille – ihr freundlicher Gastgeber hat eine Anzahl davon an die jungen Leute verteilt – und sie kann bis auf den Meeresgrund hinunter sehen, während sie, das Gesicht auf die Wasseroberfläche gepresst, ihre ruhigen, gemütlichen Schwimmkreise zieht. Ein Stückchen hinab zu tauchen, wie es manche andere bald lässig mit Hilfe der Schnorchel-Vorrichtung tun, wagt sie allerdings nicht.

Aber sie sieht auch so alles in unglaublicher Schärfe. Da unten ist ein Paradies. Da unten ist es HEITER. Farbenfroh. Ja, es leuchtet geradezu vom Meeresboden her. Weil die Sonne das Wasser durchstrahlt. So viel Schönheit!
Wo kommen all die bunten, quirligen Fische her?

Vermutet hat Minou immer, dass in den Ozeanen Düsternis herrsche. Undurchsichtigkeit. Kalte Öde. Leere. Sie hatte alles für farblos gehalten, was in den Meeren sich verbarg. Quallige Wesen - hatte sie gedacht - fristeten dort grau und schleimig ihre Existenz ...

Doch jetzt sieht sie mit Staunen: da unten herrscht pralles Leben. In all seinen glühenden Farben.

Es sind Hunderte von Fischen. Tausende. Bunt schillernd. Viele ziemlich klein. Immer nach Arten gesondert. Die Wege der verschiedenen Schwärme kreuzen sich ab und zu. Dann gibt es ein wimmelndes Durcheinander. Aber nur kurz. Im nächsten Augenblick ist jede Spezies wieder für sich. Manchmal schwimmt eine ganze Schule neugierig auf Minou zu. Kommt nah an sie heran. Kurz vor dem Zusammenstoß mit dem Menschenkörper dreht die wilde Jagd plötzlich um. Wie elektrisiert. Stiebt unglaublich geordnet in eine andere Richtung davon. Pfeilschnell.

Berge und Höhlen gibt es unter Wasser.

Ebenso wild zerklüftet ist die Landschaft hier wie über der Erde, denkt Minou, voller Spalten, Täler, Hänge, Schluchten. Die fallen hunderte von Metern ab. Steil, tief. Wildromantisch. Während an anderen Stellen der Meeresgrund fast greifbar nah unter ihr liegt.

Sie wird nicht müde, das wimmelnde Treiben der Fischschwärme da unten zu betrachten. So ein unsagbarer Reichtum an Formen, Farben, an raschem, rasendem Leben! Das Dasein dieser Geschöpfe scheint voller Fröhlichkeit in den sonnendurchfluteten Gewässern. Minou wird immer ruhiger. Auch das Fehlen jeglicher Geräusche trägt zu dieser Verzauberung bei.

Von der Wasseroberfläche auf den Grund zu schauen, ist schön genug, auch wenn man nicht tauchen kann. Am Meeresboden breitet sich hier auf einmal Grünes. Niedrig wie Moos oder Flechten. Aber es gibt doch kein Moos dort unten? Was ist das? Seegras? An einer anderen Stelle ragt ein niedriger Wald aus Korallenstöcken, tausendarmigen, verästelten ... rot, rosa, bräunlich. Minou hat in der Kindheit ein Armband aus geschliffenen Korallenperlchen besessen ... so wachsen die also ... wie Gebüsch vom Boden hoch! Schön wäre es, wenn sie hinunter tauchen könnte – es sind nur zwei oder drei Meter - um ein paar mitzunehmen! Kriegt sie aber nicht hin!
Auch riesige, schwarze, basaltene Zacken gibt es hier, die hängen von den Unterwasserfelsen herunter ähnlich wie Stalagtiten in einer Tropfsteinhöhle. Reste vom Magma des Etna.

An anderen Stellen wiederum liegen am Grund weiß schimmernde Kieselsteine. Tonnen davon. Vom Vulkan können DIE nicht stammen. Wie kommen sie dorthin? Sie funkeln im Licht. Minou sieht auch Kolonien von Seeigeln angesaugt an die gleißenden Kiesel. Und schöne große Muscheln. Am Lustigsten aber sind die raschen Schwärme knallbunter Fische ...
Manchmal schwimmt sie auch über tiefe Klüfte. Da scheint der Boden hundert Meter unter ihr zu sein.
Minou denkt: Wie schön wäre es, sich da an der abstürzenden Wand bis hinunter fallen zu lassen. Wenn man ein Tauchgerät hätte. Man könnte sich einfach vom Rand dieses Felsens abstoßen. Und bis zum Meeresgrund fallen.
Na ja, sie würde so etwas nie wagen. Auch nicht mit einer luftgefüllten Flasche auf dem Rücken! Sie würde nämlich bestimmt alles falsch machen, einen Fehler nach dem anderen ... bis hin zum Ersaufen. Doch die meisten Leute würden das schaffen. Zum Fuß der Schlucht dort drüben könnte man sich hinunter trudeln lassen. Das Atemberaubende: trotz der tiefen, jähen Gründe ... hier würde man nicht abstürzen, nur traumhaft sanft hinab gleiten. Oder man könnte sich entlang hangeln von einem Felsvorsprung zum anderen.
Man würde sich niemals weh tun, denkt sie. Es müsste auch fantastisch sein, auf dem Grund der Ozeane zu wandern. Wochenlang. Von Kontinent zu Kontinent. Oder mit irgendwelchen Untersee-Geländewagen würde man dahinzockeln. Erst muss natürlich die Sache mit der Luftzufuhr geklärt sein. Ja, genug Sauerstoff müsste man schon mitnehmen. Ausdauernde Leute könnten dann von hier aus in Etappen durchs Meer marschieren. Zum Beispiel bis nach Afrika.

Minou ist euphorisch. Hin- und her gerissen von der Welt hier unten und dem Wunsch, jetzt auf dem Schiff bei Ernando zu sein.
Sie möchte ihm alles erzählen. Denn die Eindrücke sind mächtig. Frisch. Sie ist überwältigt. Sehnt sich, IHM davon zu berichten, schwimmt zum Boot, will ihm zurufen, dass sie gerade eine neue Dimension entdeckt hat, außerhalb von allem, was Fantasie sich ausmalen kann ... eine Realität, die sie nie für möglich gehalten hat. Ach, sie möchte Ernando alles sagen, was sie spürt. Er ist doch der Veranlasser dieses Glücksgefühls.

Außen an der Schiffswand hält sie sich an der Strickleiter fest. Berstend vor Mitteilungsbedürfnis, hebt sie ihr rattennasses Köpfchen mit den angeklebten Haaren aus dem Wasser... da erst merkt sie ... er ist in größerer Gesellschaft. Einige Schwedinnen haben ihn mit Beschlag belegt.

"C'est fantastique dans la mer", tönt Minou an der Strickleiter hängend in ihrem tollen Französisch. Man lacht, man winkt herunter. Ernando legt die Hand ans Ohr. Ruft ihr etwas zu, was sie nicht versteht.

"Je continue nager", schreit sie ... und will sagen, dass sie noch eine Weile weiterschwimmen wird. Stößt sich schwungvoll an der Bordwand ab. Diesmal Kopf voran. Um ihm zu zeigen, dass auch sie tauchen kann. Es geht gründlich daneben. Ja, sie schafft es kaum, überhaupt wieder mit dem Gesicht über Wasser zu kommen. Als sie endlich panisch strampelnd auftaucht, ringt sie nach Luft, ist dem Erstickungstod nah ... haha ... Ernando und die anderen da oben, kapieren nicht die Not, in der sie schwebt. Ernando lacht fröhlich von Deck herunter. Sie hustet noch eine Weile, hängt japsend an der Strickleiter. Schwimmt dann schnell davon ... Schämt sich.

Später ertönt auf einmal Rufen übers Wasser. Ein paar der Gefährten sind jetzt in ihrer Nähe.

"Hilfe, da hinten ist eine Flosse", brüllt Horst.
Minou spürt, wie sie starr wird.
"Haie, Haie!" hört sie Marlene kreischen.
"JA, dort ... "
"Du spinnst ... Blödmann. Das ist kein Hai!"
"Ein Killerdelphin!!"
"Idiot."
"Hihi, ich wollte euch nur ein bisschen Angst ..."

Minou hält sich lieber etwas abseits von den anderen. Denn das heutige Erlebnis ist zu kostbar, um es zu zerreden. Zu zerschreien. Sie will möglichst viel in sich aufnehmen von all dem Schönen hier unten und die Zeit nicht durch kindisches Getue verplempern.

Lang lässt der Conte die jungen Leute ihren Tauchausflug genießen. Minou entdeckt heute eine neue Welt. Hier bei den Ciclopi leuchtet ihr die Buntheit des subtropischen Meeres.

Sie wird sich später immer daran zurückerinnern. Wenn sie auf einem Passagierschiff fahren wird. Wenn ihr von hoch oben, von Deck, der Ozean leer, öd und drohend vorkommt. Sie wird wissen: in Wirklichkeit herrscht dort unten pralles Leben.

Pete und John, junge Engländer mit Schnorchelgeräten, die auch zu Ernandos Bootsgästen gehören, tummeln sich jetzt in der Nähe. Tauchen ziemlich tief hinunter. Minou beobachtet sie durch ihre Brille. Sie pflücken sich an einer Wand Seeigel ab. Lassen sie dann in die Tiefe sacken. Oder sie hechten Fischen nach. Gleiten schwerelos durchs Wasser.

Da kommen sie plötzlich. Sie spürt noch, wie Pete sie auf einmal von unten her bei den Füßen zieht. Für ihn ist es bestimmt ein kleiner Spaß. Für sie nicht. Er zieht sie mit dem Kopf unter Wasser. Minou packt die Panik. Sie schlägt wild um sich.
Als Pete gerade noch rechtzeitig loslässt, ist sie mehr tot als lebendig. Ringt erbärmlich nach Luft ... Der Schock. Sie wird schier ohnmächtig. Jäh ist ihr Glücksgefühl weg. Sie schwimmt zum Boot zurück. Bebend. Kraftlos plötzlich.
Ernando hilft der noch immer Japsenden an Bord. Gießt ihr unten in der Kabine Sprudel in einen Becher. Sie hat Tränen in den Augen vom Husten. Aber es geht wieder. Ernando fasst ihre Hand ... für einen Augenblick. Oder träumt sie das?

Am Abend, als sie in Mare Luce ankommen, setzt der Sizilianer sie allesamt bei der Mole ab. Er lächelt. Er lächelt auch Minou warm an zum Abschied.
Da werden ihr schon wieder die Knie weich.

Aufgeregt erzählen die jungen Leute beim Nachtmahl von dem herrlichen Ausflug. Der Traumküste. Vom Schnorcheln. Und was sie alles an Wunderbarem gesehen haben.
Minou ist aufgewühlt wie noch nie, denn Ernando hat in der Kabine ihre Schulter gestreichelt.

*




TAORMINA NACHT


Am nächsten Mittag kommt der Conte zum Tisch der sechs Deutschen und fragt, ob sie Lust hätten, einen Ausflug nach Taormina zu machen. Gegen drei Uhr nachmittags würde man im Auto losfahren.
Die Idee löst Jubelschreie aus.
Sie müssen allerdings erst beim Reiseleiter die Erlaubnis einholen.
Der knurrt sein harsches: "Nein."
Doch seine Schützlinge hören mit Bitten und Betteln nicht auf. Nach langem Herumreden und Diskutieren ist ihr gestrenger Tugendwächter überstimmt, genervt, mit seinem Latein am Ende.

Kanutz kennt den Conte seit zwei Jahren und mag ihn halbwegs gern, diesen Schürzenjäger, obwohl er sein Treiben missbilligt. Kanutz, mit strengen Moralvorstellungen aufgewachsen, verheiratet, teutonischer Familienvater mittleren Alters, Angestellter eines aufstrebenden Reiseunternehmens, zu dessen Seriosität auch er sein Teil beizutragen hofft, nimmt die zwischenmenschlichen Betätigungen Sascalas nur zähneknirschend zur Kenntnis. Und diese rückgratlose Meute, diese Sizilianer hier im Campeggio, die nichts, was der Mann tut, in Frage stellen, sondern noch vor ihm buckeln, beleidigen sein Empfinden. Seitdem er, Kanutz, mit den Reisegruppen nach Mare Luce kommt, hat er schon einige Nervenzusammenbrüche närrischer Touristinnen miterlebt, an denen der saubere Sascala keineswegs unschuldig war.

Aber da es ja heute eine ganze Gruppe ist, die sich der unternehmungslustige Typ einlädt, lässt der Reiseleiter seiner Menschlichkeit wieder einmal die Zügel schießen. Die Jugendlichen sind so sehr auf diesen Ausflug erpicht und vor Freude so aus dem Häuschen, dass er ihnen den Trip nicht verbieten mag. Sie kriegen hier im Campeggio ohnehin zu wenig von Landschaft und Leuten zu sehen, denkt er. Deshalb gibt er ihnen dann tatsächlich grünes Licht.
"Passt gut auf die Mädchen auf", schärft er den drei Jungen noch ein, "Punkt Mitternacht seid ihr alle wieder hier und keine Minute später!"
Die Fahrt hin und zurück nehme viel Zeit in Anspruch, sagt der Conte ... ein bisschen großzügiger dürfe er, Signore Cerberus, schon mit seinen ‚bambini‘ sein.
Man einigt sich also auf ein Uhr in der Nacht. Die deutschen Jungen stimmen vor Freude ein Indianergeheul an!

*

Um drei Uhr nachmittags geht es los. Der Conte hat Begleiter mitgebracht: Ciccio, einen ziemlich hübschen, zwanzigjährigen Burschen. Signor Asti, elegant, klein, feingliedrig, ungefähr fünfzig Jahre alt - im weißen Maßanzug. Und Gaetano, den Sascala als seinen Cousin vorstellt. Gaetano ist um die dreißig, auch dunkel, schlank, groß. Er könnte in Wuchs, Haut-, Haarfarbe, in der Schwärze der Augen Ernandos jüngerer Bruder sein, doch springt einen aus seinen Zügen ständig ein ziemlich unangenehmes Grinsen an. Und wenn er spricht, mimt er den Überlegenen, der sich über alles lustig macht. Gaetano scheint niemanden ernst zu nehmen.

Die beiden Autos, mit denen Ernando Sascala und seine Leute soeben vorfahren, sind keine Mittelklassewagen.
Christel und Minou steigen in diejenige der weißen Limousinen, die von Ciccio chauffiert wird. Dann kommt noch Klaus zu ihnen auf den breiten Rücksitz. Vorne neben Ciccio hat sich der merkwürdige Gaetano niedergelassen.

Schade ... Minou hätte soo gern bei Ernando gesessen, aber Marlene ist ihr zuvorgekommen. Neben dem Conte auf dem Beifahrersitz hat sie sich rasch eingenistet und macht ihn durch ständiges Betasten ihrer Frisur und Schütteln des Kopfes auf ihre leuchtende Blondmähne aufmerksam.
Im Fond von Ernandos Wagen sitzen Wolfgang, Helmut, Signor Asti.

Die Autos sind Luxus pur ... geräumig, weich gefedert. Herrlich bequem. Neu. Minou saugt den Duft der feinen Ledersitze ein.
Keiner von den jungen Deutschen hat je in einer auch nur annähernd so tollen Karosse gesessen.

Während der Fahrt brilliert der pfiffige Gaetano. Ernandos Cousin - lui parla tedesco - dreht sich dann und wann um, wendet den jungen Leuten sein grinsendes Gesicht zu, erklärt, gewollt übertrieben irgendwelche Merk- und Sehenswürdigkeiten, an denen man gerade vorbeikommt, in derart gestelzt klingendem Deutsch, dass alle lauthals lachen. Wobei Minou keinen umwerfenden Humor in Gaetanos Bemerkungen ausmachen kann. Aber auch sie lacht kräftig mit.

Es ist natürlich einer dieser lichtgelben, azurblauen Bilderbuch-Sommertage. Die jungen Reisegäste bestaunen Meer und Landschaft, die tatsächlich von wunderbarer Schönheit sind. Später bummeln sie durch das etwas düster wirkende Catania. Bis sie in die schönen Straßen kommen, zu den eleganten Boutiquen mit ihren strahlenden Glasfronten. So viel Glanz hat Minou noch nicht gesehen. Hier regiert Optimismus, Leichtigkeit. Das ist Leben, Menschengewimmel, wogendes südliches Treiben. Und wahrer Chic. Die Leute auf den Straßen sind eleganter als zu Hause in Brückenstadt, denkt sie. Und überall textile Kostbarkeiten in den Auslagen, Alta-Moda‘.

Besonders die Schuhläden lösen bei den drei jungen Frauen Entzückensschreie aus. In den Schaufenstern der Ladenpassage leuchten ihnen die besonderen, heiß begehrten italienischen scarpe entgegen! Die mit den gewissen Markennamen. Für die man in Deutschland Unsummen bezahlten müsste. Marlene sieht ein Paar Abendsandaletten. Die wecken ihre Begierde so stark, dass sie die unbedingt näher ansehen will. Die muss sie HABEN. Da gehen alle in das Geschäft hinein. Die ganze Gesellschaft. Auch die Männer. Jetzt wollen Christel und Minou ebenfalls Schuhe anprobieren. Vielleicht sogar kaufen? Es beginnt ein Flüstern, unterdrücktes Mädchengeschnatter. Ob man sich nicht wirklich eines dieser hellen, wunderbaren Paare leisten sollte, die mit den dünnen Pfennigabsätzen, dem pastellzarten, mehrfarbigen Riemchengeflecht? Sie sehen todchic aus ... Man möchte schon. Aber dann wäre fast das ganze Urlaubstaschengeld mit einem Schlag ... weg.

Ob es Schnäppchenangebote gibt? Man müsste nachfragen.
Besonders Sascala sieht den drei aufgeregten Grazien lächelnd zu. Die ziehen Dutzende von Modellen an und wieder aus. Und in die engere Wahl. Stellen sie dann, mit hochroten Köpfchen und großem Bedauern zur Seite. Immer neue Schuhe schleppen die südlich durcheinander plappernden Verkäuferinnen für sie herbei. Die deutschen Mädchen probieren. Überlegen. Probieren. Sollen sie ... oder lieber doch nicht? Vergessen dabei, dass die meisten dieser Luxuspaare für sie unbezahlbar sind.

Der Rattenschwanz ihres männlichen Anhangs ist inzwischen entnervt aus dem Laden geflüchtet. Signor Asti und Ciccio waren ohnehin draußen geblieben. Die Mädchen bemerken das Verschwinden der Begleiter nicht und fahren in ihrem aufwühlenden Treiben fort.

Nur Ernando Sascala ist noch da. Er will den drei Weibchen ihren Spaß ja nicht verderben! Nun flüstert er einer Verkäuferin ein paar leise Worte zu. Sie nickt lächelnd und dann verlässt auch er den Laden und gesellt sich zu den anderen Ungeduldigen, die nebenan im Eckcafè warten. Die vollauf beschäftigten Mädchen haben nicht einmal herüber geblickt.

Die Signorinas möchten sich doch kurzerhand Schuhe aussuchen, eine jede das Paar ihrer Wahl und eine passende Handtasche dazu, radebrecht auf einmal die Verkäuferin in ulkigem, aber am Schluss doch begreiflichem Deutsch ...
"Ja, aber ..."
"Kostet nicht. Sind Geschenke!" Es sei alles geregelt, macht ihnen die Verkäuferin klar und grinst.
"Nein, Wiiiirklich ?"
"WIRKLICH."
Die Mädchen finden sich erstaunlich rasch mit dem Ungewöhnlichen ab. Wissen, von wem der Segen kommt. Wer jedoch die Wahl hat, hat die Qual! Jetzt geht es erst richtig los.
Draußen klopft auf einmal Wolfgang wütend gegen die Scheibe. Sie ahnen, jetzt wird es Zeit, die Männer werden echt ungeduldig!
In Päckchen tragen sie die von ihnen ausgesuchten Ledersachen heraus.

Minou hat ihr Geschenk gleich anbehalten und spürt beim Laufen: die italienischen scarpe sind ein Wunder. Sie drücken überhaupt nicht, was neue Schuhe sonst IMMER tun. Ihre sind taubenblau, mit unglaublich hohen Absätzen und dünnen blauen Riemchen, Ton in Ton. Von dem gleichen Blau ist ihre neue Tasche. Wie die anderen zwei Mädchen, so leert auch Minou den ganzen Inhalt der alten in die neue Tasche um. Ciccio muss die Pakete mit dem ausrangierten Lederzeug zum Auto tragen.

Später, nach Besichtigung der Kathedrale und anderer Muss-Sehenswürdigkeiten und dem Bummel durch die Via dei Cruciferi mit ihren weitverzweigten Adelspalästen und ineinander verschachtelten Höfen aus der Barockzeit, kommen sie vor die edle, gläserne Vorderfront einer berühmten Pasticceria. Durch die Scheibe sieht man im Inneren weißes Neonlicht, Einrichtung aus silbergrauem Metall, alles ist strahlend, glänzend, hochmodern.
Natürlich treten auch sie ein. Die Luft vibriert geradezu. Dicht gedrängt in Menschentrauben stehen die Gäste zwischen Stehtischchen aus Glas und Chrom. Man brüllt sich gegenseitig über die Köpfe hinweg Konversation zu. Immer neue Menschen zwängen sich von draußen herein. Minou fürchtet schon, die gläsernen Wände könnten nachgeben und bersten.

Kellner machen sofort für den Conte und seine Begleitung ein winziges Eckchen frei. Dazu müssen andere Gäste zur Seite gehen. Die Mädchen werden angestarrt. Männer drücken sich im Gedränge hautnah an sie heran. Stoßen sie an. Versehentlich. Murmeln Entschuldigungen. Oder Unanständiges? Die jungen Dinger sind ziemlich verstört. Sie wissen es nicht, aber das sind die Jahre, wo südliche Machos beim Anblick fremdländischer Weiblichkeit noch regelrecht aus dem Häuschen geraten. Nicht allzu viele blonde Germaninnen und andere ‚exotische‘ Wesen haben sich bisher ins Straßenbild der Städte verirrt.
Verwundert hören die Mädchen heiße, wenn auch unverständlich gemurmelte Komplimente von ‚Verehrern‘, die sich schwitzend zu ihnen hin drängen.

Später in einer Cafeteria bei Taormina wird es noch enger. Schlimm vor allem, weil der Conte und Signor Asti Gott und die Welt zu kennen scheinen.
Unternehmungslustig aussehende Herren pirschen sich zu einem Plausch heran.
"Bellissime ragazze!", flüstern gestriegelte Dottori und Baroni - zumindest nennen sie sich untereinander mit diesen Titeln.

Wo die Signorinas herkommen, wollen sie wissen, ob sie Inglese – Engländerinnen - oder Tedesche sind! Einer streicht Marlene verzückt übers hüftlange Blondhaar. Ein anderer hat sich zwischen Christel und Minou hingekniet, flüstert mit erregter Stimme Unverständliches. Die deutschen Jungen kriegen sich nicht mehr ein vor Lachen. Jedenfalls solange sie noch da sind, denn sie verziehen sich rasch zu einem Tischfußballspiel in den Nebenraum, während der Conte und Signor Asti schon vor einiger Zeit mit einem Avvocato im Hintergrund des Lokals untergetaucht sind: "gli affari - die Geschäfte!" Und der grinsende Gaetano scheint alles andere als ein Beschützer. Ciccio, eher stumpf, starrt fortwährend nur auf Marlenes züchtig bedeckten, aber keineswegs versteckten Busen. Die jungen Dinger - allein gelassen mit der sizilianischen Männerwelt - sind über den Rummel total verwirrt, waren am Anfang geschmeichelt, jetzt ... perplex. Wissen nicht, dass solche Begeisterungstiraden den südlichen Machos leicht über die Zunge fließen und im Grunde ohne Gewicht sind.

"Basta, basta, va bene adesso, Signori", ruft ein Herr, der herbeieilt ... wahrscheinlich der Geschäftsführer. Drastisch bekundet er seine Missbilligung des Treibens und stellt die Ruhe wieder her.
*

In einem Lokal bei Naxos speisen sie später zu Abend. Sie SPEISEN. Auf einer Terrasse. Natürlich ist das Mahl exquisit, die Aussicht eine der schönsten Europas. Sie sind hoch über dem Meer und zu ihren Füßen alle Herrlichkeit der Welt! Tief unten die zerklüftete Küste und in der kobaltblauen See grüne Inselchen. Die vom Strand zur etwas entfernten Stadt Taormina aufsteigenden Ufer sind mit satter Vegetation bewachsen. Im Grünen zwischen üppigen Blüten leuchten Schlösschen, Villen, hochherrschaftliche Häuser.

Während sie köstliche Dinge essen, schauen sie zu, wie die Sonne in flammender Glut im Wasser versinkt. Mit ihrem roten Blut färbt sie noch einmal den Himmel. Unten, hingebreitet im dämmrigen Abendblau, liegt die Bucht, gleiten Dutzende Fischerboote und weiße Segeljachten dahin, winzig klein, fern, im letzten Licht des Tages.

Sascala lässt seine Gäste von neuem im Stich. Zieht sich mit Signor Asti und einigen hinzugekommenen Herren ins Innere des Restaurants zurück: ‚Affari‘ schon wieder.
Er ist im Grunde ein nervöser Mann und ständig in Bewegung, denkt Minou. Doch seine Abwesenheit dauert nicht ewig. Dann ist er wieder für sie da. Ihr aufmerksamer Gastgeber.
*

Als das Mahl zu Ende ist, geht es endgültig nach Taormina, das sie bereits am Vortag von der Jacht aus oben auf dem Hügel gesehen haben. Der eigentliche Stadtkern, sein alter, malerischer Teil liegt einige hundert Meter über dem Meer. Sie lassen die Autos irgendwo auf halber Höhe stehen. Steigen zu Fuß weiter, unzählige, weiße Treppenaufgänge und abenteuerliche Stufen hinauf. Schlendern, oben angekommen, durch laternenerleuchtete Gassen. Vorbei an alten Palästen. Durch geheimnisvolle Gärten. Überall sind Scharen von Touristen, aber auch elegant gekleidete Einheimische unterwegs. Es herrscht Betrieb, als sei hier ein Volksfest im Gange. Unter dem Sternenzelt in der lauen Sommerluft hängt das Aroma von Blüten. Betäubend, schwer.
"Was ist das für ein Duft?"
"Gardenien", sagt Gaetano.
Hier und da kehren sie ein. In dieser Nacht, in folkloristischen, kleinen Lokalen oder überfüllten Neoncafés scheint es Minou, als stünden sie alle auf dem Präsentierteller. Unterwürfige Kellner und Barkeeper lächeln hintergründig mit einem gewissen undefinierbaren Ausdruck in den Augen! Dienernde Geschäftsführer eilen herbei zu wortreicher, plauderhafter Begrüßung. Was haben die nur alle? Blitzschnell werden Stühle herbeigebracht, macht man Tische frei. Presto, presto per i Signori ... nein ... per il Conte. Das beeindruckt Minou schwer. Auch weil das ‚Drum‘ und ‚Dran‘ so verwirrend ist. Die blütenduftgeschwängerte Luft über Taormina scheint die Menschen zu elektrifizieren, in Euphorie zu versetzen. Minou fühlt sich ‚on top of the world‘. Christel und Marlene wahrscheinlich genauso.

*

Die Jugend, die ‚bellezza‘ der ragazze tedesche wird über den grünen Klee gelobt. An diesem Abend kommen sie sich wie Prinzessinnen vor, Hauptpersonen, wie Diven beinahe ... und sind in Wirklichkeit doch nur Statistinnen auf SEINER Bühne. Und ein schlaues sizilianisches Publikum spielt mit, angefangen beim beflissenen, lobhudelnden Bedienungspersonal bis hin zu den verzückt herbeieilenden, augenverdrehenden ‚Amigos‘. Alle geben den deutschen Mädchen das Gefühl, schön zu sein. Jede der Kleinen bekommt ihre Fülle an Beachtung. Keine wird vergessen. Auch Minou nicht, die spürt, dass sie, mit Marlene verglichen, höchstens eine graue Maus ist.

Marlenes Erscheinung verursacht bei weitem den wuchtigsten Impakt auf südliche Männergemüter: Walkürengroß und schön dazu, überragt sie die meisten dieser Machos um eine Kopflänge und das gefällt denen ohne Ende. Die Sizilianer verursachen also einen großen Wirbel um Marlene, aber auch um die zwei anderen deutschen Perlen. Sie belästigen die drei Mädchen nicht wenig auf ihre wortreiche, direkte Art. In Wirklichkeit kennen sie das Spiel: niemand von ihnen würde die jungen Dinger antasten. Nicht diese Mädchen, über die der Conte seine Hand hält. Nur einer hat hier das Sagen: Ernando Sascala. Es ist SEIN Spiel.

Gaetano liegt an den Mädchen lediglich insofern etwas, als er gern wissen möchte, welche von ihnen der Cousin diesmal ins lüsterne Auge gefasst hat und ob die Sache auch lustig verläuft. Und Signor Asti weiß, dass er bei keiner dieser allzu Jungen eine Chance hätte ... nein ... um nichts in der Welt eine Chance hätte. Er ist ohnehin an einem anderen Typus Frau interessiert. Und Ciccio? Er darf starren und lechzen, doch er hat kaum etwas zu melden.

Ernando, so wissen seine Freunde, ist dabei, sich wieder einmal eine Gespielin für ein paar Nächte zu suchen. Und er tut es ‚in style‘. Dabei könnte er eine jede auch ohne Zeit- und Geldverschwendung haben. Die kleinen Kaninchen sind ohnehin schon starr vor Ehrfurcht.

Die deutschen Jungen spüren nicht, dass sie als notwendiges, auch schmuckes Beiwerk mitgenommen worden sind. Selbstbewusst wie fast alle jungen Menschen, glauben sie, ihre Gesellschaft sei dem Conte so wertvoll, dass er ihnen gern eine Freude nach der anderen macht ... Gestern die Bootsfahrt, heute Taormina. Anscheinend ist das Leben wirklich leicht: Sie wissen es auf einmal: die Welt wird immer voller Freunde sein, sie fallen einem ohne Zutun in den Schoß, weil man jung ist und ... liebenswert!

Minou denkt ähnlich. Doch sie glaubt, bereits von Anfang an die Wünsche des dunklen Mannes gespürt zu haben. Das zieht sie mit noch mehr Gewalt zu ihm hin ...

*

Zuletzt führt der Conte seine Gäste an einen verborgenen Ort. In eine ‚boite de nuit‘. Im Souterrain eines alten Palazzo gelegen. Einen Privatclub. Vorab eine kostbare, reich beschnitzte Tür. Und offensichtlich ein Guckauge. Man muss läuten, bevor man eingelassen wird. Im Inneren ist die Gesellschaft dann endlich wieder unter sich. Unbelästigt, unangestarrt. Die Mädchen atmen auf.

Die Wände des Lokals sind mit weinrotem Samt bespannt. Plüschig, weich wie in einem kostbaren Etui.
Sie durchqueren niedrige Räume mit antiken Spiegeln, Wandkonsolen, hunderten von verschnörkelten Lampen und Lämpchen. Die Beleuchtung ist ... Rotlicht.
Alles an diesem Ort ist rot, rot. Der Teppichboden. Die Decke. An den Wänden gläserne Lüster mit Kristallgehängen. Wie tausend gefrorene Tropfen aus dunklem Blut. Die glitzern, funkeln. Rot. Läuten zart, wenn man sie anstößt. Es ist eng hier. Sie sind in eine bordeaufarbene, samtene Höhle geraten.

Klaus meint flüsternd, das sei nun vielleicht ein Bordell. Oder?
Aber Gaetano belehrt ihn: Es ist ein night-club. Die deutschen Mädchen kennen so etwas erst vom Hörensagen. Etwas Sündiges ist es allemal.
Sie schreiten über wolkenweichen Velours. Es ist kühl hier. Jemand führt sie zu großen, gepolsterten Sesseln. In denen versinken sie tief. Da sind kleine Glastische. Darauf Knabberzeug in gläsernen Schalen. Pistazien. Mandeln. Salzgebäck.

Die Decke ist niedrig. Das Nachtlokal besteht aus ineinander verschachtelten Räumen. Nischen überall. Offen zugängliche Nischen. Und Sitzecken, hinter Pfeilern verborgen. Man merkt erst nach einer Weile, dass viele Menschen hier sind. Die Stimmen flüsternd. Parfum hängt in der Luft. Ein Hauch von Puder. Tabakgeruch.
Musik tönt leise, als dringe sie aus den plüschigen Wänden.
Junge Frauen, allein oder zu zweit, sitzen jeweils inmitten einer üppigen Herrenrunde. Schöne Frauen, verwöhnte Mittelpunkte der männlichen Aufmerksamkeit.
"Französinnen sind es, Tischdamen!", flüstert Klaus, "Gaetano hat es mir gesagt!"
"Französinnen?" Das beeindruckt die deutschen Jungen schon sehr.
Selbstbewusst und lebhaft sind diese herrlich gekleideten Luxusgeschöpfe und werden von den männlichen Nachtschwärmern respektvoll umschmeichelt. Diese Frauen interessieren Minou. Sie lachen perlend, aber auch viel zu viel, denkt sie. Tragen breiten Goldschmuck. Manche rauchen superdünne Zigaretten. Sie trinken aus Kelchen ... Champagner. Ihre Augen sprechen von Humor. Oder Durchtriebenheit?

Zwei dieser Frauen kommen jetzt zu ihrem Tisch. Nicken den Mädchen zu. Begrüßen Gaetano und Signor Asti mit freundlich-vertrauten Worten. Man sieht, die Männer sind nicht zum ersten Mal hier.
Vor dem Conte benehmen sich die Bardamen anders. Unterwürfig ... ihre Reize ins beste Licht rückend. Demütig fast ... sich anpreisend, denkt Minou.


.

Man hört im Raum nur nordeuropäische Worte. Kein Italienisch. Wohlhabende Ausländer scheinen hier für weibliche Gesellschaft tatsächlich Geld zu zahlen. Für ein perlendes Lachen, ein paar Worte in drollig-niedlicher französischer Kindersprache ...
Die meisten Gäste sind weder hässlich, noch alt, stellen die Deutschen überrascht fest. Und die sogenannten ‚Tischdamen‘ sind nicht nur schmückendes Beiwerk des Abends. Es ist, als ob sie den Gang der Unterhaltung auf leichtem Niveau bestimmten. Vielleicht sind die Männer ihnen hörig? Diese kostbaren Geschöpfe können es sich leisten, stolz und launisch zu sein, und laut und unbekümmert loszulachen... Und sie lassen sich immer wieder Champagner bringen.
"Das muss ein sehr guter, leichter Job sein!", flüstert Marlene und Minou denkt gerade das gleiche.
"Für Frauengesellschaft bezahlen, das ist doch unwürdig für einen Mann, so etwas möchte ich nie nötig haben", sagt Klaus.
"Animierfrauen sind Nutten", meint Wolfgang.

Jetzt erhebt sich eine farbige Frau von einem der Tische und geht zu dem aus hölzernen Intarsien eingelegten Stern auf der gesonderten Fläche inmitten des Raumes.
Es ist die Sängerin. Sie reckt sich. Faucht. Sie hat bernsteingelbe Katzenaugen. Lange, blutrote Krallennägel fährt sie aus.
Lacht leise und rätselhaft. Stolz führt sie ihre dunkle afrikanische Haut vor. Räkelt sich im Lichtkegel. Wirft unbändige Blicke.
Schnurrt wie eine Pantherin, nur so zum Spaß.
Mustert nacheinander die Männer im Raum. Ein bisschen spöttisch. Einen nach dem anderen nimmt sie sich aufs Korn. Nimmt sich Zeit. Lacht laut auf, dunkel, ansteckend.
Ihre Zähne sind klein und seltsam gezackt. Sie lässt eine flinke Zungenspitze über die schmalen Lippen gleiten. Dann beginnt sie zu summen. Sie übt ihre Stimme ein. Irgendwann wird sie ja singen.
Sie hat glattes, nachtschwarzes Haar, dicht. Eine Fülle davon. Breite Backenknochen. Eingefallene Wangen. Zu mager ist sie, um wirklich schön zu sein. Die Haut fast schwarz. Mit Ascheschimmer. Sie hat ein Gesicht, das nie ruhig bleibt. Das Minou nicht einmal wirklich im Gedächtnis behalten kann. Weil es sich dauernd verwandelt. Ein heftiges, wildes Gesicht.
Ein mit allen Wassern gewaschenes, ein gefährlich aussehendes Miezengesicht. Ein fast schwarzes. Mit kleinen, schräg gestellten Augen.
Aufreizend wirkt diese Frau. Überdreht. Wie eine, deren innerer Motor schon allzu lange auf Hochtouren läuft.
Sie ist ohne Alter, wundert sich Minou, dreißig könnte sie sein, vierzig, fünfzig?
Der Lichtkegel lässt alles Weiße an der Person hochgradig leuchten. Fluoreszieren: Das Weiß in ihren Augen. Die kleinen Fischzähne, wenn sie lacht. Ihr Halsband aus Perlen. Das Abendkleid. Weiß. Weiße Handschuhe bedecken ihre Arme von den Ellenbogen bis zu den Handrücken. Lassen nur die überlangen, bunt beringten Finger mit den cyclamenroten Krallennägeln frei.
Die Haut der schwarzen Frau hat einen silbrigen Schimmer, wie von sehr winzigen, glitzernden Schweißperlen. Grell-violett sind ihre Lippen und wie mit Lack überzogen. Ihr Decolleté lässt keinen wogenden Busen sehen, sondern unter dem dünnen Stoff eine winzige Knabenbrust ... erahnen. Mit schwarzen Nippeln, die hart sind wie Kiesel. In ihrem Kleid hat sie Seitenschlitze bis hinauf zur Hüfte. Die langen Beine sind mager, sehnig. Dann die Füße! Ebenso sehnig, ebenso mager wie alles an ihr. Wie aus gebrannter, dunkelbrauner Tonerde. Mit cyclamenroten Zehennägeln, die leuchten. Ihre Riemchenschuhe mit den hohen Absätzen leuchten auch. Schneeweiß.

Sie singt auf Englisch: 'Bilbao Moon' und 'Mack the Knife'. Danach: ‚Lisboa Antigua‘ in einer exotischen Sprache.

Minou hat das Lied noch nie gehört: ‚Lisboa Antigua‘, diese sechs magischen Silben prägen sich ihr augenblicklich ein, auch, weil sie sonst kein Wort versteht. Die Silben kommen wieder im Refrain. Lis-boa-An-ti-gua ... Das dringt bis in Minous romantischste Herzzelle. UND die Melodie erst, die treibt ihr die Tränen in die Augen! Oder hat sie schon zuviel Champagner getrunken? Ihr erster Champagner im Leben! Aber das Lied, das die schwarze Frau vorträgt! Der Klang. Ein Sturzbach der Leidenschaft, Ferne, Sehnsucht. Da ist vor Minous innerem Auge ein weißer Dampfer, sie träumt sich auf eine helle Schiffsreise vom portugiesischen Lissabon nach der Insel Antigua in der karibischen See. Unter der Sonne des Tropenhimmels. Lisboa --- Antigua.

Sie spürt: das Leben ist eine Verheißung und wunderbar. Da reißt sie all ihren Mut zusammen:
"Ich kenne das Chanson nicht ... es ist schön ... aber was bedeuten die Worte?", fragt sie leise den neben ihr sitzenden Conte, in dessen Nähe und Dunstkreis ihre kleine Person schon die ganze Zeit gefangen ist.

Er möge es auch sehr, sagt er. Ein portugiesisches Lied sei es, ein Fandango. Die Frau singe es in der Originalfassung: die Geschichte zweier Liebender im alten Lissabon: Lisboa antigua.
Minou nickt.

Nichts da von Karibik ... Antigua. Und dennoch. Das Lied ist magisch. Bei seinen Klängen hätte sie sich am liebsten Ernando in die Arme geworfen. Ihm auf diese Weise wortlos gesagt, dass er das Ziel all ihrer Sehnsucht ist. Sie zieht es eine Sekunde in Erwägung. – Ja ... was, wenn sie es täte? -
Dann hat sie sich gleich wieder in der Gewalt.

Die Pantherfrau kommt nachher an ihren Tisch. Ein Unruhebündel.
Sie lässt sich von Signor Asti Finger und Handschuhe bis hin zum Ellenbogen mit Küssen bedecken.
"Oh Madame, je vous adore!" murmelt der alte Sizilianer.
Die schwarze Frau spreizt sich. Ein Paradiesvogel. Sie hat einen knackigen, kleinen Po im hautengen Kleid. Lässt sich begaffen. Lockt mit Schultern und Hüften, die sie reckt, dehnt, immer wieder räkelnd abrollt. Aus tausend vibrierenden Nervensträngen scheint ihr magerer Körper zu bestehen. Sie steht nie still. Eine Energiekatze. Sie weiß um die Blicke, die ihr bei jeder Bewegung folgen.
Dem Conte gibt sie einen kleinen Klaps auf die Wange: "Hallo, you wicked man, where have been hiding lately??" Schmollt. Hält ihm ihren Mund hin – den er aber nicht küsst. Sie sagt: "Welcome my friend !" Dann redet sie mit ihrer dunklen, heiseren Stimme leise auf ihn ein. Sie faucht. Schnurrt. Dabei wirft sie ihren seltsamen Kopf auf zerbrechlichem Hals hin- und her, hält die Lider ihrer schrägen Augen halb geschlossen. Hinter den getuschten Wimpern ein Glitzern.

Minou beobachtet das alles. Ernando wechselt Worte mit der dunklen Frau, schnelle Sätze, die Minou natürlich nicht versteht.
Aber nein, er erwidert die Katzenblicke der schrägen Augen nicht, nicht so, wie Männer es tun, wenn sie Frauen heiß begehren, denkt das Mädchen, er lächelt zwar und da ist etwas .... Vertrautes, Herablassendes, wie er mit der Sängerin umgeht.

Minou fragt sich erschauernd, ob ES wohl GESCHEHEN sein könnte zwischen den beiden. Sie denkt ‚ja‘. Die Vorstellung, wie Ernando die schwarze Haut berührt und die Haut so vieler anderer Frauen, und noch all die anderen Dinge, die er mit ihnen getan hat ... da wird ihr bei dem Gedanken heiß und merkwürdig.

Die schwarze Sängerin - noch immer hält sie sich keine Sekunde still - sippt im Stehen an einem Glas Champagner, das ihr Signor Asti gereicht hat. Beschenkt selbst die staunenden deutschen Mädchen am Tisch mit schrägen, lockenden Blicken. Dem vor Aufregung roten Helmut stellt sie charmant eine belanglose Frage auf Französisch. Antwort wartet sie aber nicht ab.
Jetzt scherzt sie mit Ernando und Signor Asti. "Wo ist denn Gaetano?
"Dort hinten sitzt er an der Bar."
"Ach so ... der ist heute ein Innamorato. Ein Verliebter."
Nein, es sei diesmal ausnahmsweise nicht sie, die Pantherin, nach deren Zuneigung Gaetano lechze, witzelt Signor Asti, Michelle sei es, jene Neue aus Paris, die den armen Narren seit zwei Wochen um den Verstand bringe.
"Ah, bon", sagt Sascala und lacht.

Die nervöse 'Pantherin' sippt noch einmal am Champagner und stellt das Glas ab. Sie kokettiert mit den Männern am Tisch. Buhlt außerdem um jeden Gast im Raum. Immer wieder schweifen ihre Blicke zu anderen Sitzgruppen. Sie sorgt dafür, dass sie keinen Augenblick hinausfällt aus dem Fokus allgemeiner Aufmerksamkeit.
Später wandert sie weiter zum Nachbartisch. Sofort vernachlässigen die Männer dort ihre Französinnen. Die allgemeine Aufmerksamkeit, das Gespräch wendet sich der schwarzen Lady zu.

Minou hätte gern vom Geheimnis einer solchen Frau gewusst. Und warum sogar ein seriöser Herr wie Signor Asti ihr die Arme gierig abschmatzt.

Aber, wie sie gesungen hat, das gefiel ihr sehr.

*

Später spielt die Kapelle romantische Weisen und Wolfgang fordert Marlene zum Tanz auf.
Schon bei den ersten Takten nimmt der Conte Christel bei der Hand. Leicht. Ganz selbstverständlich. Als habe er das längst im Sinn gehabt. Er führt sie zu dem Stern aus Intarsien, auf dem einige Paare sich schon drehen. Christel!!

Minou sinkt in Staub und Asche.

Wie hatte die Freundin an jenem ersten Abend gesagt? "Er hat mich mit seinen Blicken ausgezogen."
Ach, die erfindet sich das, hatte Minou damals gedacht.
Nun krampft sich ihr das Herz ...
Ernando hält Christel in seinen Armen.
Er begehrt sie, das sieht doch jeder, weiß Minou plötzlich, als sie die beiden - intim? -tanzen sieht.
Auf einen Schlag begreift sie ... die Rosen, die Geschenke ... für Christel war alles. Nicht sie, sondern Christel hatte er von Anfang an gemeint.! Da fällt Minou aus ihrer Wolke. Da sackt ihr der Boden unter den Füßen weg.

Es nützt nichts, dass Klaus sie lieb um den Tanz bittet. Ein Kindskopf. "Nein, danke."
Was kann ihr ein Junge bedeuten! Der Gedanke, von ihm beim Tanzen, wenn auch noch so leicht, angefasst zu werden, ist zum Heulen. Wo doch ER, der Mann aller Männer, eben nur einen Herzschlag entfernt neben ihr saß ... und sie verschmäht hat! Da kauert sie in ihrem tiefen Sessel, vor Enttäuschung wie gelähmt.
Elend wird ihr, sie heult fast ins Champagnerglas, das sie in schnellen Schlucken leert.

Wenn Ernando wenigstens nur einmal mit ihrer Freundin ( Freundin?? ) getanzt hätte, EIN MAL wäre weniger schlimm gewesen. Aber sie kommen nicht zurück. Nicht, als die drei Musikstücke, die immer zusammengehören, verklungen sind. Die anderen Paare gehen zu ihren Plätzen. Ernando und Christel bleiben auf dem Stern inmitten des Raumes stehen. Reden so angeregt, als hätten sie sich tausend Dinge zu sagen. Wo Christel doch auch nicht besser Französisch spricht, als sie selbst. Die beiden haben offensichtlich nicht bemerkt, dass Pause ist. Als die Musik von neuem einsetzt, nimmt Ernando Christel wieder in seine Arme. Nein, schlimmer, er hatte sie ja nicht daraus entlassen!
Als diese drei Tänze ebenfalls um sind, kommen sie aber zum Tisch zurück.

Dann tanzt Ernando mit Marlene. Das ist zuviel. Das ist zuviel. Minou kriegt einen zentnerdicken Kloß in den Hals. Die blonde Marlene ist, wie schon gesagt, sehr groß für ein Mädchen. Auch das ein Zeichen von Schönheit! Auf ihren neuen Stöckelschuhen ist sie genauso hoch wie Ernando. Und er - was ist er nur für ein Mann - er scheint sich in Gesellschaft der riesigen Marlene ganz in seinem Element zu fühlen. Da ist Minou-Mauerblümchen vollends vernichtet.

Er wird mich nicht um einen einzigen Tanz bitten, weiß sie, und dabei habe ich mir eingebildet, er möge gerade mich gern ... O, lieber Gott, mach, dass er mich doch auch noch auffordert ! Oder besser NICHT. Denn meine Tanzerei würde ihn vollends ernüchtern ... er wird sofort merken, dass mir jeder Rhythmus fehlt!

Minou tanzt dann doch mit Klaus. Damit Ernando nicht denken soll, keiner finde sie liebenswert. Komisch, dass sie sich von einem ... Jungen anfassen lassen kann, wo sie vor Sehnsucht nach IHM fast umkommt.

Am Tisch gibt es bald darauf Gesellschaft von zwei übersprudelnden hauseigenen Damen, die man wohl zu ihnen geschickt hat, um die Überzahl der Männer auszugleichen. Die eine Französin treibt mit Streichholzschachteln und gefalteten Servietten allerlei kindische Kunststückchen und Schabernack. Die andere sagt permanent Drolliges, wovon man kein Wort versteht. Plötzlich springt sie auf einen Stuhl. Steht wogend da oben.
"Achtung, Achtung", ruft sie gespaßig in Deutsch: "rührt euch, rührt euch ... Achtung, alle Mann, stillgestanden und RECHTSUM! Ab heute wird zurück geschossen. Heil!"

Klaus und Wolfgang lachen sich halb kaputt.
Wolfgang, vom Alkohol beflügelt, kneift der Dame in den Po. Da klatscht sie ihm aber heftig auf die Pfote. "Aua!", schreit er.

Das ist der Abend des Champagners. Sie gießen alle genug davon in sich hinein. Dennoch kann es nicht mit rechten Dingen zugehen. Auf geheimnisvolle Weise sind die Flaschen, kaum gebracht, wieder leer. Verschwinden samt der Sektkühler in Minutenschnelle. Gleichzeitig kommt schon der eisgekühlte Nachschub an. Die Bedienung ist wirklich behände.

Inzwischen herrscht bei der Gesellschaft eine gehobene Stimmung. Signor Asti hat in der blonderen der beiden Französinnen offensichtlich eine übersprudelnde Gesprächspartnerin und ein neues Objekt seiner Begierde gefunden. Hingerissen schmatzt er ihr jetzt Hände und Arme ab ... Wolfgang sagt, er müsse auf die angebläute Marlene achten und macht linkische Schmuseversuche.

Als Ernando, der eine Weile fort gewesen ist, zum Tisch zurückkommt, atmet Minou tief auf. Sie ist ganz verloren gewesen. Ohne ihn ist hier alles nichts. Auch er scheint keineswegs außer sich vor Übermut. Er hat kein Glas angerührt. Klar, er muss ja Auto fahren. Und er ist nicht der Mann, der über kindische Witze lacht, wenn sie noch so niedlich auf Fransösiiisch erzählt werden. Minou beobachtet ihn. Verfolgt mit den Augen jede seiner Bewegungen. Er scheint als einziger Mann am Tisch Nichtraucher zu sein, während die Freundinnen und sie selbst, Mengen von ungewohnten Glimmstängeln in sich hineinziehen, heute. Weil sie ihnen ja auch von allen Seiten angeboten werden.
"Du bist eine tolle Raucherin ... bläst den ganzen Scheiß richtig schön in die Luft", sagt Wolfgang.
Ach, komisch, sie hatte das gar nicht bemerkt!

Dann kommt es, wie es zu erwarten war. Der Conte tanzt auch mit Minou.
Sie hat ja nicht ernsthaft gedacht, er sei unhöflich genug, sie ganz zu ignorieren.

Furchtbar ist es, als er sie zum ersten Mal in seinen Armen hält. Vor lauter Lampenfieber braust ihr das Blut in den Ohren. Er berührt sie so vorsichtig und achtungsvoll, wie man eine Partnerin beim Tango nur berühren kann. Sie fühlt sich taumelig werden. Fällt fast in Ohnmacht. Nach einer kleinen Weile hat sie sich jedoch gefangen.

"Vous êtes une fille très douce", sagt er. "vielleicht ein Mannequin? Un modèle?" Er weiß, so etwas hört jedes junge Ding gern.
"Nein, bin ich nicht", sagt sie verlegen, aber sehr geschmeichelt. Prompt wird sie ein bisschen selbstbewusster. Strafft sich.
"Ich hätte wahrhaftig gedacht, dass Sie ein Model sind", sagt er, denn Sie sehen aus wie eines."
"Nein, nein", stammelt sie, "so etwas bin ich doch nicht!"

Wie Ernando hat noch kein Mann mit ihr getanzt. Fest und sicher hält er sie. Dass sie unter seiner Führung auf einmal sogar Rhythmus und Leichtigkeit spürt. Sie schließt die Augen. Heiße Wellen fluten über sie hin: ‚Mein Herr und König‘. denkt sie und: ‚o Gott, lass mich bitte jetzt nicht zusammenklappen!‘

"Sie sind wie ein Kätzchen " sagt er, " un petit chat ... et très douce ..."
"Mais trop maigre?", fragt sie leise, "aber zu dünn?"
Ihr ‚Dünnsein‘ ist ein schrecklicher Makel, ein Kummer, den sie noch immer mit sich herumschleppt.
"Nun ja", lächelt er, "vielleicht sind Sie ein sehr hungriges kleines Kätzchen?"

Ihr Gesicht ist auf der Höhe seiner Brust. Sie möchte für alle Ewigkeit so an ihm lehnen.
Ernandos Geruch! Ein leichter, guter Geruch. Herb wie Holzharz und ein bisschen wie Leder. Und eine Süße irgendwo auf dem Hintergrund seiner Haut.

Dann kann sie überhaupt nicht mehr denken ... Viel zu aufgewühlt ist sie. Möchte sich heftig an ihn hängen. Wild. Eng an seinen Körper pressen. Tut aber so etwas nicht. Sie ist ein gut erzogenes Mädchen.
Leicht ist sie an seinen Körper geschmiegt, nicht enger, als es sich gehört, nicht anders, als Tänzer es überall auf der Welt tun. Vorsichtig.
Und doch, als gehöre sie dahin schon seit Anfang der Zeiten. Oder ist es ein Traum? Wenn sie nur nie mehr zu erwachen brauchte ... weiter mit ihm dahinfliegen könnte. Ohne aufzuhören.

"Ich bin froh, dass Sie uns heute eingeladen haben", wagt sie zu sagen.
"Es macht mir Spaß, jungen Damen meine Heimat zu zeigen", sagt er ... "aber ich hoffe, Ihr Verlobter wird nicht eifersüchtig, wenn Sie ihm davon erzählen!"
Minou schüttelt den Kopf.
"Verraten Sie es mir ... vous avez un fiancé en Allemagne, n’est-ce pas?" - Sie haben einen Liebsten in Deutschland -
"Non, je n'ai pas ... hab‘ ich nicht", antwortet sie. Weil es ja die Wahrheit ist.
"Ich bin ein verheirateter Mann", sagt er lässig lächelnd in ihre staunenden Augen hinein, "Moi, je suis un homme marié."
"Oh!"
Er sieht sie amüsiert an.

Es ist nur natürlich ... dass ein Mann wie er ... Minou nimmt es zur Kenntnis. Und doch auch wieder nicht. Sagen wir einmal so: es tut ihrem verliebten, verwirrten Zustand keinen Abbruch.

"Lisbon antigua", singt die schwarze Sängerin jetzt in englischer Sprache und das zufällig zu diesem wichtigen Zeitpunkt erklingende Lied wird sich für immer in Minous Gedächtnis eingraben. Sascala hat das Chanson für sie bestellt:

"I gave my heart
To you in old Lisbon that night ...
Under the spell of your charms
I felt your arms hold me so tight ...
Was heaven to find such bliss in each kiss.
I lost my heart, but I found one so true
in old Lisbon with you.


Dieser Abend, der nun zu Ende geht, diese Atmosphäre, das Lied und ER! Später im Leben, so oft sie den Schlager – gesungen von Eartha Kitt - hören wird, wird ihr die Melodie tiefe Schauder über den Rücken jagen. 'Lisboa Antigua' ... wird für immer mit ihm, Ernando, verbunden sein.

Sascalas Schutzbefohlene haben wohl alle ein bisschen zuviel vom Champagner gesippt. Die deutschen Jungen grölen inzwischen lauthals: "O du schöner Westerwald." Was auch nicht mehr schlimm ist, denn an den Nebentischen geht es in anderen Sprachen ähnlich bescheuert zu. Nur Ciccio sieht unzufrieden aus und schaut etwas stumpf. Er muss Auto fahren. Er durfte nichts trinken.

"Wir müssen aufbrechen", sagt der Conte irgendwann. Es ist weit nach Mitternacht.
Den letzten Tanz hat er mit mir getanzt, denkt Minou verzaubert. Es ist nicht wichtig, mit wem ein Mann den ersten ... nur der letzte zählt.

Als sie in die kühle Nachtluft hinaustritt, merkt sie aber, dass sie nicht mehr ganz standfest ...

*


Wie bei der Herfahrt nimmt Marlene auf dem Beifahrersitz neben Sascala Platz. Gerade hat sie mit Schwung und Elan ihre langen Beine in den Wagen gehievt, da "hoppla!", lässt sie sich zu Ernandos Seite hin überkippen, gerührt fällt sie ihm fast in den Schoß ... eine heiße Braut.
So hat er es eigentlich nicht gewollt!
"Ich muss noch fahren, Mädchen", lacht er, "Vorsicht! ... Na, na", sagt er dann freundlich und macht sich sanft los, "hören Sie, Marlene, Sie gehen nun hinüber zu Ciccio und schicken mir die Kleine her. Die scheint dort drüben Probleme zu haben.

Minou ist beschwipst, steht an Ciccios geöffnete Wagentür gelehnt und grinst kindisch. Weil sie eine bestimmte Menge Champagner im Blut ... außerdem trällert sie ein Lied: Lisboa antigua ... Zu laut. Fürchterlich falsch auch.

Ernando ruft ihr zu, sie solle sofort herüber kommen. Sie hört die Aufforderung nicht. Oder will nicht hören.
Da ist er auf einmal neben ihr und holt sie. ER. Der Conte. Zieht sie ernst am Arm zu seinem Auto. Platziert sie neben sich auf den Beifahrersitz.

*


Minou grinst noch mehr. Ist taumelig. Aber nur ein wenig. Im Grunde geht es ihr wahnsinnig gut. Marlene setzt sich in den Wagen zu Ciccio. Ihr Stolz ist bestimmt verletzt. So viel kriegt Minou von der Sache noch mit.
Doch es macht ihr nichts. Im Gegenteil ... es ist das Aufwühlendste von der Welt, neben Ernando zu sitzen. Wieder erscheint ihr alles unwirklich. Wie ein Traum. Minou streichelt die schöne Rosenholzvertäfelung des Armaturenbretts ... manchmal sieht sie scheu zur Seite und in SEINE undurchdringlichen Züge, während er schweigend den Wagen lenkt.
Bei geöffnetem Verdeck kommen sie irgendwann durchs nächtliche Catania. Die Via Etnea ist mit Vehikeln zugestopft. Wildes Gehupe. Durchlodert ist die Dunkelheit vom unaufhörlichen Zucken grellbunter Leuchtreklamen, rot, gelb, blau, violett. Als sich ihnen plötzlich noch das Licht voll aufgeblendeter Autoscheinwerfer entgegenwirft, sieht Minou SEIN Gesicht zur Hälfte in blaue Gletscherkälte getaucht, zur Hälfte in blutiges Rot. Das Eis und das Feuer!
Lichter, aufzuckende Neonschilder, die fließenden Schriftbänder der Via Etnea jagen Ernando Sascala schrille Streifenmuster übers Antlitz. Schneiden ihm farbige Furchen in die Wangen ... Tattoo eines afrikanischen Schamanen - Stammesfürsten. Da ahnt sie seine Herkunft ... aus einem fernen, dunklen Land.

Dieser Mann ist die LIEBE ... und die GEFAHR, fährt es ihr dumpf durch das benebelte Köpfchen.

Sein Inka-Gesicht. Zerklüftet. Grausam. Furchtbar schön zugleich. Sie sieht sein hochmütiges Auge. Wie es sie von oben herab mustert. Für ein paar kurze Sekunden nur.
Was für eine überspannte Kleine, denkt er, denn ... ihr Körper bebt so stark, dass die Lederpolster um sie herum vibrieren, in die sie sich hineingedrückt hat.
Und sie spürt es auch selbst: das Vibrieren kann kaum von der Umdrehung des Motors herrühren. Oder? Minou wird von heißen und kalten Schauern geschüttelt. Da fühlt sie: Es ist nicht mehr abwegig, dass die Geschichte zwischen dem Conte und ihr vielleicht weitergehen wird. Nur daran zu denken ... ist furchtbar, ist mehr, als sie mit Fassung ertragen kann.

Christel scheint auch beschwipst, als Ernando und Ciccio die Gesellschaft in Mare Luce absetzen. Die Ereignisse des Abends haben der Freundin jedoch nicht den Schlaf geraubt. Minou aber schon. Bald hört sie Christels gleichmäßige, harmonische Atemzüge im nächtlichen Bungalow.

Sie selbst bleibt hellwach. Eine große Unrast hält sie gepackt. Hundert wirre Gedanken kreisen in ihrem Kopf. Sie ist zu aufgewühlt, um einschlafen zu können. Es ist ihr etwas Unbeschreibliches geschehen.

Im Auto während der Fahrt hat ER ihre Hand gefasst, zu sich herangezogen und mit seinen Lippen berührt. Was als süße, liebevolle Berührung begann, wurde fordernd, bedrohlich ... so zumindest empfand sie es, denn seine Zähne hatte er plötzlich heftig in ihren Handballen gedrückt, hatte dabei ihre Haut sogar verletzt, ein wenig nur ... Jetzt ist Minou nicht mehr die gleiche. Was er getan hat, lässt noch immer gewaltige Schauer durch ihren Körper rinnen.

*

Beim Mittagessen am nächsten Tag rückt Kanutz einen Stuhl heran, setzt sich zu den Sechsen an den Tisch:
"Ihr seid kurz vor vier Uhr in der Nacht heimgekommen. Keiner von euch ist heute morgen zum Frühstück erschienen", sagt er wütend. "Ist das eure Auffassung von Urlaub und Erholung, euch zu besaufen und weiß Gott noch was alles zu treiben?? Von jetzt an gibt es keine gemeinsamen Unternehmungen mehr mit diesem Herrn und seinen sauberen Freunden! Keine Ausflüge. Weder im Boot, noch im Auto. Das ist ein Befehl. Dieser Mensch ist bekannt und als unseriös verschrien. Ein Schürzenjäger. Dabei Vater von Kindern und Ehemann!"
Als ob Minou das letztere nicht schon wüsste. Doch wird sie kreidebleich.
"Ich trage die Verantwortung für euch." Scharf mustert Kanutz die drei Mädchen der Reihe nach.
"Also, ich dulde diesen Umgang nicht. Ab heute verlasst ihr das Gelände nur zu Unternehmungen mit der beaufsichtigten Gruppe. Sollte jemand von euch in Zukunft gegen diese Regel verstoßen, dann werde ich ihn noch am gleichen Tag heimschicken."
"Heh, heh", ruft Wolfgang ... wir sind zum Glück keine Tussis, Ernando ist unser Freund ... gegen uns kann das moralische Zeug nicht verwendet werden ... wir dürfen doch noch mit ihm fahren?"
"Nein ... und ihr werdet in Zukunft nicht einmal hier im Campeggio mit diesem Mann zusammen hocken ... nicht einmal zum Reden. Habt ihr verstanden?"
Die Jungen meutern, die Mädchen sagen kein Wort.

*

Was vorherging:

1955. Die 16 jährige Minou lebt in Marienstock mit Vater, Stiefmutter und den kleineren Geschwistern und arbeitet als Angestellte auf dem Fernsprechamt in Brückenstadt. Eines Tages fährt sie mit einer Jugendreisegesellschaft nach Sizilien.
Das Ziel ist Mare Luce, eine Campinganlage am Meer bei Siracus. Die Clique lernt den Conte Ernando Sascala kennen, einen Mann, den viele für dunkel und geheimnisvoll halten. Er lädt alle zu einem Trip nach Taormina ein. Auf der Rückfahrt darf Minou neben ihm im Auto sitzen. Sie spürt, dass sie ihm gefällt ... Begehrt er sie vielleicht sogar?

*



DIE VERLORENE STIMME


In den ersten Tagen am Meer holen sich fast alle Deutschen einen Sonnenbrand. Bei den schlimm Betroffenen löst sich die Haut in Fetzen ab. Besonders auf Nase, Schultern, Rücken. Das macht aber keinem etwas aus: man weiß, das ist nur ein Übergangsstadium, da muss man durch. Denn, wenn erst die Irritationen in der obersten Hautschicht geheilt sein werden, kann die wirkliche 'Tiefenbräunung' beginnen. Die wird dann besonders lang anhalten. Man bleibt also in der Sonne und lässt sich hoffnungsvoll braten. Außerdem ist die Sonne, wenn sie so richtig auf einen herunterbrennt, auch gut gegen Stirnhöhlenprobleme und Allergien aller Art. Also, je mehr Stunden man täglich schmort, desto besser für die Gesundheit!

Minou ist eine der wenigen Glücklichen, die dunkel werden, ohne sich vorher zu häuten. Statt dessen holt sie sich eine Erkältung. Ihre Kehle wird innen rau wie ein Reibeisen. Plötzlich kann sie nur noch krächzen und fühlt sich matt. Hat Halsschmerzen. Und am nächsten Morgen über 39 Grad Fieber. Sie bleibt im Bett. Ein paar Stunden später ist die Stimme ... weg. Keinen Ton bringt sie mehr zustande. Nichts. Null! So etwas ist ihr im Leben noch nicht passiert. Merkwürdig!

Christel kommt nach dem Mittagessen und sagt, dass Ernando Sascala eben dagewesen sei und sogar nach ihr gefragt habe. Sie habe ihm ihren Zustand geschildert, er sei jedoch ohne Kommentar davongefahren.

Später klopft eine der sizilianischen Angestellten an Minous Bungalowtür. Sie bringt Sachen für die Signorina: ein Antibiotikum, Schmerztabletten, etwas zum Gurgeln. Auch Obst, Säfte, Sprudel. Und viele Tüten jeweils schön in Zellophan verpackte Biskuits, Törtchen, Nougat, Schokolade ... genug Naschzeug, um drei Kranke damit für eine Woche glücklich zu machen.
"Das schickt Ihnen der Conte!"

Überschwänglichkeit im Geben scheint zu Ernando Sascalas Persönlichkeit zu gehören. Noch mehr Geschenke bringt die Frau herbei: einen Stapel deutsche Illustrierte: Stern, Quick, Bunte ... und und. Auch ein Dutzend Groschenheftchen mit herz-schmerzmäßig küssenden Liebespaaren auf den Umschlägen.
Für die deutsche Lektüre und die Medikamente sei der Conte eigens nach Siracusa gefahren, verrät die Sizilianerin. Minou ist gerührt, geschmeichelt. Doch über die Schnulzenromane kann sie nur lächeln. Traut er ihr im Ernst zu, dass sie so einen Schund liest?

Zuletzt kramt Minou aus einer der Tüten die schönste, größte Schachtel Pralinen heraus, die sie je gesehen hat: ein mit rosaroter Seide bespanntes HERZ zum Öffnen und aufgestickt lauter kleine, glitzernde Blüten aus Strass und Perlchen. Ihr kommen die Tränen. Kaum spürt sie noch die Halsschmerzen.
"Das gibt’s nicht", grinst Klaus, der gerade mit Marlene krankenbesuchshalber auf ihrer Bettkante sitzt, als die Sachen eintreffen. "Ich hoffe, wir kriegen auch etwas davon ab."
"Klar."
"Der Herr Graf scheint dich ziemlich gern zu mögen!"

Marlene befummelt die Herz-Pralinenschachtel und will gerade die Zierschleife aufziehen. Die stimmlose Patientin reißt sie ihr aber wild aus der Hand und deutet an, dass sie sich von allem nehmen könnten, nur die Schachtel hält sie fest, die gehört ihr allein.
"Okay, Okay."

Zwei Tage lang liegt Minou im Bett. Am dritten Tag geht sie zum Mittagessen. Abgeschlagenheit und Krankheitsgefühl halten sich in Grenzen. Nur ihre Stimme ist noch immer weg. Nicht einmal das Krächzen ist zurückgekommen. Stumm ist sie wie ein Fisch.

Am Nachmittag ist Ernando Sascala da. Überlegen. Souverän. Entweder weiß er nichts von Herrn Kanutz striktem Befehl zum Abbruch der ‚zwischenmenschlichen‘ Beziehungen mit den jungen Deutschen, oder er schert sich einen Dreck darum.
Er ist um Minou besorgt. Und sie sagt kein Wort. Ihre Stimme ist noch immer ganz und gar außer Betrieb.

Aber seltsam ... obwohl sie nur stumm und nicht taub ist, redet er sie nicht persönlich an, spricht statt dessen mit anderen ÜBER sie. Und das in ihrem Beisein. Als ob sie ohne Redemöglichkeit keine eigenständige Person mehr wäre.

Ob es denn niemandem aufgefallen sei ... die Signorina esse kaum etwas. Bei ihrem angegriffenen Kehlkopf brauche sie weiche Speisen, die sie gut schlucken könne. Gleich lässt er den Küchenchef rufen, damit ihr in der Küche etwas Adäquates zubereitet werde. Christel und den Reiseleiter bittet er, besser darauf zu achten, dass sie regelmäßig ihre Medizin nehme, wenn er nicht da sei. Traut er ihr nicht zu, das aus eigenem Antrieb zu schaffen??
"Ich kenne Sascala seit zwei Jahren", sagt Kanutz, "so häufig wie jetzt hat er sich noch nie hier sehen lassen."
"Dieser Ernando strengt sich an", grinst Wolfgang.
Es ist wahr ... so viel Aufmerksamkeit ist Minou noch nie im Leben geschenkt worden. Auch frische Rosen und der immer gefüllte Obstkorb fehlen nie in ihrem und Christels Bungalow.

Vielleicht ist sie doch etwas wert, wenn einer wie er sie vor allen anderen auszeichnet! Da schlägt ihre übliche Unsicherheit ins Gegenteil um. Zum ersten Mal kommt sie sich den anderen Mädchen gegenüber ÜBERLEGEN vor! Aber das stimmt ja auch nicht ... eigentlich hat sie sich anderen gegenüber schon IMMER überlegen gefühlt, meint sie auf einmal. Tatsächlich ... nie hätte sie mit jemandem tauschen mögen. So war es von Kindheit an gewesen. Wie komisch! Nie hatte sie andere beneidet. Obwohl sie doch Grund dazu gehabt hätte.
SEIN Interesse stärkt ihr Selbstbewusstsein ziemlich. Und ihre Gefühle spielen verrückt. Manchmal ist sie stolz, weil sie ihm offensichtlich gefällt, dann wieder schämt sie sich des Aufhebens, das er um ihre Person macht.


Am nächsten Morgen ist der Conte wieder da und setzt sich zur Clique an den Tisch. Er bestellt für Minou ein Frühstück, von dem er denkt, dass es leicht zu schlucken sei: ein Omelett, weiches, weißes Brot ohne Rinde und Orangensaft, der eigens für sie ausgepresst wurde. Ernando selbst trinkt nur einen Espresso.
Mit konzentrierter Miene tröpfelt er nachher Medizin auf einen Löffel und Minou muss schlucken.
Wenn Ernando bei ihnen sitzt, ist alles, was er sagt, was er fragt, auf ihre empfindliche kleine Person ausgerichtet. Wie schon erwähnt, redet er sie seit ihrer Erkältung kaum je direkt an, sondern spricht mit anderen über sie. Als sei sie ein Objekt, ohne eigenen Willen, ohne Kraft. Doch, dass er sie so behandelt, gefällt ihr auf sonderbare Weise ... gut.

Nach vier Tagen ist Minous geheimnisvolles Stummsein plötzlich vorbei, wie es gekommen war. Ein Wunder. Da hat sie Angst, er könne das Interesse an ihr verlieren. Wo es im Campeggio lustigere, geistreichere, auch schönere Mädchen gibt. Weil sie vielleicht nur als Stimm- und Hilflose seiner besonderen Zuwendung bedurft hatte. Und jetzt nicht mehr ... Seine Sonne leuchtet ohnehin nicht für sie allein. Anderen Mädchen scheint er auch zu gefallen.

Minou ist von dem Gedanken an ihn geradezu durchtränkt. Das ist nicht mehr normal. Was sonst noch so im Campeggio los ist, was die anderen treiben, geht an ihr vorbei. Sie sieht nur IHN. Nein, locker und gelöst wie man in den Ferien sein soll, kann sie nicht sein. Sie ist in einer andauernden Hochspannung. Jeder Blick aus SEINEN Augen stürzt sie von einem Taumel in den anderen. Minou lebt in ständiger Aufregung. Fast stockt ihr Herzschlag, wenn er morgens zu ihrem Tisch kommt.

Aber auch wenn er nicht da ist, bemüht er sich aus der Ferne um sie. Ihr werden zu den Mahlzeiten bessere Speisen serviert, als den übrigen Touristen. Die Kellner machen kein Geheimnis daraus, wer für sie die Fischplatte, das große, butterweiche Steak oder das Rostboeuf angeordnet hat. Ihre Kumpel und die Freundinnen am Tisch werfen ihr inzwischen schon gehässige Blicke zu. Dass ER sich öffentlich um sie kümmert, verursacht Minou Unbehagen. Es ist fast etwas Gewaltsames in der Art, wie er sie bevorzugt ... denkt sie.
"Er ist in dich verliebt!", sagen die Kumpel.
Inzwischen tut sie alles, was Ernando Sascala für richtig hält. Er sagt, sie sei noch nicht gesund und deshalb wolle er, dass sie nicht im Meer bade. Und sie badet nicht im Meer. Er will, dass sie immer unter dem breiten Schirm sitzt und direkte Sonneneinstrahlung meidet. Sie sitzt unter dem breiten Schirm und meidet direkte Sonneneinstrahlung. Er hat ihr eine Hautlotion mitgebracht. Damit sie besser geschützt ist.
"Das ist so ungefähr das sündhaft teuerste, was es in dieser Art zu kaufen gibt ", sagt Marlene und die kennt sich aus.

Ernando tritt Minou nicht zu nahe.
In Taormina, beim Tanzen, hatte er sie berührt, jedoch wie ein Gentleman ... vorsichtig ... nur dann auf der Heimfahrt sein plötzlicher Ausbruch ... sie bebt noch jetzt, wenn sie daran denkt. Auf ihrem Handrücken sind noch immer die Spuren seiner Zähne und saugenden Lippen zu sehen.

Ernando zeigt sich als zurückhaltender Mann. Wenn er ein Frauenjäger sein sollte – was Herr Kanutz ihm unterstellt - so verbirgt er das geschickt. Dem weiblichen Geschlecht gegenüber benimmt er sich hier makellos. Nicht, wie die jungen Schweden und Engländer, die bei einem simplen Abendspaziergang längs des Meeres, bereits ‘Intimitäten‘ verlangen ...

Die deutschen Touristenmädchen strahlen, wenn Sascala ein paar Worte mit ihnen wechselt. Sie umgurren ihn: Anne, Inge, Lieselotte, Marlene, einfach alle. Die Schwedinnen auch. Und Claire und Monique, die jungen Französinnen, deren Sprache er - wie sie behaupten - perfekt spricht.

Es ist nicht so, als wäre der Conte ständig anwesend. Er widmet den täglichen Besuchen im Campeggio höchstens zwanzig Minuten seiner Zeit und ist dann wieder weg ... Aber weil er intensiv wahrgenommen wird, weil alle stets viel über ihn reden, scheint es beinahe, als ob er sich ständig auf dem Gelände aufhielte.

"Er kommt wegen dir", feixt Wolfgang. "Ist mir unbegreiflich, aber er scheint etwas an dir zu finden!"
Minous Herz bebt ... sie ist ja nie mit Ernando allein... Vor ein Rendez-vous zu zweit hat Herr Kanutz inzwischen einen eisernen Riegel geschoben.

ERNANDO ... er neigt sich zärtlich zu mir herab - denkt Minou - dabei besitzt er so viel und ich so wenig! Und sie, meint nicht das Materielle oder den oberflächlich schönen Schein seines Auftretens. Seine Wärme ist es, die sie meint, seine Klugheit, seinen Takt, die Lebensart.
Würde man ihr aber sagen, dass es vielleicht doch hauptsächlich seine äußeren Vorzüge sind, die sie zu ihm hinziehen, dann wäre sie bestimmt beleidigt.
Ja, er ist ihr König, sie möchte seine kleine Sklavin sein! Oder sein Kind. Sie wünscht sich, er würde für immer über sie bestimmen.

Noch vor Tagen war er zu mehreren Mädchen besonders freundlich gewesen. Minou hatte gemerkt, dass er andere ebenfalls in Betracht zog, sich für keine entschieden hatte. Das ist nun vorbei. Im Campeggio denkt man schon, da müsse ‚etwas‘ sein zwischen dem Sizilianer und ihr.

*

Die deutsche Gruppe fängt an, Minou hämisch zu beäugen. Man missbilligt ihr Tun. Und Herr Kanutz ist alarmiert. Der Conte ist keiner, der eine Kleine ohne ‚Absichten‘ umwirbt. Und die hier ... stellt sich naiv! Die Tatsache, dass sie alles annimmt, was er ihr bietet, statt es zurückzuweisen, ist schon an und für sich ein Zeichen moralischer Labilität. Das schamlose, kleine Ding müsste diesen Mann längst in seine Grenzen verweisen! Tut es aber nicht.

Mit den Extragerichten, die er für Minou kochen lässt, den Rosensträußen, kleinen Geschenken, Kosmetika, stiftet Sascala Neid unter den Mädchen, bringt die Gefühle in den jugendlichen Seelen durcheinander.
Minou gerät in Isolation. Wenn sie auftaucht, verstummen die Gespräche.

*



HEIMLICHKEITEN

Das Gerede macht ihr nichts aus. Es ist ohnehin nur ER, der zählt.

Irgendwann steckt Ernando Minou rasch ein Briefchen zu. Sie antwortet auf einem Blatt Notizpapier, das sie ihm heimlich gibt ... Ein Treffen hat er ihr vorgeschlagen. Aus seinen wenigen, leidenschaftlichen Zeilen entnimmt sie: nicht zu Händchenhalten oder einem harmlosen Spaziergang lädt er sie ein. Sie spürt, was er möchte. Und in ihr ist wilde Hinneigung, Sehnsucht ... große Furcht auch.


Am nächsten Morgen.
Minou ist schon vor Tagesanbruch auf den Beinen. Aufgeregt ist sie wie nie im Leben. Überdreht. Hektisch vor Spannung. Sie hat in der Nacht nicht geschlafen. Aus Angst, den Sonnenaufgang zu verpassen. Denn da würden Ernando und sie sich am Meer treffen.

Sascala hatte das Rendez-vous eigentlich auf den späten Nachmittag legen wollen. Das mit dem Sonnenaufgang war ihre Idee gewesen. Und er? War sofort darauf eingegangen. Hatte ihrer Laune nachgegeben.

Minou wird normalerweise nie vor sieben Uhr wach. Da wäre der ganze Sonnenaufgang aber längst vorbei. Und den wird sie mit IHM erleben. Den Wecker hat sie nicht gestellt. Der würde zu laut scheppern und Christel wecken. Das will sie vermeiden. So ist sie eben wach geblieben, um Ernando nur ja nicht zu verpassen.

Morgendämmerung. Draußen in den Duschräumen im Feriencamp, hält sich noch kein Mensch auf. Auch ist das warme Wasser abgestellt. Eiskalt überrieselt es jetzt Minous Haut. Vorsicht, die Haare müssen trocken bleiben! Mit bis zur Schulter wallender Pracht will sie ihm gefallen. Das Haar wird dann aber doch feucht. Sie putzt sich die Zähne mit kaltem Wasser. Zurückgekehrt in den dunklen Bungalow, knipst sie das Licht nicht an. Verhält sich still. Greift wahllos das Kleid vom Vorabend. Weil es gerade da hängt. Das zieht sie über den Bikini. Vielleicht werden sie ja schwimmen gehen! Was sie überhaupt tun werden, ist ihr nicht klar. Nein, denken kann sie nicht wirklich an diesem frühen Morgen ...

Minou rennt hinunter zum Meer.

Ob sie schlimm aussieht? Ob sie es sich leisten kann, ihm einfach so entgegen zu stürmen? Ohne sich vorher ‚schön‘ gemacht zu haben? Nichts ist wichtig. Nur muss sie schnell dorthin kommen, wo ER auf sie wartet.
Sonst geht er womöglich noch weg!!

Sie läuft barfuß. In zwei Stunden wird es schon heiß sein, denkt sie, da brauche ich keine Schuhe.
Der Sand ist klamm. Klebt zwischen ihren Zehen..
Wie Sprudel perlt der Seewind über Minous Haut. Die Lungen saugen ihn tief ein. Es ist kühl. Sie fröstelt.

Die Drahtumzäunung des Feriengeländes reicht bis weit ins Meer hinaus. Aber es gibt da eine Stelle, wo jemand den meterhohen Schutzzaun zerschnitten und auf diese Weise einen geheimen Durchgang geschaffen hat. Jeder im Campeggio weiß davon. Diese Stelle liegt ein Stück draußen in der Brandung. Dort, wo das Meer relativ seicht ist. Die anrollenden Wellen kommen heute morgen aber wie eine hohe Wand auf Minou zu. Sehen gefährlich aus. Doch es ist klar: so hoch wie sie aussehen, sind sie nicht. Minou gibt sich einen Ruck. Watet vorwärts mit hochgeschürztem Rock, bis zu den Oberschenkeln schon im Wasser. Sie muss dem Sog der Wellen widerstehen. Überklettert mit großer Mühe den herabgebrochenen, zerschnittenen Zaun. Dann ist sie außen vor dem Campinggelände, doch immer noch ein Stück im Meer. Da merkt sie, dass sie vor Anstrengung zittert.

Der sorgsam bewachte Strand von Mare Luce liegt aber nun hinter ihr.
Endlich watet Minou aus dem seichten Wasser heraus und ist wieder auf festem Land. Feucht ist sie von Kopf bis Fuß. Diese eine, hohe Woge war schuld.
Hellgrau hängt fahle Dämmerung über dem Ozean. Bei den Felsen brechen sich die Wellen. Die Brandung ist lauter als am Tag. Gewaltig sprüht Gischt über die Klippen.
Weit draußen, gegen den schon hell werdenden Horizont wälzt sich das Meer weißlich wie Milchglas, träge.

Im Zwielicht begegnet Minou den pescatori. Den Fischern. Zirka zehn Mann. Magere, zerlumpte Gestalten. Die schleifen ein Schleppnetz hinter sich her und ziehen es langsam aufs Land. Sie bewegen sich in weiten Abständen voneinander, in einem Halbkreis verteilt. Ein jeder hält ein Ende des Netzes fest. Riesig ist es, fünfzig Meter lang, ebenso breit, schätzt Minou. Das immense Netz ist fast leer. Nur auf seinem Grund wimmeln ein paar hundert sardinenkleine, silbrige Fische.

Wie abgerissen und dürr diese Männer aussehen!
‚Mau-Mau‘ nennt Herr Kanutz solche und ähnliche bettelarme Sizilianer. "Das sind von jeglicher Kultur unbeleckte Analphabeten", hatte er gesagt. "Stellt man sich den italienischen Stiefel als einen Fußballschuh vor, dann tritt die Spitze genau gegen Sizilien und die Insel hat viele Tritte abbekommen im Lauf der Geschichte. Das Volk hat sie ausgehalten, ist aber dabei unterwürfig geworden. Durch zur Schau gestellte Demut kam man mit den jeweils Herrschenden am besten zurecht! Sizilianische Mentalität ist das eben! Und die andere Seite ihrer Mentalität: die Männer hier haben nur eins im Kopf, ihr wisst schon", hatte der Reiseleiter noch angewidert hinzugefügt, "deshalb seid auf der Hut! Ich rede natürlich nicht von den Armen, Armseligen, die sind keine Gefahr. Welche Frau lässt sich schon mit so einer Jammergestalt ein! Ich habe aber bei meinen Aufenthalten hier erlebt, dass junge Mädchen sehr wohl auf gutaussehende, meistens verheiratete Sizilianer hereingefallen sind, die sich mit Schmeicheleien an sie herangemacht haben. Diese sauberen Herren ..."

Hereingefallen ... nein das kann man von mir nicht behaupten, denkt Minou, Ernando ist mit anderen ohnehin nicht zu vergleichen.

"Wer sich wie eine Hure benimmt", hatte der nervtötende Kanutz noch gesagt, "der wird auch wie eine behandelt ... wer jedoch eine Lady ... ".... und blah blah blah...
"Jeder Mann spürt, ob ein Mädchen sich benutzen lässt oder nicht. Eine Anständige herumzukriegen, ist den südlichen Casanovas zu viel Aufwand, von so einer lassen sie schnell die Finger. Über die anderen wird gelacht, wenn man sie gehabt hat. Also, verhaltet euch dem entsprechend. Gebt diesen Papagalli keine Chance.
Zuerst ist Mare Luce öffentlich zugänglich gewesen", sagt Kanutz, "doch bald ist die Belästigung für die Touristinnen unerträglich geworden. Dieses ständige Gieren der einheimischen Männer nach urlaubmachenden jungen Dingern! Und die meisten Mädchen sind derart oberflächlich, ich komme mir oft vor, als hätte ich einen Sack Flöhe zu hüten ... nun gut ... also, vor einem Jahr hat man das Gelände eingezäunt. Und zwei Wachmänner engagiert."

Minou läuft schnell und mit hoch erhobenem Kopf an den pescatori vorbei. Denn zum Ausweichen ist es zu spät. Ein stoppelbärtiger Kerl greift sich gerade eines der Fischlein aus dem Netz. Beißt mitten hinein ins zappelnde Leben. Ist er so hungrig? Oder tut er es, um ihr, der Fremden, einen Schrecken einzujagen? Minou glaubt, das Bersten des prallen, kleinen Körpers zu hören. Flossen, Kopf, alles kaut der Mann mit. Blut schießt ihm rechts und links in Rinnsalen aus den Mundwinkeln. Er lacht Minou ins Gesicht, mit Zahnlücken und schwarzbraun verfaulten Stummeln im Mund. Feixend ruft er ein paar Worte ... einen Gruß?
"Buon Giorno", antwortet Minou höflich und rennt. Die Fischer pfeifen. Johlen Unverständliches. Im Weglaufen hört sie noch ihr brüllendes Männergelächter.

Sie kommt zu einem kleinen Bootshafen und dem von Ernando erwähnten Kiosk. Metallene Rollos sind heruntergezogen und mit dicken Hängeschlössern gesichert. Verlassen im fahlen Morgenlicht. Ein Stück weiter, eingezäunt, ist der Privatstrand, der zum Hotel ‚Casa Mare‘ gehört. Der vereinbarte Treffpunkt ...

Das Tor ist nur angelehnt. Ernando ist noch nicht da. Minou setzt sich auf eine der kissenlosen, weißen Holzliegen vor dem Hotel. Wartet.

Hinter dem Ozean ist der Rand der Sonne gerade dabei, klein und fahlhell, noch halb im Dunst versteckt, aus dem Wasser heraus zu stoßen. Dort, wo Meer und Himmel ineinander fließen. Jetzt rollt sie ganz aus dem Meer heraus, herrlich, die Sonne. Feurige, immer röter werdende Farben verbreitend, schraubt sie sich aus den Wassern und übergießt die ganze Welt mit rosigem Licht.
Mit rasender Geschwindigkeit rotierend, steigt sie nun am Horizont empor. Steigt höher, dreht sich schnell um die eigene Achse. Dreht sich wie rasend. Oder täuschen Minou ihre Augen? Ja, die Sonne hat eine Corona von Farben um sich: Gelb, Orange, tiefes Karmin.
Da ... eine Kugel aus grellweißem Licht, schon ein Stück über dem Meer, scheint sich aus ihrer farbigen Corona zu lösen. In rasender Schnelligkeit rollt sie heran. Geradewegs auf Minou zu.
Das ist sicher eine optische Täuschung und kommt daher, dass Minou mit bloßen Augen hineingestarrt hat in die gleißende, rotierende Sonne. Und immer noch starrt, zusieht, wie sie im Triumph am Himmel aufsteigt. Wie schmelzendes Metall leuchten nun die Wellen. Der Ozean ist zu flüssigem Gold geworden.

Plötzlich ist ER da. Seine dunkle Silhouette schiebt sich zwischen Minou und die Sonne. Seine hohe Gestalt. Vor dem Hintergrund von Gold, Orange, Rot. Im Glanz von Himmel und Meer ...

Alles an ihm ist von der Farbe SCHWARZ: Seine Kleidung. Das kurze, afrikanisch gelockte Haar. Die elegante Brille, die seine Augen verbirgt.
Minou springt auf. Ihm entgegen. Er ist so schön. Sie fällt fast um. Dieses unsagbare Zittern in ihrem Leib! Er nimmt sie in die Arme. Ernandos Gesicht im Gegenlicht ... scharf geschnitten, nicht ebenmäßig. Mager. Mit edler, langer Nase. Da ist wieder die Düsternis, die Härte in seinen Zügen, die sie am ersten Abend sah. Sein Antlitz wie das der Herrscher in Heldenepen. Sein Mund hart. Die Härte seines Mundes auf ihrer Haut, als er sie auf die Wange küsst.
Sie lehnt ihr Gesicht an seine Brust.

Einen anthrazitfarbener Pullover hat er lose um seine Schultern geschlungen. Er nimmt ihn, wickelt ihn Minou um den Körper, denn sie ist nass und friert in der Morgenkälte.
Ernando hinter ihr, legt seine Arme um sie. Mit seinen Händen rubbelt er sie warm. Durch die weiche Wolle des Pullis hindurch spürt sie seine Hände. Niemals im Leben hat jemand sie warmgerubbelt. Sie bebt. Er streift ihr den Pullover jetzt ganz über. Über das helle, dünne, vom Meerwasser feuchte Sommerkleid. Das Strickteil reicht ihr bis zu den Kniekehlen.
So sehe ich bestimmt lächerlich aus, denkt sie.

Gemeinsam betrachten sie den Aufstieg der Sonne. Langsam lässt Ernando währenddessen seine Hände ihr Rückgrat entlang gleiten. Seine Finger springen von einem Wirbel zum anderen. Als probe er spielerisch auf einem Instrument. Die Berührungen bringen Minou vollkommen durcheinander. Der herrliche Sonnenaufgang ist nur noch Zugabe. Ernandos Nähe ist allein wichtig. Bis ins Mark spürt se die Berührung seiner Hände. Schwach wird ihr. Schwindelig. Wie betrunken. Da lehnt sie sich ihm ein winziges Stück entgegen. Unbewusst. Sie merkt es nicht. Er schon.

Ernando Sascala dreht sie zu sich. Zieht sie an seinen Körper. Das ist ihr noch nie geschehen.

So eng hat sie noch niemand an sich gezogen. Sie hätte es auch nicht mit sich machen lassen. Von keinem anderen. Nur von IHM. Und doch ... er scheint fremd. Stets in den ersten Minuten, wenn sie ihn sieht, scheint er ihr fremd. Aber rasch fühlt sie sich ihm wieder nah und verbunden. Dann möchte sie sich ihm ganz ausliefern!

Sie ist am Rand einer Ohnmacht, als er sie in seinen Armen hält.
"Dein goldenes Haar Margarete", flüstert der Conte auf deutsch. Streichelt Minou über den Kopf. Küsst ihren Scheitel.
"Das ist so ungefähr der einzige Satz, den ich in Ihrer Sprache kenne...", sagt er ( auf französisch ). Lächelt.
"Ein schöner Satz von einem eurer Dichter", flüstert er, während er Minou eng an sich presst. Sie kennt das Zitat auch. Hier ist sie auf vertrautem Gebiet. Obwohl: DAS Zitat kennt ja schließlich jeder.
"Es ist aus 'Faust' von Goethe", sagt sie wichtig.
"C'est vrai?" Er zieht eine Augenbraue hoch.
"Sie kennen sich gut aus mit Lyrik, nicht wahr?", lächelt er.
"Oui, in peu", antwortet sie eifrig.
- O je ... Jahre später wird sie rein zufällig feststellen, dass es gar nicht von Goethe gewesen ist, sondern von Paul Celan. Womöglich hat Ernando das gewusst, aber sie nicht beschämen wollen -

Er macht sich gleich über ihren Mund her. Hart, mit zielstrebiger Zunge. Dazu hält er ihr Gesicht zwischen seine beiden Hände gepresst. Seine Zunge prallt an ihren hermetisch verschlossenen Lippen ab, die er durch Saugen und kleine, knabbernde Bisse zum Anschwellen bringt. Sie öffnet ihren Mund nicht. Entzieht ihm rasch ihr Gesicht. Versteckt es an seiner Brust.
"Sie sind sehr schön heute morgen", sagt er. "Vous etes très belle."
"Nein, nein ...", murmelt sie, gibt ihm aber einen wilden Kinderkuss auf die Wange.
Wie er sie wild an sich zieht ... das gefällt ihr. Das macht ihr auch Angst. Und sie schämt sich. Sehr. Aber sie hat es doch erwartet.
Da ... unter dem Leinen seiner Hose dieses ‚Etwas‘... er schiebt es ihr entgegen, möchte, dass sie es berührt. Zwingt ihre Hand dorthin. Überrumpelung. Seinen schweren Mund presst er noch einmal auf den ihren, bis sich ihre Lippen öffnen. Öffnen müssen. Gewaltsam. Sie hat sich noch nie küssen lassen ... der Boden schwankt. Und doch ... nichts anderes hat sie ... ersehnt. Sie ...
In der Clique haben sie es vorausgesehen:
"Warte ab, worauf alles am Ende hinausläuft!"
"Nein", hatte Minou kindlich zu Christel gesagt, "er ist keiner von denen ... Er ist ernst. Er ist anders!"

Ernando verbirgt nicht, dass er ‚das eine‘ will:
"Uns bleibt nur wenig Zeit. Bald müssen Sie wieder nach Deutschland zurückfahren."
"Ich habe achtundzwanzig Arbeitstage Urlaub. Weil ich noch so jung bin", macht sie ihm verständlich. "Und dazu kommen Sonn- und Feiertage und Überstunden. Damit sind es genau sechs Wochen", sagt sie stolz.
"Das ist wenig ... ach Kleine ... wir haben schon eine Woche verloren."

Das fordernde Etwas presst er da unten gegen ihren Leib. Sie spürt es durch ihrer beider Kleidung. Groß ist es, unerbittlich. Hart. Diese seine rücksichtslose Männlichkeit hat sie nicht mit einkalkuliert. Die kommt in ihren sehnsuchtsvollen Träumen so nicht vor.

Sie zittert.
Ernando hält das Mädchen an seinen Körper gepresst, eisern gefangen, ohne sich auch nur einen Moment dieser Vorrichtung zu schämen, die er ihr entgegen drängt. Sie sträubt sich.

"Kommen Sie, wir nehmen ein Zimmer gleich hier im Albergo", sagt er auf französisch, "venez allors, es hilft uns beiden nicht, wenn Sie sich immer weiter wehren!"
Die befehlerische Härte seiner Worte verbirgt er mit Küssen. Er erstickt Minou fast mit seinen Küssen. Will sie mitziehen in dieses Hotel.

Das letzte, das Endgültige, schlägt er ihr also in kargen Worten vor ... Er schlägt ihr ohne Federlesen DAS vor, was für sie das Größte ... Endgültigste ist auf Erden ... und jetzt ... sinkt sie vor Scham fast in den Boden.
So hat sie es nicht erwartet. So nicht. Nicht gewusst, wie es sich wirklich anhören würde, wenn er ES ausspräche, das Unsagbare ... Dass es groß und furchtbar sein würde, hatte sie gewusst. Aber nicht so, nicht so ...

"Nein", ruft sie, und stemmt sich mit aller Kraft gegen ihn.
Er fängt sie in seinen Armen ... sagt:
"Das ist wohl keine gute Idee ... das Casa Mare ist nicht der richtige Ort für ein Mädchen wie Sie ... Ich mache einen neuen Vorschlag: wir steigen einfach ins Auto und fahren nach Taormina. Ich kenne da ein besonders schönes Hotel, das berühmt ist für seine Aussicht, hoch über der Bucht von Naxos. Wir werden auf einer schattigen Terrasse frühstücken ... das Mittagessen lassen wir uns hinaufbringen ins Schlafzimmer ... und Wein, Champagner. Alles, was Sie möchten.
Am Nachmittag dann werden wir durch die Stadt bummeln ... Sie kennen Taormina ... die Boutiquen ... Sie suchen sich ein paar hübsche Sachen aus, ich kaufe sie Ihnen ..."

Minou ist starr. Für ein Flittchen hält er sie. Ein luxussüchtiges, verderbtes Früchtchen ... oder Schlimmeres!
"Was denken Sie von mir?" ruft sie, in tiefster Seele verletzt, "eine solche bin ich nicht ... !"
"Niemand wird davon erfahren ... wenn wir beide schweigen."
Doch sie darauf: "Nein, nein." Dann anklagend und wie das naive Kind, das sie ist: "Sie lieben mich ja nicht, Sie lieben mich ja nicht", ruft sie pathetisch.
Er, die Hand auf dem Herzen, sagt: aber sicher ... sie gefiele ihm über die Maßen. Viel mehr als ihre kleinen Kameradinnen im Campeggio. Er möge sie sehr. Er habe sie gern ...
Die Arme um sie gelegt, will er sie jetzt in Richtung seines Autos mitziehen, das irgendwo an der Uferstraße geparkt ist. Aber sie wehrt sich.
"Vous n' avez aucune admiration pour moi", schluchzt sie und will damit sagen, er habe überhaupt keinen 'Respekt'. Im Französischen fallen ihr nie die rechten Worte ein.

"Doch, doch", antwortet er schnell, "für mich sind Sie ein sehr respektables Mädchen und ... ich werde NICHT schlecht von Ihnen denken, ganz gleich, was wir auch tun ..."
Mit weißem, ungläubigem Gesicht starrt sie ihn an.
"Oder möchten Sie lieber zurückgehen zum Campeggio?", fragt er.
Sie schüttelt den Kopf, dann nickt sie. Ist verwirrt. Und weint fast.

Sie müsse ihn auch verstehen. Obwohl er viel zu tun habe, sagt er, habe er ihrer Laune augenblicklich nachgegeben und sich mit ihr zu beinahe nachtschlafener Stunde an diesem entlegenen Ort getroffen. Da sehe sie ... das zeige ihr doch, wie sehr er sie möge. "Und Sie?", fragt er, "warum sind Sie gekommen?"
"Ich wollte mit Ihnen die Sonne aufgehen sehen", murmelt sie kläglich.

Es ist so ein Gedanke gewesen... mit IHM ALLEIN das herrliche Naturschauspiel ... etwas Unvergessliches ... damit Sie sich später immer daran erinnern könnte. Das hat sie gewollt.
Er hält sie fest. Noch zielstrebiger jetzt. Während seine Hand in ihrem vom Meer feuchten Höschen plötzlich auf Wanderschaft gehen will.
Wild reißt sie sich los.
"Laissez moi, laissez moi", ruft sie dramatisch.
Sie meint das auch. Ehrlich. In einem gewissen Sinn meint sie das ehrlich. Obwohl sie gar nicht möchte, dass er sie gehen lässt.
Aufgewühlt ist sie furchtbar. Dass sie ‚es‘ wirklich nicht wolle, wispert sie ... nicht hier, nicht in Taormina. Vor allem, nicht so. Wo sie ihn doch erst seit kurzer Zeit kenne ...
Da packt er ihre Hand gewaltsam, um sie wieder an sein - durch die Hose noch immer verhülltes - Geschlecht zu pressen. Damit sie endlich eine Ahnung bekommen soll von der Pracht und Quicklebendigkeit seiner imposanten Vorrichtung. Und fährt entsetzt zusammen, weil sie einen Schrei ausstößt ... einen durchdringenden.

*

Das bringt Ernando Sascala augenblicklich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Er wird sich hüten, bei dem übergeschnappten Ding nur ein Jota weiterzugehen. Er glaubt ihr schließlich, dass es ernst ist mit ihrem Sträuben. Am Anfang hatte er gedacht, sie treibe Spielchen. Auch ist sie gefährlich jung und Kanutz ihm ständig auf den Fersen ... der Tugendwächter.
Es ist ohnehin klüger, wenn ich das Ganze sein lasse, denkt er und ruft sich zur Disziplin. Ist bald wieder Herr seiner selbst.

Wie SIE es sich denn vorgestellt habe, fragt er aber doch neugierig und etwas amüsiert. Was denn SIE , nun, wo der Sonnenaufgang vorüber sei, mit dem gemeinsamen Morgen hätte anfangen wollen ...
"Wir könnten schwimmen gehen", hört er sie da enthusiastisch rufen, als habe sie gerade den Stein der Weisen entdeckt. "Jetzt, wo das Meer so schön ist", sagt sie. "Einfach zusammen hinaus schwimmen ... das wäre doch ..."

Sie hätte wissen müssen, dass man IHN nicht in grauer Morgenfrühe ins eiskalte Wasser lockt. Ernando fröstelt schon bei dem bloßen Ansinnen. Zu nichts hat er weniger Lust als zu diesem Zeitpunkt mit einem hysterischen Teenager baden zu gehen. Da lässt er sie los. Abrupt. Springt noch ein paar Meter zur Seite. Streckt ihr seine beiden Handflächen mit gespreizten Fingern entgegen.
"Ich habe genug", signalisiert er ihr damit, "ich gebe auf!"

*

Enttäuscht sieht sein Gesicht aus, aber nicht böse – und für Minou so unsagbar liebenswert, dass sie es am liebsten anspringen und mit Küssen bedecken möchte, was sie natürlich nicht tut, weil sich ihr sonst dieses harte, fordernde Ding wieder schamlos in den Weg gestellt hätte ...

Sie marschieren ein Stück miteinander am Meer entlang. Das heißt: er schreitet kräftig aus in Richtung seines Autos. Sie läuft neben ihm her. Wie ein Hündchen. Kaum kann sie Schritt halten. Jetzt sind schon die ersten Spaziergänger zu sehen und Touristen, die sich auf Decken zum Sonnenbaden bereit machen ... Der Strandtag beginnt.

"Ganz sicher, dass Sie nicht mitkommen möchten?", fragt er sie immerhin noch einmal und lächelt.
Nein, sie ist überhaupt nicht sicher ... im Gegenteil ... jetzt möchte sie gern mit ihm fahren. Aber es ist zu spät. Sie darf das Gesicht nicht verlieren. Sie ist ein anständiges Mädchen .
"Es tut mir leid" hört sie ihn sagen, "es war nicht gut, was eben geschehen ist. Ich bitte Sie um Verzeihung, wenn ich Ihre Gefühle verletzt habe. Aber ich bin verrückt gewesen. Nach Ihnen. Ihrer Jugend. Ihrer Schönheit. In Zukunft werde ich Sie nicht mehr mit meinen Wünschen konfrontieren ..."

Minou zieht den Pullover aus, den er ihr geborgt hat. Reicht ihn zurück.
"Sie können ihn ruhig anbehalten", meint er großzügig, "ich habe ihn jetzt nicht nötig!".
"Ich brauche ihn auch nicht", sagt sie.
"Ich werde Sie von nun an sicher nicht mehr interessieren", stellt sie sachlich fest, "denn auf meine FREUNDSCHAFT legen Sie ja bestimmt keinen Wert."

Halb unbewusst hofft sie, er würde vielleicht über diese Worte lächeln. Oder ihr etwas Warmes, Liebes sagen, um sie vom Gegenteil zu überzeugen?

"Es wäre gut", sagt er, "wenn Sie jetzt auf schnellstem Weg zurückliefen nach Mare Luce, bevor man Sie vermisst. Und ziehen Sie sich bei ihrem nächsten frühmorgendlichen Strandausflug wenigstens ein Paar Schuhe an die Füße, statt barfuß wie ein Vögelchen im feuchten Sand herum zu hüpfen und sich die nächste Erkältung schon vorzuprogrammieren."

*



ORANGENHAINE

Aufgeregt wie ein Bienenschwarm wuseln die jungen Deutschen am nächsten Morgen auf der Terrasse herum. Heute wird man zu den antiken Stätten von Siracus und Agrigent fahren. Draußen wartet schon der Bus.

Ernando Sascala ist auf einmal da und sofort von Touristinnen umringt. Auch Herr Kanutz, der Reiseleiter, steuert gleich auf ihn zu. Die beiden wechseln wie immer ein paar schnelle Sätze auf italienisch - übers Wetter wahrscheinlich - weiß der Geier ...
Sascala blickt und nickt zu Minou hin, die gerade mit dem Frühstück fertig geworden ist.

Für den ganztägigen Trip verteilt Giovanni jetzt Lunchpakete.
"Halt ... die Signorina braucht keins", sagt Sascala da aus heiterem Himmel, "sie wird nicht mitfahren!"
"Was soll das heißen?", ruft Kanutz, "das hier ist unser Gruppenausflug."
"Sie wird mit MIR kommen!"
Da sind alle sprachlos. Am meisten Minou selbst.
"Gehen wir", sagt Ernando und fasst sie beim Arm.
"Nein, so nicht! Soo nicht! ICH trage die Verantwortung!", ruft der Reiseleiter. " Schauen sie sie an. Sie ist ... ein Kind!"

Minou fällt vor Aufregung fast um: Sascala tut, als verfüge er über sie. Sie müsste eigentlich vor Scham in den Boden sinken, aber nein, sie ist geschmeichelt. Und durcheinander. Bereit, mit ihm bis ans Ende der Welt ... oder so ...

Der Sizilianer nimmt Minous Strickweste von der Stuhllehne, legt sie ihr um die Schultern.
"Kommen Sie", sagt er.

Und sie beugt sich wie selbstverständlich seinem Willen. Geht brav mit, wobei sie sogar einen Schritt hinter Sascala herläuft, weil die Gänge zwischen den Tischen eng sind. Sie folgt ihm. Sollen die anderen denken, was sie wollen!

So überqueren sie die Terrasse. Die deutschen Jugendlichen gaffen. Nichts ist zwischen ihr und dem Sizilianer abgesprochen gewesen, obwohl das jetzt alle glauben.
Da beginnen sie ein Pfeif- und Buh-Konzert, während Minou an den Tischen entlang Spießruten läuft. Schon meint sie das frostige Lachen ihrer ‘Freundinnen’ zu hören.

"Das schlägt jetzt dem Fass den Boden aus! Sie lassen die Kleine sofort in Ruhe", ruft der Reiseleiter hinter ihnen her. Sascala stört sich nicht daran. Minou auch nicht.
"Es wird ein Nachspiel haben, Früchtchen", schreit Kanutz, "ich werde deinen Vater benachrichtigen. Heute Abend hast du das Retour-Ticket in der Tasche!"

Ernando fasst Minou bei der Hand. Führt sie zu seinem weißen Auto.

Im offenen Sportcoupé fahren sie in den Morgen hinein, die Küstenstraße entlang. Strada del Sole. Der Sonne entgegen, die schon jetzt in der Frühe beginnt, ihre ganze Macht zu entfalten. Die See ist blau. Unter dem unendlich hohen, unendlich weiten Himmel Siziliens gleiten sie dahin, federleicht. Minou fragt nicht nach dem Ziel. Ihre Wangen glühen.

Wenn ER manchmal zu ihr herüber blickt, senkt sie die Lider. Es überrinnen sie heiße und kalte Schauer. Innen. Außen ist sie starr wie eine Puppe.

Der Mann, dunkel und fremd neben ihr ... sagt kein Wort.

Sie schaut ihn an, heimlich von der Seite. Für Sekunden nur. Hinter dunkelblauen Gläsern sind seine Augen heute unsichtbar. Er legt seine Hand auf die Ihre: die elegante, sonnenbraune Hand. Schwarzer, lockiger Haarflaum bedeckt das Gelenk, das kräftig und schmal aus der Manschette des Hemdes hervorsieht.

Da durchflutet Minou schon wieder das merkwürdige Gefühl. Die Leidenschaft? Tief innen beginnt sie zu zittern. Die Liebe?

Irgendwie ist es unfassbar, denkt sie, dass ich hier neben ihm sitze.

In Noto nimmt er sie mit in einen Laden. Eine dieser kleinen, luxuriösen Boutiquen.
Nun soll auch sie eine Sonnenbrille bekommen. Minou sieht die Notwendigkeit nicht ein. Sie möchte ihre Augen nicht verstecken, von denen ER doch gesagt hat, sie seien schön. Sie hat nie so ein Ding besessen und braucht es auch nicht. Es wird ihr bestimmt nicht stehen. Aber ... wenn ER es für notwendig hält!

Unter viel Getue der zwei geschickten Geschäftstöchter kaufen sie dann aufwändige 'ochiali' in einer geschwungenen Schmetterlingsform, der Rand mit winzigen Glitzersteinen besetzt.
Auch einen Seidenschal sucht ihr Ernando aus, ein viereckiges Tuch ... die Farben der See als Untergrund und aufgezeichnete, hingehauchte Badenixen. Einen fröhlichen Sommerschal.

In der ‚Quick‘ hat Minou einmal ein Foto von der Schauspielerin Elisabeth Taylor gesehen und erinnert sich, wie die solch ein Tuch trug. So macht sie es auch: Faltet es zum Dreieck, legt es quer über das hochgesteckte Haar, dass ein Zipfel im Nacken liegt und zwei Zipfel zieht sie nach vorne, zieht sie unter dem Kinn über Kreuz, dann ebenfalls nach hinten zum Nacken, - lang genug sind sie ja - und verknotet sie dort. Nun kann der Schal im Fahrtwind nicht weg flattern.
Minou setzt noch den Strohhut auf, der auf dem Rücksitz liegt. Einen hellen Männerhut. Drückt ihn etwas in die Stirn. Jetzt ist sie schick wie der Hollywoodstar.

Sascala, hinter seinen dunklen Gläsern, mustert sie von der Seite her und schüttelt lächelnd den Kopf. Sie lacht.

Je weiter sie sich vom Meer entfernen, desto einförmiger wird die Landschaft, desto schmaler und holpriger die Straße, bis sie auf eine kahle, mit niedrigem Gestrüpp bewachsene Hochebene gekommen sind. Glutheiß ist der Wind. Johannisbrotbäume, Steineichen - sie hat die Namen erst aus ihrem Reiseführer erfahren - stehen an ausgetrockneten Bachbetten. Uralte Fußgängerstege aus Feldsteinen oder rohen Holzplanken führen darüber hin.

Hier begegnet ihnen kein Auto mehr. Nur ein Vespa-fahrendes Touristenpärchen. Und ein von einem Maultier gezogener, mit üppig bemalten Seitenbrettern verzierter, bunter, bäuerlicher Karren, darauf winkende Sizilianer.

Manchmal kommen sie an einsam in die Landschaft gesetzten Prunkbauten vorbei, alten Herrenhäusern, die unbewohnt aussehen. Von den Mauern bröckelt der Putz ab.

Auf Marktplätzen oder vor den Trattorien der Orte, durch die sie jetzt fahren, stehen und sitzen Männer herum, zumeist alte. Mit milder Neugier sehen sie dem offenen Wagen nach.

Ein Stück geht es nun ins Landesinnere hinein, wo sich gelbe Getreidefelder bis zum Horizont dehnen. Sengende Hitze liegt über dem Land. Olivenbäume ...
"Die werden tausend Jahre alt", sagt der Conte.

Die Ölbäume haben Blätter wie Silber, auf das Staub gefallen ist. In der Ferne ragen graublaue Hügel.

"Wollen Sie einmal sehen, wo die Orangen wachsen?"
"O, oui, s’il vous plait!" Minou reckt sich begeistert auf.
Bald kommen sie ins Gebiet der schattigen Plantagen. Schotterpisten ziehen sich kilometerlang durchs Gelände. Denen folgen sie.
Zitrushaine, so weit die Blicke reichen.

"Ich sehe ihre enttäuschten Augen", sagt der Mann.
Tatsächlich ... da leuchten keine Goldorangen aus dem dunklen Laub!
"Die Früchte sind erst winzig und grün."
Minou sieht sie nicht, sie verstecken sich wahrscheinlich zwischen den Blättern.
"Erst im Dezember werden sie reif.
ER muss etwas mit diesen Plantagen zu tun haben, denn:
"Unser großes Problem ... die Bäume brauchen viel Wasser", sagt er. "Und das ist hier Mangelware. Die Leute bessern die alten Aquädukte immer wieder aus, weil fast täglich Teile einstürzen und dann ein Stau entsteht. Auch mit Tanklastern wird das Wasser herbei geschafft."

Knaben laufen schweigend bereits ein ganzes Stück hinter dem jetzt im Schritttempo fahrenden Wagen her, bevor Sascala anhält. Ältere Sizilianer drängeln hinzu. Die Leute begrüßen den Conte. Wieder diese sonderbare Unterwürfigkeit, wie Minou sie schon an dem Abend in Taormina bei Kellnern und Barkeepern erlebt hat. Die armselig gekleideten Gestalten nicken bei jedem Satz des Conte. Und er scheint unzufrieden, wird laut ... Minou kennt das, wenn seine Stimme um Nuancen heller klingt, sich am Ende, heiser vor Erregtheit, fast überschlägt. Sobald er heftig wird, senken die Leute ihre Köpfe. Zuletzt scheint er, o Wunder, jedoch besänftigt und die Lage beruhigt sich. Minou hat kein Wort verstanden. Ende gut, alles gut. Befreites Gelächter kommt auf. Einer der Männer überreicht ein Bündel handgeschriebene Listen und Ähnliches, das der Conte lässig auf den Rücksitz des Autos wirft.

Inzwischen sind auch Frauen aus den Tiefen des Orangenhaines herbei gekommen. Sie grüßen Minou und starren sie mit fast kriecherischer Demut an. Bewundernd. Das kann nicht wahr sein! Tun so, als ob sie allergrößten Respekt verdiene. Obwohl man sie eigentlich für ein hergelaufenes Flittchen halten muss! Weil doch alle hier sicher wissen, dass Ernando ein verheirateter Mann ist.
"Che bella - bella"- und "ch'è gentile la Signorina"- rufen sie und diese Lobhudelei, eher an die Adresse Sascalas als an ihre gerichtet, irritiert Minou sehr.

Auch die Arbeiterinnen sind von Armut gezeichnet, mit dünnen, leidenden Gesichtern. Sehr junge Frauen, vielleicht so jung wie Minou selbst, schieben schwangere Bäuche vor sich her. Ein Mädchen unter ihnen jedoch hat ein Antlitz voll und hübsch wie das von Gina Lollobrigida, dazu eine üppige, rabenschwarze Lockenmähne und eine sehr anmutige Figur. Als sie lächelt, sind ihre Zähne schneeweiß, von jenem blendenden Weiß, von dem Minou nur träumen kann! Vorne im Oberkiefer aber klafft ein schwarzes Loch. Es fehlen ihr zwei Schneidezähne und das zerschlägt die ganze Schönheit ihrer Person!

Minou fühlt sich schlecht. Möchte schnell weg da.

Denkt, dass man sie trotz des ‘Bella - bella’ Gelabers im tiefsten verachtet. Alle spüren bestimmt, warum sie mit dem Conte im Wagen sitzt und was noch heute geschehen wird! Die keuschen Gattinnen der Sizilianer, die in dieser Hitze für Hungerlohn Unkraut jäten, Äste stutzen, Düngemittel sprühen... was können diese Frauen in Wahrheit von einer wie mir halten?, denkt sie.

Minou wird ein Gefühl der eigenen Minderwertigkeit, ja Schlechtigkeit, nicht los. Sie schämt sich sehr, so bejubelt zu werden ... und nur weil sie ein schickes Kleid anhat und mit Ernando zusammen ist!

Woher die Signorina komme, wollen alle aufgeregt wissen.
"E Tedesca", sagt Sascala.
Die junge Frau, der die zwei Schneidezähne fehlen, errötet, als er der Conte sie lächelnd anblickt. Sie bewegt keinen Muskel ihres schönen Gesichtes und hält den Mund hermetisch zusammengepresst.
Ob ‘la ragazza tedesca’ italienisch spreche, fragt eine Matrone.
"Non... " Minou grinst verlegen.
"Che bel sorriso che c'à ", wird nun gemurmelt - was für ein hübsches Lächeln, die Signorina ...
(Oh, Gott! )
"Bella, Bella."
"E buona la Germania", wirft jetzt jemand euphorisch ein, "Frankoforte. Berlino."
"Mio figlio è andato a Monaco di Baviera... che bella città... che bella città!"
"Ah, München, murmelt Minou, "ja das ist schön!"
"La Germania un paese molto bene, molto bene."
"Si, si."
Die Sizilianerinnen bestätigen sich gegenseitig, dass Deutschland fantastisch sei und diese ragazza bella, bellina, bellissima ...
Da werden sie schnell von ihrem Vorarbeiter-Boss mit einer scheuchenden Handbewegung und ein paar barbarischen Lauten zurück gejagt an die Arbeit.

Nach einer weiteren halbstündigen Fahrt über die sonnverbrannte Hochebene, vorbei an trockenen Bachläufen, durch steppengelbes Grasland, kommen sie zu einem Stück Erde, auf dem ist das reinste Wunder erblüht. Da stehen in unzähligen Beeten nach Farben gesondert ... Rosen. In allen Variationen. Von weiß bis zum dunkelsten, bläulichen Weinrot. Ein Blütengarten, so weit das Auge reicht. Ein Duft hängt wie Zimt und Nelken in der Luft. Nun ist Minou klar, woher die Sträuße kommen, die Tag für Tag in ihrem Bungalow stehen.

LKWs warten auf staubiger Piste. Hier gärtnern mindestens zwei Dutzend Arbeiter, die jetzt ebenso neugierig und beflissen herbeieilen wie zuvor die im Orangenhain. Minou, der Verwirrten, aber inzwischen halbwegs Gefassten schmeicheln auch diese Leute mit überschwänglichen Worten, Worten, die ebenfalls wieder viel mehr an die Ohren des Conte gerichtet zu sein scheinen, als an die ihren.

Mit Signor Sascala und zwei Arbeitern spaziert Minou dann am Rand der Rosenfelder entlang. Diese Pracht werde hauptsächlich aufs Festland exportiert, erfährt sie. Überstark und süß ist der Duft hier oben, heftig zieht die Sonne ihn aus jeder Blüte. In der fast brennend heißen Luft hängt ein gewaltiges, betörendes Aroma. Hochsommer!


Später die Weiterfahrt im Cabrio. Einer der Männer hatte zum Schluss noch einen riesigen Strauß geschnitten - nein, eher ein Prunkgebinde - und es Minou mit Grandezza überreicht.
Sie, in ihrem Kleid aus persilweißem 'Everglaze', ist tief in die Lederpolster gekuschelt. Mit dem Schoß voller roter Rosen.

Minou ist dem Glück sehr nahe. Ganz entspannt fühlt sie sich schon in diesem Wagen und an Ernando Sascalas Seite, froh, dass sie die Menschenansammlungen von eben hinter sich hat. Jetzt sind da nur noch ER und sie. Die Erwartung nimmt ihr fast den Atem, immer, wenn sie zu seinem Gesicht hinüber blickt ... sie ahnt ... heute wird das Unsagbare geschehen. Das Unaussprechliche. Es bedarf keiner Worte. Sie spürt es.

Im Inneren der Insel erscheinen die kleinen Ortschaften mit den eng zusammengerückten Häusern trotz der gleißenden Sonnenhelligkeit feindlich, als hätten die Bewohner hier dicht gemacht für alle Zeiten. Da sind jetzt um die Mittagszeit die hölzernen Fensterläden geschlossen, die metallenen Rollos vor den wenigen Läden heruntergezogen. Keine Menschen auf den Straßen. Nur ein streunender Hund mit eingezogenem Schwanz oder einmal eine Katze.

"Ach", sagt Minou in ihrem zusammengestückelten Französisch, "wenn ich hier wohnte, ich würde bunte Blumen um das Haus pflanzen."
"Die Blumen verdorren. Es ist die Sonne. Sie dorrt auch die Menschen aus und macht sie träge", sagt Sascala, "ich glaube, sie lässt das Gehirn schrumpfen. In Deutschland gibt es zu wenig Sonne und hier viel zu viel davon."
"Ich finde es hier besser!", stottert Minou.

Durch Orte kommen sie, deren Namen sie sich nun wirklich nicht mehr merkt. Sie achtet auch nicht mehr auf bauliche Schönheit oder Verfall. Weil ihre Gedanken nur um IHN kreisen.

*



TAORMINA TAG

Dann fahren sie wieder an der Küste entlang, am Saum des mittagsblauen Ozeans.
Das antike Taormina leuchtet hoch oben, viele hundert Meter über dem Meer. Ernando bringt Minou zu einem Restaurant, das auf halber Höhe zwischen Meer und Stadt liegt, mitten in einem Park aus dichter Vegetation, üppigem, schattigem Grün. Überall, an den Mauern wuchern haushoch Schlingreben. In wilder Farbenglut leuchten ihre handtellergroßen cyclamenroten oder blaulila Blüten.

Mit Schönheit wartet auch das Foyer des Restaurants auf. Schönheit des alten Europa! Ruhe und Vornehmheit. Kostbare Teppiche. In den Speiseräumen antike Schränke, bauchige Anrichten, Patina der Jahrhunderte, Intarsien, Königswappen, edles, bernsteinfarbenes Holz, glatt und glänzend, als habe die vorbei fließende Zeit selbst die wertvollen Möbel poliert.

Als der Conte und das Mädchen von beflissenen - und dabei doch so vornehmen - Kellnern geleitet, auf der Aussichts-Terrasse Platz genommen haben, gleitet Minous Blick über blühende Gärten bis tief hinunter zum Meer und weit über die sagenhafte, ihr bereits vertraute Bucht von Taormina. Die Terrasse hat zur Seeseite hin eine Panoramafront. Glastüren, die sich auf unsichtbaren Rollen bewegen, sind zurückgeschoben. Wind flutet kühlend herein. Im Landesinneren die trockene Hitze war Minou auch angenehm. Hier die Kühle ist aber noch wunderbarer. Das Klima Siziliens scheint wie für sie geschaffen!

Schon beim Durchqueren des Speisesaales haben die Gäste Sascala und seine junge Begleiterin angestarrt. Stühle wurden gerückt und Augen verfolgten sie. Auf der Terrasse ist es genau so. Jede ihrer Bewegungen wird registriert.

Minou hat keine Angst, sich beim Essen zu blamieren, falsche Bestecke zu greifen oder die Serviette nicht richtig zu handhaben ... an so etwas liegt ihr nichts. Ihre Beklemmung sitzt tiefer. Kommt jäh. Eine gesundheitliche Störung. Eben hat sie sich noch besonders gut gefühlt! Dann das Schwanken in der Wirbelsäule. Der leichte, plötzliche Schwindel im Kopf. Jetzt ist der seltsame Zustand wieder da. Die Übelkeit. Und sie wird schlimmer.
"O, lieber Gott, lass mich bitte bloß nicht umfallen!"
Sie muss ihre ganze Kraft zusammenreißen und gegen die drohende Ohnmacht angehen.
Wie eng die Tische bei einander stehen!! Wie viele Leute hier sind!! Sie konzentriert sich auf die Weite draußen. Blickt hinunter auf das unendliche, beruhigende Meer. Saugt die Luft in jede Faser ihrer Lunge.
"Oh Gott, mir wird schlecht, schlecht!" Sie kämpft schon wieder einmal mit aller Macht dagegen an ... knapp wird die Luft zum Atmen.

Sascala ahnt nichts. Hilft ihr behaglich, Speisen auszuwählen, die ihr im Moment nicht gleichgültiger sein könnten.

Sie bemüht sich, normal zu wirken. Doch innen die Panik! Am schlimmsten ist es, wenn ER sie aufmerksam betrachtet. O Gott, wenn er nur nicht merkt, dass sie nicht in Ordnung ist. Was wird er denken? Und tun? Nur eins ist wichtig: Jetzt nicht umfallen ... ihre Kraft bündeln ... nicht umfallen!

Gott sei Dank bringt der Kellner die Getränke. Als sie ein paar Schluck vom Aperitiv getrunken hat, geht es ihr langsam besser. Beim Antipasto dann ist fast alles wieder in Ordnung. Die Angst verflogen wie ein Spuk! Bald fühlt sie sich richtig gut.

Als Ernando einmal hinausgegangen ist und durch den hinteren Eingang der Terrasse wiederkehrt, sitzt sie da, den Rücken ihm zugewandt. Plötzlich küsst er sie auf die samtige, gebräunte Haut. Mitten zwischen den dünnen Schulterblättern streift sie sein Mund. Hart. Verlangend. Mit trockenen, heißen Lippen.
Minou trifft es wie der Blitz. Sie erschauert bis ins Mark, hat ihn nicht kommen hören.

*


Ernando Sascala fühlt, wie sie unter der Berührung seines Mundes erbebt. Auch er fiebert dem Ende des Abends ungeduldig entgegen. Nicht, als ob er NUR an dem EINEN interessiert wäre ... so vieles möchte er dieser Kleinen heute noch zu Füßen legen. Die Schönheit seines Landes hilft ihm stets bei seinen Verführungskünsten. Es gefällt ihm, seine Gespielinnen die Speisen ausgewählter Lokale genießen zu lassen. Ihnen die strahlendsten Sehenswürdigkeiten zu zeigen, die traumhaften Ausblicke. Er ist stolz auf sein Sizilien. Es kostet ihn wenig, hübsche Frauen zu verwöhnen, die jetzt von der Reisewelle in so üppiger Zahl an die Strände seiner Insel gespült werden. Mit ein bisschen Luxus, mit kleinen Geschenken bringt er die Augen dieser anspruchslosen Geschöpfe zum Leuchten!

Nun, er gibt ja auch und nimmt sich nicht alles umsonst, obwohl selbst dieser positive Aspekt seines Treibens ihn vor seinem Gewissen nicht rein wäscht! Nein, nein, er spürt, wie egoistisch er ist ... aber zu schwer wäre es, gegen seine Triebe anzugehen und ... warum auch? Die Bedürfnisse eines Mannes muss die Welt eben respektieren!
Der Conte würde es jedoch als ungerecht empfinden, wenn ihm einer sagte, dass er mit seinen ständigen Affären das Leben seiner Frau ruiniere. Denn das stimmt nicht. Sehr bewusst schließt er Lucia in seine männliche Aufmerksamkeit ein.

Seit sie nicht mehr geheimnisvoll und aufregend ist, erfüllt er, ohne große Begierde, dafür aber mit Pflichtbewusstsein, auch einem nicht zu leugnenden Wohlbefinden, seine ehelichen Aufgaben. Er ist noch immer stolz auf Lucia, ihre kühle Sanftheit, ihr angenehmes Äußeres. Eine Frau, die ihm nie, auch nicht im Bett, je widerwärtig sein würde.
Lucia fragt schon lang nichts mehr. Die Kinder sind ihr wichtig. Die Religion. Er ebenfalls. Er noch immer. Noch immer an erster Stelle ER. Sie hat längst aufgehört, Szenen zu machen. Tat sie das jemals?

Sascala ist loyal. Wenn er nach Gewinn strebt, neue Geschäfte angeht, dann tut er es ausschließlich für Lucia und die Seinen – ich bin ein guter Familienvater und jeder weiß das - Was die wechselnden Weibchen und seine Gefühle für diese betrifft, so kann er sich zügeln. Niemals wird eine dieser Frauen tiefer in seine Gedanken oder gar in die Zukunftsplanung einbrechen. Wenn ihn auch manchmal eine rührt - er ist ein Mann mit Prinzipien. Nein, den Trieben misst er keine übergroße Bedeutung bei. Nicht, seit er seine wilden Jugendabenteuer hinter sich gelassen hat.

Natürlich ist das Mahl, das er jetzt diesem jungen Mädchen bietet, bis in jede Einzelheit durchdacht. Köstlich. Und das Lokal stellt bestimmt den Gipfel an kulinarischer Vollkommenheit dar.

*


Nach dem Mittagessen lassen sie den Wagen in der Nähe des Restaurants stehen. Steigen zu Fuß all die Pfade und Stufen hinauf zum antiken Taormina. Nehmen den gleichen Weg, auf dem sie vor fast einer Woche mit der zusammengewürfelten Clique unter dem nächtlichen Sternenhimmel unterwegs waren. Damals war Minou lachend und sorglos gewesen.

Diesmal, am hitzeflimmernden, frühen Nachmittag, erscheint ihr nichts mehr locker, nichts leicht. Sie schreitet mit IHM allein in schwerer, schicksalsträchtiger Zweisamkeit durch die alten Gassen. Er hält sie bei der Hand. Nein. Sie halten sich gegenseitig bei den Händen. Während der ganzen Zeit lassen ihre Hände einander nicht los. Der neununddreißigjährige Sizilianer und das sechzehnjährige Mädchen! Da ist es plötzlich wie ein starkes Band zwischen ihnen, eine vollkommene Harmonie ... so empfindet es zumindest Minou. Alle Unterschiede sind gelöscht, die des Alters, der Sprache, der Herkunft ... sie die einzigen Menschen unter der Sonne. Es klingt seltsam, aber sie ist eins mit IHM. Vorher nicht. Nachher auch nicht. Doch auf diesem Spaziergang durch das alte Taormina in der Glut des Nachmittags, während ihre Hände sich fest umfassen, ist sie EINS mit ihm. Zum ersten Mal im Leben fühlt sie sich ganz und gar jemandem zugehörig, zum ersten Mal ist sie innen nicht mehr allein! Es ist ... Magie!

Er führt sie durch Paläste, die man besichtigen darf, durch feierliche, kühle Innenhöfe, schattige Gärten. Sie wandern weiter. Immer halten sie sich bei den Händen, dass keiner sie von einem ‚wirklichen‘ Liebespaar mehr unterscheiden könnte. So schlendern sie durch die Gassen der Stadt.
Dann führt Ernando sie hinüber zum riesigen, antiken Amphitheater, das verlassen daliegt in der Hitze des Nachmittags. Für eine kurze Weile sind sie die Einzigen weit und breit in grandioser Kulisse unter all den sinnenbetäubenden, in Schönheit verwitternden, in der Sonne lastenden Ruinen, dem jahrtausendealten Menschenwerk. Zwei winzige Gestalten.

Das Theater, von Griechen erbaut, von Römern übernommen, zeugt von den frühen Kulturen, ihrem Verlangen nach Schönheit, Größe und ... Unterhaltung - so hat Minou es Tage zuvor im Reiseführer gelesen.
"Hier haben keine Raubtiere Christen zerfleischt, hier haben nicht Gladiatoren sich gegenseitig totgeschlagen", sagt Ernando, als spüre er instinktiv, was für Gedanken ihr gerade durch den Kopf gehen.

"Allein zur Ehre der großen Dichter ist dieses Theater erbaut worden", sagt er, "hier führte man Werke von Ovid und Homer auf. Die Völker, die damals in der Stadt wohnten, liebten edle, gewaltige Worte und die Weisheit der Denker!"
Da ist Minou beruhigt.

Taormina. Teatro Greco-Romano. Hier schlug einst das Herz einer großen, antiken Metropole.
In den von der Sommerglut eingesprengten Ritzen zwischen Quadern wachsen niedrige Grasbüschel. Das grandiose Menschen - Bauwerk aus sich türmenden Steinen schlummert in der Sonnenglut seit zwei Jahrtausenden stumm einem Verfall entgegen, der, so Gott will, niemals ganz eintreten wird. Die ewigen Steine strömen in der Hitze einen merkbaren Duft aus, einen eigentümlichen Geruch. Auch weht aus entfernten Gärten ein betörend süßes Blütenaroma herüber.

Die Stille nutzt der Sizilianer, um Minou zu küssen. Heftig und voller Verlangen. Aber doch vorsichtig.

Sie hat Angst vor seinen Küssen. Ihr Mund bebt, ihre Augenlider flattern.

Für Minuten sind sie fast allein. Dann sind schon wieder Touristen in der Nähe. "Ah" und "oh" und "guck mal der Ätna, die AUSSICHT!", jubelt man von allen Seiten. "My God, what a beautiful view!"

"Kommen Sie", sagt Ernando, "ich zeige Ihnen, wo es die beste Eiscreme gibt!" Sie schlendern an der Naumachia–Wand vorbei. Zum Corso Umberto. Nachdem Minou im Gehen eine Riesenportion verzehrt hat, spazieren sie weiter durch das Zentrum der antiken Stadt. An vornehmen Schaufenstern vorbei, inmitten eleganter, flanierender Menschen.
"Schauen Sie, hier dieses weiße Kostüm ist wie für Sie gemacht", sagt Ernando, "wir kaufen es!"
Warum will er ihr immer Sachen schenken? Das ist sie nicht gewöhnt. "Nein, nein", sagt sie errötend, "ich hab doch schon genug."

Zu einer Steinbrüstung führt sie Ernando am Rand eines parkähnlichen Gartens, der Villa Mazzaro. Da breitet sich tief unter ihnen die Bucht von Taormina ... unendlich. Bis dorthin, wo Meeresblau hineinfließt ins Blau des Himmels. Herrenhäuser und Schlösschen wachsen an steilen Hügelhängen empor. Domizile der Reichen. Oder besondere Hotels. Von Blüten umrankt. Inmitten üppig wuchernder Gärten. Und, wenn man den Blick nur ein wenig in eine andere Richtung wendet: plötzlich Klippen, rau, schroff ... Oder öde Felszungen. Diese Vielfalt, diese wilde Schönheit.
All das schenkt ER ihr an EINEM Tag. Und SEINE Anwesenheit.

Von Menschen wimmelnd und bunt sind die schmalen Badestrände tief unten. In der Ferne schimmern grüne Inselchen, weit weg an der entgegenliegenden Küste der leuchtenden Bucht. Hundert Boote und weiße Jachten kreuzen durchs türkisfarbene Wasser. Wie Kinderspielzeuge so winzig. Die entferntesten nur noch gleitende Punkte auf ihren Bahnen über die sonnenflimmernden Gründe. Sie ziehen eine dünne, helle Spur nach sich. Wie Schlittschuhläufer auf dem Eis.

Hinter den Ruinen des Teatro Greco ragt der Vulkan. Weit weg eigentlich, aber überklar, jede Kontur scharf geschnitten. Wie zum Greifen nah. Unberührt. Majestätisch vor dem Blau des Himmels. Mit einer weißen Kappe beladen jetzt, Anfang Juni. Der schneebedeckte Gipfel des Etna ...

Als die Zwielichtstunde naht, die Zeit der Dämmerung, nimmt der erregende Duft zu, der aus den Gärten der Stadt aufsteigt. Gelsomino ist es: Jasmin. Vermischt mit dem der Gardenien. Die ganze Stadt ist von reinem Blütenaroma durchtränkt. Minou atmet den Geruch tief in die Erinnerung ein. Er ist einmalig wie Siziliens Frühling. Wie das Leben. Wie die Liebe selbst. Betäubend und voller Süße.

Später, wenn Taormina für sie längst ein ferner Traum sein wird, wird sie sich dieses Tages, dieses Duftes, immer erinnern. Der schneebedeckte Gipfel des Etna wird in Nächten vor ihrem inneren Auge aufleuchten. Und ER, Ernando, wird ihre unvergessliche erste Liebe geworden sein. Noch ahnt sie das nicht. Viel zu berauscht ist sie, viel zu hungrig nach Zukunft, viel zu flüchtig jagt sie im aufregenden ‚Jetzt‘ voran, von zu vielen Eindrücken überwältigt, um darüber nachzudenken, was sie eigentlich gerade empfindet. Erst nach Jahrzehnten, nach guten und schlechten Zeiten wird sie wissen: Dieser Nachmittag ist der glücklichste gewesen in meinem Leben.

*



DER VULKAN

Wieder zurück im Auto lassen sie die weiße, antike Stadt hinter sich.
Minou ist schon wieder hungrig. Noch einmal speisen sie auf einer Terrasse über dem Meer.
Später lenkt Ernando den Wagen in Richtung des Vulkans.
Der Etna ist kein Einzelberg. Der schneebedeckte Gipfel, der hinter der Silhouette Taorminas leuchtet, ist nur Teil eines mächtigen Gebirgsmassivs.

Sie gleiten über die neu erbaute Straße, die schwarz, frisch geteert, vorbei an Weinbergen, Kastanienwäldern, Olivenhainen führt. Makellos und anscheinend kaum befahren, windet sie sich in hundert Serpentinen die Hänge empor. Tiefer dringt ihr Wagen ein in die vulkanische Landschaft. Bald gibt es keine Weinberge, keine Obstgärten mehr. Die kurvenreiche Strecke führt sie immer höher hinauf. Düster, drohend stehen vereinzelte Gehöfte oder kleine Ansiedlungen im Abendlicht.
Ja, die Dämmerung ist schon angebrochen.

Bald kommen sie durch eine bizarre Gegend. Zu beiden Seiten der Straße sind nur noch Geröllfelder, übersät von kleinen, schwarzen, schroffen Brocken. Kein Fahrzeug kommt ihnen entgegen. Nicht einmal ein Eselskarren. Mitten im Nichts trottet aber einmal ein Bauer am Wegrand, Kiepe auf dem Rücken. Blickt gleichmütig, als das offene, weiße Auto langsam an ihm vorbeirollt.

Sie verlassen jetzt die neu gebaute Straße. Der Sizilianer fährt weiter auf den altbekannten Wegen seiner Kindheit. Etnadörfer mit anthrazitschwarzen Häusern sind wie aus Kohlebrocken gebaut. Es ist Basalt, das dunkle Urgestein, das immer wieder flüssig aus den Vulkankratern bricht und schnell erstarrt. Und das man, grob behauen, aufeinanderfügt.

Die Häuser sind in enge Straßenzeilen gezwängt und fest in die Landschaft gewuchtet. Gespenstisch, als seien nur Geister der Vergangenheit da noch zu Hause.
Huschende Geschöpfe, krähengleich, verschwinden in niedrigen Torbögen ... alte Frauen, in Schwarz gekleidet. Gleichgültige, müde Augen sehen hervor unter tief ins Gesicht gezogenen wollenen Tüchern.

Danach führt die Straße durch leere Gegenden, wo alles Leben ausgelöscht wurde. Vor Jahrtausenden? Jahrhunderten? Vor zehn Jahren? Oder erst gestern? ? Der Vulkan schläft nie. Nichts als erstarrte, grobbrockige Lava. Hier gibt es keine Farben: nur Anthrazit. Und schwarz. Und grau ...

Der Etna hat drei Hauptkrater am Gipfel und über tausend unbedeutendere an seinen Flanken, doch auch diese Nebenkrater erwachen hin und wieder zu feurigem Leben, weiß Minou aus dem schlauen Buch. Und:
Der Etna ist ein gutmütiger Riese, Menschen tötet er fast nie. Wenn der glühende Strom kommt, fließt er langsam genug, dass die Leute ihre Familien, die Tiere und sogar den meisten Hausrat retten können, bevor ihr Dorf Tage später zugedeckt wird. Man glaubt es kaum, aber als im Jahr 1669 die Stadt Catania vollständig begraben wurde, hat der heiße Lavafluss KEIN einziges Leben gefordert. ( Das vorhergehende Erdbeben aber schon! )

"Wir haben Glück, heute. Einer der tiefer gelegenen Krater ist aktiv", sagt Ernando. "Wir werden gleich nah heranfahren."

Mit Schlaglöchern durchzogen sind die Wege, über die sie jetzt rumpeln und zu einer der Seiten fällt die Böschung jäh ab in einen Steilhang. Die Landschaft hat nichts Irdisches mehr. So muss es auf erkalteten Planeten aussehen. Erstarrtes Urgestein. Nicht ein Pflanzenhalm. Am Ende ihrer Reise erwartet sie rechts und links der Piste nur noch feine, bodenlose, vulkanische Asche.

Dann auf einmal das SPEKTAKEL. Hinter einer jähen Biegung der Straße loht die Nacht plötzlich in rotem Feuer. Der Abendhimmel steht in Flammen. Tief unten, zu ihren Füßen, quillt, brodelt der Lavafluss am Berghang hervor. Ein kochender Brei. Zähflüssiges Blut aus dem heißen, unbezähmbaren Herzen der Erde.

"Voila, ich präsentiere Ihnen den zehntausendsten Ausbruch des alten Etna!" hört Minou Ernando feierlich sagen.

Tief unten wälzt sich durch eine breite Schlucht die rote, glühende Masse zu Tal. Fast einen halben Kilometer breit ist die Flut aus Lava. Viele Kilometer lang. Eine Zunge, die sich langsam weiter leckt ... Buschwerk, Weinberge, Felder fressend, die Erde unter sich begrabend. Hier und da steigen über dem siedendheißen Gestein Dampfwolken auf. Mitten in der Rotglut lodern Feuersbrünste. Und schwarze Basaltbrocken schiebt der wabernde, zäh fließende Strom mit sich. Zu hunderten. Wie dunkle Rosinen in einem roten Teig.

Auch entwurzelte Bäume, verkohlt, ragen gespenstisch wie Skelette aus der breiigen Masse. Aus dem Krater auf halber Hanghöhe quellen immer neue Feuerstürze nach. Als speie der Berg in wilden Schwällen seine Innereien aus. In der Mitte der Lavaflut ist das Gestein zu flüssigroter Glut geschmolzen. An den Rändern bereits in schwarze Basaltklippen zurück gewandelt.

Sascala lenkt den Wagen im Schrittempo schmale Pfade entlang. Fast eine Viertelstunde holpern sie jetzt schon zuckelnd und ruckend dahin. Über Schotterpisten. In den letzten paar Minuten hat sich die Welt verändert: Das Tageslicht ist verloschen, das Wetter plötzlich umgeschlagen. Eiskalt ist es, die Luft riecht tatsächlich nach Schnee wie bei einem unverhofften Wintereinbruch. Sie haben in kurzer Zeit zwei, drei Klimazonen übersprungen. Brausend, aufheulend, fegt der Wind über die Gesteinsfelder.

Ein Knopfdruck. Lautlos schließt sich das Verdeck.

Minou drückt sich tiefer in den Sitz. Mit glühenden Wangen friert sie. Wie in einem Traum gefangen. Draußen die Urzeitlandschaft! Der Feuerkrater! Der Himmel so rot. Rot wie Blut. Die beunruhigende Anwesenheit des Mannes, der den düsteren Bann dieser Fahrt durch kein leicht dahin gesagtes Wort entweiht.

Irgendwann stoppt der Conte den Wagen. Kommt zu ihrer Seite herüber, öffnet ihr schweigend die Tür. Sie gehen wenige Schritte und sind an einer neuen Böschung, die steil, steinig, schwarz abfällt, hunderte von Metern bis zu der Stelle, wo sich tief unten der Lavastrom entlang presst. Da ist kein Geländer. Nichts, wo man sich hätte festhalten können. Und ihre Füße sinken ein in bodenlose vulkanische Asche. Sie sind nun ganz nah am Geschehen. Unten das Schauspiel der alles begrabenden Lava. Noch glühender scheint Minou die Feuermasse. Scharlachrot, blutig der Nachthimmel. Und der Sturm. Aufruhr der Gewalten!

Das Naturschauspiel ist aber nur schriller Hintergrund für Minous wirre, aufbrodelnde Gefühle. Wie die Lava aus dem Berg herausfließt, so fließt alles was sie an Sehnsucht in sich hat aus ihrem Herzen heraus und IHM entgegen. In ihr ist nur noch EIN Verlangen, Ernando ausgeliefert zu sein, mit ihm zu verschmelzen ... aber auch große Angst.

ER zieht sie schweigend, Arm um ihre Schulter gelegt, mit sich und immer näher zum Rand des Abgrunds.

Da packt sie rasend der Gedanke ... da taucht plötzlich in Minou dieser Traum auf, den sie jahrelang geträumt hat. Von Teja, dem schwarzen König ihrer Nächte. In seinen Armen hatte er sie gehalten und mit in die brodelnde Glut des Vesuv gerissen.
Ja, sie hat das alles schon einmal gesehen, erlebt.

Hilfe! Es bedarf nur eines Schrittes nach vorn, eines Schwindels, einer Unachtsamkeit. Wieso hat Ernando sie hierher ... ?

Aber sie ist willenlos. Fest an seinen Körper gepresst, ist sie starr.

Dass es einen Berg Etna gibt, hatte Minou nicht einmal gewusst. Als sie die Straße von Messina überquerten, hatte sie den Namen zum ersten Mal gehört ... in der Minute, als Mitpassagiere ihn ausriefen, da, als der majestätische Gipfel des Vulkans schneebedeckt über dem Meer erschienen war.
Und nun? Etna - Ernando – oder Vesuv und Teja ... Hilfe ... déjà vue! Der Traum ihrer Kindheit ... o Gott, jetzt wird er sich hier erfüllen! Lange war er nicht mehr gekommen, der sonderbare, aber mit der Zeit ihr vertraut gewordene Traum vom schwarzen König, der sie im Sprung mitnahm in den brodelnden Feuerkrater des Berges, hinein in den singenden, wirbelnden ‚ring of fire.‘

Und nun? Aus Teja ist Ernando geworden und ... wie der schweigsame Gotenfürst im Traum, so sagt auch der Sizilianer kein einziges Wort.
Der rote Nachthimmel! Die brodelnde Lava! Déjà vue, déjà vue ...

Alles ist vom Schicksal bestimmt, denkt Minou. - Hilf mir, ich fürchte mich - Sie bebt so, dass ihre Zähne aufeinander schlagen.

Der Sturmwind rast jetzt gewaltig über die Landschaft aus Asche.
Aus dem Kofferraum holt Sascala seinen Trenchcoat, legt ihn ihr um die Schultern.

Hilfe ... das gleiche tat Teja in den Träumen ebenfalls - er umhüllte sie mit seinem Mantel.
Solche Wiederkehr der Ereignisse, das ist zuviel! Nun wird es geschehen - denkt sie wirr, - der Sprung... der Sturz! HILFE! Aber nein ... mit ihm würde es vielleicht nicht schlimm sein. Eng an seinen Körper gepresst würde es nicht ...

Ernando hält sie eisern umfasst.
Bevor ER mit ihr ... bevor ER sie ... hinunter zwingen wird.

Wie Purpur brennt der Himmel über ihren Häuptern. In der Schlucht tief unten wälzt sich glühend die Lava.

Sie hat das alles schon einmal erlebt.

"Vielleicht ist das hier aber gar nicht wahr", wirbelt es ihr noch zuletzt durch den Kopf. "Vielleicht bin ich ja in Wirklichkeit zuhause in meinem Bett und das ist nur eine neue Variante des alten Teja-Traums. Ich werde gleich aufwachen."

Schwer liegt Ernandos Arm um ihre Schulter. Fest presst er sie an sich. Auf seinem Gesicht der blutrote Abglanz von Lava und Nachthimmel.
"Kommen Sie", sagt er. Wie in Trance leistet sie keinen Widerstand. Da führt er sie ganz unspektakulär aus der ‚Gefahrenzone‘ hinweg. Einfach so ...

Er nimmt ihr Gesicht zwischen seine beiden Hände. Dann beugt er sich halb zu ihr, halb zieht er sie zu sich herauf und küsst sie. Mit harter, fordernder Zunge lotet er ihren Mund aus. Er küsst sie, dass sie taumelt.

Sein Gesicht im seltsamen Winkel über das ihre gebeugt, noch immer vom Widerschein des roten Nachthimmels übergossen, ist auf einmal so fremd, furchtbar fremd wie der Berg Etna, wie das geheimnisvolle Land Sizilien.

Jetzt setzt sie seinen Küssen kaum mehr Widerstand entgegen.
Es sind keine zärtlichen Küsse.

Im Inneren ist ER von grausamer und düsterer Art, denkt sie plötzlich. Ernando ist schon jetzt ihr dunkler Gott. Es gibt Sagen von Mädchen, die von einem Gott genommen wurden in archaischer Zeit. Wie kann eine Frau danach weiterleben, als sei nichts geschehen? Sie fürchtet sich, sie fürchtet sich.

Ernando wird ihrem Leben für immer die Ruhe nehmen. Das spürt sie ... dumpf. Jetzt wo der Teja-Traum seine Macht verloren hat. Wo sie nicht hinuntergesprungen sind in den Vulkan.
Sie wehrt sich.
"Wir müssen zum Campeggio zurück", stammelt sie. "Sie wissen doch ..."

"Nein. Wir werden nicht zurück fahren", sagt er ruhig, "Sie werden heute Nacht bei mir bleiben."
Er sagt es auf französisch:
"Je vous ferais l’amour."

So. Klar. Schwer wie die Welt dröhnt dieser Satz in Minous Ohren.
... Je vous ferais l’amour ...
Das ist zuviel. Gewaltsam brechen die Worte über sie herein. Ein körperlicher, ein stechender Schmerz bohrt sich augenblicklich in ihren Leib, durchfährt sie dort, wo die Liebe sitzt und die Sinnlichkeit. Der Anprall seiner Worte ...

*

Da reißt sie sich los. Abrupt. Mit mehr Kraft, als Ernando dem dünnen Ding zugetraut hätte. Sie rennt unsinnig in irgend eine Richtung, aber kommt nicht weit. Flüchtet am Ende zum Auto. Eine kleine Silhouette, so sieht er sie ratlos vor der verschlossenen Wagentür hin und her laufen. Dann ist er bei ihr. Packt sie.

"Sie müssen mich zurückbringen", schreit sie. "Bitte. Sofort !"

Er schüttelt den Kopf. Lachend. Setzt sich ans Steuer.
Er lässt den Motor an, öffnet die Beifahrertür: "Steigen Sie ein!"
Nein. Ich will zurück", ruft sie kläglich und ihre Stimme geht unter im Heulen des Windes.
"O nein, das wollen Sie nicht!"
Ruhig lässt Ernando das Auto anrollen. Fährt langsam im Schritttempo. Verwirrt läuft sie nebenher. Als er anhält, bleibt sie aber draußen, marschiert unschlüssig um den Wagen herum. Dann wieder verharrt sie wie angewurzelt auf einer Stelle und weiß nicht, was sie tun soll.
Durchs offene Fenster beobachtet Sascala sie mit kaum merklichem Lächeln.

"Minou, Sie haben schlechte Karten ... da draußen wird es bald sehr unangenehm sein ... steigen Sie aber ein, bedeutet das, Sie werden mit mir fahren MÜSSEN. Also, zurück zum Campeggio kommen Sie heute NICHT mehr", sagt er mit diesem Lächeln ...
"Doch ... keine Angst", ich bin geduldig, ich fahre nicht weg, auch wenn Sie die ganze Nacht da draußen herumtanzen sollten! Ich warte, bis Sie sich entscheiden. Aber Sie werden bald hungern und frieren ..."
Die Tür auf Minous Seite des Autos ist nur angelehnt. Da setzt sie sich zuletzt doch neben ihn. Kleinlaut. Ratlos. Aufs Höchste verwirrt.
"Sie liefern sich mir also aus. Ist Ihnen klar, dass Sie gerade "ja" gesagt haben zu meinem bösen Vorschlag!"
Sie ... mit gesenktem Blick, spielt wieder einmal die verfolgte Unschuld, denkt er. Er muss lächeln und küsst sie flüchtig auf den Mund.

"O Mädchen ... Sie haben wirklich gedacht, ich wolle Sie zu amore zwingen ...los ... auf geht’s ... natürlich bringe ich Sie zurück zu Herrn Kanutz und ihren Freunden ... und zwar sofort!"
"Nein, bitte", murmelt sie da kaum hörbar und legt ... und presst ihre Wange an seinen Handrücken ... die Augenlider gesenkt.
Sie bebt so sehr, dass Ernando es spürt, dass sogar der Autositz davon vibriert.
Was für ein sonderbares Ding, denkt er, nun gut ...

Er wartet, ob sie nicht doch noch etwas erwidern wird. Aber sie schweigt, tief in den Sitz gepresst. Er blickt sie eine Weile abwartend von der Seite an:
"Sie wissen, es ist nicht von Dauer, was ich Ihnen biete, Minou ...", sagt er und startet den Wagen.

*

Was vorherging:

Minou lebt in Marienstock mit Vater, Stiefmutter und den kleineren Geschwistern und arbeitet als Angestellte auf dem Fernsprechamt in Brückenstadt. 1955. Minou, inzwischen 16 Jahre alt, fährt im Urlaub mit einer Jugendreisegesellschaft nach Sizilien.
Das Ziel ist Mare Luce, eine Campinganlage am Meer bei Siracus. Dort lernt sie den Conte Ernando Sascala kennen, einen Mann, den viele für dunkel und undurchsichtig halten. Er lädt sie in Gesellschaft anderer zu Auto- und Jachtausflügen ein. Minou spürt, dass sie ihm gefällt ... Kurz darauf ist sie dann allein mit ihm unterwegs. Sie haben Taormina hinter sich gelassen und sind auf dem Weg zum Etna ...

*



DAS HAUS AM ETNA


Wieder lenkt Ernando den Wagen durch schwarze Dörfer. Immer tiefer hinein ins Bergmassiv des Etna.
Minou ist in die Sitzpolster gekuschelt.
"Nehmen Sie den Schal ab!", hört sie den Mann plötzlich sagen.
"Ja."
"Weg auch mit diesen Spangen und Klammern!"
"Aber..."
"Tun Sie es!"
Nun fällt Minou ihre hellbraune Pracht bis auf den Rücken.
Ernando, während er fährt, streichelt über ihren Kopf. Zärtlich erst. Plötzlich packt er zu, zieht sie an den langen Haaren zu sich herüber ... unerwartet ... drückt ihr Gesicht in seinen Schoß ... mit Gewalt. Überrumpelung - darauf ist sie nicht gefasst. Dann spürt sie – dieses Unaussprechliche. Es zuckt unter ihrer Wange, zuckt unter dem verhüllenden Stoff seiner schwarzen Jeans.

Minou wehrt sich... er muss mich für ein verderbtes Früchtchen halten, sonst würde er so etwas nicht mit mir ...

Sie bäumt sich in die Höhe. Reißt ihren Kopf aus seinem Zugriff. Drängt ihre rechte Wange gegen die Scheibe weit weg von ihm. Muss ihm zeigen, dass er sie - bitte - mit Respekt ... und nicht so ...

Doch, er greift sie sich noch einmal beim Haar. Schmerzhafter jetzt. Mit mehr Nachdruck. Zieht sie an sich, presst ihr Gesicht von neuem auf diese seine ... Vorrichtung. Dort bleibt es jetzt liegen. Starr.

Zum erstenmal im Leben nimmt Minou den Geruch vom Genital eines Mannes wahr. Wie eine leichte Spur von Moos, trockenem Laub, Deodorant auch. Die Wärme, die Ausdünstung seines nur von Sommerleinen verhüllten Geschlechts. Sie spürt die Härte dieses ... Dings, dort an der Stelle, wohin er ihren Mund gezwungen hat. Wie es sich leicht hebt und senkt. Unter seiner textilen Verhüllung pulsiert es wie ein gefährliches Lebewesen. Bewegungslos verharrt Minou mit ihrem Gesicht in Ernandos Schoß. Seine Hand lastet auf ihrem Kopf, drückt ihn nieder. Er streichelt ihr über den Scheitel. Sanft, doch viel zu schwer liegt seine Hand dort.

Sie weiß nicht, in welche Richtung der Conte den Wagen lenkt. Ob entlang den Lavafeldern oder durch die engen Gassen verlassener Dörfer.
Noch immer hält er ihr Gesicht fest in seinen Schoß gedrückt. Sie bleibt reglos, auch wenn er hin und wieder seine Hand für ein paar Augenblicke von ihrem Kopf löst.

Nach einer Zeit, die ihr sehr lang vorkommt, stoppt er den Wagen und nimmt seine Hand von ihr. Sie kann sich aufrichten. Vielleicht wollte er nicht, dass ich den Weg wieder erkenne, fährt es ihr durch den Kopf.
Bei einer Ansiedlung sind sie jetzt. Auch hier die aus Lava gebauten, Mauer an Mauer zusammengewuchteten Häuser. Düster. Fassaden bilden nach außen hin einen kastellartigen Wall. Wie zu Schutz und Trutz. Holzläden an hohen, schmalen Fenstern sind dicht verschlossen. Nirgends das Licht einer Straßenlaterne. Nirgends ein Mensch. Schlafen die Bewohner schon um zehn Uhr abends oder haben sie hier dichtgemacht für alle Zeiten? Ist es ein Geisterort, wo niemand mehr wohnt? Der Sturmwind tobt, zerrt an der Wagentür, als Ernando sie ihr öffnet.

"Bitte, ich möchte doch lieber zurück", murmelt Minou.
"Nein", sagt er, "Sie möchten das nicht wirklich."
Dann steigt der Conte aus:
"Einen Augenblick nur. Warten Sie hier im Auto!"

An der Straßenbiegung verschwindet er in die Nacht.

Noch könnte ich flüchten, Leute suchen, falls es hier welche gibt, denkt Minou.
Ja, eigentlich müsste sie davonlaufen ... Sitzt statt dessen fiebernd vor Furcht. Und Erwartung. Friert. Ihre Zähne haben wieder angefangen, permanent aufeinander zu schlagen.
.
Ernando kehrt rasch zurück. Öffnet ihr die Tür, bedeutet durch ein Nicken, sie solle aussteigen.
Draußen fasst er ihre Hand, zieht Minou mit sich ...

Der Wind heult gewaltig hier oben am Hang des Etna.
Dann der Eingang. Breites Tor mit zwei mächtigen, hölzernen Flügeln. Eine Wagendurchfahrt aus alter Zeit? Im Seitenteil des rechten Flügels ist eine niedere Tür eingelassen, die bereits ein Stück weit offen steht. Ernando drängt Minou durch diese Tür und schließt sie gleich wieder hinter ihnen ab: knarzendes Geräusch von rostigem Metall, als er den großen, eisernen Schlüssel im Schloss dreht.

Sie sind nun in einem Innenhof. Arkaden... Kreuzgang mit Säulen wie in einem Kloster. Ein Garten. Mondlicht. Buschwerk. Aloen. Oleander. Es riecht nach Tomatensträuchern, Basilikum.
Frostig und sternklar ist die Nacht!

Der Wind zerrt mächtig in den Bäumen, deren Wipfel außerhalb des Innenhofes hinter einer Mauer hoch aufragen. Durch das Brausen des Windes tönt ein verhuschtes Weinen und Jammern aus dem Dunkel. Dazwischen helles Gefauche wie von Zank und wilden Kämpfen. Zisch- und Wutlaute, polterndes Getrappel unsichtbarer Füße. Äste holen aus wie Ruten, brechen krachend herunter ...
Ein geisterhafter Chor unsichtbarer Wesen wehklagt aus allen Himmelsrichtungen ... mit Menschenstimmen, mit Kinderstimmen. Schmerzensschreie verlorener, gefolterter Kreatur?

Minou ist vor Angst wie gelähmt, jetzt kommt sie keinen Schritt mehr vorwärts.
Der Mann zieht sie aber mit sanfter Gewalt an der Hand weiter.

Jenseits des Gartens ein Hauseingang. Die Tür steht bereits offen. Darüber eine Laterne. Gelbes, fahles Licht. Gaslicht - Es gibt hier noch keine Elektrizität, wird sie später erfahren und auch, dass es nur verwilderte Katzen waren, die sie so erschreckten.

Sie steigen eine breite Außentreppe hinauf. Ernando reißt sie immer noch mit sich vorwärts, hinein in einen steinernen, mit Fliesen belegten Korridor. Hier Geruch nach Sauberkeit, Seifenlauge. Nach Rosmarin, Thymian, Gewürzkräutern, die in großen tönernen Töpfen auf einer Art Altan stehen.

Minou sieht, riecht, hört. Ist hellwach. Und doch nicht. Alle Dinge sind weit weg. Das Einzige, was sie WIRKLICH wahrnimmt, ist SEINE Hand, an der er sie mit sich zieht. Alles andere scheint ihr Gehirn zu registrieren, aber sofort wegzuspeichern. Erst viel später wird sie sich die Einzelheiten wieder aus der Erinnerung herausgraben und wie ein Puzzle zusammensetzen.

Der Boden des Korridors ist also mit zersprungenen, verwitterten Fliesen bedeckt, von denen jede bunt ist, opernbilderhaft oder mit bäuerlichen Szenen bemalt. Unebene Fliesen. Minou nimmt im Darübergehen die tief eingewuchteten Mulden wahr. Jahrhunderte lang müssen Füße immer und immer wieder über diese Steine gegangen sein, um sie an bestimmten Stellen so tief zu höhlen.

Dann ein zweiter, dunkler Gang. Ernando stößt eine Tür auf und sie stehen in einem Schlafzimmer. Auch hier brennt Licht. Das gleiche schwache, gelbe Licht wie draußen am Hauseingang.

Der Raum ähnelt stark – und das verwundert Minou unendlich - Margarets und Nickels Ehekammer in Marienstock, wo sie als Kind im ‚Leben der Heiligen‘ gelesen hat. Hier im lebensbrodelnden, sonnendurchglühten Sizilien, führt dieser Mann sie in ein altmodisches, ein nordisches Gemach .... nein, das hat sie nicht erwartet!

Vornehmer ist dieser Raum jedoch als der im Großelternhaus, wuchtiger und edler die Möbel, die Atmosphäre ebenso prüde. Züchtiger kann ein Schlafzimmer kaum sein! Neben der Tür an der Wand wie bei Margaret das Weihwasserkesselchen aus Porzellan, verschnörkelt, mit Röschen ... Darin ein vertrockneter Buchsbaumzweig. Das Doppelzimmer duftet nach Lavendel ... wie das Gemach eines gottesfürchtigen Ehepaares ... ein uralt aussehendes, schwärzliches Kreuz mit dem geschundenen Körper Jesu hängt an der Wand.

Anders als in Marienstock ist das breite Bett zu wuchtig, um bequem oder heimelig auszusehen, so beängstigend groß ... Kopf – und Fußteil mit geschnitztem Rankenwerk überladen. Menschengesichter wachsen aus Tierkörpern. Drohend. Drachen. Ungeheuer. Löwen, die wie Könige aussehen und Kronen tragen. Auf Thronen sitzen Fabelwesen mit Frauenantlitz und Raubtiertatzen.

Das Bettzeug scheint für kalte Nächte wie diese gedacht. Zwei Riesenhügel Daunendecken, plustrig aufgeschüttelt, in der Mitte gegrätscht, makellos mit weißem Leinen bezogen, dazu voluminöse ‚Parade-Kissen‘ in Hüllen aus kostbarer, gestärkter Spitze. Glatt, faltenlos das Leinen, frisch, duftend.
Wie in den katholischen Marienstocker Häusern, so hängt auch über diesem Bett ein religiöses Bild: die Muttergottes. Lächelnd, lässig ausgestreckt gleitet sie auf einem Nachen dahin ... inmitten eines Teiches ... Jesuskind an der hellen Brust. Wogen weißer Seerosen blühen ihr zu, eine Meute pausbäckiger Kinderengel umschwebt sie vom Himmel her, schüttet Blumen aus Füllhörnern auf sie herab. Das riesige, ölgemalte Werk im goldenen Prunkrahmen ist so breit wie die ganze Kopfseite des mächtigen Doppelbettes.

- Die Frau auf diesem Bild ist überhaupt nicht die Madonna gewesen - wird Minou später denken - denn war sie nicht unsagbar fleischlich, ihr splitternackter, rosa Leib unter durchsichtigen Schleiern kaum verborgen? Da schon lässt das Gedächtnis Minou im Stich. Und diese zwielichtig grinsenden fetten Knaben-Putten, die sie umgaukelten? Das waren doch nie und nimmer christliche Engelchen? Sollte es vielleicht statt der heiligen Gottesmutter die nackte Venus gewesen sein, die der Malkünstler hier verewigt hat?

In dieser Nacht nimmt Minou das Bild anscheinend unkorrekt in ihr Gehirn auf, als sie meint, das sei die heilige Maria. Aber... eine, die so bebt, die vor Furcht und Erwartung derart durcheinander ist, hat keinen Sinn fürs Dekor.

Mein Schicksal? Hier im tiefen Süden, im Mezzogiorno, im Herzen Siziliens, unter dem schneebedeckten Gipfel des Etna hat dieser Mann mich in dieses Zimmer gebracht. Hier wird er mich ... besitzen, denkt Minou pathetisch. Für alles gibt es den richtigen Ort und die richtige Zeit. Wilde Schauer überfluten sie schon wieder. Oder noch immer?

*



DIE NACHT MIT ERNANDO


Ernando hebt Minou auf die Arme, trägt sie zum Bett. Drückt wilde Küsse auf ihre Haut. Heiße Küsse auf Rücken, Brust, auch ihre Schenkel. Überall da, wo sein fordernder Mund sie erwischt, wo er es schafft, ihr Kleid zur Seite zu schieben. Minou, zerzaust und durcheinander, verteidigt heftig ihre dünnen Sommerhüllen. Dann plötzlich ... ein paar dunkle, geflüsterte Worte des Mannes und er verschwindet ins Nebenzimmer. Ein Badezimmer? Wasser hört sie rauschen.

Alles ist so unwirklich. Draußen, hinter dem geöffneten Fensterflügel ist der Wind zum brausenden Orkan geworden, der an dem Gebäude zerrt und rüttelt und Minou daran erinnert: sie sind hoch oben am Etna. Hektisch schließt sie das Fenster.

Bald geht die Tür auf ... Ernando.
Und er ist nackt ... NACKT!
Das kann nicht wahr sein, das kann er doch nicht machen! Doch nicht einfach so!

*

Ernando Sascala sieht: das deutsche Mädchen starrt auf ihn wie auf einen Geist. Starrt mit weißem Gesicht und weit aufgerissenen Augen.
Er ist beinahe ebenso durcheinander wie sie. Ein kokett sich ins rechte Licht räkelndes Kätzchen hat er auf dem Bett ausgestreckt erwartet. Doch die sitzt noch immer genau so da, wie er sie verlassen hat. Steif. Arme vor der Brust gekreuzt. Scheu. In sich zusammengekauert.

"Sie sind ja noch angezogen!", sagt er lächelnd und tut sogleich einen markigen Schritt, das zu ändern.

Da schnellt sie in die Höhe. Mit einem Schrei. Rennt in die äußerste Ecke des Zimmers.
Diese Kleine ... jetzt spielt sie mir beinahe glaubhaft die verschüchterte Unschuld vor, denkt Ernando amüsiert.

*


Minou spielt nicht. Seine Nacktheit wirft sie vollkommen aus der Bahn.
Lässig, ungeniert, auch noch stolz und hochmütig kommt er auf sie zu, will sie in die Arme reißen. Mit all dem schwarzen Haarflaum auf seiner breiten Brust.
Das Allerunsagbarste jedoch ... dieses Ding, so wuchtig, so viel größer als sie vermutet, unsagbar dunkel, bläulich-rot und von stämmigen Adern umzogen, reckt sich. Aus einem Urwald schwarzen, drahtigen Haargekräusels sticht es drohend heraus, ihr entgegen...
Sonst nimmt sie erst einmal gar nichts mehr wahr, nur dieses ... o Gott.

Nein, so hat sie sich das nicht vorgestellt. Nein, ihre erste Nacht ... so nicht. Nein. So drastisch nicht. Eigentlich hat sie es sich ... überhaupt nicht ...
Liebende müssen eingehüllt sein in ihre Gewänder. Im Schutz der kostbaren Königsmäntel: Romeo und Julia, Mark Anton, Cleopatra, Tristan und Isolde. So hatte sie sich das immer ausgemalt. So musste die Liebe sein: verborgen, verboten, unfassbar, eben ganz und gar ... magisch!

Auch Teja, der schwarze Ritter, war stets in seinen prunkvollen Ornat gekleidet gewesen, wenn er ihr ganz nah kam in ihren Träumen. Sogar den eigenen Körper hatte sie sich nie nackt vorgestellt, sondern in schöne, aber hauchdünne Stoffe gehüllt ... und scheu, hilflos, war sie dann in den Armen des herrlichen Mannes, der seinen warmen Mantel um sie geschlungen hatte und sie, eng, eng an sich gepresst, für immer beschützte. Vielleicht waren sie aber auch beide nackt, unter dem Mantel jedoch ...
Ihre Fantasie war immer nur bis hin zu Umarmungen gediehen, unendlich zärtlichen, unendlich reinen. Zu Küssen und Umarmungen. Zur letzten Tatsache ... nie.

Aber Ernando! Nun steht er vor ihr in seiner – beinahe - derben Nacktheit. Alles hätte sie erwartet, nur das nicht. Denn ... nein, es ist nicht das Äußerliche ... mit dem Äußerlichen hat ihre Liebe zu ihm ohnehin nichts zu tun, nie zu tun gehabt, oder? Sein großer, fordernder Körper ängstigt sie eher - jetzt. Sie hat sich nie Gedanken gemacht, wie ER beschaffen sein könnte, dort unter der ... sagt man ... Gürtellinie??
Wirklich ... daran hatte sie nie gedacht?! Wirklich?
Und was vor kurzem am Strand geschehen war, als sie sich am Morgen trafen ... hatte sie das vergessen? Sie, Königin der Verdrängung.

In ihren Fantasien waren doch stets nur seine Augen vor ihr aufgetaucht, seine Hände, die sie sanft und zärtlich berührten und in ihren Ohren war der Klang seiner dunkel- vibrierenden Stimme gewesen.
Und nun? Dass er auch äußerlich perfekt gebaut ist, hatte man schon allgemein im Campeggio festgestellt. Er sei ein sehr sinnlicher Mann, hatten die Schwedinnen gemeint.
Aber Ich hab ihn von Anfang an GELIEBT, spürt Minou, geliebt mit jeder Faser meines Herzens.

Auch jetzt, auch ohne Kleider, gefällt er ihr, das gesteht sie sich ein, und doch ... wahr ist, dass er fremd ist ... fern ... irgendwie Galaxien weit weg. Obwohl sie sich doch die ganze Zeit so sehr nach ihm gesehnt hat. Und dieses Unsagbare, das plötzlich zum Allerwichtigsten geworden ist in diesem Zimmer und in ihrem Leben, das dunkelrot Drohende - nein - sie blendet es sofort aus ihren Gedanken. Wagt überhaupt nicht mehr, hin zu blicken. Sonst wird sie bestimmt gleich ohnmächtig werden.
Sie flüchtet jetzt in den äußersten Winkel des Zimmers. Dort ist eine Tür.

"Was tun Sie eigentlich, Mädchen?", hört sie ihn erstaunt rufen, "Sie können doch nirgendwo hin jetzt!"
Er packt sie und bringt sie auf den Armen zum Bett.

Auf Minous Körper wölbt sich Gänsehaut über und über. Sie spürt es. Ihr Puls rast.

"Nein. So habe ich das nicht gewollt", stammelt sie.
Aber da ist er: Entschlossen. Robust. Und er ist bestimmt keiner, der vorhat, heute Nacht lange zu fackeln.

Minou ... Sie weiß - sie ist ein Nichts neben ihm. Er wird sie nehmen und wegwerfen. Sie zerreißen, verletzen mit seinem riesengroßen, roten ... Sie glaubt auch keinen Augenblick, dass sie seinem Anspruch an eine Frau wird genügen können ... weil sie ja gar nicht ... - O, ich werde ihn enttäuschen. Ich werde ihn enttäuschen! -
Sie möchte lieber sein Kind sein, sein ganz kleines Mädchen, seine ganz kleine Sklavin ... Er müsste sie sehr zärtlich behandeln. Und in der Seele lieben. In der Seele lieben ...

Jetzt drückt er sie nieder.
Überrumpelung!
Sein schwerer Mund, der über den ihren herfällt.
Da schlägt sie ihm die spitzen Fingernägel in die Schultern.

*

Er fährt hoch. Perplex.
Sie springt auf, schnellt weg, diesmal bis auf den Korridor hinaus.
Oh Gott, was vollführt sie für ein Theater, denkt er, rennt hinter ihr her und will sie wieder packen. Sie schreit wie am Spieß, wehrt sich.
"Jetzt ist es aber genug ... bitte, meine Kleine ... Schluss jetzt!"

Sie kämpft, dass es schon nicht mehr schön ist, brabbelt etwas auf französisch, was er nicht versteht.
Er redet ihr gut zu. Wie einem scheuen Haustier. "Ma petite, mon petit chat ... mon bijou!" Mit Küssen verschließt er ihren Mund.

Die ist ja vollkommen aus dem Häuschen. Er schafft es natürlich mit Leichtigkeit, sie wieder ins Schlafzimmer zu befördern, ihr sogar Stück für Stück die wenigen Kleider vom Leib zu ziehen ... nicht gierig, sondern so ruhig, wie es ihm in dieser Situation gerade noch möglich ist.
Er bringt Geduld auf. Denn sie ist tatsächlich hysterisch. Schreit los ... immer, wenn er sie streicheln oder vorsichtig berühren will.

Er wird sich in den nächsten Tagen nur sehr bekleidet in der Öffentlichkeit zeigen können, weil sie ihm mit den Fingernägeln die Haut an Armen und Schultern aufgerissen hat.

Und dann die Schaumgummipolster in ihrem spitzenbesetzten schwarzen (!) BH, was ja nun ziemlich raffiniert ist und das genaue Gegenteil von naiver, sechzehnjähriger Unschuld.

Als er ihr den BH. abstreift, scheint es, als sinke sie in den Boden vor Scham - verständlich, denn jetzt kommen ihre wahren Brüste ans Licht, die geradezu kindlich winzig sind. Er lächelt aber über die falschen Rundungen, die sie sich aufgepflanzt hat. Wenn sie nur wüsste, wie wenig ihn ihr kleiner Betrug interessiert, wie sehr gerade dieser unfertige, knospende Busen ihn entzückt. Er küsst ihn über und über.

Das Mädchen glüht wie im Fieber. Hoffentlich wird sie nicht schon wieder krank, denkt er. So sehr bebt sie inzwischen, dass er es bis in seinen Körper spüren kann. Und als sie unter seinen Händen zu guter Letzt bis aufs Höschen nackt ist, schnellt sie dann mit einem Satz zwischen die dicken Federdecken, zieht sie in Sekundenschnelle über sich. Wie ein Maulwurf in seinem Bau, so verschwindet sie unter dem Wust von Bettzeug. Nur ein paar helle Haarsträhnen schauen heraus.

*

Minou liegt, Gänsehaut vom Hals bis zu den Zehen, tief in die Decken eingegraben. Sie sind ihr letzter Schutzwall und es ist klar, sie hat keine Chance, wie sehr sie auch ihre Hände in Plumeaus und Kissen krallt, damit er sieht, wie sie kämpft und damit er es schwer hat, sie wegzuziehen. Er kann es natürlich doch, reißt das Zeug zur Seite und holt sie hervor. Wie unwirklich das alles ist! Jetzt ist sie ihm ausgeliefert!

"Vous êtes si jolie, si douce!", hört sie ihn flüstern und weiß, das hat er schon hundert Frauen gesagt ... "Nein!", schreit sie und weiß nicht, warum sie so kratzt und schreit und warum sie sich überhaupt wehrt

*.

"Das kann ja heiter werden mit diesem verrückten jungen Ding!", denkt er. Ihre schwarze Maskara ist verwischt, übers halbe Gesicht geschmiert, ebenso der hellrote Lippenstift. Der kleine Mund sieht aus, als blute er.
Wie ein züchtiger Teenager ist sie ihm ohnehin nie vorgekommen.
Eine kindliche Hure, aber eine, die tut, als habe sie von der Liebe keinen blassen Schimmer, denkt Ernando ... dabei strömt sie ein unsagbares Aroma aus, das ihr aus jeder Pore zu dringen scheint ... ein Duft, seltsam stark, der eigentlich zu einer kräftigen, dunklen, reifen Schönheit gehörte. Dieses scheu tuende Geschöpf da verströmt die aufdringlichen Wohlgerüche ... Arabiens.

Was er nicht weiß: dieses seltsame Aroma, das sich nun immer mehr unter seiner Berührung entfaltet, rührt von einer kokosölhaltigen Sonnenmilch her, die während der Reise in Minous Koffer ausgeflossen ist und, vermischt mit dem Inhalt eines ebenfalls undichten Parfum-Flakons eine sonderbare Mixtur ergab, die ihre BHs, Höschen, Handtücher durchtränkte, sich mit dem Stoff der Kleider und danach irgendwie auch mit ihrer Haut verband und nicht mehr ganz wegzuwaschen ist. So hat das Schicksal dem Mädchen ohne ihr Zutun sogar noch einen Hauch von Exotik beschert, an der Signor Sascala sich jetzt erfreuen darf.
"Ich habe keine Frau gekannt, die im Bett so gut duftet wie Sie", flüstert er ihr denn auch zärtlich ins Ohr und muss lächeln, weil es ja fast wahr ist. Als er ihr dann den Slip über die strampelnden Beine herunterzieht, da scheint dem kleinen Ding langsam klar zu werden: nun macht ihr Sträuben keinen Sinn mehr.
Sie zittert so, dass ihre Zähne klappernd aufeinander schlagen und dazu ist ihre Haut glühend heiß. Selten hat er ein Mädchen gesehen, dem männliche Berührung derartig zusetzt. Ihr Organismus scheint vollkommen durcheinander. Zu allem Elend laufen ihr auch noch schwarz gefärbte Tränen übers Gesicht.
"Bitte machen sie das Licht aus!", hört er sie jetzt mit kleiner, unterwürfiger Stimme betteln.
Er tut ihr diesen Gefallen nicht. Flüstert, er wolle ihre Schönheit sehen, ihre Nacktheit, ihre Süße... und was ein Mann eben in solch einer prekären Situation mehr oder weniger ehrlichen Herzens so von sich gibt. Hilflos schließt sie die Lider.
Er hat keine Ahnung, warum sie so übertrieben heftig gegen ihn angekämpft hat. Doch er findet es recht amüsant .
Nun aber scheint sie endgültig entschlossen, dem, was er mit ihr tun wird, keinen Widerstand mehr entgegen zu setzen.
Geduld ist ihm nicht geblieben für Vorspiel und zarte Liebkosungen. Die ganze Zeit über hat er keine Möglichkeit gefunden, sie sanft auf die Liebe einzustimmen, so sehr hat sie herumgezappelt, so hektisch ist sie hin und her geschnellt. All ihr Gegen–ihn-Ankämpfen hat ihn jedoch gehörig erregt ... jetzt will er nur noch eines: hineintauchen, sich endlich ergießen in diesen spröden, jungen Schoß.
Sie, mit großen Augen schreit: "Non, non, soyez gentile" oder was immer sie damit nun wieder meint in ihrem komischen Französisch. Und als er dann entschlossen und unerbittlich auf sie eindringt, sie packt, da bäumt sie sich hoch und will schon wieder flüchten. Kaum kann er sie bändigen.
Da, schlagartig kommt ihm die Erleuchtung ... jetzt weiß er, was mit ihr los ist, warum sie sich die ganze Zeit über schon so vehement sperrt:
"Vous avez peur d'enfant", flüstert er erleichtert, weil er die Urangst aller Mädchen vor Schwangerschaft und Geburt als Grund ihres unglaublichen Sträubens erkennt. Zur Beruhigung küsst er sie süß. Es ist ja alles gut! Er ist schon dabei, einen ‚Pariser‘ über seinen prallen Penis zu ziehen.

*

"Un enfant! Ein Kind!" Die Worte treffen Minou wie ein Blitz. Daran hat sie ja überhaupt nicht gedacht! Mit keinem Gedanken. Deshalb steht ihr der Mund jetzt weit offen beim Anprall seiner Worte. Aber ... nun tut sie etwas, was sie später beim Nachdenken überhaupt nicht mehr begreift: Augenblicklich reißt sie nämlich das hässliche Gummiding – sie hatte bisher noch nie eines gesehen, nur Geraune hinter vorgehaltener Hand darüber gehört – sie reißt es also weg von ihm , wo es - sie spürt das einfach – sowieso nie und nimmer hingehört.

*

Ernando ist jetzt auch schon alles gleich und im Schein der gelben Lampe zwingt er sie nieder, dringt in sie ein ... oder beinahe! Denn in dieser Sekunde funktioniert sein Gehirn plötzlich präzise, flammen grell sämtliche Warnlampen auf.
Er bemerkt ihr Handicap gerade noch im letzten Augenblick, bevor ...

*

Da geschieht es schon: da spürt und sieht Minou mit großem Erstaunen das Warme, cremig Weiße, das er in kurzen, stoßartigen Eruptionen auf ihren Bauch entlädt! Dort über der Nabelkuhle. Von so etwas hat sie nie gewusst, nie gelesen, weder bei Henry Miller, noch im Aufklärungsbuch der Bestseller-Hebamme. Aber – Gipfel der Verwirrung - ein lautes, wundes Stöhnen kommt währenddessen aus seinem Mund. Dunkle Schmerzenslaute! Was ist mit ihm? Irres Entsetzen reißt sie in die Höhe. Stöhnend liegt Ernando jetzt eng neben ihr. Er hat einen Anfall!
"Hilfe", schreit sie ... und, ganz neben der Spur, fürchtet sie schon um sein Leben.
Sein jungenhaftes Grinsen zeigt ihr aber gleich darauf, dass er wohl doch nicht in akuter Lebensgefahr schwebt.

*
Madonna mia ... da bin ich gerade noch einmal davon gekommen - denkt der Conte entgeistert - hätte ich doch beinahe, versteckt unter Schminke und Gummibusen, eine kleine Jungfrau erwischt! Nicht auszudenken. Enttäuscht, erleichtert, verwirrt, alles gleichzeitig, nimmt er sie jetzt lachend in die Arme.

Wie nahe ist er daran gewesen, eine nicht wieder gut zu machende, schurkische Tat zu begehen! Sogar einem sizilianischen Don, auch dem abgebrühtesten, auch in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, ist eine Jungfrau heilig. Da hört die Frivolität der seitenspringenden Signori aber endgültig auf. Einfach so zum Spaß und ohne Eheabsichten ein solches Geschöpf zu penetrieren, das überschreitet die Grenzen der Verkommenheit. Kein Mann, der bei Verstand ist, wird, um einer kurzen Befriedigung Willen, ein Mädchen um seine Heirats- und damit Lebenschancen und sich selbst in schwerste Kalamitäten bringen!

Doch muss der abenteuerlustige Graf zugeben: er ist ziemlich frustriert. Mit einem der Liebe nicht abgeneigten Kätzchen hatte er ein paar schöne Stunden verbringen wollen, dem Alltag abgezwackte, geheime Stunden ... et faire l'amour. Von halb elf bis Mitternacht hat diese kleine Verrückte ihn mit Ausflüchten hingehalten, durch drei Zimmer gejagt, war ihm immer wieder schreiend entwischt. Das hatte er für die theaterreife Aufführung eines fantasiebegabten Teenagers gehalten. Er hätte sie zwingen können. Es wäre ein Leichtes gewesen. Aber das war nicht seine Art. Dass er zum Ziel kommen würde, hatte er gespürt und deshalb ihr sonderbares Spiel mitgemacht. Frühreif war sie ihm von Anfang an erschienen. Auch verfügbar. Sie hatte etwas Schwermütiges in ihrem geschminkten Gesicht. Er hätte schwören können, sie sei liebeserfahren und längst keine Jungfrau mehr. Oder war diesmal der Wunsch Vater seines Gedankens gewesen? Hatte er eine Lüsternheit, eine sexuelle Bereitwilligkeit in diese Kleine hinein interpretiert, die nicht da war?
Nun versteht er ihr seltsames Benehmen.

Die Touristinnen, mit denen er sich bisher eingelassen hatte, waren nie unberührt zu ihm gekommen und stets locker und recht gierig gewesen. Nette, kleine Sünderinnen, die gern und schnell zur Sache kamen. Blonde, nordische Evastöchter ... zu allem bereit - überfluteten in zunehmender Zahl seine schöne Insel. Sicher gab es auch Jungfrauen unter den Ferienmädchen, aber bisher war es ihm immer gelungen, die Verfügbaren von den Tugendsamen zu unterscheiden. Und züchtige Engel hatten ihn bei seinen Affären noch nie interessiert.
Jetzt hätte es dich beinahe erwischt, du Kenner aller Weiblichkeit, denkt er mit einem gerüttelten Maß an Selbstironie.

Dass im Jahr 1955 das schöne ‚Unberührt-in-die-Ehe-Gehen‘ der Töchter in vielen Ländern Europas längst nicht mehr praktiziert wird und der Verlust der Unschuld den meisten Ausländerinnen kaum seelischen Kummer bereitet, WEIß er natürlich. Es interessiert ihn aber nicht. Denn er ist ein Mann von Ehre. Er hält sich an die Regeln, die in seiner Gesellschaft seit Jahrhunderten gelten. Für jeden gerecht empfindenden Sizilianer ist das Jungfernhäutchen unantastbar. Es sei denn, man wolle das Mädchen ernsthaft sein Eigen nennen und sich vor Gott und den Menschen für immer mit ihr verbinden.

Einheimische Machos, Ernando inbegriffen, haben jenseits dieser harten Regeln dennoch Erlebnisse mit sizilianischen Jungfrauen aufzuweisen, weil es unter den streng erzogenen, frommen, keuschen Evastöchter auch lockere gibt, die ohne männliche - ohne sexuelle - Nähe nicht leben mögen. Mit solchen experimentierfreudigen Novizinnen kann ein erfahrener Lebemann so ziemlich alles anstellen ... nur eines nicht .... denn ist das Häutchen bei der Heirat intakt und der Bräutigam zufrieden, wird keiner mehr wissen wollen, wie und mit wem die Signorina vor der Ehe ihre Glut gestillt haben mochte. Das Zur–Schau-Stellen des blutbefleckten Lakens am Morgen nach der Hochzeit lässt dann selbst die hämischsten Schandmäuler für immer verstummen.

Seit vor zirka zwei, drei Jahren die Menschen aus dem Norden zum erstenmal nach dem Krieg Italien als Urlaubsland wieder entdeckt haben, ist es nun die fremde Weiblichkeit, die die Sinne von Männern wie Ernando in ständiger Erregung hält. Denn die gut gelaunten, hübschen, leicht zu erobernden Ausländerinnen suchen neben Sonne und Meer, nichts so sehnlich, wie amore, ein bisschen Luxus und einen wunderbaren Sommernachtstraum, von dem sie später zehren können. Zumindest für die charmanteren und wohlhabenderen unter Siziliens Frauenjägern ist ihre Heimatinsel nun zum reinsten Paradies der Lüste geworden.

In dieser Nacht aber ist der Conte nicht recht auf seine Kosten gekommen. Das muss er sich leider eingestehen.

"Una bella ragazza, però una ‚Demi-Vierge‘ wird er am nächsten Tag mit leicht gequältem Lächeln zu seinem Cousin Gaetano sagen, als der ihn neugierig nach der Nacht mit der jungen Deutschen fragt: "Ein hübsches Mädchen, aber eine ‚halbe Jungfrau‘... niente da fare ... von so einer lasse ich meine Finger."

Doch so ganz plötzlich will er nun auch nicht aufbrechen. Ein bisschen nett will er schon noch zu der Kleinen sein.
Vertrauensvoll hingekuschelt liegt sie jetzt in seinen Armen. Ruhiger scheint sie, als vorhin. Abgefallen von ihr ist anscheinend alle Angst. Ganz unerfahren, ganz der Liebe abgeneigt kann sie ja nun auch wieder nicht sein, denkt Ernando, denn allzu selbstverständlich hält sie ihren nackten, schmalen Körper eng an den Seinen gepresst und süß erwidert sie seine Küsse. Keine Frage ... an ihrer Zuneigung kann er nicht zweifeln.

Ein wenig Zeit wird er sich schon noch nehmen. Das vorhin verpasste Spiel, die Sinnlichkeit, die Zärtlichkeit ... all das wird er jetzt mit ihr nachholen. So sang- und klanglos soll die Nacht für dieses Mädchen nun auch nicht zu Ende gehen. Und dass sie, im Gegensatz zu dem verhinderten Beischlaf, für eine angenehme, ungefährliche, weil absolut folgenlose Art des Liebemachens zu erwärmen sei, davon geht er natürlich aus.

*

Sie spürt auf einmal seine Lippen, die sie überall hin küssen, seine Zähne, wie sie mit kleinen Bissen sanft um ihre Brüste spielen, ganz zart, aber manchmal auch schmerzhaft ... das ist furchtbar und wunderbar ... aber dann gleitet sein Mund heftig an ihrem Bauch hinunter. Sein Kopf, sein schwarz gekräuseltes, afrikanisches Haar ist plötzlich dort unten in ihrem Schoß - um Gottes Willen - zwischen ihre Schenkel wütet sich Ernandos Kopf ein wie ein wildes Tier. Sie spürt die Zunge, die sich an ihr zu schaffen macht, an ihrer empfindlichen, unaussprechbaren Stelle und das ist etwas, von dem sie nie gelesen, nie gehört hat ... das muss pure Verderbtheit sein ... Laster ... Sünde! Das fühlt sie einfach! Hilfe ... Seine Lippen an dieser ihrer STELLE! Das will sie nicht. Das darf man nicht. So etwas kann er doch mit ihr nicht machen!!

Ihre Hände, bevor sie denken kann, wollen sich in sein Haar krallen, ihm den Kopf von dort wegziehen. Aber sein Haar ist zu kurz geschnitten. Ihre Finger gleiten ab. Furchtbarer noch wühlt sich Ernandos Gesicht in ihren Schoß. Zum Eingang ihres Innersten. Sein Mund. Seine Zunge! Ein unglaublich sonderbares Gefühl Nein ... so ein Gefühl erträgt sie nicht! Wild trommeln ihre Fäuste auf seinem Nacken. Sie schreit. Wie es höchstens bei jäher Penetration oder Vergewaltigung angebracht wäre. Sie schämt sich in Grund und Boden, weil er sie ‚da unten‘ sieht. Berührt. Schmeckt. Am Schluss erwischt sie ihn bei den Ohren. Den Kopf reißt sie ihm so vehement in die Höhe, dass er, vollkommen verblüfft, sein böses Treiben augenblicklich aufgibt.

*

"Gut, gut, ganz ruhig ... ich werde so etwas Verworfenes nicht mehr tun!", sagt er, inzwischen schon weit weniger überrascht.
Er versucht es dann mit zärtlichen, harmlosen Küssen, die sie ihm auch bereitwillig erwidert. Doch alles, was sich unterhalb der Gürtellinie abspielen könnte, scheint sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Kennt sie tatsächlich keine der Liebkosungen, die eine Frau normalerweise einem Mann im Bett erweist? Alles, was er in Sachen Erotik mit ihr zu tun versucht, bricht sie mit einem entsetzten Schrei ab. Jedesmal, wenn er mit der Hand noch so sanft und streichelnd in Richtung ihres Schoßes fährt, reißt sie sie wieder weg. Wenn er ihre Hand herunterzieht, damit sie seinen schon wieder höchst erregten Penis berühre, wird diese Hand augenblicklich starr. Kindliche Liebkosungen erweist sie ihm aber. Küsst seinen Hals, seine Augen mit heißen, zitternden Lippen, drängt voller Zuneigung und Hingabe ihr Köpfchen an seine Brust.

Sie scheint seinen Schwanz nun einmal nicht anfassen zu mögen, so sehr er auch versucht, ihre Aufmerksamkeit dort hinunter zu lenken. Statt dessen küsst sie sein Gesicht mit Zärtlichkeit und Inbrunst. Was aber das ‚andere‘ betrifft, da ist sie ihm höchstens passiv nahe, sodass er sich, notgedrungen, selbst stimuliert, was sie in ihrer rätselhaften Tumbheit nicht einmal zu bemerken scheint. Die ganze Aufregung bewirkt bei ihm endlich noch einmal eine Erlösung. Am Ende geht es ihm bei der ganzen Sache doch nicht ganz schlecht.

Natürlich SPÜRT Sascala die Verletzbarkeit und Sehnsucht des Mädchens. Aber: Vorsicht! Ich bin nicht der Mann, der diese deine Gefühle befriedigen kann oder will, Kleine, denkt er.

"Erzählen Sie mir ein bisschen von sich, Minou. Was machen Sie so zu Hause", fragt er lässig, um die zwielichtige Situation ein wenig zu entschärfen.
Sie berichtet ihm vom Fernsprechamt. Von ihren achtzig Kolleginnen.

"Und die sind alle jung?" will er wissen.
"Ja fast alle!" .
"Ich wette, keine ist aber so schön wie Sie!"

*

O je. Genau das muss er ja quasi sagen ... was sonst?, denkt Minou.
"Haben Sie vielleicht eine Ahnung!", entfährt es ihr. Sie lacht. Und dann:
"Unser Job ist aufregend, wir telefonieren mit allen Traumstädten der Welt: Sydney. San Franzisco. Amsterdam. Rio de Janeiro. Paris.
'Ich kann IHN ja immer von der Post aus anrufen, wenn ich wieder zu Hause bin' durchzuckt es Minou wie ein Geistesblitz. O ja, was für eine unglaubliche, ungeahnte Möglichkeit des Glücks!!
Und sie sagt es Ernando gleich: "ICH KANN SIE JA IMMER VON DER POST AUS ANRUFEN, wenn ich wieder zu Hause bin, es kostet mich gar nichts! Spät abends oder im Nachtdienst, da könnten wir heimlich stundenlang miteinander telefonieren, ich müsste nur aufpassen, dass es keiner merkt. Es ist natürlich gefährlich und streng verboten.
" Sie glüht geradezu im Gedanken an diese wunderbaren zukünftigen Liebesplaudereien.
Der gefürchtete, angebetete Mann lächelt, küsst jede Stelle ihrer heißen, trockenen Haut, streichelt sie. Da errötet sie tief und denkt: Am Schönsten wäre es, wenn er mich gleich für immer bei sich behielte.

*

Ernandos Hände verirren sich in dieser Nacht nicht mehr unter ihre Gürtellinie. Berührung bis dorthin, aber nicht weiter. Er hat verstanden. Sooft er sich auf die für ihn wichtigeren Körperteile da unten verlegen wollte, hatte sie sich ja mit aller Kraft gewehrt. Nun gut. Ganz so hat er sich die Nacht nicht vorgestellt.

Die Winzigkeit ihrer Brüste und dass sie sich offensichtlich für Männer ausstopft, um ihnen zu gefallen, rührt ihn. Er mag auch ihren kindlichen, sehr geraden, dünnen Körper. Jetzt, wo die Schminke auf ihrem Gesicht durch all das Gerangel in den Leintüchern hängen geblieben ist, sieht sie, ebenso wie damals am Meer, wie ein kleines Mädchen aus, pur und unschuldig.
Doch dieses Kind scheint große Bedürfnisse zu haben.
Und was er nun gerade nicht braucht, ist ein anhänglicher Teenager. Er wird sich hüten, schlafende Hunde zu wecken.
Er muss ihr möglichst sanft erklären, dass es so nicht gemeint war ...

"Sie sind für die Liebe gemacht", sagt er in das aufleuchtende Gesicht des jungen Geschöpfes hinein und er braucht nicht einmal zu lügen, obwohl er weiß - es ist es nicht die Art Liebe, die ich ihr geben kann ...'
"Sie werden in Deutschland einen guten Mann finden und eine glückliche Heirat machen – vous ferez un très bon marriage", fährt er feierlich fort.

*

Da bricht Minous Welt mit einem Donnerschlag auseinander. Da stürzt sie aus allen Wolken. - Wie kann er das meinen, wo sie ihm so nah ist, wie noch nie einem Menschen zuvor im Leben? Wo ihre Gedanken von Anfang an nicht mehr von ihm loskamen! –
Seine Worte werfen sie in einen bodenlosen Abgrund. Ihr wird elend, elend. Sie weiß, sie wird nie einen anderen auch nur ansehen können. Das könnte ja keine schaffen, nachdem ER sie nackt in den Armen gehalten, sie so wahnsinnig berührt, so wild geküsst hat. Ganz abgesehen von dem ‚Unsagbaren‘, dem ‚Intimen‘ zwischen ihnen.

*
Ernando hatte es kommen sehen. Sie hängt jetzt an seiner Brust wie eine Klette. Sie klammert sich. Nicht nur im körperlichen Sinn. Sie giert nach Kommunikation. Will so vieles wissen ... Über sein Leben. Seine Frau natürlich. Letzteres konnte ja nicht ausbleiben. Am Ende fangen sie immer alle an, nach Lucia zu fragen. Dieses Mädchen ist schon dabei, ihm zur Last zu werden. Nein, mein Kind, denkt er, so nicht! Und er schlägt das kurze Buch ihrer ungleichen Beziehung bereits wieder zu. Geht dann schnell in den Nebenraum.
*

Minou hört Wasser ins Becken rauschen.
Nach kurzer Zeit kommt er heraus, abgekühlt, vollständig angezogen. Weltenweit fern von ihr. Losgelöst. Das spürt sie. Mit einem feuchten Waschlappen wischt er auf ihrem Bauch, in ihrer Nabelkuhle die glänzenden Reste seiner Flüssigkeit weg. Mit einem Handtuch trocknet er dann ihre Haut ab. Sorgfältig, ernst.

Er ist so liebevoll, denkt sie benommen. Schon kommen Minou die Tränen, obwohl er doch nur die Spuren seiner Nähe tilgt. Er küsst ihren Bauch an den Stellen, die er gerade saubergewischt hat. Da heult sie los. Heftig.

Sie hatte erwartet, voller bebender Furcht zwar, aber dennoch erwartet, dass er in sie eindringen würde. Wie ein Mann in eine Frau eindringt. Tief, tief, bis in ihren Kern. Ganz gleich, wie weh er ihr dabei tun würde. Sie hatte es sich so stark gewünscht ... zuletzt. Sie hat keine Ahnung, was ihn dazu bewog, sie zu verschmähen. Zu VERSCHMÄHEN. Sie weiß überhaupt nichts mehr. Null. Sie, die ihre Unschuld seltsamerweise in letzter Sekunde hat behalten dürfen! Sie weiß nicht, dass Ernando sie abgestempelt und eingestuft hat: eine ‚halbe Jungfrau.‘
Sie ist so schrecklich konfus.
- Bitte geh nicht weg, lass es noch nicht zu Ende sein - möchte sie schreien. Sagt aber nichts. Sie möchte, dass er sie noch viel mehr berühre. Ganz und für immer berühre. Dass sie nie mehr von ihm getrennt, nie mehr in die Alltäglichkeit des Lebens zurückgeworfen werde.

*

Es ist jetzt fast ein Uhr nachts. Dieses Mädchen ist vollkommen aufgelöst. Von einer Rückfahrt kann nicht die Rede sein, denkt der Conte. Er würde mit ihr gegen drei Uhr morgens beim Campeggio ankommen. Zu einer Stunde, wo das Tor, wenn überhaupt, nur in äußersten Notfällen geöffnet wird. Die Sache wird ohnehin auffliegen. Heute Nacht oder morgen. Da kann man ebenso gut bis morgen warten.

Sie scheint euphorisch, noch bei ihm bleiben zu dürfen und dass der Aufbruch hinausgeschoben wird ... Ihre dünnen Arme schlingt sie um seinen Hals, drängt sich an ihn, glücklich, unter Tränen.

"Jetzt müssen Sie aber schlafen", sagt Ernando.
"Draußen der Sturm... er wird immer stärker!"
Nun fürchtet sie sich anscheinend auch noch vor dem Wind.
"Keine Angst, ich bin ja da", sagt er.

*

Das, was Minou heute erlebte, war viel. Vielleicht ist sie deswegen so erschöpft. Die Besuche bei den Arbeitern auf den Plantagen, die grandiose Schönheit Taorminas, der feuerspeiende Berg. Die tote Mondlandschaft. Die Winterkälte im Hochsommer. Der schwarze, verlassene Ort. Dieses düstere Zimmer. Und mehr als alles ... SEIN Begehren. Die erste Liebesstunde ihres Lebens.
Ernando deckt sie mit der dicken Daunendecke zu.
Noch niemals hat sie sich so geborgen gefühlt.
Schwer ermüdet von all den Ereignissen des Tages, schläft sie sofort ein.


Am nächsten Morgen wird ihnen ein gefülltes Tablett ins Zimmer gereicht. Minou muss davon aufgewacht sein. Sieht, als sie die Augen öffnet, wie der Conte es in Empfang nimmt, hört ihn ein paar Worte mit einem Unbekannten wechseln.

O je, es dauert ziemlich lang, bis ihr klar wird, wo sie ist und was gestern geschah. All das Seltsame, Rätselhafte, Aufwühlende ... Als sie dann ihre Gedanken wieder beisammen hat, erfasst sie die reinste Euphorie. Eine merkwürdige Helligkeit und Wärme hüllt sie ein. Alles ist neu. Ihr ganzes Leben liegt neu und verheißungsvoll vor ihr. Denn ER wird nun für immer bei ihr sein. Minou ist soo glücklich. So aufgeregt. Auch verwirrt ... und spürt nur SEINE NÄHE.

Vielleicht hat er aber den Rest der Nacht gar nicht bei mir im Zimmer verbracht?, fährt es ihr plötzlich durch den Kopf. Denn wieso ist er ganz angezogen? Er wirkt bereits extrem vital und frisch, obwohl es doch noch so früh ist, so früh am Morgen!
Und ... wie von fern sieht er sie an, fremd, aber nicht unfreundlich. Distanziert könnte man so einen Blick nennen, denkt sie. Da steigt plötzlich Angst in ihr auf und der rosenrote Schimmer der Geborgenheit, in den sie beim Aufwachen getaucht war, droht schon, sich zu verflüchtigen

*


Die Kleine hat geschlafen wie ein Stein. Ernando hat sie lange schlafen lassen. Nun ist er klug genug, jede verfängliche Situation zu vermeiden. Und das ist keine ganz einfache Sache, wenn ein sechzehnjähriges, nacktes Ding einen aus den Federdecken erwartungs- und hingebungsvoll unter halbgesenkten Wimpern anblinzelt.
"Wer war das eben an der Tür?", murmelt sie.
"Unser Frühstück ist gekommen!"
"Und ich hatte schon gedacht, wir wären in einem Geisterhaus", sagt das Mädchen.
"Sie sehen, es gibt dienstbare Geister!"

Ernando gießt für Minou Kaffee ein, bestreicht Brotschnitten mit Butter und Honig, tut dazu ein Glas Orangensaft, bringt ihr das Tablett ans Bett.
*

Noch nie im Leben hat ihr jemand Essen ans Bett gebracht. Da kommen ihr vor Liebe und schrecklichem Aufgewühltsein schon wieder die Tränen. Sie hat nur noch einen einzigen Wunsch... sich auf der Stelle in SEINE Arme zu stürzen und für immer dort zu bleiben.
*

Nach dem Frühstück sagt der Conte lächelnd, sie müsse sich jetzt aber anziehen. Beeilen. Dass sie hier weg kämen.
"Es ist gleich halb elf!"
"Nein! Das kann überhaupt nicht sein!", schreit sie ungläubig.
"Doch!" Er zeigt auf seine Armbanduhr.

Sie flüstert, er möge sich bitte umdrehen und zur Wand schauen. Dann greift sie sich ihr Kleiderbündel und huscht, in ein Leintuch gewickelt, ins Badezimmer. Er hört ihren erstaunten Ausruf, weil es dort eine Wanne gibt und das Wasser sogar warm fließt. "Wie funktioniert das nur in einem so alten Haus und so hoch oben am Etna, wo Sie doch gestern gesagt haben, dass es hier keinen Strom gibt?"

Auch, dass Waschzeug und Zahnbürste da sind, nimmt sie mit einem erstaunten Ausruf zur Kenntnis. Als sie nach Pfefferminz und Seife duftend zu ihm zurück kommt - Schuhe, Höschen, BH. und ihr weißes Kleid hat sie im Bad schon angezogen - da zerrt sie errötend an ihrem Reißverschluss herum, tut, als klemme er und sie kriege das Anziehen einfach nicht geregelt.
Was für ein Kindskopf ! Er zippt ihr den Reißverschluss langsam und zärtlich zu.
Am Ende kämmt er sie sogar. Was soll er tun, wo sie ihm doch stumm und erwartungsvoll die Bürste hingereicht hat.
Ja, du hast hübsche Haare, denkt der Conte und zügelt sein Lächeln ein wenig. Bei jedem Bürstenstrich den er tut, senkt sie aber den Kopf tiefer. Er kennt solche gefährlichen Gesten der Unterwerfung.
"O Ernando", haucht sie jetzt auch noch, drängt ihr angespanntes Gesicht dem seinen entgegen, senkt die Lider.
Vorsicht! Er ist auf der Hut.

Minou ist sehr verunsichert. Denn er nimmt sie zwar für ein paar Sekunden in die Arme, küsst sie auf die Schulter. Doch nur leicht und halbherzig und ohne das von ihr ersehnte, leidenschaftliche Begehren der Nacht ... das spürt sie genau!

"Es wird Zeit, meine Kleine ...", hört sie ihn dann lässig sagen. Und ebenso lässig geht er zur Tür.
*


Später im Auto erklärt er auf einmal ganz nebenbei, er müsse schon am nächsten Morgen verreisen und komme erst nach Wochen zurück. Da sei sie dann ja längst wieder in Deutschland!
In diesem Augenblick stürzt über ihr der gerade noch so blaue Himmel ein. Die Vernichtung ist vollkommen. Hinter ihrer Stirn beginnt sich alles zu drehen. Und die Augen sind für Sekunden blind.
"Da kann man nichts machen", hört sie ihre eigene Stimme ruhig sagen.

Während der Rückfahrt ist der Conte freundlich. Sie reden über das Wetter. Die Landschaft. Taormina.
Er führt sie noch einmal zum Mittagessen aus. Sie kriegt kaum drei Bissen hinunter. Als sie durch Siracusa fahren, durch eine Straße mit schönen Boutiquen im Erdgeschoss alter Häuser, sagt er:
"Ich würde Ihnen gern eine Freude machen. Lassen Sie mich Ihnen etwas schenken! Ein Armband vielleicht oder eine Kette? Möchten Sie so etwas?"
Das ist alles, an was er denkt, nach DIESER Nacht! Sie registriert es verstört.
Nein, sie will so etwas nicht.

*

Er läuft mit ihr noch eine Weile irgendwo am Meer entlang. Damit sie vielleicht aufhört, zu zittern. Dieses Mädchen scheint kranke Nerven zu haben. Sie ist schon wieder in äußerst schlechter Verfassung. Er kann nicht einmal vernünftig mit ihr reden, jetzt.

Gegen halb drei Uhr nachmittags kommen sie beim Campeggio 'Mare Luce' an. Dort wohnt die Kleine. Ernando hat absichtlich eine Zeit ausgesucht, wo die jungen Leute am Meer sind. Oder mit dem Bus beim Sightseeing. So kann sie möglichst unbemerkt in ihren Bungalow schlüpfen, denkt er.

Der Wachmann am Tor will auf den Knopf drücken, um es für die Autodurchfahrt zu öffnen. Ernando schüttelt den Kopf, macht eine verneinende Geste. Man braucht das große Tor nicht zu öffnen.

*

O Gott, er wird nicht einmal mit hinein kommen, sondern gleich weiterfahren, spürt Minou.
Er küsst sie zum Abschied. Und in diesem Augenblick bricht ihr Stolz sich Bahn. Starr und bewegungslos verhält sie sich in seinem Arm. Jetzt will sie nicht länger eine Klette sein. Plötzlich ist er wieder der dunkle König aus Erz und Stahl, fern, unberührbar. Sie registriert alles wie in Trance. Als geschehe es einer Fremden, aber nicht ihr.
"Geh jetzt", sagt er ... und sie marschiert, marschiert ...

Um vom Eingangsportal zu ihrem Bungalow zu kommen, muss sie erst die geräumige Speiseterrasse überqueren. Zu dieser Zeit ist das Patio meistens verlassen. Das ist normal. Aber heute sitzen einige von ihren deutschen Reisegefährten herum. Sie stoßen sich grinsend an, beginnen zu tuscheln.
"Heh ... da ist sie", ruft Werner. "Aber hallo, wir dachten schon, du seist mit dem Typen auf und davon!"

Steif stöckelt sie an ihnen vorbei. Sie haben gesehen, wie Ernando sie gebracht und abgesetzt hat. Wie er weggefahren ist. Es scheint, als hätten die Kumpel und 'Freundinnen' nur auf ihr Kommen gewartet.
"Ausgefickt ... nach Haus geschickt!", ruft Marlene und lacht.

Minou erschrickt bei so viel Bosheit. Äußerlich bleibt sie wie erstarrt. Innen bebt sie. Es sind nicht die Worte, es ist nicht das Gelächter der anderen, das sie so niederschmettert. Es ist ... weil ER sie allein gelassen hat! Sie hatte gehofft, er würde zu ihr stehen. Zu ihr stehen? Wie hat sie sich das vorgestellt? Dass er immer um sie sein würde. Dass er sie behalte und sie nie mehr aus seiner Sphäre wegzugehen brauche. Sie fühlt sich ihm aber doch so zugehörig! Auch jetzt noch. Nach all der Nähe. Die ER wiederum nicht so empfunden zu haben scheint, wie sie. Ihr ist, als habe sie ihm ganz gehört. Auch wenn sie eigentlich weiß, dass es nicht so ist ...

"Heh, du siehst ganz schön fertig aus!", ruft Helmut, "hat er dich nicht gut genug gefüttert, dein Conte?"
Ute meint: "Ja, wenn man die ganze Nacht ..."
"Der Kanutz will dich heute noch in den Zug setzen", feixt Marlene und Anne sagt: "Du bist vielleicht eine blödsinnige Nutte, Minou."
Die halberwachsenen Burschen johlen.

Es tut ihr kaum weh.
Sie nimmt all ihre Kraft zusammen, um den Kopf oben zu behalten. Obwohl sie es vor Schwindligsein auf ihren hohen Stöckelschuhen kaum mehr schafft, die Speiseterrasse halbwegs aufrecht zu überqueren.
Die anderen lachen ihr jetzt offen hinterher.

*

Zuletzt schießt Otto Kanutz, der Reiseleiter, auf sie zu. Er sieht gleich, was mit ihr los ist.
Die Augen des Mädchens sind riesengroß. Glänzen fiebrig. Ihr Gesicht ist noch wie erleuchtet ... er kennt solche Frauengesichter und kann sich vorstellen, warum sie auf einmal so aussieht, wie sie aussieht, so verändert ... hübscher auch, stellt er fest.
"Wo steckt denn Sascala? Ah ja, der saubere Herr ist gar nicht mitgekommen. Hat dich benutzt und abgeliefert! Keine Angst, den krieg ich auch noch!", schreit er, "und für dich habe ich eine Nachricht, Fräulein: morgen fährst du nämlich heim. Schluss. Aus. Finito. Ich habe dich oft genug gewarnt. Du packst jetzt deine Sachen!"

*

Minou hört ihn. Ihr ist ohnehin gleich, was passiert. Nichts ist mehr von Bedeutung.
Am Abend geht sie nicht zum Essen.
Als es dunkel wird, läuft sie jedoch hinunter zum Meer. Aber da sind die anderen. Alle sitzen in altbekannter Runde beisammen auf den Basaltfelsen. Piet übt Gitarre. Er unterbricht weder seine Akkorde, noch stoppen die einzelnen Grüppchen ihre leisen Gespräche. Aber alle drehen angewidert die Köpfe zu ihr hin. Sie geht zügig in die andere Richtung. Zum Leuchtturm und wieder zurück.

Im Bungalow sitzt Minou später auf dem Bettrand, blickt starr zur Erde. Nicht einmal Christel, ihre beste Freundin, ist bisher gekommen. Sogar die verachtet sie und mag anscheinend kein Wort mehr mit ihr reden.
Irgendwann taucht Christel natürlich doch auf. Notgedrungen. Es ist immerhin ihre gemeinsame Hütte ...
Christel sagt, Kanutz liefe herum, tobe und wolle Ernando anzeigen. Wegen Verführung einer Minderjährigen.
"Das darf er nicht!" Minou kommen schon wieder die Tränen.
Wenn Christel nur wüsste! Dass eigentlich gar nichts geschehen ist! Dass er sie nicht einmal wirklich und GANZ hat haben wollen. Natürlich ist sie zu stolz, es zuzugeben.

"Er wird morgen verreisen, ich werde ihn nie mehr sehen", entfährt es ihr aber kummervoll ... Minou heult los wie ein Schlosshund: "Huuuuuh, huuuuh, huuuuh."

Am nächsten Morgen sitzt sie sehr verloren im Bungalow herum. Sie weiß nicht, ob sie nun heimfahren muss oder was überhaupt los ist. Zum Frühstück geht sie nicht. Sie wird nie mehr etwas essen können.

*

Der Reiseleiter sucht das total am Boden zerstörte Mädchen gegen neun Uhr auf. Schlimm, dass er den Hauptschuldigen nicht zu fassen kriegt. Dieser Kerl war es schließlich, der die Kleine durch seine Allüren verrückt gemacht hat, soviel ist klar. Das einfältige, junge Ding tut ihm nicht leid, leid tut ihm vielmehr, dass der Halunke sie anscheinend alle bekommt, alle die er haben will und nicht einmal die Schlechtesten.
"Was ist denn nun eigentlich passiert?" fragt er väterlich, "sag die volle Wahrheit. Was hat er dir angetan? Ich will alles wissen!"
"Bitte gehen Sie weg!"
"Ich werde diesen Verbrecher polizeilich belangen."
"Nein, das tun Sie nicht!", schreit sie los, schrill und total aufgelöst:
" Da ist nichts gewesen. Nichts. Nur ... ich liebe ihn", jammert sie. Und fügt pathetisch hinzu: "Es ist eine Sache von Leben und Tod!"

Aha, dieser Kerl hat wieder einmal einen mächtigen Eindruck hinterlassen ... wie schafft er das nur immer, der Bastard? Diesmal hat er den Bogen überspannt. Diesmal hat er sich eine Minderjährige gegriffen. Kanutz fließt vor Wut die Galle über.

"Er hat sich so etwas schon öfter geleistet", sagt er zu Minou, 'aber ihr Dummköpfe macht es ihm leicht, hängt euch an ihn wie die Flöhe ... nachher kommt das große Heulen und Zähneklappern!"
Aufenthaltsverbot kann man ihm auch nicht erteilen, ihm gehört schließlich das halbe Gelände hier, denkt Kanutz.

"Also, Mädchen", sagt er gnädig, "wir haben deinen Vater nicht benachrichtigt und du brauchst auch nicht abzureisen. Vorläufig wirst du im Bungalow bleiben. Strafarrest! Man wird dir das Essen bringen. Aber solltest du noch einmal mit diesem Menschen auch nur ein Wort reden, dann gibt es kein Pardon mehr, dann fährst du heim! Du siehst ... wir sind keine Unmenschen und geben dir noch eine Chance."
"Er ist ja fort", wimmert das verstörte Ding mit zitternder Stimme und bricht gleich wieder in Tränen aus, "er ist ja fort!"

*




EIN FERIENGLÜCK


"Gehen Sie nach Sonnenuntergang zum Leuchtturm, Signorina", sagt der Kellner Giovanni, als er Minou das Abendessen in den Bungalow bringt, "dort wartet jemand auf sie!"
"Giovanni, du machst dich über mich lustig?"
"Non, non ... Hand aufs Herz, ich bin beauftragt – Sie wissen schon von wem ..."
"Du steckst nicht zufällig mit Herrn Kanutz unter einer Decke? Wollt ihr mich testen, ob ich ..."
Nein, der Reiseleiter darf davon nichts wissen!"
Irgendwie glaubt Minou ihm. Ihre tiefe Niedergeschlagenheit weicht neuer Hoffnung. Sie wird auf alle Fälle zum Leuchtturm gehen. Ihr Herz rast und pumpt wieder Kraft durch den Körper.

Natürlich bekommt sie keinen Bissen Essen hinunter, rennt statt dessen hektisch zum Duschen, wäscht auch ihre langen Haare und trocknet sie nachher auf der Türschwelle sitzend in der Abendsonne. Ein Glück für Minou, dass die Gruppe mitsamt Herrn Kanutz zu einem sizilianischen Folklore-Abend nach Siracusa gefahren ist. Sie hat nicht mitkommen dürfen, über sie ist ja Hausarrest verhängt!

‚O bitte Ernando, o bitte, Ernando, sei da‘, betet sie vor sich hin.

Als sie dann am Leuchtturm auf ihn zuläuft - es ist beinahe finster, sie erkennt aber seine Silhouette schon aus der Ferne - da kommt ihr die Situation weder falsch, noch peinlich vor. Ein dunkler Sog reißt sie dem Mann wieder in die Arme.

"Ich hatte so furchtbar große Angst, dass Sie nie mehr...", stammelt sie und drängt ihren Kopf an seine Brust.

"Man hat mir gesagt, es geht Ihnen nicht gut."
"Ach, der Herr Kanutz, er wollte mich schon heimschicken ... doch jetzt sind Sie ja wieder da..." Wie ein Kind schmiegt sie sich in seine Arme.
"Ich reise morgen", hört sie ihn sagen.
"O nein!"
"Kommen Sie, Minou ... ich glaube, wir werden jetzt erst einmal zum Essen fahren!"

Der Wächter in seinem Steinhäuschen öffnet ihnen untertänig grüßend das kleinere, eiserne Tor. Gleich vor dem Campeggio, an der Landstraße hat Ernando den Wagen geparkt.

Später, in einem abgelegenen Restaurant, beim Essen fragt er sie, ob sie für einige Tage mit ihm verreisen wolle.
Das wirft sie fast um, alles hatte sie erwartet ... das nicht!
Sie starrt ungläubig, denkt an die fiesen Aufpasser im Campeggio ... und überhaupt ...
Aber was für ein Glück bietet er ihr an!
Er treffe sich in Palermo mit Herren eines deutschen Reiseunternehmens, sagt Ernando. Es handele sich um die Verpachtung und Nutzung einer neu errichteten Ferienanlage.
"Das Geschäftliche wird nur wenige Stunden in Anspruch nehmen und danach hätte ich Zeit für Sie ..."
"Das werden die mir nie erlauben!", sagt Minou.
"Wir werden sehen. Sie fungieren eben als meine Angestellte, meine Übersetzerin."
"Das bin ich aber doch nicht... wie soll ich denn ...?"
Ganz einfach ... Sie warten im Hotel auf mich, bis ich mit den Verhandlungen fertig bin und dann zeige ich Ihnen Palermo."

Minou schwindelt der Kopf. Die Art, wie er sie ansieht! Sie bebt schon wieder unter seinen Blicken.

"Vielleicht könnte ich wirklich mitkommen", flüstert sie heiser vor Aufregung in seine lächelnden Augen hinein.

Da, in der von Kerzen beleuchteten Nische der Terrasse – unter ihnen schäumt das hellere Meer glitzernd vor dem dunklen, mondlosen Nachthimmel - nimmt Ernando ihre Hand, küsst zärtlich ihre Fingerspitzen, beugt sich zu ihr herüber, berührt mit seinen Lippen ihre nackte Schulter. Schauer durchwallen sie!
"Darf ich bitte noch etwas Wein... ?", stammelt sie und greift nach der Karaffe. Er füllt ihr Glas bis zur Hälfte.
"Und danach werden Sie mich wieder allein lassen!", kommt es schon wieder vorwurfsvoll aus ihrem Mund, obwohl sie weiß, dass so ein Gerede einen Mann wie ihn nervt.
"Minou, wir sollten zuvor über alles reden: Also ... eines muss Ihnen klar sein ... wenn Ihr Urlaub um ist, werden Sie mit der Gruppe heimfahren." Auch das akzeptiert sie, sie akzeptiert alles, was er will – "Aber bis dahin werde ich versuchen, Ihnen eine schöne Zeit zu bieten", fährt er fort.

Französisch redet er und es fällt ihm bestimmt leichter zu sprechen, als ihr, seine Worte und ihren kühlen Sinn ganz zu erfassen.
"Es wird später keine Briefe zwischen uns geben, auch nicht die Telefongespräche, die Sie sich so schön ausgemalt haben. Nur das ‚Jetzt‘ wird zählen, nachher wird da nichts sein. Und eines ist wichtig, das müssen Sie wissen: ich habe ... meine Bedürfnisse, meine Wünsche. Ich bin ein Mann. Doch DAS verspreche ich Ihrem mir unbekannten Vater heute: ich werde Sie so zu ihm zurückschicken, wie Sie gekommen sind ... eine Jungfrau.
Minou wagt nicht, ihn anzusehen. Sie starrt auf das Tischtuch. Sie hat begriffen und sie hat sich entschieden.

*


Am nächsten Morgen holt Ernando Minou in Mare Luce ab. Sie hat nur die Reisetasche gepackt. Ungläubig starren die Jungen und Mädchen, als sie mit ihm zum Auto geht. Auch zwischen dem Conte und Kanutz scheint auf einmal wieder Harmonie ausgebrochen. Unbegreiflich. Die beiden haben sich eben ganz normal unterhalten.
Die jungen Deutschen fühlen sich ziemlich vor den Kopf gestoßen und verschaukelt. Ihnen verbietet man sogar, ohne Betreuer in die nächste Stadt zu fahren. Und die da, die kleine Nutte kann sich wohl alles erlauben? Wozu also noch gestern die ‚Strafmaßnahmen‘ für das über die Stränge schlagende Flittchen. Warum all das Gezeter und Herumgeschimpfe des Reiseleiters? Sie begreifen überhaupt nichts mehr.

*

Das veränderte Verhalten von Herrn Kanutz muss Ernandos Verdienst sein, denkt Minou ... Er, mein Gebieter und König! Sie fängt an zu zittern, spürt sich schwindlig werden bei dem Gedanken, wieder in seinen Armen zu liegen und mit ihm Dinge zu tun, von denen sie im Haus am Etna schon eine Ahnung bekommen hat.
Sie hat bemerkt, wie wütend, wie finster die früheren Freundinnen zu ihr her starrten, als sie vorhin Hand in Hand mit ihm die Speiseterrasse verließ. Es berührt sie kaum.

*



In Palermo. Ein Haus. Ein modernes, in hellen Farben gehaltenes Hotel. Auf der Terrasse speisen sie zu Abend. Nur sie beide.

Was für eine blaue Nacht, denkt Minou. Die Sterne des Südens stehen klar und groß über ihnen. Die mit Pinien- und Zypressenhainen überzogene Silhouette des Monte Pellegrino leuchtet dunkel-violett. Das Hotel steht zu Füßen des Berges, auf dessen Höhe oben mächtig das alte Castello aufragt.

Minou kann nicht viel essen, nimmt nur ab und zu ein paar Bissen und einen Schluck Champagner. Sie glüht vor Sehnsucht. Ernando zieht sie eng an sich und unter Küssen hebt er sie nach einer Weile auf die Arme, will sie hinein tragen ins Schlafzimmer.

"Ich würde gern auf der Terrasse bleiben. Ich wollte so etwas schon immer ... !"
"Gut ... da lassen wir eben das Bett heraus bringen!"

In dieser samtblauen Nacht, unter dem Sternenhimmel Palermos, fängt er an, mit ihr das Gleiche zu tun, das die sizilianischen Männer mit den sizilianischen Jungfrauen machen und gegen das sie sich im Haus am Etna so sehr gewehrt hat ...

Als sie nach drei Tagen mit ihm aus Palermo zurückkehrt, fühlt sie sich stolz ... und zugleich voller Scham. Sie kann die Verachtung in den Augen der früheren Freundinnen nicht übersehen. Minou ist vollkommen aus der Clique ausgestoßen. Niemand redet mit ihr. Oder ist sie es, die den anderen nichts mehr zu sagen hat?

Ernando holt sie jetzt jeden Morgen nach dem Frühstück ab. ER wird von niemandem geschnitten. Im Gegenteil, die jungen Deutschen suchen seine Nähe, umringen ihn, drängen sich an ihn heran wie früher, sobald sie seiner ansichtig werden ... auch die Mädchen.
Er plaudert charmant wie immer, lacht und albert mit ihnen herum, aber er wartet auf mich, denkt Minou. Vor den staunenden Augen der früheren Kumpel bricht sie mit ihm die Gesetze, die die Reiseleitung aufgestellt hat, jeden Tag aufs neue vor den Augen der staunenden Kumpel.

*


Bald kommt sie nur noch um Mitternacht, kurz vor Torschluss, zum Schlafen ins Campeggio. Verschwindet früh am Morgen errötend mit ihrem Galan im weißen Cabrio.
"Was der bloß an ihr findet", sagt Ute, "der nutzt sie doch nur aus."
Dafür lässt sie sich von ihm Sachen kaufen ... das ist Prostitution." Marlene zieht das Wort genüsslich in die Länge wie Kaugummi.
Christel ist derart vor den Kopf gestoßen, dass auch sie kein Wort mehr mit der Abtrünnigen redet. Bald ist das Bett neben dem ihren jede Nacht leer. Christel wohnt nur noch allein. Das Flittchen bleibt ganz fort! Einen Teil ihrer Sachen hat sie zwar noch im Bungalow, aber sie wohnt nicht mehr dort.
"Das schlägt ja wirklich dem Fass den Boden aus", sagen sie untereinander, "und der schleimige Kanutz tut nix dagegen!"

*

Ja, Minou hat die Zuneigung der Kumpel und Freundinnen verloren. Nur noch einen vertrauten Menschen besitzt sie, Ernando. Sonst braucht sie auch niemanden.
Bereits an ihrem ersten Abend im Haus am Etna hatte Minou mit Verwunderung gespürt: Seine Haut ist zart - außerhalb der von kratzigem, schwarzem Haargekräusel bedeckten Stellen ... Dass ein Mann wie er sich so weich anfühlte! Merkwürdig. Die Haut der Helden in ihren Fantasien war wettergegerbt gewesen und natürlich von tiefen Narben übersät ... Oder konnte man sich etwa Scythen, Avaren oder gar den Dshingis Khan mit Samthaut vorstellen? Aber Ernando hat eine Haut, glatt wie Seide, über die ihre Hand widerstandslos hin gleitet..

Da fällt ihr ein, ER ist der erste Mann, den sie je angefasst hat. Sie hat auch niemals eine Frau berührt, keine Kindheitsbekannte, keine ihrer Kolleginnen auf dem Fernsprechamt. Nicht einmal Wangenküsse hat es in ihrer Welt gegeben. Sonst würde sie sich doch daran erinnern! So etwas war daheim nicht üblich. Nichts, was über einen Händedruck hinausgegangen wäre. Klar haben sie schon einmal Männer beim Arm gepackt oder beim Tanzen angefasst, aber richtig liebevoll, zärtlich, intim ... nein, nie. Wenn sie es auch wollten ... Minou hatte es nicht zugelassen.
Auch ihre eigene Haut hatte Minou niemals sinnlich berührt, nur rasch und ungeduldig mit dem Waschlappen am Morgen. Erst jetzt erfährt sie schöne Gefühle, beginnt, ihren Körper langsam halbwegs zu mögen, jetzt, wo Ernando sie berührt, sie streichelt.

Nach sonnendurchglühten Strandtagen, nach Fahrten in seinem Auto oder mit dem Motorboot, nach schwerelosen Ausflügen durch die Blütenbuntheit und hinein ins Meeresblau Siziliens, nach köstlichen Mahlzeiten auf schattigen Terrassen, liegt sie in versteckten Zimmern in seinen Armen.

Er tut jetzt die unerlaubten Dinge mit ihr. Sein dunkler Kopf mit dem dicht gekräuselten, afrikanischen Haar ist wie ein Pelztier zwischen ihren Schenkeln, die er für sich weit gespreizt hat. Sie spürt seine Zunge und aufsteigend von dort unten ein süßes Gefühl, das er ihr verschafft, das von Tag zu Tag stärker wird, immer mehr ihren ganzen Körper umfasst. Bei den ersten Malen war es nur wie ein zartes, kleines Zupfen und Anklingen und für sie noch ganz ungewohnt. Nun kann sie die Lust pulsieren spüren da unten, wo sie früher in den Zeiten ihrer Mädchenträume nur eine vage, zehrende, aber höchstens innerliche Sehnsucht gekannt hat. Sie hatte sich ja auch niemals selbst berührt. Aber jetzt wird es von Mal zu Mal furchtbarer und körperlicher und aufwühlender, was er mit ihr tut. Dann wünscht sie nur noch eines: dass er in sie eindränge, tief und schmerzhaft, tief in sie hinein. Dass er sie ganz für sich nähme. Auch wenn es in Zerstörung, Blut und Tränen enden sollte, sie sehnt sich so sehr ... sein Zeichen sollte für immer in sie eingebrannt sein ... Ihn möchte sie spüren, mit aller Kraft.
Sie giert jetzt nur noch nach einem: mit ihm zu verschmelzen, ganz von ihm genommen zu werden.
Er tut es aber nicht.

Von Anfang an lehrt er sie, ihm auf ähnliche Weise zu dienen, wie er ihr dient. Er will das. Ohne Wenn und Aber. Auf die Knie zwingt er sie. Sanft und bestimmt. Fest fasst er mit beiden Händen ihren Kopf, presst ihn hinunter ... So steht er aufgerichtet, sie dagegen kniet auf einem kleinen Hocker mit dem Gesicht niedergedrückt auf seinen pochenden Penis, der nach Walderde und trockenem Laub riecht, auch nach leicht parfümierter Seife.
Am Anfang ist Minou sehr verwirrt. Ihre Lippen tasten vage herum ... beim ersten Mal weiß sie überhaupt nicht, was tun.
Ernando deutet ihr zärtlich, aber bestimmt an, wie sie das bewerkstelligen muss. Eigentlich braucht er ihr gar nicht viel zu zeigen, sie begreift es auch so ziemlich schnell. Nur... da gerät auf einmal sein Penis - so groß und prall - tief in ihren Mund. Sie erschrickt sehr.
Dieses Ding, das machtvoll aus schwarzdrahtigem Haar-Dickicht herauswächst... es tut ihr weh.
Mein Mund ist dafür zu klein, denkt sie. Und überhaupt schämt sie sich sehr, es ist ... peinlich.

Bald kann sie es aber ziemlich gut und sie spürt, dass er zufrieden ist mit ihr. Nur - sie muss aufpassen, damit sie Ernandos empfindliches Teil nicht mit den Zähnen ritzt und verletzt ... Auch würgt es sie manchmal, wenn er heftig und tief bis an ihr Zäpfchen in sie hineinstößt. Manchmal ist es auch sie, die seinen Penis, ungeübt noch, aber mit plötzlich erwachtem Schwung und Elan tief in ihren Mund hinein saugt.

Doch bald kommt sie ganz von selbst darauf, dass es leichter ist, und ihm fast ebenso viel Vergnügen bereitet, wenn sie mit ihrer Zunge erst zärtlich seinen Penisschaft immer wieder umrundet, die Eichel und die Öffnung in der Mitte ebenfalls mit der Zunge schmetterlingsleicht berührt und umschmeichelt. Auch beginnt Minou, die mattglänzende, rosige, seidenweiche Spitze sanft mit ihren Lippen zu saugen und zu nuckeln und nur kurz vor ‚Schluss‘ nimmt sie ihn ganz in den Mund.

Dass nur sündhafte, verdorbene Menschen so etwas Unaussprechliches tun, ist ihr natürlich klar. Das, was sie macht, erfüllt sie mit Schaudern aber auch mit geheimem, dunklem Stolz.

Sie gewöhnt sich rasch daran. Sie ist ohnehin seine kleine Sklavin und will es auch sein. Es fällt ihr nach kurzer Zeit leicht, zu tun, was er verlangt und dieses Tun wird ihr immer angenehmer.
Nur sein Samen am Ende ... der schmeckt ... bitter. Doch sie schluckt alles. Was ihr schwer fällt. Bald schafft sie auch das, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie tut es, damit er sie brauchbar finden und gern haben soll.

"Sie besitzen keinen einzigen Ring", wundert sich Ernando. "Wie ist das möglich! Ein junges Mädchen mit leeren Händen, so etwas darf es nicht geben!"
Minou zuckt die Schultern ... ziemlich uninteressiert. Oder tut sie nur so? Bisher hat ihr dieser Mangel eigentlich kein Problem bereitet. In ihrer kleinen Welt hat sie an echten Schmuck nie gedacht.
"Der Conte öffnet ein paar Tage später ein samtenes Etui. Sie hat es geahnt. Der Ring!
"Oh, er ist wundervoll!" rufen die Frauen in den Hollywoodfilmen immer bei solchen feierlichen Begebenheiten und kriegen sich nicht mehr ein vor Verzückung.
"Il est fantastique", sagt auch Minou andächtig und ihre Augen leuchten voller Begierde. "Der ist ja aus echtem Silber ... de l’argent pur !" ruft sie, schwer beeindruckt.
Na ja, es ist Platin, hätte ihr der Conte sagen können, aber was soll’s.

Der Reif mit seiner kleinen Blüte aus funkelnden, runden, glasklaren Steinchen ist für ihren Ringfinger zu groß.
"Ich werde ihn enger machen lassen."
"Nein, nein", sagt sie. Der Aufwand ist ja auch unnötig, denn er passt genau an den mittleren Finger ihrer linken Hand. Dort lässt sie ihn auch und zieht das Juwel von da an Tag und Nacht nicht mehr ab.

Ernando kauft ihr hübsche Dinge. Und zeigt ihr die Schönheiten seiner Insel. Täglich.

Wind, Himmel, Meer. Minou, die Lungen von frischer Luft gedehnt, die Haut von der Sonne immer tiefer gebräunt, fühlt sich neu ... im Licht, in der Weite Siziliens fliegt sie mit allen Sinnen ins Blaue. Das ist Leben pur!
All das Schöne macht er mir zum Geschenk und sagt nie, dass er mich ‚gern hat'. Aber wer weiß, wahrscheinlich liebt er mich ja in Wirklichkeit doch, denkt sie dann mit dem Optimismus ihrer sechzehn Jahre.
Manchmal lässt er sie für Stunden allein, um Termine wahrzunehmen, sich um Geschäfte zu kümmern. Dann muss sie - natürlich mit allen Annehmlichkeiten versorgt - irgendwo auf ihn warten. Dafür darf sie dann nachher die ganze Nacht in seinen Armen liegen.

Immer heftiger beginnt sie, die Lust zu spüren, immer wilder ... So intensiv ist dieses Gefühl, dass sie anfängt, im Bett Laute auszustoßen, schrille, helle Laute, deren sie sich selbst nicht bewusst wird. Doch er hört sie.

Bei ihm kann sie so viel Überfluss, Leichtigkeit und Luxus genießen, wie ein Mädchen sich nur ertäumen kann.

Wieso empfindet sie aber manchmal diese seltsame Angst, dieses vage Gefühl der Nichtigkeit und immer gerade in den herrlichsten Augenblicken? Unerklärlich! Zum Glück dauert dieser Absturz nur Sekunden, höchstens wenige Minuten, aber er ist stark und total.

Oft hat sie das Bewusstsein, Unrechtes zu tun. Gerade, wenn sie eng bei Ernando ist, wird sie plötzlich von Schuld geplagt.

Er hat sie soixante - neuf gelehrt. Das ist, wenn sein Körper über ihren so viel kleineren, zerbrechlicheren gebreitet liegt ... sodass er ihre und sie seine intimen Stellen mit dem Mund ‚küssen‘ und berühren kann. Nichts als die Innenseite seiner braunen Schenkel und sein Geschlecht sieht sie da über sich wie in Großaufnahme und den Penis, fast losgelöst von seiner Person, dunkel, fremd, wie ein eigenständiges, forderndes Wesen erscheint er ihr ... lebendig ... ein Tier?

Unterjocht fühlt sie sich, seine Sklavin, von seinem schweren Körper überdeckt, bedrückt. Das ist auch Liebe, die Liebe der Seelen bleibt da verborgen, es - bleibt ... Lust, die sich losgelöst hat – Sex pur, denkt sie. Ist sie in dieser Zeit für ihn überhaupt noch vorhanden, oder nicht vielmehr austauschbar, ein Objekt?
Wie immer es auch ist, Ernando scheint diese Stellung sehr zu lieben. Sein Mund beschäftigt sich - erfahren und geübt - mit ihrem Intimsten, während ihr Mund das Gleiche bei ihm tut. Und er erwartet, dass auch sie gut ist. Er erwartet viel - das spürt sie - und sie bemüht sich, sie bemüht sich. Sie hat schon gelernt. Sie ist gut. Das sagt er ihr. Lobend. Wird er sie deshalb mehr lieben? Oder gar anfangen, sie zu verachten? Ernandos Augen kann sie nicht sehen, auch nicht erraten, was er denkt, wenn er sie dort unten ‚küsst‘, während er die Lust in ihr aufsteigen lässt und sie immer höher treibt bis zum explosionsartigen, mächtigen Finale. Zu ihrer Schande muss sie gestehen, dass sie es nicht immer so erfolgreich bei ihm vollbringt, wie er bei ihr.

Wenn es vorbei ist, hält er sie eine Weile in den Armen, aber – denkt sie – fast immer zeigt er eine Spur von Distanz, sogar Ungeduld und er ist es, der dann zum Aufbruch drängt, während sie noch gerne weiter gekuschelt hätte ... nun ja, manchmal müssen sie eben ausgehen, zum Essen oder so ... manchmal steht er auch unter Zeitdruck wegen einer wichtigen Besprechung.

Sobald er sich von ihr gelöst hat, spürt sie diese vernichtende ... Einsamkeit.

*

Von Tag zu Tag wird Minou mehr zu Wachs in Ernandos Händen.
‚Arme Kleine‘, denkt er. Doch wie sehr sie schon auf ihn ausgerichtet, von ihm geprägt ist, weiß nicht einmal er.
Was für ein anspruchsloses, pflegeleichtes Kätzchen sie ist, wundert er sich. Am wohlsten scheint sie sich zu fühlen, wenn sie nach unseren Spielen entspannt bei mir liegt, wenn ich ihr Gesicht und ihren Körper eng an mich ziehe und sie einfach in meinen Armen halte. Und Gott sei Dank redet sie wenig. Ich weiß nicht, ob sie einfältig ist oder hell. Hinter der Fremdsprachenbarriere verstecken sich ja viele mit einer gewissen Berechtigung. Aber sie schweigt die meiste Zeit über!
So etwas würde auf Dauer höllisch langweilig werden! Doch im Augenblick ist es erholsam mit ihr, ist genau das, was er will.
Er braucht nur ihre Brüste mit hartem, oder auch kaum merklichem Druck seiner Hände zu streicheln, mit den Lippen zu stimulieren, diese so kindlich aussehenden Brüste, dann werden ihre Nippel sofort hart wie Kiesel. Ihr gesamter Körper, von Gänsehaut übersät, bäumt sich und bebt von einem Lustschauer zum anderen. Es ist kaum nötig, ihre Klitoris dabei noch zu berühren. Ausschließlich durch seine Beschäftigung mit diesen ihren winzigen, knospenden Brüsten bringt er sie zu einem heftigen Orgasmus, der sie ganz und gar mitnimmt und aus der Bahn wirft... Offensichtlich tief erschöpft und von Schluchzern geschüttelt drängt sie sich dann an seinen Körper. Später liegt sie beruhigt und wie ein kleines, sattes Kind fest an ihn gekuschelt in seinen Armen und schläft schnell ein.

*


Minou spürt an ihrer Wange oft die kratzigen Härchen seiner Brust, riecht seinen geliebten, herben Duft. Es überflutet sie ein unsagbar warmes Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Geborgenheit. Und dann kommen sie wieder in ihrem Inneren, die bohrenden Fragen... Was er wohl denkt, natürlich auch, was er in Verbindung mit ihrer Person denkt. Doch sie fragt nicht.

Der Kalender sagt, ihre gemeinsame Zeit läuft ab.

Deshalb ist Minou innen nicht wirklich frei und gelöst. NUR: an manchen Tagen, wenn sie morgens neben ihm im Bett aufwacht, gut geschlafen hat und an seinem Körper geborgen ist, da weiß sie es sicher: was nicht geschehen darf, WIRD auch nicht geschehen.
Wirklich ... im tiefsten Herzen glaubt sie, dass sie nicht abzureisen braucht ... nein, er wird sie bei sich behalten. Es kann gar nicht anders sein ...

*

Es kommt aber, wie es kommen muss. Der Tag der Heimfahrt! Die Hoffnung in ihrem Herzen hat sie Lügen gestraft. Die Hoffnung, dass ER in letzter Minute wie ein weißer Ritter ihr Schicksal in die Hand nehmen und ein Wunder geschehen lasse.

Ach, sie hätte ihr bisheriges Leben gern hingeschmissen, Marienstock nie wiedergesehen, wenn sie nur hätte in seiner Nähe bleiben dürfen, ganz gleich, wie und wo ...

Nein, es geschieht kein Wunder. Die Ereignisse laufen präzise so ab, wie es vorauszusehen war. ER hatte ihr nie etwas anderes versprochen. Nur, zu fassen vermag sie das nicht, wie er sie auf einmal aus seinen Armen ausstoßen, wegschicken kann? Wo doch noch gestern alles so ... unsagbar ...

Er fährt sie zum Bahnhof. Am Vorplatz warten sie im Wagen auf die deutsche Reisegruppe, in die Minou sich einreihen muss. Sie wird im Zugabteil mit den gleichen jungen Leuten zusammensitzen wie auf der Hinfahrt.

Es dauert nur eine Minute oder zwei, bis der Bus aus Mare Luce anrollt. Minou kann beobachten, wie die Bekannten lachend aussteigen, wie der Fahrer ihnen das Gepäck aus dem geöffneten Stauraum entgegen reicht und sie, laut plaudernd, in Grüppchen zur Bahnhofshalle marschieren ...

"Es ist Zeit. Kommen Sie!", sagt Ernando.
Nebeneinander gehen sie nun über Treppen und durch Gänge zum Bahnsteig.
Ein interessantes Bild bieten die beiden den scharf beobachtenden Blicken von Marlene und den übrigen: Ernando ist gleichmütig, sein Gesicht ruhig, gelassen, keineswegs von Abschiedsschmerz gezeichnet. Oder? Lässig trägt er Minous zwei Koffer aus weißem Leder - die schicksten, die es vielleicht zu dieser Zeit zu kaufen gibt. Sie selbst, ganz scheu und Kräutchen–rühr–mich– nicht-an wie immer, sieht ziemlich elegant aus, die blöde Pute - das muss man zugeben - in ihrem weißen, schmalen Kostüm mit den dünnen Nadelstreifen, das bestimmt sündteuer war. Eine echte Nutte!

Ernando steigt mit in den Zug, klärt draußen auf dem Flur mit Kanutz, dass die Kleine ihren nummerierten Platz am FENSTER auch wirklich bekommt. Denn den hat inzwischen schon Kläuschen belegt.

"Guten Morgen", sagt Minou, "hier bin ich!"
Im Abteil starren sie alle demonstrativ zur Seite und wissen nicht wirklich, wie sie sich verhalten sollen. Da ER ja auch noch mit ins Abteil kommt.
"Morgen", murmelt Marlene und presst den Mund verächtlich zusammen. Mit gebleckten Zähnen wortlos, grinst Helmut. Christel wird mit dem Öffnen und Schließen ihrer Tasche nicht fertig - was sucht sie nur - und schaut gar nicht erst zur ‚Freundin‘ hin.
Minou macht das nichts aus. Es geht ihr gut ... Tatsächlich ist sie überrascht, dass es ihr nicht schlechter geht. Ganz ruhig ist sie.
Es ist doch alles gar nicht schlimm, wundert sie sich, es ist doch alles gar nicht schlimm!
Als Ernando ihr Gepäck verstaut hat, nimmt er Minou noch einmal in die Arme. Wie in Trance lässt sie es geschehen. Ja, sie macht überhaupt kein Theater. Sie ist keine, die sich klammert. Heulen tut sie schon gar nicht. Sie ist Herrin der Situation. Und Abschied ... nein ... Abschied muss kühl sein, besonders, wenn so viele Leute unverhohlen her starren.
Ernando küsst sie noch einmal – auf die Wange. Dann - ohne zurück zu sehen, mit dem ihm eigenen schnellen, federnden Gang verlässt er das Eisenbahn-Coupé, eilt durch den Gang, springt aus dem Zug.

Minou sitzt eine Minute wie gelähmt, rennt dann auf den Korridor, reißt das Fenster herunter.
Noch tönt der Pfiff aus der Trillerpfeife des Schaffners am Perron.
Draußen ist alles südlich laut und überfüllt. Viele Menschen. Die Sizilianer scheinen ein reiselustiges Volk zu sein. Auch ist mit dem Gegenzug eine neue, deutsche Gruppe eingetroffen und ergießt sich auf den Bahnsteig ... Die einen kommen, die anderen gehen.

Ernando steht etwas abseits von der Menge. Er sieht nicht einmal zu ihrem Fenster hin, hält den Kopf etwas gesenkt. Da stellt sie mit Entsetzen fest: er wechselt Worte mit einer kleinen, weiblichen Person, die mit einem Koffer neben ihm steht. Einer Fremden (Fremden?? ).
Während der anfahrende Zug sie selbst zeitlupenlangsam, Meter für Meter, von ihm weg trägt, redet er mit einer ihr unbekannten Frau! Minou ist, als würge sich ein Stein aus ihrer Kehle hoch. Und sie spürt Schmerz. Tief am Herzen. Einen stechenden Schmerz. Jetzt richtet Ernando sich auf, lächelt ihr zu. Lächelt geradewegs in ihre Augen hinein. Sie will winken, doch ihr Arm gehorcht nicht.

Der Zug beschleunigt die Geschwindigkeit.

Da verschwimmt Ernandos Gesicht bereits vor ihren Augen. Minou sieht gerade noch, wie er sich die schwarze Sonnenbrille aufsetzt ...
Das ist das letzte Bild von ihm, das sich in ihre Pupillen eingräbt. Mehr denn je gleicht er einem schönen, grausamen, ach so fernen Gott.

Dann die Kurve, die Krümmung des Schienenstranges. Jäh ist der Bahnsteig verschwunden und damit auch seine hohe Gestalt. Ausgelöscht. Leer liegt die Landschaft.
.
Ihr wird elend. Mit einem Schlag. Zum Sterben elend. "Hilfe." Sie fühlt, wie sie bleich wird, bebt ... und nicht nur das!

Da geschieht es. Als ob es in ihrem Hirn ‚Klick‘ macht.
Auf einmal fangen die stampfenden Räder des Zuges zu schreien an. Sie rufen Worte. Mit lauten, aufdringlichen, durcheinander zischenden Menschenstimmen kreischen sie ihr Worte ins Hirn. Das kann ja nicht sein! So etwas ist Einbildung. Lächerlich ... "Mein Glück vorbei, mein Glück, dahin", so etwas Blödes, Albernes! Die Räder drücken sie ihr penetrant in die Ohren, diese Worte:
"Vorbei das Glück, vorbei ... vorbei ..."
STIMMEN! ... Ja, sie hört Stimmen ...
‚Oh Gott, jetzt wird‘ ich verrückt!‘
Die Stimmen fauchen mit dem Stampfen der Räder um die Wette. Das kann sie nicht abstellen, auch dann nicht, als sie in den Waschraum läuft, sich Wasser über Gesicht, Handgelenke, Unterarme fließen lässt. Nicht einmal, als sie sich wie eine Irre beide Ohren zuhält, um das sinnlose Wortgestampfe wegzublocken.
"Vorbei mein Glück, mein Glück dahin." In ihren Gehörgängen brausen die idiotischen, kindischen Silben immer weiter, wilder und wilder ... ja, es sind ganz klare Worte, die sie hört, immer fast dieselben. Sie zischeln ihr zu, da kann sie sich nichts vormachen ... immer dieselben Silben, wie ein furchtbares, rasselndes Räderwerk. Ohne Sinn und Verstand:
"Dahin mein Glück, vorbei, vorbei..." Menschenstimmen. Böse. Ja, jetzt hat es sie erwischt!’ Sie ist dabei, den Verstand zu verlieren! Jeder weiß, was das heißt, wenn man ‘Stimmen’ hört! Diese blöden Worte kommen von allen Seiten... prasseln auf sie ein...

Einen Versuch zur Normalität macht sie noch. Stürzt sich mutig ins Abteil, wo ihre Sachen sind und die Bekannten sitzen. Dort wird sie sich ruhig einfügen zwischen die früheren Kumpel.
Ganz ruhig! Doch nein, die Stimmen sind auch hier. Die sinnlos hingekreischten Silben, die sie deutlich durch das Räderstampfen hört.

Als Helmut ihr etwas sagen will, sind die Worte, die die Räder schreien, stärker. Sie rennt wieder hinaus auf den Gang. Die Finger um den Rahmen des heruntergekurbelten Fensters geklammert, nimmt sie wahr, wie draußen Siziliens Schönheit an ihr vorbei flieht, während ihr die brüllenden Stimmen der rollenden Räder immer mit diesen blödsinnigen Worten in den Ohren liegen. Sie stiert hinaus, sieht Orte und Landschaften vorüberziehen, Siracusa, Catania, Acireale. Nicht dass sie irgend etwas davon noch bewusst erkennen würde oder wollte ...
So lang schon steht Minou reglos. Um sie ist nichts mehr real. Draußen zieht keine wirkliche Landschaft vorbei, sondern ein Film spult sich unaufhörlich ab. Fremd, fremd! Zuletzt zieht schweigend der Berg Ätna mit seiner Sommerkappe aus Schnee weit, weit in der Ferne an ihr vorbei. Und auf dem Hügel das weiße Taormina.

Die Räder schreien weiter ... kichernd jetzt ...
Irgendwo auf der Strecke hinter Taormina fährt der Zug plötzlich langsam, fast im Schrittempo. Da ist eine pathetische Stimme in ihrem Inneren, ( nicht die der Räder! ): "Nimm Ernandos Ring und wirf ihn hinaus!", befiehlt die Stimme.
Ja, das hilft bestimmt! Augenblicklich reißt sie ihn vom Finger und schleudert ihn aus dem Fenster. Er springt einen kleinen Felshang hinab, wo er im Gestrüpp der Indischen Feigenkakteen für immer verschwindet. Eine Sekunde später... und Minou bereut es bitter. Denn der Bann ist nicht gebrochen, sondern die Räder schreien weiter ihre blödsinnigen Worte und sie ist eh dabei, verrückt zu werden, das spürt sie! Sie langt hoch nach der Notbremse, um den Zug zum Stoppen zu zwingen und das Ding suchen zu gehen. Gott sei Dank ... im letzten Moment hält sie inne. NEIN ...

Es ist ja ohnehin alles egal. Ihr Leben ist zu Ende. Da ist nichts mehr ... nichts ... nur eine unbeschreibliche Leere, die hindert ihr Herz fast am Schlagen ... der Verlust jeder Hoffnung. Bodenlosigkeit!
ER war ihr warmes Refugium. Ihr Herr über Körper und Seele. Er war Alles.

Jetzt rollt der Zug auf die Fähre. Straße von Messina. Dann Reggio di Calabria. Sie bemerkt es eher wie im Traum.

Noch einmal schleppt sie sich ins Abteil zurück. Dort interessieren sich die anderen schon die ganze Zeit über für die guten Sachen, die Ernando auf dem Weg zum Bahnhof in einer bekannten Pasticceria noch als besonderen Reiseproviant gekauft hat: Tüten voller Süßigkeiten. Panettoni, Nougat, bunte Dragés und Bonbons in knisternden Zellophanpackungen, die berühmten, glasierten, verzuckerten Früchte, Marzipan und und ... sizilianische Spezialitäten.
Er hatte Minou im Auto gesagt, sie solle doch auch die Clique zugreifen lassen, deshalb habe er so eine große Menge davon gekauft.
"Yammi, yammi... kannst du uns nicht ein paar von den tollen Sachen abgeben?", grinst Manfred anbiedernd und leckt sich demonstrativ über die Lippen.

"Klar", sagt Minou. Aber sie sagt ihnen nicht, dass er die Süßigkeiten ja ohnehin für die Allgemeinheit gekauft hat.
Ach, sie missgönnt sie ihnen nicht ... sie ist nur furchtbar traurig, weil ER so kurz vor dem Abschied an die anderen gedacht hat, statt sich einzig und allein auf sie zu konzentrieren in dieser ihrer grausamsten Stunde.

"Ein Hoch auf den lieben Ernando", johlt Manfred.
"Willst du meine ehrliche Meinung hören ... der wird dich NIE heiraten", sagt Kläuschen mit all der Erfahrung seiner fünfzehn Jahre, während er genussvoll an einem Pralinenriegel mampft. Er schaut Minou aber sofort entschuldigungsheischend an, als täten ihm die heraus gerutschten Worte leid: "Hab‘s nicht so gemeint!" Das sensible Kläuschen.
Als ob sie je an so etwas Spießiges wie Ehe gedacht hätte! Sein kindischer Kommentar ist so himmelschreiend weit vom Kern und Grund ihrer Verzweiflung entfernt ... auch bringt sie das hintergründige Lachen der anderen furchtbar aus der Fassung.

Da läuft Minou weg.

Nur einmal für eine halbe Stunde nichts sehen, nichts hören! Den Stimmen, aber auch den ‚Kumpeln‘ entfliehen. Ruhe finden. Und wenn sie sich in den Waschraum verkriechen muss!
Die Toilette nebenan ist aber besetzt und sie findet keine andere. Drückt sich wie schlafwandelnd durch menschenüberfüllte Gänge. Immer weiter. Bis zum letzten Waggon. Findet, o Wunder, ein ganzes Abteil leer. Dort hinein verkriecht sie sich. Zieht den Vorhang vor der Glastür zu.

Endlich allein. Ihr ist so schlecht. So schlecht! Sie ist verlassen. Krank. Die Stimmen haben aber, Gott sei Dank, aufgehört. Statt dessen die bleiche, kalte LEERE, die ihr lähmend und angstmachend in Herz und Hirn kriecht.

In einem seltsamen, leblosen Zustand ist sie und bemerkt nicht mehr viel.

Einmal wundert sie sich ein wenig, doch eher im Unterbewusstsein, dass der Zug an irgend einem Bahnhof so lange Aufenthalt hat. Aber sie denkt nicht weiter nach. Es ist ihr im Grund auch gleich. Irgendwann schrillen dann trotzdem leise Alarmglocken. Es muss schon später Nachmittag sein. Vielleicht hat sie geschlafen? Endlich schaut sie aus dem Fenster. Und merkt: Sie sind nicht auf einem Bahnhof. Sondern umgeben von Schienengewirr, Brachland, gelben Wiesen. Da scheint keine Menschenseele zu sein. Minou steigt aus und sieht bis zum Horizont nur weites, recht ödes, mit Büschen bestandenes Gelände. Der Waggon steht, zusammen mit zwei anderen und einer Lokomotive auf einsamer Rangieranlage im Nirgendland.

Wie in Trance marschiert sie los. An den Gleisen entlang. Was soll sie sonst machen? Nach einer Weile erreicht sie eine Art Bahnwärterhäuschen. Ein aufgetakeltes Mädchen in Stöckelschuhen und weißem Kostüm, das nicht einmal eine Handtasche bei sich hat, auf einer Zugstrecke irgendwo? In Calabrien?
Minou versucht, den Männern zu erklären, dass ihre Reisegesellschaft bereits auf dem Weg nach Deutschland sei und sie sie unbedingt einholen müsse, weil auch ihr Gepäck und alles ...

Auf einer Carabinieri-Station dann Fragen: Wo Ihr passaporto sei. Wo Ihr biglietto?
"Im Traino!"
Warum sie die Sachen nicht mitgebracht habe.
"Der Traino ist weg .... andato via ..."
Danach sitzt sie stundenlang bei den Carabinieri herum. Sie versorgen sie mit Kaffee und belegten Broten. Sie telefonieren und telefonieren. Minou ist müde. Gegen Abend schläft sie auf einer Holzbank ein. Um drei Uhr in der Nacht wacht sie auf. Die Carabinieri kochen noch einmal Kaffee, bieten ihr Zigaretten an und bringen sie später in ein Zugabteil. Denn sie kann jetzt mit einem Bummelzug weiterfahren. Alles ist geklärt. Sie haben es irgendwie fertiggebracht, durch Hilfe von Bahnangestellten mit Herrn Kanutz und der Gruppe Kontakt aufzunehmen. Man hat dem verloren gegangenen Mädchen, das ja auch keinen Pfennig Geld bei sich hat, einen provisorischen Fahrschein ausgestellt, der bis zum Brenner-Pass gilt.

"Dort müssen sie sich gleich wieder bei der Polizei melden! Allora, buon viaggio, Signorina."

In Neapel kann sie, nach längerem Warten, in einen Schnellzug umsteigen. Danach geht es über Rom nach Norden. Am Brenner nehmen wieder Uniformierte sie in Empfang. Noch einmal stundenlanger Aufenthalt! Sie telefonieren mit dem Jugendreisebüro in München. Die wissen bereits Bescheid und werden alles in die Wege leiten, dass sie ein Heimfahrticket durch Deutschland erhält. Sie braucht nur in den Büroräumen der Firma persönlich vorstellig zu werden. Da muss sie also in München ebenfalls die Fahrt unterbrechen. Man streckt ihr dort auch Geld vor, damit sie sich etwas zu essen, einen Kamm, eine Zahnbürste kaufen kann.
Eine seltsame, innere Gleichgültigkeit, gepaart mit plötzlich aufgeflammter, körperlicher Energie lässt Minou das alles halbwegs locker über die Bühne bringen. Es hätte schlimmer kommen können.

*


Oskar Kern wundert sich nicht wenig, als man ihn von München aus anruft. Die Koffer und die Reisetasche seiner Tochter seien bereits auf dem Weg zum Bahnhof Wilhelmsthal, sie selbst aber ein bisschen abhanden gekommen. Doch jetzt sei alles unter Kontrolle. Man habe sie gefunden. Sie werde mit ungefähr einem Tag Verspätung daheim eintreffen ...

Der Vater schimpft nicht, als sie dann fast 48 Stunden später endlich aufkreuzt. Was die Tochter von abgehängten Waggons erzählt, klingt ihm plausibel. Ist es ja auch. Aber Lisa geht kopfschüttelnd aus der Küche. "Ich glaub‘ ihr kein Wort", sagt sie.

Papa fährt sogar mit Minou im klapprigen Auto hinunter nach Wilhelmstal, um ihr Gepäck abzuholen, das von Herrn Kanutz - oder anderen freundlichen Menschen - korrekt mit Namens- und Adresskärtchen und mehreren Aufklebescheinen versehen, dort angekommen ist. Auch ihr Handtäschchen samt Geld und Papieren ist wieder da. Sie haben es vorsorglich in die Reisetasche gestopft.

Mit einem kuhfladenbraunen Koffer aus Hartpappe war sie vor sechs Wochen von daheim losgezogen. Jetzt sind da plötzlich zwei weiße lederne Luxusstücke und eine ebenso kostbare Reisetasche. Auch als sie nachher lauter neue Kleider aus dem Gepäck herauszieht, fällt Oskar Kern nichts auf ... Lisa aber schon.

Bereits am nächsten Tag muss Minou ihren Dienst bei der Post - mit einem Tag Verspätung allerdings - wieder antreten.
Äußerlich ist nichts zurückgeblieben von der Ernando - Geschichte. Jetzt könnte sie gemütlich nach dem netten, deutschen Jungen und zukünftigen Ehemann Ausschau halten, wie es ihr der Sizilianer geraten hat. Oder einfach neue Menschen auf sich zukommen lassen.

"Sie sind für die Liebe gemacht, Sie werden heiraten und sehr glücklich werden!", hatte ER gesagt. Wenn sie daran denkt, fängt ihr Herz schon wieder in dieser seltsamen, aufbäumenden Unruhe zu jagen an. Wie kann er ihr so etwas Grausames zumuten? Wie könnte sie einen Anderen überhaupt in Betracht ziehen, sich von ihm berühren lassen, wo SEIN Bild wie mit tausend Flammen in ihr Herz und Fleisch gebrannt ist!
Nachts fährt sie aus dem Schlaf auf, weil sie geträumt hat. Im Traum war sie in seinen Armen so süß geborgen. Sie braucht lange, sich im Aufwachen oben in ihrem Dachzimmer zurecht zu finden.

Von so einer ‘halben’ Liebesaffäre dürfte man ja eigentlich nicht krank werden, sagt sie sich immer wieder. Doch sie ist krank ...

*




INTERMEZZO: ZUHAUSE IN MARIENSTOCK

Minous Sizilienurlaub liegt nun schon einige Monate zurück.
Der Winter ist frostig. Es geht ihr nicht gut. Zweimal kurz hintereinander ist sie arbeitsunfähig geschrieben. Erkältungen. Fieber. Diese Angestellte fehlt einmal zu oft auf dem Fernsprechamt ... und länger, als es den Maßgeblichen passt. Man schickt ihr eine Kontrolleurin, Fräulein Breuer. Die fährt unangemeldet nach Marienstock. Sie findet das Mädchen tatsächlich in einem schlechten Zustand vor. Das junge Ding sei anscheinend ziemlich auf sich allein gestellt, ohne rechte Versorgung, schreibt sie. Eine Frau, die die Wohnungstür geöffnet habe - die Mutter wohl - habe sich für die Patientin anscheinend nicht zuständig gefühlt und sich auf kein Gespräch eingelassen.

"Der fehlt nichts, die hat noch nie Lust zum Arbeiten gehabt ... dort oben kann sie meinetwegen liegen, bis sie schwarz wird", hatte Lisa nämlich herzhaft gesagt, hatte der Postbeauftragten mit einer Handbewegung den Weg zur Speichertreppe gewiesen und war dann ohne ein weiteres Wort in ihrer Wohnküche verschwunden. Diese Stellungnahme der Mutter hatte die Frau aber unprotokolliert gelassen. Zu Protokoll gegeben hatte sie lediglich, dass die offensichtlich grippekranke junge Angestellte nachmittags um drei in ihrem Bett nicht den Eindruck einer frischfröhlichen Simulantin gemacht habe.
Zum Glück für Minou liegt ja auch inzwischen das Attest des Betriebsarztes vor.

Bald erscheint sie wieder zur Arbeit. Aber sie bleibt blass und müde und es gelingt ihr nur mit Mühe, ihr Pensum zu leisten.

Sie versucht, ihren Zustand herunterzuspielen. Warum, um Gottes Willen sollte es ihr nicht gelingen, genauso gesund und belastbar zu sein wie die anderen? Und es gehört sich nun einmal, auch nach der Arbeit noch Dinge zu unternehmen, wenn man jung ist: zum Beispiel mit den Kolleginnen durch die Stadt zu bummeln, abends in ein Konzert zu gehen, ins Kino, zum Tanzen ... Minou zwingt sich. Doch das ganze Leben erscheint ihr bleischwer. Es beginnt schon morgens beim Aufstehen. Da muss sie quasi ihre letzten Kräfte bündeln, um überhaupt auf die Beine zu kommen.
Lisa sagt, anderen Menschen ginge es nicht besser. Die hätten aber Selbstdisziplin, die ihr ja komplett fehle. Das Leben sei nun einmal kein Honigschlecken, sondern ein ständiger Kampf und so weiter und so weiter...
Minou kämpft, kämpft ... Sie versucht es ja, sie versucht es.

Weder der Vater, noch Lisa, wissen etwas von der Sache mit Ernando. Sie hat nur ihren drei besten Kolleginnen, Monika, Ingrid und Anneliese von ihm erzählt. Sie hatten früher zusammen so etwas wie ein Vierergespann gebildet und in der Freizeit vieles gemeinsam unternommen. Auch jetzt tun sie das noch. Doch Minou hat das Gefühl, ihnen längst auf die Nerven zu gehen mit ihrem 'o-wie-ich-ihn-liebe'-Gestammel. Seit Monaten redet sie kaum über etwas anderes, während die Freundinnen sich für Männer in ihrer Umgebung, "Männer aus Fleisch und Blut, keine gräflichen Schemen", sagt Monika - interessieren und schön machen. Minou aber dröhnt ihnen die Ohren voll mit ihrem Beziehungsleid! Die können es kaum mehr hören.
"So darfst du nicht weitermachen! Das ist nicht normal! Er sitzt in Sizilien, ist verheiratet und will nichts von dir."
"Ich kann ohne ihn nicht leben ... "


Dann geschieht etwas Merkwürdiges mit ihrer linken Brust, das sie in Furcht und Schrecken versetzt. Ihr Nippel ist dabei, sich zu spalten, beziehungsweise hat es schon getan. In der Mitte ist ein narbiges Gewebe, ein hochstehender Steg entstanden und hat die Brustwarze halbiert. Es ist nun eine Art Doppelnippel entstanden, der aus zwei gleich großen Hälften besteht. Wenn er hart und zusammengezogen ist, fällt es kaum auf. Bei Wärme und Ausdehnung aber schon. Minou beobachtet nun, wie es von Tag zu Tag offensichtlicher wird. Da weiß sie, was mit ihr los ist. Es ist Krebs, denkt sie und gerät vor Entsetzen gänzlich aus dem Häuschen.
Ein Frauenarzt sagt, das sehe irgendwie komisch aus, man müsse es ... abklären. Er murmelt lateinische Worte, die sie augenblicklich vergisst. Ein Gewebepröbchen solle man schon entnehmen, meint er ... Da weiß sie, dass sie nicht mehr lang zu leben hat. Bei Lisa löst sie mit ihrer Angst weder Mitgefühl noch Zuneigung aus. Minou zeigt ihr die Brust erst gar nicht. Sich voreinander zu entblößen ist ohnehin nicht üblich in dieser Familie. Und Lisa will von den Problemen der Stieftochter lieber nichts wissen. "Ich habe selbst genug am Hals", sagt sie. Dabei sehnt sich Minou nach Trost. Papa gibt keinen Kommentar ab. Vielleicht hat er nur schlecht begriffen oder weiß überhaupt nicht, worum es geht. Vor Anneliese, Ingrid und Monika schämt sich Minou. Sagt ihnen nichts. Die könnten womöglich noch denken, es habe etwas mit Ernandos Berührungen zu tun und sei durch sein Saugen und Küssen entstanden. Ist es nicht vielleicht auch so? Muss sie jetzt für ihre Sünden büßen??


Den Besuch in der Ambulanz des Krankenhauses, wo die Gewebeprobe entnommen werden soll, schiebt sie wochenlang hinaus. Schleppt sich endlich doch hin ... schon den Tod vor Augen. Lebt ein, zwei Wochen in kaum auszuhaltender Spannung, bis ihr der Arzt mitteilt, dass es eine Unregelmäßigkeit im Wachstum der Zellen sei, eine harmlose Sache - er liest ihr den Befund wieder in lateinischen Brocken vor - sie will es gar nicht wissen, für sie zählt nur eines: sie hat keinen Krebs. Bevor sie die Sprechstunde verlässt, fragt sie den freundlichen Doktor mehrmals, und er muss es ihr immer noch einmal wiederholen und beschwören: Es ist alles in Ordnung!
Da ist sie ja jetzt von dem Übel befreit. Obwohl das Närbchen auf ihrem Nippel noch ein bisschen weiter wuchert. Aber das stört sie nicht mehr.

In der Mittagspause schlendert sie wie früher mit den Arbeitskolleginnen durch die Stadt, geht in Eiscafés und am Abend ins Kino. Jedoch, als die erste Hochstimmung eines sozusagen neu geschenkten Lebens vorbei ist, da spürt sie: ihr fehlt noch immer die Freude. Sie zwingt sich, alles zu tun, was auch die anderen tun. Ihrem Mangel an Begeisterung zum Trotz! Innen zittert sie vor Schwäche und Unwohlsein. Es ist die Sehnsucht nach IHM, die ihr das Leben zur Hölle macht. Die altbekannten Zustände, die sie ‚wie kurz vor einer Ohnmacht‘ beschreiben könnte, kommen ständig wieder. Und sie muss dagegen ankämpfen. Die Kreislaufschwächen. Die Übelkeit. Die irritierende Angst.

Doch lässt sie sich nicht hängen, sieht nicht tatenlos zu, wie ihre Kräfte schwinden. Sie trinkt Malzbier. Mästet sich mit Haferflocken, um wieder zuzunehmen. Schluckt massenhaft Dextro–Energeen–Traubenzucker. Denn sie will weder dürr, noch hässlich sein.
Sie wird das Leben schon meistern. Übt sich in Disziplin. Immer mit der Angst, gleich zusammenzubrechen. So matt und hilflos fühlt sie sich. Und innen allein.
Sie zwingt sich, mit Kolleginnen tanzen zu gehen. Das gehört sich so. Das machen alle. Das Leben könnte ja so leicht sein. Eigentlich hat sie optimale Karten. Sie muss bei keinem Tanz sitzen bleiben. Im Gegenteil, sie ist oft die erste am Tisch, die aufgefordert wird. ‚Gute‘ Jungen sind von ihr angetan. Sie ist begehrt. Und doch nicht wirklich stolz darauf. Sie tut jetzt auch alles, um als ‚schönes Mädchen‘ zu gelten.
Die Bräune ist längst verflogen. Sie ist wieder fahl und farblos.
Mein wahres Aussehen kennt keiner mehr, denkt sie. Wenn die mir am Morgen begegnen würden! Nach dem Aufstehen malt sie sich mit Make-up und Maskara ein Gesicht, wie sie es haben will. Ein Puppengesicht wird es dennoch nicht. Dafür sind ihre Züge nicht glatt genug. Sie muss mit der Schminke nur die elende Blässe für immer verbergen.
Wie alles im Leben zwei Seiten hat, so gibt es nicht nur die ‚leidende‘ Minou in dieser Zeit. Manchmal ist sie lebhaft, sogar sprühend.
Es ist auch eine natürliche Sache für sie, ihre Erscheinung mit Hilfe von ins Auge fallender Kleidung und allerhand Assessoires und Firlefanz aufzuwerten. Die Sommersachen, die Ernando ihr gekauft hat, lassen sich jetzt im Winter kaum tragen.
"Das muss man dir lassen, du kannst aus jedem Dreck etwas machen", sagt Ingrid, "darin bist du ganz groß." Jetzt hat Minou endgültig die Gewissheit: Diese Freundin liebt mich nicht.

Einmal prügeln sich zwei Jungen ihretwegen. Das ist bei einem Tanzabend im Vereinshaus in Wilhelmsthal. Weil angeblich der eine sie beim Tango zu heftig an sich drückt und das dem anderen nicht gefällt.
Wüste Worte fliegen hin und her und plötzlich geht der eine durch einen Kinnhaken des anderen zu Boden. Und wie das so auf Dorffesten üblich ist, die jeweiligen Freunde der beiden mischen sich drastisch ein ... und bald ist eine zünftige Prügelei im Gange, etwas Mobiliar und reichlich Glaszeug geht zu Bruch. Minou steht abseits und staunt. Man hat ihre Person zum Anlass genommen, eine schwelende Fehde zwischen Marienstocker und Wilhelmstaler Jünglingen auszutragen, denkt sie. So etwas kommt bei jeder Kirmes vor und was soll’s ... wäre es nicht SIE gewesen, deren Ehre zu verteidigen man vorgab, so hätte ein ANDERES Mädchen als Auslöserin herhalten müssen, sagt sie sich. Trotzdem ... an dem Vorfall müsste sie doch sehen können, dass sie hier etwas zählt. Sie gehört dazu.

Aber sie fühlt sich nie wirklich beteiligt ... nein, sonderbar fern. Und es ist ihr auch gleichgültig, wenn Jungen ihretwegen Probleme haben. Innerlich lässt sie vieles eigentlich unberührt ...
Dass sie männlichen Wesen etwas bedeuten könnte, macht sie nicht froh.
Der eine oder andere Heranwachsende möchte mit ihr ‚gehen‘. Auch auf den Zugfahrten zur Arbeit oder beim Bummeln durch die Stadt machen Männer Annäherungsversuche, wie das wohl allen jungen Mädchen passiert. Nur Minou ist innerlich abwesend. Selbst passiv, lässt sie sich umwerben. Und bleibt starr. Sie lernt liebenswerte Menschen kennen, die sie dann doch wieder ziehen lässt, ohne etwas von sich geschenkt, wohl auch ohne einen bleibenden Eindruck in deren Herzen hinterlassen zu haben. Weder Seelenfreundschaft, noch Körperberührung, nicht einmal einen kleinen Kuss hat sie zu vergeben. Sie spürt kein wahres Mitgefühl oder Verständnis für andere, die jetzt an IHR leiden.

Ein junger Polizeidienst-Anwärter, groß, breitschultrig, ein hübscher Bursche, sitzt eines Abends angetrunken und in Tränen zerflossen bei Tante Zilli auf der Couch - weil Lisa, die Stiefmutter, als er an der Tür läutete, ihn nicht hereingelassen hat. Er bittet also Zilli, für ihn bei Minou ein gutes Wort einzulegen. Schluchzend schüttet er sein Herz aus. Dass sie ihm Hoffnung gemacht, auch manchmal mit ihm ausgegangen sei und zum Tanzen, ihn aber plötzlich grundlos versetzt und überhaupt herzlos behandelt habe. Als Else heimkommt, sitzt also dieses Ein-Meter-neunzig große Prachtexemplar von Jüngling in ihrer Wohnung bei ihrer Mutter und weint ihrer komischen Cousine heiße Tränen nach und nimmt sie, die Erfolgsgewohnte, nicht einmal wahr. Else kann es nicht fassen.

Minou, ganz düster gesinnte Prinzessin, als sie am nächsten Tag von Else zur Rede gestellt wird, wehrt nur traurig ab:
"Ich habe niemand Hoffnung gemacht."
Sie kannte den Jungen seit einer Weile und sie waren tatsächlich schon einige Male miteinander ausgegangen. Bis sie dann um Mitternacht von einem Faschingsball der katholischen Jugend nach Hause spazierten ... das heißt, er wollte sie bis zu ihrer Tür begleiten.

Bei minus fünfzehn Grad – es fror Stein und Bein - hatte er sie lachend oben an der Ecke vor Tante Ritas Geschäft auf seine Arme genommen, nachdem sie ihm gestanden hatte, dass sie große Angst habe, mit ihren Stöckelschuhen auf der steil abfallenden, vereisten Grubenstraße auszurutschen und hinzuschlagen.
"Vertrau mir", hatte er mit jung erwachter Selbstsicherheit zu der skeptisch dreinschauenden Minou gesagt und sie also auf seine starken Arme gehievt ... nach drei, vier Schritten lagen sie bereits gemeinsam auf der Nase, das heißt sie landeten ziemlich unsanft auf ihren Bäuchen, rutschten noch ein Stück über das spiegelglatte Kopfsteinpflaster, schürften sich Kleider und Haut auf, ohne dass wirklich etwas Schlimmes passiert wäre.
Minou lachte sich halb kaputt, was wohl dem Schaumwein zuzuschreiben war, von dem sie im Lauf des Abends bestimmt eine dreiviertel Flasche getrunken hatte. Da wollte er sie küssen, aber das wollte wiederum sie nicht.
Und obwohl das ein sehr witziges Erlebnis und der Junge ihr sympathisch war, hatte sie weder vor dieser unfreiwilligen Rutschpartie, noch später‚ wirklich etwas‘ für ihn empfinden können.

Natürlich merkt sie, was sie da seit einer Weile tut. Er ist nicht der einzige Verehrer, der um sie jammert. Aber sie hat wenig Skrupel wegen ihrer bösen Taten. Nichts und niemand hier bedeutet ihr etwas neben IHM. Er ist der schwarze Gott über ihrem Leben. Tausendmal furchtbarer als Teja, der Westgotenfürst in ihren Traumnächten ... So keusch die Teja-Träume gewesen sind, so sündig sind die, die sie jetzt von Ernando träumt, in ihrer eiskalten, schachtelähnlichen Dachkammer. Dort verschafft sie sich traurig die Lust, die sie mit ihm in den von Seewind und Sonne durchfluteten Hotelzimmern Siziliens erlebt hat. Wobei ihr einsames Tun, wenn der Augenblick der Erleichterung vorbei ist, sie nur noch unglücklicher macht. Und sie sehnt sich ... so ... wild. Immer hat sie sein Bild vor Augen. Berührung mit einem anderen, der nicht Ernando wäre, wird für immer unmöglich sein. Sie weiß das. Und sie versucht es erst gar nicht.
Nein, sie kann sich nicht ablenken. Keiner der Jungen und Männer, die sie kennt, kann sie aus der schrecklichen Hinneigung zu dem Sizilianer befreien.
Auch nicht der sechsundzwanzigjährige Postreferendar im gehobenen Dienst, der im gleichen Gebäude wie sie arbeitet, in den Pausen zu ihr herüber eilt, der ihr Blumen schickt, ‚männlich‘ aussieht und den die Kolleginnen ‚toll‘ finden. Die Wahrheit ist, sie lehnt jede seiner Einladungen, jede seiner Bemühungen traurig und - das ist viel schlimmer - ohne jeden Charme und Witz ab, lässt dem Armen keinen Platz für frivole Hoffnungen. Nach nicht allzu langer Zeit gibt auch dieser Verehrer seine frustrierende Brautschau um das unzugängliche Mädchen auf. Legt sein zurückgewiesenes Herz ziemlich rasch einer freundlicheren Kollegin zu Füßen.
Minou denkt ohnehin nur an IHN. Es erfüllt sie mit einsamem Stolz, wenn sie sich all die Dinge ins Gedächtnis zurückruft, die er mit ihr getan hat ... Nein, die Zeit heilt ihre Wunde nicht. Das Leben wird von Tag zu Tag schwerer. Sie hat keinen, mit dem sie darüber reden könnte.
Monika und Anneliese sind ihres Ernando-Gelabers, das ja am Anfang ganz spannend anzuhören war, müde. Sie haben positive Lebensinteressen. Sie haben Beziehungen. Handfeste. Greifbare. Monika wird bald Fred, einen jungen Lehrer, heiraten. Auch Anneliese hat inzwischen einen ‚festen Freund.‘

Es ist Minou nicht möglich, Ernandos Adresse herauszubekommen. Natürlich durchforscht sie heimlich im Nachtdienst die Sizilien-Kartei der Telefonauskunft. Sie hat nie gewusst, in welcher Stadt er eigentlich wohnt. Aber dennoch ... sie sitzt ja an der Quelle. Kann alle Register ziehen. Aber fündig wird sie nicht. Nicht einmal die Signorinas von den Ämtern in Palermo und Catania können ihr weiterhelfen. Ernando Sascala ... einen solchen Eintrag gibt es nirgendwo. Und wenn, dann wäre es eine Geheimnummer, sagen die Kolleginnen aus dem Süden. Tatsache ist, Minou versucht nur halbherzig, seine Spur zu finden. Sie brauchte sich ja nur Mut fassen und im Campeggio 'Mare Luce' anrufen. Sie schämt sich aber vor der Sizilianerin, die dort an der Rezeption sitzt und die sie vom Sommer her persönlich kennt. Sie kann doch diese Leute nicht einfach nach seiner Nummer fragen ... und überhaupt ... sie will ja gar nicht persönlich mit ihm sprechen. Nein. Davor hat sie viel zu viel Angst. Er könnte darüber sogar ungehalten sein. Nur ... seine Adresse hätte sie gern gehabt. Zumindest symbolisch wäre sie ihm dann ein Stück näher. Nein, nein, sie würde ihn nicht belästigen. Er hat ihr vor ihrer Heimreise seine Anschrift und Telefonnummer nicht gegeben. Es ist klar: er wünscht keinen Kontakt. Nicht, dass SIE ihn nach seinen Daten gefragt hätte.

Den ganzen Winter über schleppt sie sich zuhause und auf dem Fernsprechamt von einer trüben Woche zur anderen. Versucht vergeblich, sich wie ein normales Mädchen zu verhalten. Krank ist sie. In der Seele krank.

*



ERNANDOS BRIEF


Eines Tages kommt ein Brief aus Sizilien. Da dreht sich der Flur vor ihren Augen. Um ein Haar setzt ihr Herzschlag aus. Die Treppe zu ihrer Dachkammer ist steil wie nie... endlos. Schon auf den Stufen reißt sie das Couvert auf. Fotos sind in dem Umschlag.

Oben im Zimmer findet sie dann zwischen den Fotos den kleinen Brief. Es sind eigentlich nur wenige Zeilen. Ernando schreibt in Französisch. Natürlich:

Er schreibt, er habe einen Sohn bekommen. Im Dezember ... Riccardo heiße er. Lucia gehe es gut, sein Sohn sei gesund und mache große Fortschritte. Diese einfachen Sätze verkünden Vaterstolz, den er aus irgend einem Grund anscheinend gern mit ihr teilt. Und ... die Rosen blühten wieder. Schreibt er. Frühling sei es geworden in Sizilien ...
,Je pense toujours à vous‘ liest sie auf einmal weiter unten. Ihr wundes Herz bebt.
Diesen Satz wird sie von da ab mit sich herumtragen. Als größten Schatz ihres siebzehnjährigen Lebens. ‚Je pense a vous.‘
Ernandos handgeschriebener Brief ist kaum eine halbe Seite lang und liegt jetzt vor ihr auf dem Bett. Sie ordnet an die zwanzig Schwarzweißfotos, die er mitgeschickt hat, in einem großen, exakten Halbkreis um den Briefbogen herum an.
Er muss etwas für mich empfinden, denkt sie, warum sonst hätte er sich hingesetzt und ... ? Träumerisch stellt sie sich vor, wie er ernst und dunkel an seinem Schreibtisch im mahagonigetäfelten Studio sitzt - sie hat ihm damals die Beschreibung seiner Lebensräume Stück für Stück entlockt. Vor dem inneren Auge sieht sie ihn den Bogen Papier aus der Schublade des wuchtigen, dunkelrot polierten Schreibtisches herausnehmen, sieht ihn zum Füllfederhalter greifen. Nicht nur, dass er den Brief schreibt. Mit den Bildern hat er sich auch viel Mühe gemacht. Sie stellt sich vor, wie er zuerst in die Stadt fuhr, um die Filme entwickeln zu lassen. Wie er die Fotos später abholte, sie zuhause sorgfältig in einer geheimen Schublade vor unbefugten Blicken verbarg. Sie stellt sich vor, wie er sie am nächsten Tag ruhig in den Umschlag steckte und zur Post brachte, wie er Brief und Bilder auf den Weg zu ihr nach Deutschland schickte ...
Er liebt mich nicht, aber ich bin ihm nicht ganz gleichgültig, denkt sie hoffnungsvoll. Ihre Adresse hat er sich vorher bestimmt aus der Anmeldeliste des Campeggio geben lassen, denn von ihr hatte er sie ja nicht verlangt und deshalb auch nie bekommen ...
Er hatte nicht erwähnt, dass er ihr die Bilder schicken würde... ach bestimmt tut er es jetzt nur aus Höflichkeit und sie geheimniskrämert Dinge hinein, die nicht ...
Die Aufnahmen bringen die Erinnerung wieder. Als ob sie je für eine Minute vergangen wäre! Ernando hat sie vor den inselberühmten Kulissen fotografiert.
Minou in Selinunte, in Agrigento: dort vor den tausendjährigen griechischen Ruinen, im Schweigen der Grasebenen. Minou lachend im Sonnenlicht oder bummelnd durch Noto, die herrliche, von Prunkbauten überquellende Stadt. Minou auf der Insel Vulcano mit ihren heißen Badequellen und dem Hotel, wo sie einmal zwei Tage - und zwei Nächte! - mit ihm verbracht hat ...
Alle Aufnahmen zeigen aber immer nur sie und sie und sie. Nie IHN. Wie schlimm. Wie schade. Denn sie hatte ihn doch mehrmals fotografiert, und manchmal hatten sie einen dritten, zufällig Anwesenden, gebeten, ein Bild von ihnen beiden zu machen. Doch diese Bilder hat er nicht mitgeschickt. Vielleicht sind sie ja nichts geworden? Wie traurig, wie jammervoll! Sie hätte so brennend gern diese Fotos von ihm gehabt!

Es sind züchtige, nette Fotos, die man in jedes Erinnerungsalbum kleben kann, gegen die auch Oma Margaret nichts einzuwenden hätte. Ein wenig linkisch wirkt sie meistens mit dem törichten Lachen im Gesicht. Nur solche Bilder hat er von ihr gemacht. Obwohl er auch andere hätte machen können. An intimeren Orten, in verräterischer Halbnacktheit, ohne dass sie sich gesträubt hätte. Oder ganz nackt hätte er sie aufnehmen können. Er hatte es nie getan.

Sein Brief und die Tatsache, dass er an sie denkt - noch immer an sie denkt - wirft Minou ganz aus der Bahn. Zu Konzentration und normaler Arbeit ist sie in der Folgezeit nur mit äußerster Qual fähig. Weil da ja auch ein dicker Wermutstropfen ihre Freude vergiftet: Er hat - bewusst !? - seinen Absender, seine Adresse auf dem Umschlag weggelassen.

Auch möchte sie nicht wahrhaben, dass der auf französisch – nicht in seiner Muttersprache - abgefasste Brief ziemlich eilig und oberflächlich dahingeschrieben scheint, und außer dem bedeutungsschweren ‚Je pense à vous‘, ziemlich kühl klingt - Was sie aber erst viele Jahre später beim Wieder - Durchlesen feststellen wird! - Es nützt nichts, selbst diese wenigen, ziemlich unoriginellen Zeilen lassen Minous Sehnsucht bis zum Himmel brennen ...
Was ihn bewogen hat, überhaupt zu schreiben, wird für sie immer ein Rätsel bleiben.
Sie kann von da an, schlimmer noch als bisher, keine Nacht mehr schlafen. Ihre Sehnsucht wird größer, schwülstiger mit jeder vergeudeten Woche, wie ein praller, farbenprächtig ihr graues Alltagsleben überwuchernder Pilz. Hexenpilz. Sie ist krank. Sein Körper, seine Augen, seine unbeschreibbare Stimme... und was er mit ihr tat... sie hat seine Berührungen längst zum magischen Erinnerungsritual erhoben. Er ist ALLES. Eine überbordende Wärme und Süße und eine große Trauer füllt ihr Herz, seit sie den Brief besitzt. Wie könnte sie sich mit einer solchen Sehnsucht im Herzen den Anforderungen ihres Berufs und des Marienstocker Alltags weiterhin stellen? Das Dasein zuhause ist wie Asche und Wüste ...

*

Da hat sie nur noch eines im Kopf: sie muss ihn wiedersehen, muss von seinen Armen gehalten werden. Und wenn das nicht geht, dann will sie wenigstens in seinem Dunstkreis leben, den gleichen Boden unter sich spüren, die gleiche Luft atmen ...

Seit Sizilien hält Minou Kontakt mit Heike Kollwig, einem Mädchen aus Hamburg. Heike, die damals in Mare Luce in der gleichen Reisegruppe war, hatte nicht wie die anderen über ihre Geschichte mit Ernando gehöhnt oder ihr Treiben verdammt. Heike hatte Zuneigung zu Minou gefasst und vor der Heimfahrt ihre Adresse haben wollen. So hatten sie eigentlich im Campeggio wenig miteinander zu tun gehabt, schrieben sich danach aber regelmäßig.
Nein, Heike hatte nicht in die allgemeine Häme eingestimmt. Jetzt wird sie ihr helfen. Die beiden Weibchen fädeln einen Plan ein. Denn seit Ernandos Schreiben angekommen ist, kann Minou soo nicht mehr weitermachen ...
'Wenn ich ihn nicht wiedersehe, ist mein Leben zu Ende,' hatte sie Heike allen Ernstes wissen lassen.
Der Plan ist folgender. In Mare Luce war im letzten Sommer flüchtig die Rede davon gewesen, dass man an der Rezeption ein oder zwei deutsche Mädchen gut gebrauchen könne, um die vielen Touristen aus ihrem Heimatland zu betreuen.
Heike - schon einundzwanzig und somit volljährig - bewirbt sich also von Hamburg aus unter ihrem eigenen Namen um einen Job dort. Sollte sie genommen werden, wird es natürlich Minou sein, die an ihrer Stelle in Mare Luce aufkreuzen wird. Sie rechnet fest damit, dass man sie trotz Vorspiegelung falscher Tatsachen letztendlich dann doch behält, wenn sie die Leute erst einmal von ihrer Brauchbarkeit überzeugt hat. Warum sie nicht gleich mit offenen Karten spielt, ist klar: Sie ist noch lange nicht volljährig. Und sicher würde man Ernando brühwarm über ihre Bewerbung informieren, wenn man ihren Namen erst wüsste.

"Sie werden es nie erraten, Conte, von wem dieser Brief kommt?" würden sie ihm das Schreiben mit feixenden Gesichtern vor die Nase halten.
"Von der jungen Tedesca. Dem Betthäschen vom letzten Sommer. Sie sucht hier Arbeit."
" Wir wissen, was die sucht", würde jemand keckernd rufen. Sie würden sich köstlich amüsieren. Die ganze Männermeute. Und IHM wäre es sehr peinlich.
"Nun, was sollen wir machen Conte?" würde man Ernando mit schafartigem Grinsen fragen.
"Es muss ja nicht sein", würde er vielleicht sagen und sein Gesicht würde dabei den leicht gelangweilten Ausdruck annehmen, den sie so gut an ihm kennt und er würde dafür sorgen, dass man ihr eine Absage schickte: "Lasst diese Kleine lieber dort, wo sie hingehört."
Dem entgegen steht Minous Hoffnung, er könnte auch im guten Sinn überrascht sein. ( ‚Je pense à vous.‘ !!)
Ach... sie ist ein Feigling. Ihre Sehnsucht. Ihre Angst!... Nein, sie wird ihre Identität nicht preisgeben, kein Risiko eingehen. Ihr großes Vorhaben darf nicht schon sterben, bevor es beginnt. Deshalb versteckt sie sich hinter Heikes Personalien.

Und Heike hat Erfolg. Ein im Campeggio beschäftigter Sizilianer, Enzo Neri, der auch schon einmal Fabrikarbeiter in Deutschland war, schreibt also der Hamburgerin in recht gutem Deutsch zurück. Er ist im vorigen Jahr in Mare Luce Hausmeister gewesen und scheint inzwischen auf der Karriereleiter einige Sprünge nach oben gemacht zu haben. Als Geschäftsführer des Campeggio Mare Luce unterzeichnet er den Brief .
Natürlich erinnere er sich gut an die bella Signorina bionda, schreibt er galant. Und gern könne sie die Stelle haben. Man freue sich auf sie. Sie würde dann im kleinen ufficio arbeiten. Ihre Aufgabe: Erledigung leichter Büroarbeiten, Verkauf von Reiseandenken und die Begrüßung und Betreuung der deutschen Gäste. Es sei leider unmöglich, viel Lohn zu zahlen, da alles hier erst im Aufbaustadium begriffen sei und noch keinen Profit abwürfe... Nur ein Taschengeld. Aber das Essen sei gut, das wisse sie ja. Einen eigenen Bungalow bekomme sie ohnehin. Die Eisenbahnkosten von Hamburg aus werde man ihr rückwirkend erstatten.

Als Heike sich damit einverstanden erklärt, schickt man ihr so etwas wie einen Vertrag. Der Tag und die Uhrzeit ihrer Ankunft werden vereinbart. Jemand aus Mare Luce würde sie am Bahnhof abholen, teilt man ihr mit.
Heike sendet die Unterlagen postlagernd nach Brückenstadt. Der Schalter ist im gleichen Gebäude, in dem Minou arbeitet. Sie zittert am ganzen Leib, als sie den Umschlag in Empfang nimmt. Jetzt ist es so weit. Sie wird reisen.

Ihren Job auf der Post muss sie vorher schnell kündigen. Der für sie zuständige Personalleiter ist erstaunt. Kurz darauf wird sie zu Oberpostrat Rauch beordert.
Sie hat den Chef aller Chefs häufig gesehen, wenn er im Fernsaal inmitten der ‚Aufsichten‘ und seines männlichen Mitarbeiterstabs die gefürchtete Visite gemacht hatte. Er hat nie mit ihr, hat überhaupt nie mit einfachen Angestellten gesprochen. Wenn er etwas zu sagen hatte, teilte er es erst einem Herrn Müller mit und der gab es dann an die betreffende Aufsichtsdame weiter.

Abgehoben vom Rest der Meute residiert der große Boss in seinem Büro im sechsten Stock.
"Fräulein Hermine Kern, das sind Sie doch", sagt er lächelnd, "ich habe gehört, Sie möchten kündigen!".
Er zieht die Augenbrauen hoch, sieht sie auffordernd an. Sie muss nun etwas sagen. Er schweigt nämlich und blättert in einer Akte. Sie schweigt ebenfalls
"Und... warum wollen Sie uns denn verlassen?" fragt er schließlich.
"Ich habe eine Stellung in Sizilien ... "
Als er nachhakt, Genaueres wissen will, improvisiert sie ein bisschen, erzählt vom Campeggio und dem ihr angeblich angebotenen Job.
"Das ist ja nun eine recht abenteuerliche Geschichte... dabei sind Sie hier doch gut aufgehoben", meint er. "Sie sind zwar nicht der Ehrgeizigsten eine, wie ich aus ihren Akten entnommen habe, aber Sie haben immer guten Willen gezeigt. Kolleginnen und Vorgesetzte mögen Sie gern. Hier haben Sie doch eine finanzielle und menschliche Geborgenheit ...die darf man nicht einfach über Bord werfen! "
"Ich liebe Sizilien", sagt sie.
"Sizilien? Was ist so außergewöhnlich an Sizilien?"
"Das Licht. Alles. "
"Es ist schrecklich heiß dort!"
"Das macht mir nichts aus."
"Doch, doch, die Welt ist schön", sagt er auf einmal, "wenn ich es bestimmen könnte, würde auch ich ... Ach ja, die weite Welt ... ich begreife. Aber wirklich raten kann ich es Ihnen nicht. Sie sind so ... unerfahren. Ich will nur wünschen, dass es gut geht. Wenn ein junger Mensch sich etwas in den Kopf setzt, dann ... Ich werde Ihnen keine Steine in den Weg legen. Wenn ihr Herz Sie dahin zieht. Ich meine ... ihre Liebe für das Land. Und wenn Ihr Vater ... er ist doch einverstanden?"
"Ja, klar", lügt Minou. Auf die Idee, dass Oskar Kern ahnungslos sein könnte, kommt der Mann erst gar nicht.
"Bestimmt ist es dort interessanter für Sie als hier. Ich kann Sie mir gut in Sizilien vorstellen."
Minou staunt, denn er fügt noch etwas hinzu und er ist auf einmal ganz anders, als sie denkt, dass ein Vorgesetzter in seiner Position und mit seinem Rang sein sollte:
"Nutzen Sie ihre Chancen", sagt er lächelnd, "handeln Sie, so lange Sie jung und schön sind ... VERKAUFEN Sie sich so teuer wie möglich." Er sagt es in ihr verwirrtes, ungläubiges Gesicht hinein und lächelt weiter auf kuriose Weise.
Minou wird nie wissen, ob es ein Kompliment oder eine Geringschätzung ihrer Person gewesen ist. Es klingt ... unmoralisch.
So verläuft also ihre Kündigung.
Danach wird es für immer vorbei sein mit Beamtenlaufbahn und gesicherter Zukunft. Aber davon hat sie ja noch nie geträumt.

*


Was vorherging:

Minou Kern lebt in Marienstock mit Vater, Stiefmutter und den kleineren Geschwistern und arbeitet als Angestellte auf dem Fernsprechamt in Brückenstadt.
1955 fährt sie - inzwischen 16 Jahre alt - mit einer Jugendreisegesellschaft nach Sizilien.
Das Ziel ist Mare Luce, eine Campinganlage am Meer bei Siracus. Dort lernt sie den Conte Ernando Sascala kennen, einen Mann, den viele für dunkel und undurchsichtig halten. Nach einer ‚halben‘ Affäre zwischen ihnen, fährt sie, als der Urlaub zu Ende ist, nach Hause und geht weiter ihrem Job nach. Dann schreibt Ernando ihr einen interessanten, wenn auch kurzen und knappen Brief. Sie, mehr denn je in Liebe entbrannt, setzt alles daran, in seine Nähe zurückzukehren.

*




WIEDER SIZILIEN. MINOUS JOB IM CAMPEGGIO


Minou arbeitet bis zum letzten Tag auf dem Fernsprechamt. Bei Dienstschluss fährt sie mit dem Zug nach Marienstock. Packt in ihrer Dachkammer schnell die Sachen. Mehr als einen Koffer und die Reisetasche kann sie nicht tragen. Kleider in einen Koffer und in die Reisetasche. Mehr kann sie nicht tragen. Dann schleicht sie lautlos durchs Treppenhaus hinunter und auf die Straße. Im Schutz der Dunkelheit, - es ist gegen elf Uhr abends - marschiert sie, von niemandem bemerkt, wieder zum Bahnhof. Fährt mit dem Bummelzug von Marienstock nach Brückenstadt, wo sie sich in den Nachtzug setzt, der sie via Stuttgart, München, Brenner, Rom, Neapel, Reggio di Calabria, Messina, Catania - mit einigem Umsteigen - zu ihrem Ziel bringt. Gegen acht Uhr am übernächsten Morgen kommt sie dort an. Am Bahnhof wird sie von Nino, einem ihr unbekannten Angestellten des Campeggio mit dem Motorrad abgeholt.

In Mare Luce hat sich vieles verändert. Das sieht sie gleich bei der Ankunft. Die Pracht der Blüten ringsum ist noch leuchtender, das Hotel inzwischen fertiggestellt und von Gästen bevölkert.
Nino sagt: Signorina, gehen Sie hinein ins Büro von Signor Neri, er ist für Personalfragen zuständig. Er erwartet Sie."
"Signor Neri? Enzo Neri?"
"Si si, signorina."
Minou kennt Enzo. Er war in der letzten Saison im Campeggio Hausmeister und von Gott mit einer tönenden Tenorstimme ausgestattet, die den Touristen gefiel und die er immer einmal wieder in Serenaden vor begeistertem Publikum erklingen ließ.
"Enzo sieht aus wie eine Eidechse", hatte Marlene damals hinter seinem Rücken gelästert. Er hat tatsächlich ein winziges, leicht grünliches Amphibiengesicht.
Der Sizilianer ist vierzig Jahre alt, klein, drahtig, mit schütterem, hellbraunem Haar und ziemlich ausdruckslosen Augen, einer, dem wahrscheinlich keine Frau je einen interessierten Blick nachschickt. Der aber, ebenso zäh wie heißblütig, ständig nach weiblicher ‚Zuneigung‘ giert... Und er spricht Deutsch. Denn es gab eine Zeit, da hat er sein Geld in Francoforte im ristorante-business verdient. Im letzten Sommer war er in Mare Luce den jungen Mädchen mit großem Elan nachgestiegen, obwohl es hieß, dass er irgendwo im Landesinneren Frau und Bambini hat.


*

Enzo Neri ist überrascht, eine andere vor sich zu sehen, als die, die er erwartete. Er ist sogar fuchsteufelswild.
"Was machen SIE denn hier?", ruft er erstaunt.
Das unmögliche Mädchen versucht ein schüchternes Grinsen.
"Ich muss Ihnen etwas beichten! Ich komme anstelle von ......"

Diese kleine Gans, die da vor ihm steht und ihn um Kopflänge überragt, ist ihm schon im letzten Sommer aufgefallen. Ein überempfindliches Pflänzchen. Ein Schaf.
Auf die blauäugige Lustige aus Amburgo hatte er sich gefreut. Die kannte er, wenn auch flüchtig, vom Sommer her. Die hätte im Campeggio richtig zupacken können. Bei der hätte er auch gern sein Liebesglück versucht. Ob mit oder ohne Erfolg. Eher ohne. Und nun ... steht eine andere vor ihm. Und ausgerechnet diese.
Bei ihr ist für ihn als Mann ohnehin kein Blumentopf zu gewinnen. Das ist nämlich die Kleine, mit der der Conte sich im letzten Jahr amüsiert hat. Ein dummes, kindisches, unzugängliches Ding und wohl noch immer in Sascala vernarrt.

"Ich bin Chef jetzt", sagt er stolz zu dem deutschen Mädchen und zeigt mit ausholender Geste in sein recht elegant und offensichtlich brandneu eingerichtetes Büro.
"Ist meines! Setzen Sie sich, signorina."

"Eigentlich haben Sie sich da eine ziemlich verbotene Sache geleistet", sagt er mit unterdrückter Stimme, als sie ihm von ihrem ‚kleinen‘ Betrug erzählt.
Wie eine fleißige, zukünftige Angestellte sieht sie ja nicht gerade aus, denkt er. Keine, von der man tatkräftiges Ärmelhochkrempeln erwarten kann. Und sie ist kein munteres Mädchen. Eher ein Kräutchen-rühr-mich-nicht-an. Nun gut ... man wird sehen.
Der Not gehorchend, überspielt der Sizilianer seine anfängliche Enttäuschung. Denn eine Arbeitskraft braucht er dringend ... so oder so.
Also, wo sie nun einmal hier sei, sagt er, solle sie in Gottes Namen bleiben. Er wolle keine große Affäre aus ihrer fast schon kriminellen Job-Beschaffung machen. Also, Schwamm darüber ...
Da ist noch etwas, das er augenblicklich klären muss: im letzten Jahr hatten sie sich geduzt im Campeggio, er ist für alle Mitarbeiter, für die Touristen, auch für dieses deutsche Mädchen, Enzo gewesen, einfach Enzo ... doch das wird so nicht mehr stattfinden.
"Von nun ab bin ich Signor Neri, signorina", sagt er kühl.
"Sie kennen die Bedingungen, die ich mit der Signorina Heike aus Amburgo vereinbart habe", sagt er, "diese Bedingungen gelten jetzt für Sie."
Er lässt Minou durch die Blume wissen, dass ihm klar ist, was sie nach Sizilien getrieben hat. Genussvoll berichtet er ihr, das Interesse ‚gewisser Signori‘ an Mare Luce halte sich inzwischen in Grenzen. Eigentlich habe man seit einem halben Jahr ‚ solche‘ nicht mehr hier gesehen. Nun, da das Hotel und die Parkanlagen fertiggestellt und nichts mehr zu planen, zu organisieren sei, alles seinen Alltagstrott ginge, habe die Sache wohl für ‚diese Art Leute‘ ihren Reiz verloren ...

*


Was er sagt, dämpft Minous Erwartungsfreude, zerstört ihren Ernando-Traum aber nicht. Sie hatte natürlich gedacht, der Conte verkehre noch häufig hier. Unsagbar aufwühlend hatte sie sich das Wiedersehen vorgestellt. Traurig ist sie nun schon. Aber er wird kommen ... er muss kommen ... früher oder später. Es geht um alles für mich‘, denkt sie auch jetzt noch pathetisch. Sie spürt genau: ihr zukünftiges Schicksal hängt einzig und allein von seinem Tun und Lassen ab. Vielleicht sogar ihr Leben. Ihr Tod?

Zwei Stunden nach Minous Ankunft weist Enzo sie schon in ihren neuen Arbeitsbereich ein.
Mare Luce ist nun aufgeteilt in das elegante Areal in und um das Hotel und in den ursprünglichen Bungalow- und Campingbereich. Im letzteren herrscht Hochbetrieb. Touristen aus halb Europa trudeln täglich, so sagt Enzo, mit Autos und Caravans, auf Motorrädern oder zu Fuß, ein. Gleich für diesen Nachmittag wird wieder eine deutsche Reisegesellschaft in zwei Bussen erwartet.
"Und das hier ist Ihr zukünftiger Arbeitsplatz!", Enzo ... pardon Signor Neri, führt Minou zu einem einfachen, aus groben Steinen gemauerten, weiß getünchten Häuschen am bewachten Eingangstor von Mare Luce. Es ist Büro, Rezeption, Kiosk und Warenlager in einem. Zwischen all den Regalen und aufgestapelten Vorratskisten mit Getränken, Snacks und Reiseandenken im Inneren, hat gerade noch ein Stuhl Platz. Nach vorn, zur Straße hin, gibt es ein großes, glasloses Fenster. Sieht wie ein Postschalter aus.

Man setzt das deutsche Mädchen einfach an die Stelle ihres Vorgängers, des jungen Sizilianers Nino, den sie schon kennengelernt hat. Dieser Nino wird nun als Bartender zur Strand-Bar drüben bei der Marina abkommandiert, muss aber vorher Minou schnell ein paar Stunden lang in die Materie einweisen. Am gleichen Abend schon verschwindet er hinter seinem luftigen Tresen und Minou ist allein im kleinen Büro-Kiosk, dem ufficio.

Von jetzt an darf sie selbständig schalten und walten. Soo hat sie es sich nicht vorgestellt. Ist das südländisches Tempo?
Und das sind ihre Aufgaben:
Die ankommenden Touristen müssen von ihr registriert werden und bei ihr die Pässe hinterlegen. Die wird Minou bis zu deren Abfahrt aufbewahren. Wenn die Formblätter ausgefüllt sind, sind, gibt sie ein Winkzeichen. Dann öffnet der Wachmann, der in einem ähnlich einfachen Häuschen neben der Straße sitzt, auf Knopfdruck dem Fahrzeug und seinen Insassen das große Tor und lässt sie ins Innere des Areals herein.

Es ist, zu Minous großer Verwunderung, sogar stets ein bewaffneter Carabiniere am Tor anwesend. Der Maschendrahtzaun vom Vorjahr reicht anscheinend nicht mehr als Schutz aus.
Es habe sich in der sizilianischen Männerwelt herumgesprochen, erzählt ihr Nino, dass sich dort viele blutjunge Ausländerinnen aufhielten, die Tag und Nacht nur auf den Besuch schöner, südländischer Casanovas warteten!
Eine Bewachung rund um die Uhr ist also wohl irgendwie nötig, um eine feindliche Übernahme durch Scharen liebeshungriger, sizilianischer Machos zu verhindern. Einheimische, mit Ausnahme der hiesigen Angestellten, darf Minou deshalb nicht hereinlassen. Das hat ihr Enzo Neri gleich erklärt.

Minous Aufgabe ist es also, auszusondern: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpf ... das heißt, sie muss dafür sorgen, dass nur die ausländischen Touristen hereingelassen werden, die sich ausweisen können, die mehr oder weniger aufdringlich insistierenden, mehr oder weniger smarten sizilianischen ‚Papagalli‘ aber draußen bleiben. Ganz gleich, was sie ihr am Schalter Schönes erzählen. Da muss sie manchmal den Carabiniere heranwinken, um Ordnung zu schaffen.

Neben dem großen, eisernen Tor für die Autos existiert an der Zufahrtsstraße noch ein kleiner Ein- und Ausgang für die Fußgänger. Er muss für jede Gruppe, ja, auch jede Einzelperson, geöffnet und nachher wieder geschlossen werden. Und das funktioniert nicht automatisch! So bleibt Minou immer in Bewegung, muss ständig mit dem Schlüssel in der Hand zwischen Bürobüdchen und Ausgang hin und her laufen.

Das ufficio hat an der Hinterfront eine metallene Tür, die Minou unbedingt stets abgesperrt halten muss, auch wenn sie sich im Inneren des Raumes befindet. Sie könnte ja sonst von plötzlich eintretenden Unbefugten belästigt, oder sogar bestohlen werden!

Denn sie hat immer Geld in der Schublade. Viel Geld. Weil sie die Campinggebühren der Abreisenden berechnen und kassieren muss. Außerdem verkauft sie Postkarten, Getränke, alltägliche Kosmetikartikel und alle möglichen Sizilien-Andenken, die sie jeden Morgen auf hölzernen Ständern nach draußen schafft. Und bei ihr kommt die gesamte, nach Mare Luce adressierte Post an. Sie muss sie für die Gäste sortieren und bereithalten.

Es gibt drei ‚Chefs‘, denen sie direkt untersteht. Sie schauen abwechselnd vorbei und checken, ob sie ihrer Aufgabe auch gewachsen ist. Es sind dies: Don Arione, der fette Mann mit dem Krötenhaupt, den Minou noch vom vorigen Jahr her kennt. Dann ist da einer, den sie ‚Avvocato‘ nennen und Signor Maestroni. Nur diese drei Herren dürfen das ufficio betreten und auch Nino, der Minou täglich für eine dreiviertel Stunde ablöst, wenn sie zum Essen geht. Aber diese Unterbrechungen werden seltener. Die Mittagsmahlzeit wird ihr stattdessen auf einem Tablett gleich an ihren Schalter gebracht. Man kann Nino an der Strandbar oft nicht entbehren.

Ab und zu kommt der pistoletragende Wächter oder einer der Carabinieri vom Tor an den Schalter, um ein wenig mit ihr zu plaudern. Meistens geht das nicht, weil zuviel Betrieb herrscht. Da ist das ständige Gewusel der Touristen. Mit denen hat Minou mehr als genug zu tun. Doch alles läuft harmonisch seinen Gang.

Sie kann Leuten helfen. Vor allem die deutschen Gäste wollen von ihr über Zug- und Busverbindungen aufgeklärt werden, über Einkaufsmöglichkeiten in der Umgebung, preisgünstige Restaurants, Sehenswürdigkeiten. Das ‚Fräuleinchen‘ hat alle einschlägigen Stadt- und Landkarten zur Hand. Auch kennt sie sich durch die letztjährigen Fahrten mit Ernando recht gut in der Umgebung aus. Kann ihnen Tips für Ausflüge und Besichtigungen geben. Und sie verkauft viel Reisekitsch, den die Chefs - ein Geschäft witternd - mit ihren Autos herankarren. Pastellige Madonnen hinter Glas, farbenfrohe Figürchen in Tarantellatracht, bunte Marionettenpuppen und jene unsäglichen Trinkkrüge aus Keramik, die in ekelhafter Bemalung grobe, grinsende, grundhässliche Männerfratzen zeigen, an denen irgend etwas speziell Sizilianisches und Hochbesonderes sein soll, das sie angeblich zum Verkaufsschlager macht, was Minou allerdings nicht recht zu würdigen weiß. Sie hält gerade letztere für überteuerte Ausbünde an Scheußlichkeit.


1956. Die Fremden reisen an aus England, Skandinavien, Frankreich. Sie kommen mit Zügen und Motorrollern, auf Fahrrädern. Manche besitzen schon Autos und sogar Caravans. Die meisten Deutschen werden jedoch von einer Reisegesellschaft gebracht. Busse befördern sie vom Bahnhof in vierzigminütiger Fahrt direkt ins Campinggelände.

Über eine Menschengruppe ist Minou besonders erstaunt. Es sind die Rucksacktouristen. Magere, sonnengegerbte, junge Leute. Auch Mädchen. Die härtesten stammen aus dem hohen Norden, Schweden, Finnen... überzeugt von der eigenen Kraft und Stärke, trotzen sie allen Widerlichkeiten. Wind und Wetter haben ihre Gesichter gegerbt, ihre Haare ausgebleicht. Sie tragen Schlafsäcke und Zelte auf effizient ausgeklügelte Art gefaltet oben über den Rucksack gebunden. Und sie laufen zu Fuß. Oder sie trampen... verschmähen weder den Beifahrersitz auf einem Motorrad, noch hier in Sizilien Pferde- oder Eselskarren. Meistens aber marschieren sie. Jeden Tag eine festgelegte Strecke. Weil ihnen das Geld für die Eisenbahn fehlt. Schleppen unerträglich schwere Lasten klaglos durch ganz Europa. Leute mit seltsam hellen Augen. Die oft älter aussehen, als sie laut Pass sind.
Diese jungen Geschöpfe sind mutterseelenallein unterwegs, höchstens noch zu zweit. Die Vorstellung ihrer einsamen Nächte, in denen sie ungeschützt in einer gefährlichen, wilden, menschenverlassenen Gegend schlafen, jagt Minou Schauder über den Rücken. Sie kann aber auch die innere Kraft und Ruhe dieser Leute spüren und die Art, wie sie in sich gefestigt sind. Sie hat große Achtung vor ihnen. Ja, sie flößen ihr Ehrfurcht ein... und das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit und Schwäche steigt dann in ihr auf. Wie gern wäre sie wie diese. Es muss riesengroße Lebensneugier, überbordender Tatendrang sein, was sie quer durch den Kontinent bis in den tiefsten Süden treibt. Sie suchen Abenteuer, sie suchen die Natur ...
Sie suchen mehr als das, denkt Minou, vielleicht den höheren Sinn des Lebens, so etwas, was man früher den ‚heiligen Gral‘ genannt hat.
Ja, sie betrachten ihre Wanderschaft und all die Entbehrungen und Anstrengungen fast wie eine heilig auferlegte Pflicht!
Doch ich, denkt Minou, was suche ich? IHN, Ernando und dieses einzigartige, glühende, taumelig machende Gefühl von Liebe und Ekstase, das ich nur in seinen Armen finden kann. Aber er ist noch nicht ein einziges Mal hier gewesen.

*

Immer herrscht im Campeggio Hochbetrieb und Leben pur. Abends brennen Lagerfeuer, man feiert Grill- und Weinfeste, es gibt Opernabende mit einheimischen Künstlern auf einer Freilichtbühne. Oder bunte Tarantellagruppen zeigen wirbelnd ihre Folklore. Die einheimischen Chefs wollen Mare Luce zu einem berühmten Urlaubsparadies machen. Warum auch nicht? Es hat alles, was die Leute wünschen: das herrliche, türkisgrüne Meer zum Schwimmen und Wasserski-Fahren, fast jeden Tag Busausflüge zu den Sehenswürdigkeiten der Insel ... Nachts Musik und Tanz unter dem Sternenhimmel.

Bald ist der Campingplatz von Zelten, Autos und Caravans überflutet. Minous kleines Reich am Eingang zu Mare Luce ist von morgens bis weit nach Einbruch der Dunkelheit von Auskunfts- und Hilfe-Heischenden umlagert. Sie hat so viel zu tun, dass sie stundenweise sogar Ernando vergisst.

Inzwischen hat sie sich eingewöhnt. Im tiefsten Inneren zweifelt sie schon ziemlich daran, Ernando jemals wiederzusehen. Aber es geht ihr gut. Da ist die herrliche Seeluft. Tag und Nacht kann man die Brandung hören. Minou liebt das rhythmische Aufklatschen der Wellen nah bei ihrem Bungalow. Ein Rauschen, das beim Einschlafen die Seele beruhigt. Und dann die große Freundlichkeit der sizilianischen Vorgesetzten, die zufrieden mit ihr zu sein scheinen! Auch spürt sie jeden Tag die Bewunderung urlaubsfreudig gestimmter Leute - meistens junger Männer - aus allen möglichen Ländern. Sie suchen Gespräche mit ihr. Laden sie ein. Nein, so weit ist sie noch nicht, um Freude am Umgang mit Fremden empfinden zu können. Es passt immer gut, wenn sie einem jungen Verehrer die Abfuhr mit ihrer Arbeitsüberlastung erklären kann.

Aber nicht nur Männer finden Minou nett.
Es geschieht auch häufig, dass Frauen sie loben und sagen, sie habe ihnen bei Schwierigkeiten mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Sie danken ihr. Sie geben ihr das schöne Gefühl, gebraucht zu werden, nützlich zu sein. Fast steht sie ein bisschen im Mittelpunkt des Geschehens und spürt um sich - viel mehr als zu Hause - die Fülle des Lebens. Das stärkt Minous Arbeitslust, die sich oft gegen Abend zu nie gekannter Euphorie steigert. Dann ist immer der Betrieb am hektischsten und sie am meisten gefordert.
"Die Signorina hat in kurzer Zeit mehr Andenken und Postkarten verkauft, als wir im ganzen letzten Jahr!", sagt anerkennend Don Arione.
Minou ist locker, kommt den Menschen mit Herzlichkeit und Humor entgegen. Spürt in sich eine große Lebendigkeit. Kann auf einmal sehr effektiv arbeiten, alles geht ihr federleicht von der Hand. Und man gibt ihr ihre Freundlichkeit doppelt zurück. Ja, es herrscht große Harmonie um sie und ihr kleines ufficio. Da fühlt sie, wie die Energie geradezu in ihr prickelt. Vom Kopf bis zu den Zehen. Ja, es geht ihr gut.

Ach, hielten doch solche Zustände an! Aber das tun sie nicht!
Die meiste Zeit ist sie unzufrieden. Nicht mit der Umwelt, sondern mit sich. Wenn sie in den kurzen Pausen, in denen Nino sie ablöst, eine Weile am Meer liegen darf, nähern sich Deutsche und leisten ihr Gesellschaft. Von Frauen und Mädchen muss sie hören, wie sehr sie zu beneiden sei ... Sie hier im ewigen Sommer! Auf der Sonnenseite des Lebens! Ihr Dasein ein einziges Fest!...
"Sie können ihre Jugend genießen", ruft die eine oder andere neidvoll, "o, wie gern möchte ich mit Ihnen tauschen, aber, ich Arme, muss leider bald wieder ins graue Deutschland zurück!"
"Was haben Sie für eine gute Wahl getroffen! Einfach so... auszusteigen! Bewundernswert!!", sagen sie, "toll!"

Minou machen solche Worte nicht immer froh. Manchmal fühlt sie sich ziemlich verwirrt und es packt sie ein Gefühl riesengroßer Unsicherheit. Als wanke der Boden unter ihren Füßen. Dann kommt - noch nicht wirklich gravierend allerdings - diese vage Furcht. Was tue ich eigentlich hier?, fragt sie sich.

Einmal bummelt sie in der Mittagspause nach einem erfrischenden Bad im Meer mit zwei deutschen Jungen zu ihrem ufficio zurück. Die zwei mögen sie gern. Sie flirten seit einer Woche mit ihr. Einer immer heftiger als der andere.
Und es ist ein so strahlender Tag. Die Bougainvillea leuchten rosa, rot und violett aus dem Grün der Beete. Es riecht nach Blüten, nach Hochsommer. Die See leuchtet in unbeschreiblichem Blau. Während sie auf ihren hochhackigen Zoccoli über den heißen, anthrazithfarbenen Sand dahinstöckelt und den beiden Burschen zuhört, fällt sie plötzlich von innen her ein Gefühl an, das ist so ... dass man es nicht beschreiben kann. Als ob sie keinen Schritt mehr weitergehen könne. Als ob sich vom Herzen in Sekundenschnelle eine Lähmung über ihr gesamtes Sein ausbreite. Die Stimmen der Jungen sind auf einmal wie das insektenhafte Gesirre fremder Wesen, die sie nichts, aber auch gar nichts angehen. Pure Verzweiflung stülpt sich plötzlich über Minous Seele. Die Leere schlechthin! Als stürze die Welt unter ihr ein. Das Ganze kommt völlig unerwartet und grundlos. Das dauert, Gott sei Dank, nur ein paar Minuten. Dann geht es ihr fast wieder gut.


Bald darauf nimmt Signor Maestroni Minou mit über Land. Er, den sie in Mare Luce ‚il Maestro‘, den ‚Meister‘ nennen, ist ein kleines, unauffälliges Männlein, von freundlich ruhiger Wesensart, mager, jenseits der Fünfzig.
Er und seine neue Angestellte suchen verschiedene Auslieferungslager und Händler auf. Er ordert auf diesem Trip auch einige neue Geräte und Ausstattungssachen für Campeggio und Hotel. Minou soll Nachschub an Andenkenware für den Verkauf in ihrem ufficio aussuchen. Dazu fahren sie nach Caltagirone zu den Töpfereien.

Signor Maestroni kennt Gott und die Welt. Trifft auf der Fahrt in kleinen Geschäften und Handwerksbetrieben, wo sie anhalten, überall Bekannte, Cousinen und Onkel. Hier wird ein Espresso gereicht und ein Tellerchen süßes Gebäck, dort ein Gläschen Schnaps, während man den beiden das vorhandene Warensortiment zeigt. In der ersten Töpferwerkstatt erklärt Minou ihrem Chef - der nur Sizilianisch spricht - mühsam mit Händen und Füßen, dass sie verschiedene Andenken in ihrem Büdchen schauderhaft fände, zum Beispiel die derben, geschmacklosen Trinkbecher aus Steingut mit den Monstermännerköpfen. Die sähen doch wirklich abstoßend aus.
"Lassen Sie uns die bitte nicht mehr kaufen, sondern statt dessen schönere Sachen", sagt Minou und wählt wunderbar bemalte Porzellandöschen, Kerzenhalter, Zierteller - alles mit sizilianischen Landschaftsmotiven - die in bunter Fülle auf den Regalen warten. Der Ladeneigner und Signor Maestroni blicken sich bedeutungsvoll an ... und dann wird wahrhaftig das ins Auto geladen, was Minou ausgesucht hat.
Bei einem anderen Händler macht sie ihrem Chef klar: die romantischen, ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Ansichtskarten, die sie dort im Hintergrund der Auslage entdeckt hat, sind hundertmal naturnäher und künstlerisch wertvoller, als die schlechten, bunten, die der Geschäftsmann ihnen andrehen will, von denen Minou ohnehin noch einen Rest im ufficio hat und die so unsagbar kitschig-grell aussehen, dass einem davon übel wird.
Es müssen das die allerersten, allerunvollkommensten Farbpostkarten sein, die je verbrochen wurden... bei denen tatsächlich nicht eine einzige Tonnuance stimmt, hatte Minou bei ihrem Anblick gedacht.
Nein, solche werden nicht mehr gekauft, sagt sie sich.
Der Chef und seine Freunde zeigen sich vom guten Geschmack des jungen Dings höchst beeindruckt. Stimmen ihr hundertprozentig zu. Staunen und Bewunderung springt Minou aus ihren Mienen entgegen. Der ‚Meister‘ strahlt übers ganze, teigig helle Gesicht: Man lasse die Signorina nur machen, man lasse die Signorina nur machen, sagt er stolz. Die wisse genau, was gut sei ...
So darf sie denn all die reizvollen, schwarzweißen Karten bündelweise mitnehmen, die die herrliche Licht-Atmosphäre, die Natur- und Städtebesonderheiten derart glorreich hervorheben. Es sind fast dreißig verschiedene Motive. Zweitausend Stück werden ihr prompt eingepackt.

Vier Stunden später, zurück im Camp, veredelt sie gleich ihr Sortiment, indem sie stolz neben die wenigen, von früher verbliebenen, bunten Kitschkarten ihre diversen großartigen, neuen, schwarzweißen Künstler-Fotos auf dem Ständer vor dem Büdchen liebevoll anordnet und zur Schau stellt.

Am frühen Abend herrscht wieder viel Betrieb. Internationale Touristen kommen an, auch ein neuer Bus mit Deutschen. Die Leute schauen immer gleich, was es hier Schönes zu erstehen gibt. Vor allem müssen sie Sizilienansichten an Freunde verschicken. Die drei Dutzend grellbunten Karten, die Minou so verachtet hat, sind schnell vergriffen. Als erstes ist dann zu hören: ob das Fräulein denn noch mehr von den GUTEN hätte.
"Von welchen?"
"Na, den farbigen."
"Hier sind bessere", sagt Minou und weist die Leute auf ihre neuen schwarz-weißen Errungenschaften hin. "Sie sind viel naturgetreuer, zeigen die Eigenart der Landschaft ... viel echter ... die Wirkung von Licht und Schatten ..., die Tages- und Nachtstimmungen!", flötet Minou voller innerer Überzeugung,
"Geschmacksache", knurrt jemand. Bedauernd. Oder mürrisch. Andere sagen gar nichts. Würdigen die wunderbaren Künstlerkarten keines zweiten Blickes. Oder sie kaufen sie mit Gleichgültigkeit und - so fürchtet Minou - notgedrungen, in Ermangelung der farbigen.
Um das Maß ihrer Enttäuschung voll zu machen, reißen sich die komischen Touristen aus Deutschland um die letzten verbliebenen Männerfratzen-Monsterkrüge, von denen sie, Signor Maestronis kunstsinnige neue Angestellte, keinen einzigen nachgekauft hat.
"Guck mal, sind die LUSTIG !"
"Oooo wie originell".
" TOLL !"
Sie fallen wie die Heuschrecken über die Dinger her. Einige potentielle Käufer kriegen keine mehr. Weil die wenigen Keramikungeheuer, die noch da waren, Minuten später ausverkauft sind. Die Leute sind sauer. Gut, dass der Meister diese Show nicht miterlebt. Minou ist rot vor Scham. Bei den nächsten Einkaufsfahrten wird sie kleinlaut wieder zu dem altbewährten Kitschzeug greifen müssen.

*

Es gibt noch eine deutschsprechende Angestellte in Mare Luce: Regula aus der Schweiz. Sie ist vierundzwanzig und drüben im Hotel die Hausdame. Das heißt aber nicht, dass sie die Hände in den Schoß legen kann.
"Sie allein hält den Laden am Laufen, während die sizilianischen Putzfrauen und Zimmermädchen faul zusehen, wie die Sonne auf- und untergeht." Das hat Enzo Neri gesagt.
"Na ja, er übertreibt maßlos." Regula lacht.
Regula und Minou haben sich ein wenig angefreundet. Sehr eng sind sie nicht verbunden. Für gemeinsames Tun haben sie kaum Zeit. Sie sind beide übermäßig in den Betrieb hier eingespannt.

Regula spricht außer Schweizer-Deutsch etwas Französisch und fast perfekt Italienisch.
Auch Minou ist eifrig dabei, die Sprache ihres Gastlandes zu lernen. Mit großem Ernst paukt sie Vokabeln, hat immer ein Lehrbuch und den Dictionario neben sich liegen.

Es hängt eine große Schiefertafel an der Wand in Minous Bürohäuschen. Darauf der Grundriss des Campeggio. Auf ihm sind alle Caravan- und Zelt-Stellplätze maßstabgetreu eingezeichnet, jeder mit einer Nummer. So kann Minou sehen, welcher davon sich für einen großen Wohnwagen eignet, für einen kleineren, oder nur für die Einmannzelte aus Planenstoff, die die Rucksacktouristen mit sich herumschleppen. Stets hat sie einzutragen, von wem jeder der Plätze belegt ist und wann er wieder frei wird. Sie markiert es mit Kreide und weiß: hält sie ihr System nicht akribisch auf dem neuesten Stand, dann bricht schnell die gesamte Ordnung zusammen und es droht ein Chaos ...

Minou händigt also den Ankommenden eine Nummer aus, und auf dem mit der selben Nummer markierten Campingareal dürfen sie sich niederlassen.
Nur... manchen Leuten gefällt der angewiesene Platz nicht und sie nehmen sich heimlich einen anderen. Dann finden nachher die von Minou tatsächlich Eingewiesenen den ihnen bestimmten Ort schon besetzt, kurven mit ihren Autos und Anhängern herum, kommen zuletzt entnervt und schimpfend wie die Rohrspatzen zum Büro zurück oder suchen sich ihrerseits frei nach Wunsch einen Platz, ohne es Minou zu melden. So ist der Kuddelmuddel perfekt.

Da macht Don Arione den Vorschlag, die deutsche Signorina solle die Touristen persönlich zu ihren angewiesenen Plätzen geleiten. Dann könne sie auch gleich vor Ort mit ihnen wichtige Fragen klären, etwa die des Elektrizitäts-, des Wasseranschlusses und so weiter ...
Das Gelände des Campeggio ist jedoch weit ausgedehnt. Da teilt man ihr Salvatore zu, der sie herumfahren muss. Von ihm wird später noch die Rede sein.

Von jetzt an knattern die zwei auf seinem alten Motorrad vor den Autos und Caravans her und lotsen sie zu ihrem zugewiesenen Stellplatz. Minou sitzt hinter Salvatore auf dem Beifahrersitz.
Es ist auch dringend nötig, dass Minou persönlich für Ordnung sorgt, denn alle paar Tage gibt es Streit, weil irgendwelche Camper das falsche Areal in Besitz genommen haben. Dann versteht Minou, mit Fingerspitzengefühl einzulenken. Mit sanfter Stimme setzt sie sich durch, regelt die Sache, beruhigt die Streithähne. Vor diesen Motorradausflügen durch die Weiten des Campinggeländes muss sie allerdings jedesmal - Don Arione hat das angeordnet - die Verkaufswaren, die auf ihren Ständern draußen aufgebaut sind, im Büdchen verstauen und den Schalter mit den metallenen Rolläden verschließen.
"Ich glaube, niemand wird hier draußen etwas stehlen, das ufficio sperre ich ohnehin hinter mir ab!" sagt sie.
Aber "Nein, nein... was sein muss, muss sein, alle Sachen müssen nach innen geräumt werden", heißt es. Ein Schild hängt sie also heraus, das in verschiedenen Sprachen sagt, ‚Bin in fünfzehn Minuten wieder da!‘

Wenn sie mit Salvatore im Karacho zurückgerast kommt zu ihrem hermetisch verriegelten kleinen Reich, ist es bereits wieder von Leuten umlagert. Dann geht das Berechnen und Kassieren der Campinggebühren für die Abreisenden, das Einsammeln der Pässe, das Einweisen der gerade Angekommen wieder los und - o Elend - die Verkaufswaren müssen von Neuem herausgeschafft und aufgebaut werden.

*

Salvatore, ihr Begleiter auf dem Motorrad, ist etwa dreißig Jahre alt, mittelgroß, ein Muskelpaket mit ziemlich kurzen Beinen, mächtigem Brustkorb, breitem Kreuz. Was sofort an ihm auffällt, ist die unglaubliche Behaarung. Am ganzen Leib trägt er ein dichtes, schwarzes Fell, das schon am Hals beginnt.
"Sei vorsichtig, Minou", sagt Regula, "er macht mir Angst ... das ist einer, dem sollte man nicht im Dunkeln begegnen."
Ja, er ist ein Mensch von eigenartiger Mentalität. Seine Landsleute im Campeggio nennen ihn ‚il analphabeto‘.
Sein derbes Gesicht, die breitschultrige, gedrungene Gestalt, seine übermäßige Körperbehaarung lassen jeden, der ihn sieht, augenblicklich an einen Gorilla denken.

"Er ist ein Mutant" - (Mutant, was immer das bedeutet) "Etwas von der Primitivität unserer urzeitlichen Vorfahren - siehe Darwin - muss in seinen Zellen zum Durchbruch gekommen sein!", hört Minou einen deutschen Gast einmal sagen.
"Man kann mit Salvatore nicht reden", meint Regula, "ich hielt ihn am Anfang für schwachsinnig, aber das ist er nicht."

Salvatores Haarfell ist so außergewöhnlich dicht, so ins Auge fallend ... kein Tag vergeht, an dem nicht irgendwelche Leute diese Tatsache verwundert erwähnen. Doch niemand amüsiert sich darüber. Und seine Landsleute scheinen ihn zu fürchten. Der rätselhafte Blick aus seinen kleinen, schwarzen, eng beisammen stehenden Augen unter den schwarzen Brauenwülsten verstärkt noch die Undurchdringlichkeit seiner Züge. Ja, es sind auch die beunruhigenden, glitzernden Augen, die ihn ... tierhaft erscheinen lassen.

Er kann nicht schreiben und lesen, bald aber merkt Minou: er hat Ziele. Auf Profit ist er aus. Mit Bauernschläue. Nimmt sich alles, was er kriegen kann.
Er muss irgendwo auf der Insel Familie und Bambini haben. Oder Mutter und Geschwister? Tatsache ist: alle zwei Wochen, an seinem freien Tag, sieht sie ihn wegfahren. Sein Motorrad-Anhänger ist jedesmal mit Sachen vollgestopft: mit Brot- und Käselaibern, Dauerwurst, Büchsennahrung, Flaschenmilch, Schinken. Vor allem aber mit neu gekauften Utensilien für Haus und Hof, Werkzeugen, kleineren Elektro- und Küchengeräten, Decken, Bettwäsche und... Spielzeug. Wo hat er nur das viele Geld her, man verdient hier doch kaum etwas!

*

Mare Luce, Juni 1956
Wieder einmal hat ein junges Paar die Campingregeln über Bord geworfen und die markierte Bodenfläche für sich genommen, die für einen großen Wohnwagen bestimmt war. Minou hatte ihnen einen für ihr Zelt passenden kleinen Platz angewiesen, der auch entsprechend wenig kosten würde. Und jetzt kommt heraus: diese Jungvermählten taten zwar, als ob sie einverstanden seien, haben sich aber dann eine der teuersten Superparzellen unter den Nagel gerissen, vielleicht weil man von dort einen so fantastischen Ausblick über die Bucht hat. Eine Familie mit Caravan und drei Kindern, die Minou am nächsten Morgen zu eben der Parzelle schickt, kommt erstaunt zurück:
"Unser Platz ist belegt. Was nun? Wir können denen ja nicht einfach das Zelt umfahren?"
Nein, da muss Minou hin und ordnend eingreifen. Schnell zu Salvatore aufs Motorrad... und los geht‘s!

Am Ende gelingt es Minou, das Pärchen umzustimmen. Sie räumen die Parzelle. Alles in Ordnung!

Jetzt ist sie mit Salvatore auf dem Rückweg zum ufficio. Der nimmt plötzlich einen anderen Weg. Rattert über Brachland in die entgegengesetzte Richtung. So naiv ist Minou nicht, dass ihr nicht Sonderbares schwante.
"Heh" schreit sie, "wo fährst du hin?"
Schon sind sie außer Sichtweite der Zelte und Caravans. Dort, wo die Erde für zukünftige Erweiterungsarbeiten aufgebrochen ist, wo Bagger und Baugeräte verlassen am einsamen Schotterstrand herumstehen, drosselt er das Tempo.

Minou kriegt es mit der Angst. Hier ist weit und breit kein Mensch. Aber: er ist mein offizieller Fahrer, wir sind beide im Dienst, sagt sie sich, was sollte da passieren?
"Komm, bitte, ich hab‘s eilig, lass den Umweg, Salvatore!" Doch sie spürt: etwas Bedrohliches liegt in der heißen Mittagsluft.
Der Sizilianer gibt noch einmal Gas ... dann... harsch und abrupt tritt er auf die Bremse.
Die Maschine stoppt mit einem wilden Ruck. Jäh fliegt Minou in weitem Bogen in den Schotter. Das Motorrad stürzt krachend zu Boden.

Der Analphabeto wirft sich aber plötzlich über sie. Sein Mund macht sich über den ihren her, die Kiefer schwer, die Augen klein, gierig. Minou schlägt um sich, schreit. Sein schwitzender, haariger Körper!
"Hilfe!"
Seine Hände packen zu. Sein Urzeithirn scheint nichts von Zivilisation zu wissen ... Minou, die vom Sturz an Arm und Bein blutet, schreit wie am Spieß.
Und er hechelt: "Amore."

Der ist verrückt. Der Mann hat tatsächlich Vergewaltigung im Sinn. "Te lo faro bene. BENE", sagt er und lacht, während seine Zunge schon in ihren Mund dringt. Er hat Minou im Schraubstock ... Seine Hände sind schon am Slip, den er ihr herunterreißt. Und sein großer Schwanz bereits entblößt ... die Augen stumpf. Zurechnungsfähig ist DER nicht.
"Hör auf, bitte", brüllt sie, "Hilfe!"
Hier wird es niemand hören.
Er will nur das eine...
Sie wird nicht entkommen.
Er ist fest entschlossen.
"Nein, Salvatore, nein", schreit sie verzweifelt und dann kommt ihr die Erleuchtung ... "Wenn du mich jetzt anrührst, bist du morgen tot ... denn ... ich bin Ernando Sascalas ‚ragazza‘!", ruft sie mit schriller Stimme.
Ein Bluff ... aber... augenblicklich hält der wild gewordene Kerl inne. Sie kann es nicht glauben: Salvatore, zitternd, wie vom Blitz getroffen, lässt sie schlagartig los, als verbrenne er sich gerade an ihr.
Nur Zentimeter von Minou entfernt, befriedigt er seinen erregten Schwanz mit den Händen .

"Era un accidente, signorina, das dumme Motorrad ist umgefallen", ruft er dann, "Gott allein weiß es: e innocente Salvatore ... vi prego, vi prego, signorina ... non lo dica a nessuno ... sagen Sie es niemand!" Er reckt die Arme theatralisch zum Himmel:
"Ich schwöre ... sulla testa di mia madre, Salvatore wollte nichts Böses!" Er bekreuzigt sich und reißt wieder die Arme zum Horizont.
Minou wird schlecht. Sie blutet. Die scharfkantigen Schottersteine haben ihre Haut überall geschürft. Es tut weh.

"Um Gottes Willen, was ist denn passiert?", fragen die Deutschen, als sie beide ziemlich lädiert zurück kommen zum ufficio.
"Ach, wir sind gestürzt!"

Minou schämt sich sehr über diesen Vorfall. Gilt sie hier als Flittchen? Da schickt man sie los mit einem, dessen Art wahrscheinlich alle kennen. Der nahe daran ist, sie zu vergewaltigen! Haben sie das in Kauf genommen oder womöglich absichtlich eingefädelt. Don Arione oder Enzo?

Sie meldet es nicht. Schweigt. Hat keinen Mut, es jemandem zu erzählen. Schämt sich viel zu sehr.

Es geht ihr schlecht, als sie zwei Tage später wieder hinter Salvatore aufs Motorrad steigen muss. Aber der Verstand suggeriert ihr: "Ein zweites Mal wird er so etwas nicht versuchen."
"Salvatore entschuldigt sich," sagt er denn auch prompt als erstes, "es wird nie mehr geschehen, parola d' onore. Und es gibt bessere - er zeigt mit beiden Händen Riesenbrüste an - bessere Frauen als Dich, signorina!" Will er nun die scheußliche Sache auch noch ins Humorvolle ziehen?
Es ist mir ja nichts Gravierendes geschehen, sagt sich Minou und versucht, die Angelegenheit zu vergessen.

Von da ab verursacht er ihr keine Probleme mehr. Sie denkt, dass er sie respektiert.
Ihre Unterhaltung beschränkt sich in Zukunft auf die nötigsten Worte.

Sie gewöhnt sich keineswegs an ihn. Nicht, als ob das Erlebnis sie aus der Bahn geworfen hätte, es ist ja noch einmal gut gegangen. Nur, wenn sie hinter ihm auf dem Motorrad sitzt, sich leicht an ihm festhält, - das muss sie ja, um nicht herunterzufallen - also wenn sie sich an seinem muskulösen, pelzbewachsenen Rücken festhält und sein Fell durch den dünnen Sommerstoff des Hemdes spürt, dann fühlt sie sich jedes Mal ... verwirrt. Sexualität lauert unter seiner Haut. Schwitzende, ausdünstende, gewaltbereite Sexualität.
Es geht auch das Gerücht, dass es Frauen gibt, die sich freiwillig mit ihm einlassen. Warum? Seines behaarten Körpers wegen? Oder wegen seiner Dumpfheit, dem Fehlen jeglicher ‚Finesse‘? Suchen sie männliche Härte und Brutalität bei einem wie ihm? Er hat schöne Zähne. Riecht immer sauber und angenehm. Er badet oft im Meer. Duscht mehrmals am Tag.

Wenn sie mit dem Motorrad in Mare Luce unterwegs sind, merkt Minou ... er hat tatsächlich Frauenbekanntschaften. Da wird er, der Primitive, Wortkarge auf einmal von mancher Touristin angelächelt, quasi mit Blicken umworben. Sein Gesicht, vom Ausdruck her stumpf ... von der Knochenstruktur ist es aber in all seiner Schwere ... gut geschnitten, stellt Minou fest.

Er belästigt sie nicht mehr. Tut ihr sogar kleine Gefallen, die ihr die Arbeit erleichtern. Trägt morgens die Verkaufsware zu den Ständern, räumt sie abends wieder zurück ins Häuschen, macht für sie Besorgungen in der Stadt.

"Sei vorsichtig", sagt Regula, "dieser Typ ist hinterhältig, er führt vielleicht etwas im Schild ... "
Nein, nein ... Minou weiß es besser. Es ist fast so, als hätte sich Salvatore selbst zu ihrem persönlichen Adjutanten ernannt. Weil er oft zu ihrer Verfügung steht. Wobei sein Hauptjob doch die Arbeiten im Gelände sind: Jäten. Pflanzen. Bewässern. Mit ein paar anderen Landsleuten hält er die Schönheit der Grünflächen und Blumenbeete aufrecht.

Einmal, als es Minou schlecht geht, fragt er, ob sie Liebeskummer habe. Wegen dem Conte? Ob sie traurig sei, weil er nicht komme?
Seltsam, dass er solchen Mitfühlens überhaupt fähig ist!
"Ach, Salvatore", sagt sie pathetisch auf Deutsch, "wenn du wüsstest. Ich bin am Ende!"
Er versteht kein Wort. Aber er schaut sie an und nickt.

Auch dieser Mensch scheint zu lieben. Denn er spricht bewundernd von einer gewissen Frau, die anscheinend einzig und allein sein Hirn und Herz beherrscht. Die hoch über allen stehe, sagt er, zeigt mit den Armen in der ihm eigenen pathetischen Geste Richtung Firmament. Er redet von dieser Einen, Einzigartigen mit immer denselben wenigen Worten. Dass sie die Schönste sei. La bellissima. La Santa Donna. La piu bella di tutti. Nur leider sei ihr Herz nicht frei ...
Er wird doch nicht etwa in MICH verliebt sein?, denkt sie hochmütig und mit der ihr innewohnenden Simplizität.
"Kenne ich sie?", fragt sie betont naiv.
"Vielleicht ... vielleicht auch nicht!"

"Sie ist ... la Contessa Sascala", murmelt er eines Tages bedeutungsschwer. Es dauert Augenblicke, bis Minou es kapiert: Salvatore spricht von keiner anderen als jener, die sie noch nie gesehen hat ... er spricht von Lucia, Ernandos Frau ... la moglie d’Ernando.
Da ist ihr klar: Dieser seltsame Mensch ist ein Witzbold und will sie auf primitive Art hochnehmen.
"Du scherzt, Salvatore!"
Aber er weist das weit von sich. Er meine todernst was er sage ... Hand aufs Herz. Ehrenwort.
"Ist sie denn wirklich so schön?"
"Si, è veramente si bella!"
Was für eine Neuigkeit! Minou hat Lucia für eine halb verblühte Matrone gehalten, eine wie Signor Maestronis Madame, die, mittleren Alters, stillos, fett, hier gelegentlich, begleitet von einigen Verwandten, zum Schwimmen herkommt und zufrieden, behäbig wie ein Flusspferd inmitten ihrer - übrigens bildhübschen - Kinderschar herumstampft. Für so eine Art Frau hat Minou auch Lucia gehalten, eine, der Ernando höchstens noch aus Gründen der Familienehre und aus alter Gewohnheit ein wenig zugetan sein könnte.
"Wo hast DU denn die Signora Sascala gesehen, Salvatore?"
Die Contessa. Hier im Hotel. Zusammen mit IHM. Und mit ihren Freunden. Drüben im Restaurant an der Marina haben sie gegessen. Sind danach mit der Jacht weggefahren."
"Wann war das?"
"Letzten Herbst ... oder Im Frühjahr ... weiß nicht mehr!"
"Ist sie jung?"
"Abastanza giovane", sagt er und wiegt den Kopf ..."jung genug!"
"Und wirklich schön?"
"E la più bella donna del mondo ..."
"Du hast dir alles erfunden!"
"Bei Santa Rosa ... es ist die reine Wahrheit!"

Minou ist verwirrt. Sie denkt auch sofort an Ernandos Brief, worin er stolz von der Geburt seines jüngsten Kindes berichtete. Und dass seine Frau wohlauf sei. Dass sie wohlauf war, musste ihm so wichtig gewesen sein, dass er es sogar ihr nach Marienstock geschrieben hatte. Also, diese Ehe scheint absolut kein Desaster, wie sie immer meinte. Noch etwas IHN betreffendes, das sie verdrängt hat und jetzt erkennen muss.

*

Salvatore bringt Minou, wenn sie das uffizio nicht verlassen kann, die Mahlzeiten vom Hotelrestaurant herüber. Reicht sie ihr durch den Schalter hinein. Die Köche tun oft eine Extra-Bistecca oder ein besonders großes Stück Fisch dazu oder sie bekommt eine doppelte Portion Eiscreme zum Dessert. Oft schicken sie ihr nachmittags Kaffee und Kuchen. Es mangelt ihr an nichts. Sie wissen: die Kleine arbeitet hart dort drüben. Alle arbeiten hart. Mit einem so großen Ansturm von Touristen hat man nicht gerechnet. Vor Mitternacht kommt Minou kaum je aus ihrer Hütte heraus. Erst dann kann sie endlich zuschließen. Danach übernimmt der pistolenbewaffnete Nachtdienst allein die Wache am Tor.

Jeden Abend, während sie arbeitet, weht mit dem Rauschen der Brandung die Musik von der Tanzfläche am Meer zu ihr herüber. Und der Himmel leuchtet mit seinen tausend Sternen, sodass Minou hinter ihrem Schalter ganz sehnsüchtig wird. All die süßen Melodien... Sie ist krank vor Liebe. Wie ein blauer, samtener Zauber liegt die Nacht über Mare Luce...
Minou im ufficio sieht im weißen Alfa den Avvocato und Don Arione ankommen. Beflissen reißt der Wächter das große, eiserne Tor auf.
Wie immer am Abend schauen die Herren zuerst bei ihr vorbei, nennen sie: ‚La nostra brava signorina tedesca‘, staunen gewaltig über die Fortschritte, die sie von Tag zu Tag ‚nella lingua italiana‘ mache. Es ist wahr, sie kann ihnen schon leidlich in ihrer Sprache Rede und Antwort stehen...

Die Herren fragen sie nach Neuigkeiten des Tages, wollen aber - das weiß sie inzwischen - nur hören, wie es mit Kiosk, Campinggebühren, Einnahmen steht. Sie bemerkt sehr wohl, dass man bei all der zur Schau getragenen Ritterlichkeit und Schmeichelei haargenau prüft, ob sie eventuell unehrlich sein könnte. Man hat ihr schon kleine Fallen gestellt, ihr zum Beispiel sechzig deutschsprachige Reiseführer-Exemplare hingelegt, in der Liste jedoch fünfzig angegeben. Sie hätte nun die zehn überzähligen auf eigene Rechnung verkaufen und das Geld einstecken können. Solche Sachen eben ...
Vielleicht war es Absicht, vielleicht haben sie aber die falsche Zahlenangabe tatsächlich nicht bemerkt.
Minou macht sich nichts vor: Die Herren sind, was ihre lächelnd umworbene Person betrifft, nur an EINEM wirklich interessiert ... nämlich, dass sie den Laden am Laufen hält und die Kasse stimmt. Die Einnahmen des Tages nehmen sie stets gleich mit.

"Ach, signorina Minou, Sie sitzen seit acht Uhr heute Morgen hier ... jetzt ist es fast Mitternacht", sagt der Avvocato, "doch es wird bald Abhilfe geschaffen. In Kürze reist ein zweites deutsches Mädchen aus ‚Monaco di Baviera‘ an. Mit ihm werden Sie sich in die Arbeitszeit teilen."
"Sie können dann endlich einmal ausspannen und Meer und Sonne genießen, verkündet Don Arione behäbig.
Aber: "Nein, nein", sagt Minou, es sei alles in Ordnung, sie komme gut zurecht.
Der ‚Chef‘ lächelt, lässt feierlich, mit der großartigen Geste eines Herrschers, der üppige Geschenke austeilt, einen Extra-Geldschein zwischen die Seiten ihres Italienischbuchs gleiten.

Abends, wenn es gegen zehn Uhr rapide dunkel wird, ist der Andrang um Minous Büdchen meistens am größten. Und da hängen stets ein paar Burschen, hauptsächlich Deutsche, vor dem Schalter herum, plaudern mit ihr, wenn sie denn im Gewusel der Ankommenden und Abreisenden, Zeit für ein Gespräch findet. Schaut dann noch zufällig Don Arione vorbei, kann es geschehen, dass der ihr sagt, sie solle ruhig ein bisschen ausspannen gehen, solle drüben bei der Marina mit ihren jungen Freunden ein wenig tanzen, sich zu einem Glas Wein einladen lassen.

"Arione wird ein Stündchen für Sie einspringen", meint er jovial, "laufen Sie schon, signorina, amüsieren Sie sich."
Da weiß sie, wie gut sie es doch mit diesem Job getroffen hat. Alle sind so nett zu ihr!
Don Arione quetscht sein fettes Hinterteil, dessen ausufernde Masse auch kein Maßanzug mehr in Schach halten kann, ächzend auf den Stuhl im ufficio. Minou ist froh, aus dem Büdchen zu entkommen. Lässt sich von ihren jungen Verehrern zum Tanz auffordern, wirbelt von einem Arm in den anderen, genießt den Wind, der vom Meer weht, bewegt sich... eins mit der Musik. Sie ist zwar außerordentlich aufgewühlt und in exaltierter Stimmung, aber tief innen traurig. Niemand von den Anwesenden berührt ihre Seele, ihre Sinne. Zum Flirten hat sie kein Geschick, kann nicht einmal tun, als ob... Gibt nichts zurück an diese Jungen, die so sehr um sie bemüht sind. Sie denkt nur an den EINEN. Wo wird er jetzt sein...?

Inmitten all des auf sie zu brandenden Lebens, unter dem Firmament mit Millionen Sternen, beim Klang einer für sie herrlichen Musik, umgeben von jungen Männern, die sie gern näher kennenlernen möchten, von denen mancher bestimmt geneigt wäre, sie liebzuhaben - im guten, hohen Sinn des Wortes - bleibt sie einsam. Hat nur die bittersüße, zehrende Sehnsucht nach Ernando in ihrem Herzen.

*



GROßE ÜBERRASCHUNG

Ein heiterer Nachmittag Anfang Juni. Minou arbeitet nun seit drei Wochen auf dem Campingplatz in Mare Luce. Sie steht hinter dem Schalter ihres weißen, steinernen Kiosk, der Büro und Verkaufsstand in einem ist und stellt gerade für ein paar abreisende Touristen die Endabrechnungen zusammen.

Plötzlich ist ihr, als ob sie DIE Stimme hörte ... und dann sieht sie IHN nur ein paar Meter entfernt. DAS Gesicht, das dunkle Glitzern in seinen Augen, den hochmütigen, herben Mund!

Entweder fällt sie jetzt ohnmächtig um oder sie erstarrt zur Salzsäule. Doch wundersamerweise übersteht sie den Schock und bleibt sogar halbwegs gefasst.

Fast ein Jahr lang hat sie dieser Sekunde entgegengefiebert.

Ernando ist nicht allein. Hat zwei Herren im Schlepptau.

"Ich habe gehört, hier sei seit kurzem eine neue, junge Angestellte zu bewundern ... une jolie demoiselle allemande", hört sie den Mann ihrer Sehnsucht sagen und:
"Die Leute haben nicht gelogen. Elle est vraiement belle, n'est ce pas?" Fragend sieht er seine Begleiter an

Das Wiedersehen! Eine kalte Höflichkeitsfloskel aus seinem Mund. Oder was ist das?

"Je voulais toujours apprendre la langue de Goeth et Schillère", sagt Ernando mit diesem, ihr so wohlbekannten belustigten Lächeln in seinen Augen ... "Et voilà, eine signorina, die diese schöne Sprache spricht! Das trifft sich gut. Könnte sie mir nicht ein bisschen ... Deutschunterricht geben? Möglicherweise hat unsere junge Dame ja hin und wieder ein Stündchen Zeit für mich?"

Minou spürt, wie ihr Gesicht kalkweiß wird. Er macht sich lustig. Sie bebt. Die Knie zittern, sie werden gleich einknicken wie nasse Spaghetti. Der Boden schwankt.
Was soll das sein? Ein launisches Spielchen? Warum spricht er von ihr in der dritten Person? Warum tut er vor den komischen Typen, als habe er sie nie gekannt?

"Wie schade, dass sie sich in ihrem Häuschen versteckt wie eine kleine Schnecke!", ruft nun auch noch einer dieser Snobs herzhaft. "Kommen Sie doch ein bisschen heraus zu uns, mademoiselle, damit wir Sie in Ruhe bewundern können!"

Sie sagt nichts. Schlagfertig ist sie nie gewesen. Alles dringt wie durch Watte in ihre Ohren. Und ... falsch. Nichts scheint Wirklichkeit. So hat sie sich das Wiedersehen nicht ... Minous Kopf, Hirn ( Seele ?) – klinkt sich aus. Es ist, als stünde sie neben sich. Das hier hat mit ihr nichts mehr zu tun ... geschieht gerade einer fremden Person.

Ernandos flüchtiger Blick hat sie bereits losgelassen. Seine Begleiter sind noch da, kaufen Karten und Briefmarken, während er weiter weg den Andenkenkram auf den Ständern vor dem ufficio kurz mustert, den beiden Männern noch etwas zuruft und mit energischen Schritten in Richtung Bootshafen davon geht.

Minou muss die hochoriginellen Komplimente der zwei Machos über sich ergehen lassen, während sie langsam, allzu langsam, ihre Ansichtskarten beschriften und anderen wartenden Kunden den Platz am Schalter wegnehmen.

Ernando ist inzwischen außer Sichtweite. Hilflos, leer, steht Minou dem Gelaber seiner Freunde gegenüber - Aus Frankreich stammen sie ... de Pariii, posaunen sie wichtigtuerisch hinaus, was sie aber in den Augen der nachdrängenden, maulenden Campinggäste nicht sympathischer macht. Endlich räumen die Charmeure das Feld und Minou, mit ihrer Kraft am Ende, widmet sich wieder den ungeduldigen Touristen.

*

Stunden später – es ist bereits Nacht – kann sie dann das ufficio absperren und zu ihrem Bungalow gehen.
Eine Gestalt - groß, dunkel - löst sich plötzlich aus dem Schatten der Koniferen. Nur einer kann das sein!

Erregung schnürt Minou die Kehle zu. Sie spürt, wie sie matt wird ... Nur jetzt nicht umkippen, bitte! ...
Sie muss sich in SEINE Arme stürzen, das signalisiert ihr wild trommelndes Herz. Ihn für immer festhalten. Und zwar sofort.
Er überreicht ihr linkisch – nein, das passt überhaupt nicht zu ihm - eine in Seidenpapier eingewickelte Schachtel ... Pralinen!! Sie spürt es am Gewicht. Mit sizilianischen Spezialitäten kennt sie sich inzwischen aus.

Dass er in diesem weltbewegenden Augenblick an das Mitbringen irgendwelcher Schokoladedinger gedacht hat, ist genau so rätselhaft, denkt sie, wie seine sonderbare Begrüßung vorhin am Schalter des ufficio.

Minou ist verwirrt und trotzdem hängt sie sogleich an seinem Körper. Festgeklammert! O Gott ... für wie aufdringlich und gefühlsduselig muss er sie halten!
Erst heute habe er von ihrer Anwesenheit erfahren, sagt Ernando, und sei darauf hin sofort nach Mare Luce ‚geeilt‘.

Mit dem Kopf an seiner Brust saugt sie seinen guten, herben Duft ein. Tief. Es ist ihr, als wäre sie endlich heimgekehrt. Wie lange hat sie sich nicht mehr so fest an ihn schmiegen können!

"Wenn das keine exzentrische Idee ist, hier auf dem Campingplatz eine Arbeit zu suchen", sagt er, "ungewöhnlich für ein Mädchen, das zu Hause mit allen Traumstädten der Welt telefoniert."
"Sie erinnern sich!"
"Ich habe oft an dich gedacht."
Auf einmal sagt er 'du', was er voriges Jahr nie getan hat. Sie registriert es.

*

Natürlich hat Sascala vom Tag ihrer Ankunft an über Minous Aufenthalt im Campeggio genau Bescheid gewusst. Dass die niedliche Kleine hier mehr oder weniger hüftwackelnd herumliefe, ihren Mädchenarsch kaum bekleidet am Strand spazieren führe und die geilen Blicke der Signori nicht einmal bemerke, sondern sich - wie eine heilige Jungfrau - vor allem sperre, was Hosen trüge, um leidend – LEIDEND - sich offensichtlich einzig und allein nach ihm, Ernando, zu verzehren, hatte man ihm feixend erzählt, augenzwinkernd, so von Mann zu Mann.

Lange ist Sascala unschlüssig gewesen ... es würde sicher mit gewissen Komplikationen verbunden sein, sich weiter auf die Sache einzulassen ... bei diesem labilen und sentimentalen Geschöpf.
‚Andererseits‘, sagt er sich, ‘ist sie vom letzten Sommer her schon gut vorbereitet, was ja MEIN Verdienst ist oder meine Schuld – wie auch immer! Auch ist sie nun ein Jahr älter ... wahrscheinlich wird sie daheim in ihrer Provinz in Sachen Erotik inzwischen endgültige Erfahrungen gesammelt haben! Auch wenn nicht, so wird es kaum mehr lange dauern ... früher oder später wird einer daherkommen, der nicht zimperlich ist. Da kann ebenso gut ich derjenige sein, der das zu Ende führt, was im letzten Sommer so schön begann.‘

Als sie zärtlich an seiner Brust hängt, wird auch er schwach, hält auch er sie sehr fest, küsst ihr Haar, Schultern, Wangen.

*

"Das ist mein Bungalow, hier wohne ich also", sagt Minou leise. Sie stößt mit einer Hand die niemals abgeschlossene Tür zur Hütte auf.
"Nein, nein, lass uns hier weg gehen!" Er fasst sie beim Arm. Fahren wir lieber hinaus, wie wir es früher getan haben", sagt er.
Dann der wohlbekannte Komfort seines Wagens. Der leichte Ledergeruch im Inneren.

Alles so vertraut! Aufgewühlt lässt sich Minou in ihren Sitz gleiten. Plötzlich hat sich ihr Leben wieder zum Glück hin gewandelt. Er hat das Steuer ihrer Zukunft in die Hand genommen ... sie spürt es.
‚Ich liebe dich‘, möchte sie in sein Herz hinein schreien ... doch das wäre kindisch. Eine, die sich so anbietet und aufdrängt, ist für einen Mann wie ihn wertlos.
Das haben Monika und Anne auf der Post auch gemeint, als die Rede einmal auf Minous Gefühle für Ernando gekommen war.

Das ‚Abendessen‘ nehmen sie auf der von Wind durchwehten Terrasse eines Hotel-Restaurants direkt am Meer ein, wo sie sich an einer weiß gedeckten Tafel gegenüber sitzen. Jetzt, kurz nach Mitternacht sind kaum mehr Gäste da. Ernando hat ein besonderes Fleischgericht ausgesucht, das feierlich und mit viel Aufwand neben dem Tisch flambiert wird. Köstlich ist dann das Mahl vor ihnen angerichtet. Die Kellner verharren in gebührendem Abstand in Wartestellung.

Minou bekommt keinen Bissen hinunter. Sie zittert und kann das Besteck kaum halten.
Sie hat Ernando derart vermisst, hat ihn so sehr begehrt in all den Monaten.
Wie sehr sie um ihn gelitten hat, möchte sie ihm zuschreien und dass sie nur noch eines will: ihm gehören. GANZ und für immer.

Sie trinkt den Wein im Glas leer. Gegen das Zittern. Gegen die Angst. Der Wein dämpft ihre furchtbare Aufregung nicht.
Der Heißgeliebte ihr gegenüber speist mit Gleichmut und Appetit. Fast so, als habe er sie, Minou, schon wieder vergessen.

Da springt sie vom Stuhl auf - ihr ist alles gleich, sollen die Kellner denken, was sie wollen - sie hängt sich Ernando schon wieder an den Hals. Küsst ihn, küsst ihn. Kindlich. Haltlos.

Sascala weiß, jedes jetzt noch gesprochene Wort wäre zuviel.
Schweigend führt, nein, drängt er sie zum Ausgang der Terrasse, dann durch die Halle und eine breite Treppe hinauf. Einen Schlüssel holt er aus der Tasche. Er hatte bereits vor dem Essen das Hotelzimmer gemietet. Sie hatte nichts bemerkt.
An der Schwelle hebt er sie auf die Arme und trägt sie zum Bett.
"Ich will für immer deine Geliebte sein", hört er das Mädchen sagen. Dieses Zittergeschöpf. Sie bebt genau so wie damals im Haus am Etna.
Er nimmt sich nicht einmal die Zeit, sie ganz auszuziehen. Die Schuhe und das Höschen zerrt er ihr herunter. Keine Sekunde lässt er ihr zum Nachdenken. Und dann ... ein einziger harter, erbarmungsloser Stoß ... und ihre Barriere ist gebrochen.

*
"Ich will dir doch nicht weh tun", hört Minou ihn heiser flüstern, während er ihr aber sehr weh tut. Seine dunklen Augen über ihr und in ihr die Pein!
Es ist bestimmt nicht nur das zerrissene Häutchen, das den irren Schmerz ausschickt, denkt sie. Es ist wohl so, dass ich zu eng bin für seinen ... großen Schwanz. Zu empfindlich. Sie spürt ihn gegen die weichen Wände ihrer Organe prallen. Er wird sie zerreißen, er wird sie zerreißen.

Wimmernde Laute entringen sich ihr.
Ihren Leib füllt er aus, dehnt, weitet, zerrt in ihr mit seinen Stößen, die sich schnell zu einem unerbittlichen Rhythmus formen.

Unter dem Druck wird sie bersten. Ihre Fingernägel krallen sich in Ernandos Rücken, nur auf diese Art hält sie das aus, sein Toben und Wüten in ihr.
‚Er hat mich aufs höchste strapaziert‘, wird sie später denken.

*


Jetzt gönnt er dem Mädchen eine Pause ... Fahrig greift er zur Vaseline, um es ihr leichter zu machen. Unter ihm das ungläubige, schmerzverzerrte Gesicht der Kleinen, als er wieder in sie eindringt.
Sie ist jetzt laut und es ist ihm beinahe, als sei es ihr enges, sperriges Döschen, das da unter seiner Gewalt aufschreit, dieses ES, geradezu prädestiniert, von ihm ruiniert, zerschunden, zerstoßen zu werden.

Du musstest dir ja vornehmen, dieses unerfahrene, tumbe Geschöpf einzureiten, denkt er vage... und dass er so etwas schon lange nicht mehr getan ... seit Äonen nicht mehr. Es ist wahrscheinlich ein großer Fehler ... irgendwann ficke ich mich noch um Sinn und Verstand!

Doch er spürt nur den einen Trieb: diesen schmalen Schoß für sich zu öffnen, bis in die Tiefe aufzureißen, zu spalten, zu vernichten, wenn es sein muss und sich in ihn zu ergießen. Er weiß, es ist Unrecht und er wird es nachher bereuen.
Er spürt, wie die Vagina des Mädchens pocht. Die Kleine scheint trunken vor Schmerz, vor Krämpfen. Sie bäumt sich.
Das treibt seine Lust höher, höher.
Sie schreit jetzt laut, so laut, dass es ihm peinlich ist,
schreit im Gleichklang mit den elektrisierenden Stößen, die er erbarmungslos durch ihren Bauch jagt.

*

Minous Möse brennt wie von Flammen.
‚Hoffentlich ist er nicht von mir enttäuscht‘, ist alles, was sie denken kann, als er mit ihr fertig ist.
Es sind eigentlich nur ein paar hellrote Schlieren am Bettzeug nach all dem Wüten.
Minou wundert sich ... kein Vergleich mit den legendären, blutgetränkten Hochzeitslaken der Sizilianerinnen.

Erst jetzt zieht Ernando sie vollständig aus.
Endlich spürt sie, wie er sie ZÄRTLICH küsst. Ihren erschöpften Mädchenkörper.
In der Hitze der Nacht, hinter Minous geschlossenen Lidern ist plötzlich dieses Gewoge aus rosenroten Blütenblättern ... warm-aromatisches rosa Licht umspült sie und da ist der bekannte Geruch Ernandos.
Und als sie die Augen öffnet, sieht sie, wie seine Augen sie aufmerksam beobachten, wie seine Hände ihren Körper überall streicheln.

"Es wird auch für dich gut werden", hört sie ihn sagen. "Mit jedem Mal wird es dir weniger weh tun." Er saugt den Schweiß von ihrer Stirn, die Tränen von ihren heißen Wangen.

Willenlos, gefügig wird sie von jetzt ab für immer sein unter seinem fordernden Körper. Im Bann seiner Macht, der sie sich von nun an in Demut zu ergeben hat.
‚Du kannst alles mit mir tun‘, flüstert sie so leise, dass er es nicht hört, flüstert sie eher zu sich selbst, ‚du kannst mich auch töten, wenn du willst.‘ Und das ist ihr heiliger Ernst.
"Ruhig, sei ganz ruhig", hört sie ihn sagen, "beruhige dich" und er küsst ihr geduldig das Zittern aus dem Körper. Natürlich lässt er sie nicht gehen, bevor er sie mit seinem Mund zu einem befreienden Höhepunkt gebracht hat, so wie früher.
Das wühlt sie aber innen noch mehr auf, sodass sie nun erst recht losschluchzt.

"Ich werde nicht sehr viel Zeit für dich haben", sagt Ernando zirka eine Stunde später auf der Rückfahrt und holt sie damit erbarmungslos auf den Boden seiner Realität zurück. "Es kann nicht mehr so sein wie im letzten Sommer. Jetzt ist meine Frau da mit den Kindern ... !"
Um Gottes Willen, war denn seine Frau damals verreist? Das hatte Minou nicht gewusst. Er hatte ihr das nicht erzählt. Ja, es war ihr SCHON rätselhaft vorgekommen, dass er, ein verheirateter Mann, all die vielen Stunden mit einem Mädchen wie ihr verbracht hatte, alle Tage und am Schluss sogar die ganzen Nächte.

"Ich werde dich manchmal zu mir holen!", sagt er mit dieser Stimme, die ihr Schauder über das Rückgrat jagt. "Wir werden zusammen zum Abendessen fahren ... hin und wieder."
Er sagt ‚Abendessen‘ und meint damit die NACHT. Er sagt ‚hin und wieder‘ und meint UNVERBINDLICH. Sie spürt, was er meint.
Aber auf mehr hatte sie auch nicht gehofft. Hochfahrender sind ihre Wünsche nie gewesen. Sie ist mit allem zufrieden. Erschöpft vor Schwäche und Glück, gebannt von Ernandos Augen, ist ihr nur noch das EINE wichtig: das, was heute zwischen ihnen gewesen ist. Es ist das Aufwühlendste der Welt, es ist ALLES, was zählt. Sie kann nicht anders, sie wird immer daran denken. Jahrelang, jahrelang. Und wird nie mehr aufhören, Ernando zu lieben und zu begehren.

Er nimmt sie noch einmal in die Arme, als er sie vor dem Tor in Mare Luce absetzt. Er küsst sie.
"Lauf jetzt!"
Sie hat einen Schlüssel zum Fußgängereinlass. Der Carabiniere sitzt schläfrig in seinem Wächterhäuschen und bemerkt hoffentlich nicht, wie sie mitten in der Nacht auf das Gelände schlüpft.


Eine Woche später ruft Ernando an. "Du kommst heute Abend um elf Uhr vor das Tor, gehst ein Stück an der Straße entlang bis zur Bushaltestelle. Dort werde ich im Auto warten."
Diesen Treffpunkt hat er bewusst gewählt. Sollte zufällig jemand sie beim Verlassen des Geländes oder auf der Landstraße überraschen, muss sie sich den Anschein geben, als wolle sie zum Bus.
"Ich möchte nicht, dass es Gerede gibt", sagt er.
"Aber voriges Jahr?"
"Da warst du Touristin. Nun gehörst du zu Mare Luce. Man passt auf, man redet über dich, du bist keine neutrale Fremde, die bald wieder verschwindet und nach der kein Hahn kräht."

Sie treffen sich einmal, manchmal zweimal in der Woche. Immer, wenn Minou Dienstschluss hat. Und das ist sehr spät am Abend. Mit ihrem Schlüssel fällt es leicht, ohne Wissen der Umgebung beim Seiteneingang hinaus zu entwischen. Dann ist es meistens schon dunkel. Sie steigt zu dem Conte in den Wagen.
Im versteckten Hotel am Meer findet sie ihre Bestimmung ... sein Objekt, sein Werkzeug ist sie - und sein behütetes, kleines Mädchen.

"Du bist außen und innen schön", sagt er. Mit ‚innen‘ meint er nicht etwa ihre Seele oder so etwas Hehres und Undefinierbares, nein ... "Dein ‚bijou‘ ist so eng und verletzbar, alles an dir ist ... sehr süß!"
Ernsthaft zählt er ihre einzelnen Körperteile auf, die ihm besonders gut gefallen. Küsst sie heiß an all diese Stellen: "Dein Hals, deine niedlichen Zehen, dein süßer Po, dein Näschen ... et ton tout petit bijou. Mais plus du tout, me plaisent tes yeux."
"Aber am meisten gefallen mir deine Augen."

Dass er ihre Augen – die ja Spiegel der Seele sind – am Liebsten mag, freut sie sehr, sehr, und gibt ihr Hoffnung: ‚Bestimmt hat er mich auch als Mensch gern!‘, denkt sie träumerisch.

Im letzten Juni, als sie sich kennengelernt hatten, waren Minous Brüste winzig gewesen.
"Cose di niente", hatte er damals schmunzelnd gesagt, "nicht der Rede wert", doch sie hatte laut protestiert: "Stimmt doch gar nicht!"
"Sie gefallen mir aber, so klein sie auch sind", hatte er ihr ins Ohr geflüstert, "ich bin verrückt nach ihnen." Er hatte sie geküsst und gesaugt, fast ohne Unterlass.
Jetzt sind sie in einer Spanne von zwölf Monaten rund und weiblich und zu einem richtig ansehnlichen Busen geworden. Der eigenartige Narbensteg, die kleine Teilung am linken Nippel, die sie zuhause in Marienstock im Winter so geängstigt hat, ist kaum mehr zu sehen. Dass sie besonders schöne Brüste habe, wird sie später immer wieder von Männern hören und es auch selbst einsehen. Zu dieser Zeit denkt sie das aber überhaupt nicht, denn ob ihr Erwachsenenbusen Ernando gefällt, scheint sehr zweifelhaft. Für ihn hätte er vielleicht lieber kindlich bleiben sollen?

"Es gefällt mir sehr", sagt er, "dass in deinen Achselhöhlen noch immer keine Haare wachsen und auch, ‚da unten‘ dieser winzige, blonde, lockige, Flaum ... der ist süß, während südliche Frauen wilde Urwälder ... Hell und unschuldig sieht das bei dir aus. Ich liebe es."
Im Bett, jedesmal, bevor er in sie eindringt, bringt er sie auf seine zärtliche, einfühlsame Art zum Höhepunkt, macht sie glücklich, euphorisch, macht sie weich und willig für seinen fordernden Penis, präpariert sie damit für das, was seine Bedürfnisse sind.

'Er tut mir noch immer weh, aber so muss es sein', denkt sie, obwohl der Schmerz nur noch manchmal ... und schon viel geringer ...
Wenn Ernando mit ihr zu Ende ist, liegt sie ausgelaugt, erschöpft und glücklich an seiner Seite.

Er, der in der Öffentlichkeit nie stumm bleibt und Diskussionen über alles schätzt, legt keinen großen Wert auf eine Unterhaltung, wenn sie bei ihm ist. Ihre Konversation geht meistens über klangvolle, französische Worte, die er Minou bei der Liebe zuflüstert, kaum hinaus. Er erzählt ihr auch keine persönlichen Dinge.
Sie weiß viel über ihn. Doch nur wenig, das er ihr selbst gesagt hätte. Längst hat er die Grenzen gezogen. Sie lebt in einem Wechsel von euphorischen Momenten und permanentem Mangel, einer nie gestillten Sehnsucht.

In dieser Zeit scheint er zu spüren, dass sie oft vollkommen erschöpft ist.
"Warum gibst du den Job nicht auf? Die Arbeit in Mare Luce ist zu viel für dich", redet er ihr gut zu. "Ich würde dich gern dort herausholen, dich in einem passablen Hotel unterbringen und für dich sorgen."
Aber ... nein, das will sie nicht.

*

Doch manchmal blicken seine Augen abwesend, wandern durch sie hindurch wie nach anderen Zielen hin. Gerade dann scheint er von ihr am meisten wegzustreben, wenn er sie schmerzhaft und hemmungslos nimmt.

‚Ein Mann ist hauptsächlich auf Lust programmiert, während eine Frau ... anderes empfindet.‘ So hat sie es einmal gelesen und so sagen die Leute ....

Für sie gibt es jetzt nur noch EIN Sehnen, das sie Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommen lässt: in SEINEN Armen zu liegen. Die Geborgenheit seiner Nähe zu spüren ... Erst, wenn er in ihr ist, lebt sie ganz.

Ich bin deine Hure, denkt sie. Tu alles mit mir, was du willst! Geh hart und rücksichtslos mit mir um. Du bist mein Beherrscher. Du benutzt mich, wie es dir gefällt ... nein, du benutzt mich nicht nur, du bist auch zärtlich zu mir, obwohl ich nichts tun könnte, wenn du anders wärst ... so fordernd du auch bist, du gibst mir genauso viel zurück und niemals, niemals verletzt du meine Gefühle.‘


Er hat ihr gezeigt, wie sie sich bewegen muss beim Liebemachen. Er lehrt sie ... alles.

"Es würde mir gefallen", meine Kleine, "wenn ich dich mit in meine Lust hineinnehmen könnte, wenn du ‚kommen‘ würdest, während ich in dir bin."
"Ich glaube, das geht bei mir nicht", murmelt sie.
"Doch, es ist einfach, wir brauchen nur Disziplin ... ich werde deine Knospe eine Weile nicht küssen, nicht berühren und du musst dir vorstellen, deine Hände seien gefesselt, du wirst dich nicht mehr selbst streicheln, auch dann nicht, wenn du allein bist und es sehr stark möchtest und es vor Sehnsucht kaum mehr aushältst. Deine Gier wird immer mehr steigen und nur mein großer Schwanz tief in dir drin, wird deine einzige Rettung sein. Und ich werde langsam und geduldig vorgehen, ich werde nicht aufgeben, und sollte das Experiment auch die ganze Nacht dauern..."
Es funktioniert aber rascher und wirkungsvoller, als Minou es sich vorgestellt hat.
"Du bist wie eine kleine, explodierende Samenkapsel... du liebst mich eben", sagt er lachend.

Dennoch ... sie fühlt sich zerrissen und manchmal ratlos. Sie weiß nämlich nie, ob es nach so einer Nacht ein nächstes Mal geben wird, ob er sie noch einmal haben möchte. Er lässt sie stets im Zweifel. Wie soll sie da ihren Alltag meistern? Sie kann ja keinen Gedanken mehr fassen, der sich nicht um SEINE Person dreht. Schon kommt ihr der Job wie etwas Aufgezwungenes vor, etwas – so furchtbar weit von ihren inneren Bedürfnissen entfernt. Sie steht irgendwie neben sich, wenn sie mit fremden Menschen über lächerliche Wohnwagen-Stellplätze verhandelt oder nette Jungen bei ihren unbedarften Flirtversuchen nicht wirklich vor den Kopf stoßen will und sie doch nur als Belästigung empfindet. Wie soll sie auf Menschen zugehen, wo doch ihr wahres Ich, ihr wahres Fühlen, ihre gesamte Weiblichkeit nur auf IHN ausgerichtet ist. Wie kann sie da funktionieren? Von Tag zu Tag schafft sie es weniger, ihre Pflicht dem Job gegenüber und die Sehnsucht nach Ernando miteinander in Einklang zu bringen. Aber sie soll. Sie MUSS.

Ach, sie gäbe ihm gern alles von sich: Ihre Vergangenheit, ihre Zukunft. Doch er will nichts davon. Seit dem Tag, an dem er sie zum erstenmal ganz genommen hat, lebt sie in einem ständigen Taumel. Es überfallen sie kranke Schauer niedriger Lust und hohe Gefühle der reinsten Liebe und alle durcheinander, wenn sie an ihn denkt. Sie denkt ständig an ihn.

Er hingegen hat ein anderes Problem und er redet mit ihr darüber: Er hat Angst, sie zu schwängern.

Zu einem Frauenarzt hat er sie gebracht, der ihr ein Pessar anpasste ... Obwohl sie es immer bei sich in der Handtasche trägt, überlässt es Ernando nicht ihrer Initiative, es anzulegen, sondern setzt es ihr vor jeder Liebesstunde persönlich ein. Fürchtet er, sie sei unkooperativ ... vielleicht sogar absichtlich unvernünftig und könnte womöglich allzu nachlässig damit umgehen.

Einmal gibt man ihr eine ganze Woche frei. Natürlich hat ER das in die Wege geleitet. Sie glaubt ohnehin, dass er im Hintergrund manche Fäden zieht und in Mare Luce kein Fremder ist, wie er sie gern glauben macht.

Er nimmt sie mit zu einem kleinen Hotel an einer versteckten, kristallgrünen Bucht. Obwohl es da einen bequemen Swimming-pool gibt, schwimmen sie immer wieder ins Meer hinaus. Die See ist wild hier, mit Strudeln, mit hohen Wellen, die laut über Lavafelsen gurgeln.
"Vertrau mir, ich gebe auf dich Acht", sagt er.

Ja, niemandem könnte sie mehr vertrauen als ihm.

Das ist die Zeit, in der er sie heftig begehrt. An seichten Stellen zwischen den schwarzen Basaltklippen zieht er ihr das Bikini-Höschen herunter und nimmt sie. Am helllichten Tag, ihren Rücken gegen schürfende, von Gischt umspülte Felsen gedrückt. Während all die silbernen Tropfen aus seinem schwarzen, afrikanischen Haar über die tiefbraune Haut perlen. Seine Augen sind übermütig.

.Minou benimmt sich da schon viel gezwungener, aus Furcht, unter Wasser zu geraten
Überhaupt, das Liebemachen im Meer ... es ist ihr peinlich ... was, wenn Taucher oder schnorchelnde Hotelgäste sie heimlich beobachten? Nein, eigentlich kann sie das Spiel, das ihn verrückt macht, nicht so wirklich genießen ...
obwohl er sie eisern mit seinen Armen festhält, dass sie nicht womöglich noch ertrinkt. Denn er hat an dieser Stelle bei den Felsen noch Boden unter den Füßen, sie aber nicht mehr. Ernando küsst sie wild und nimmt sie da im Wasser selbstverständlich und unbekümmert ... es muss Routine für ihn sein. Es stören ihn weder die mit Urkraft gegen die Klippen und auch gegen ihre beiden Körper anprallenden Wogen, noch die über sie hinweg schäumende Gischt. Er ist in seinem Element.

Und ich bin vielleicht doch nur ein austauschbares Objekt, denkt sie, mit dem er sich lustvoll inmitten dieser grandiosen Natur betätigt?

Später, auf ihrer Terrasse hoch über dem Meer, auf der breiten Liege, zieht er sie zu sich heran. Auf den weißen Polstern darf sie sich in seine Arme schmiegen, während sich ihre Körper von Sonne und Seeluft streicheln lassen. Sie darf sich an ihn lehnen, so lang sie will. Ohne ihm durch Quirligkeit auf die Nerven zu gehen. Denn sie muss sich schön ruhig verhalten. Jetzt braucht er Konzentration. Er liest Schriftstücke, die er am Rand kommentiert oder er macht sich in einem Heft Notizen. Sie darf ihren Kopf in seinen Schoß legen, er streichelt ihr ab und zu übers Haar oder drückt ihr einen Kuss auf den Scheitel.

Ach, die Geborgenheit! Sie kuschelt sich zu ihm hin wie ein Kätzchen.

Und die Nächte zu zweit in dem stets von einer frischen Brise durchfluteten Zimmer. In dem seidigen, großen Bett.
‚Alles ist wie ein Traum zwischen uns‘, denkt sie und vor Staunen stockt ihr fast der Atem, wenn sie morgens neben seinem starken, dunkelglänzenden Körper aufwacht. Seine Schönheit nimmt ihr wahrhaftig den Atem. Sie betrachtet diese kostbaren Tage als ein Geschenk von ihm.

Manchmal trifft er sich mit Herren im Konferenzzimmer und bleibt stundenlang weg. Während dieser Besprechungen ist Minou allein auf sich gestellt.

In dem Hotel hat sie die hauseigene Boutique entdeckt. Da sieht sie in der Auslage einen schweren, goldenen Armreif. Ein Schildchen sagt, was es mit dem Schmuckstück auf sich hat. Wie interessant! Sie bittet die Verkäuferin, ihr das Armband zu zeigen.
"Es ist die Kopie eines Original-Fundstücks aus Pompeji", sagt die Frau.
- Der kleinen Sklavin von ihrem Herrn - lautet die geheimnisvolle lateinische Inschrift auf der Innenseite des Reifes. Minou hätte das nicht gewusst, wenn nicht die Übersetzung ins Italienische auf einem Schildchen dabei gelegen hätte.
"Bei Ausgrabungen in der vom Vesuv verschütteten Römerstadt ist er am Handgelenk eines ganz jungen Mädchens gefunden worden. Noch in Tod und Versteinerung lagen sie und der Mann, der wahrscheinlich ihr Gebieter war, eng umschlungen unter der Jahrtausendschicht aus Asche", erklärt die elegante Verkäuferin. "Eine Liebe für die Ewigkeit", sagt sie verzückt.

–Eine Liebe für die Ewigkeit. Der kleinen Sklavin von ihrem Herrn - Das muss ich haben, denkt Minou mit plötzlich aufflammender Begierde.

Am Nachmittag zieht sie den erstaunt dreinblickenden Ernando zum Laden.
"Schenke es mir. Zur Erinnerung", bittet sie, und sie denkt, dass er es gern tun wird, da sie in letzter Zeit immer abgelehnt hat, wenn er ihr dies oder jenes hatte kaufen wollen.
"Lass´ sehen ... was ist das?" Ernando nimmt ihr das Armband aus der Hand.
"Nein", sagt er, als er die Worte auf der Innenseite liest, "das wirst du von mir nicht bekommen! Ein solches Stück ist wahrscheinlich nie in Pompeji ausgegraben worden, sondern der Fantasie kluger Geschäftemacher entsprungen und kommt gut bei reichen Amerikanerinnen an. Doch auch wenn es die wirkliche Replik eines Originals sein sollte, so passt es dennoch nicht zu dir, Minou, und nicht zu unserer Situation ... Ich bin alles andere als dein Herr ... du bist nicht meine Sklavin.
Aber wenn du das Ding unbedingt haben willst, kaufe ich es dir eben", lenkt er gleich darauf großzügig ein, weil er wohl die große Enttäuschung in ihren Augen sieht, "nur will ich, dass sie vorher die Inschrift wegfeilen."
"Och, eigentlich brauche ich es nicht wirklich", sagt sie.


An dem Tag, an dem Minou wieder zur Arbeit gehen muss, brechen sie sehr früh auf. Um acht Uhr morgens sind sie schon in Mare Luce. Ernando setzt sie vor dem Zaun ab. Wie immer, verspricht er ihr auch jetzt ... nichts.

Bevor sie aus dem Auto steigt, trödelt sie, kramt ein bisschen in ihrer Reisetasche herum, als suche sie etwas. Ach, es fällt ihr unendlich schwer, von ihm weg zu gehen. Doch er nickt ihr zu.
Sie spürt: er will, dass sie augenblicklich aussteigt. Verschwindet.
Einen fast ungeduldigen Kuss gibt er ihr. Arrivederci.
Sie hat den Schlüssel. Schnell sperrt sie den Durchschlupf, die kleine Tür auf und huscht nach Mare Luce hinein. Er fährt davon.


Morgennebel liegt noch über dem Meer. Das ufficio erscheint ihr heute wie ein Gefängnis. So war das noch nie. Am Anfang ist sie jeden Tag gern hergekommen. Abgeschirmt im Inneren zu sitzen und doch eine ganze Welt, einen Kosmos verschiedenartigster Menschen nah um sich zu haben, das hatte ihr Geborgenheit und so etwas wie Heimat hier im fremden Land bedeutet... aber inzwischen...

Auf den Wegen schlurfen schon einige, ihr gut bekannte Camper in Trainingsanzügen, Handtuchbündel unter dem Arm, zu den Waschräumen. Jetzt muss sie schnell ihre Verkaufswaren nach draußen schaffen. Laut hupend kommt das Lastauto aus Siracusa durch die Einfahrt, bringt wie jeden Tag frischen Fisch und Gemüse fürs Hotel.
"Buongiorno, gioia", ruft ihr Vittorio, der Fahrer, zu und winkt.

Minou hat viel nachzuarbeiten, denn Nino, ihr Vertreter, hat alles Wichtige nur auf lose Zettel notiert und keine einzige Liste der neu-angekommenen oder abgereisten Touristen ausgefüllt. Auch das Geld aus den Andenkenverkäufen liegt einfach so in der Schublade. Wo ist die Abrechnung? O je, da warten Probleme auf sie!

Mit ihren Fahrzeugen werden gleich die ersten Neuankömmlinge eintrudeln, denen sie ihre Plätze anweisen muss. Zwei Caravans rollen gerade abreisefertig bei ihr vor.

Nun heißt es, sich wieder auf Menschen und Umstände einzustellen,. die weit von ihrem Herzen entfernt sind ... wo sie doch nicht zwei Herren dienen kann, wo ihr einzig und allein nur an IHM liegt und der Rest der Welt nicht mehr für sie zählt. Wie soll sie sich auf die Arbeit konzentrieren, wie soll sie es überhaupt verkraften, dass er sie jetzt für Tage wieder allein lässt? Oder vielleicht überhaupt nicht mehr kommt - o Gott!

*

Zwei Monate sind vergangen. Ernando holt Minou noch immer nachts ab ...
Noch hat er den Wunsch, mit ihr zu schlafen. Besonders, wenn ein Bekannter oder Geschäftsfreund ihn interessiert fragt, wer denn diese scheue junge Ausländerin ... und ob man da nicht vielleicht sein Glück versuchen ...?
In solchen Augenblicken wächst in Ernando das Begehren und auch seine Zuneigung wieder: Weil sie keinen anderen ansieht. Weil sie die Schliche und Kunstgriffe nicht benutzt, mit denen Frauen das Interesse ihrer Männer wach zu halten versuchen. Das ‚Sich-rar-und-kostbar-Machen‘, das ‚Im -Zweifel-lassen-ob-da-nicht-noch-ein Anderer im Spiel...? Diese kleinen Tricks, um die Leidenschaft und Eifersucht eines Liebhabers zu steigern ... nein, sie wendet keinen davon an. Das rührt ihn. Manchmal.
Aber - kühl zeigt er ihr auch die Grenzen ihrer Beziehung auf. Er verwendet Sorgfalt darauf, dass sie nicht miteinander gesehen werden. Im Gegensatz zum vorigen Jahr, betritt er das Gelände von Mare Luce ohnehin fast nie mehr. Und das hat auch mir ihrer Person und der Peinlichkeit eventueller plötzlicher Begegnungen zu tun.

*

Schwindel erfassen Minou schon dann, wenn sie erfährt, dass er sich in der Nähe aufhält, weil jemand seinen Wagen gesehen hat. Hört sie seine Stimme am Telefon, wenn er anruft, um sich mit ihr zu verabreden, gerät ihr Herz aus dem Takt und spielt stundenlang verrückt.

Einmal stoßen sie und Salvatore während einer dienstlichen Rundfahrt durchs Gelände zufällig bei der Marina auf den Conte und einige Leute in seiner Begleitung. Und Salvatore, in der Meinung das Richtige zu tun, hält beflissen das Motorrad an. Wie entsetzlich. Ernando grüßt Minou zwar, doch kühl, unbeteiligt, wie er es bei jeder beliebigen Angestellten von Mare Luce tun würde.
Vergeblich sucht sie in seinen Augen die Leidenschaft, das Aufgewühltsein ihrer Nächte wachzurufen ... Ihr Blick prallt ab an der höflichen Unnahbarkeit seiner Züge. Wie kann er sie so behandeln, wo er ihr noch zwei Tage zuvor so nah gewesen ist, wie sich zwei Menschen nur sein können ... furchtbar, unsagbar nah?

"Niemand würde mich für seine Geliebte halten", glaubt Minou und weiß nicht, wie sehr sie sich irrt.

*


Die Sizilianer hier wissen alle, dass Ernando mit ihr schläft. Auch registrieren sie genau, wie diese komische Kleine jede Art von Annäherung, auch die ihrer deutschen Landsleute, sofort abblockt. Sie nicken sich grinsend zu, wenn Minou vor Aufregung rot wird und mit geschärften Sinnen lauscht, so oft jemand den Namen Sascala auch nur erwähnt. Eine Unverbesserliche, die anscheinend nachts weint und für keinen Scherz zu haben ist!

Auch wenn Ernando seinen Fuß kaum noch nach Mare Luce setzt, ist er stets in den Reden der Angestellten gegenwärtig. Zumindest dann, wenn Minou sich in der Nähe befindet! Boshaft genug sind diese durchtriebenen Machos, die Leidenschaft des jungen Mädchens mit rätselhaften Andeutungen und Legenden über Sascala immer noch weiter anzuheizen.

Was diese Leute anscheinend am meisten beeindruckt, ist die gelassene, selbstherrliche Art des Conte, mit der er sich das vom Leben nimmt, was sie niemals haben werden. Auch erhöht es ihren Respekt gewaltig - wenn man ihren Reden glauben darf - dass sein Lebensweg von eroberten Frauenherzen geradezu gepflastert scheint.
"In erster Linie jedoch ist er ein Herr, un vero Signore", werden sie nicht müde, zu betonen.

Und das Seltsamste: die kleinen Leute hier, die er stets korrekt, aber nie wie Seinesgleichen behandelt, scheinen ihn als einen der Ihren zu betrachten und in geradezu irrationaler Herzlichkeit an ihm zu hängen. Unbegreiflicher Stolz schwingt mit in jedem Wort, das sie über ihn sagen. Doch sie lächeln auch hintergründig und werfen sich einverständliche Blicke zu, wenn Minou während eines solchen Gespräches anwesend ist. Es liegt - was das deutsche Dummchen natürlich nicht bemerkt - ein gutes Stück Durchtriebenheit und Spieltrieb in der Art, wie diese Fabulierer sie in ständiger seelischer Verwirrung halten. Durch sie erfährt Minou neue Dinge aus Sascalas Leben ... über die Liebesgeschichten mit Damen seiner adeligen Umgebung und daraus resultierende böse Eifersuchtsdramen ... sie tischen ihr Gerüchte auf über vielleicht sogar illegal betriebene ‚Spielhöllen‘, wobei er eine Hauptrolle ... bis hin zu seinen – angeblichen – Verbindungen nach USA.
Das Interesse der Vielen für alles, was Ernando betrifft, lässt Minous ohnehin Karussell fahrende Gefühle noch mehr rotieren und das wissen Männer wie Enzo Neri, Nino und sogar Don Arione genau und sie spielen damit.
Übrigens, auch die Verherrlichung Lucias, seiner - wie Nino und Signor Maestroni unisono berichten - so unendlich schönen, unendlich charismatischen, von ihm aber quasi mit Füßen getretenen Ehefrau aus jener mächtigen Familie, hält Minous verwirrtes Herz in ständiger Aufregung, löst in ihr sogar sporadische Schuldgefühle aus.
Mit vorgegebenem - oder wahrem? - Ernst singen sie also alle das Lied vom Wohl und Wehe des hintergründigen Ernando Sascala.

*
Minou ist sehr gefordert. Soviel Hektik wie in diesem Sommer hat es in Mare Luce noch nie gegeben, heißt es. Immer mehr Leute kommen mit ihren brandneuen Autos und Caravans. Die Öffnungszeit des uffizio reicht mehr und mehr in die Nacht hinein. Auch Minous Mittagspause ist durch den ständigen Betrieb eingeschränkt.

"Ich glaube, es geht dir nicht gut", sagt Ernando einmal. "Die signorina di Monaco, die dich entlasten sollte, ist noch immer nicht da. Sie wird auch nicht kommen. Es gefällt mir nicht, wie sie dich hier ausbeuten. Du arbeitest ohne Pause von morgens acht bis um elf Uhr abends. Widersprich nicht, ich weiß es! In deinem Bungalow fehlt fließendes Wasser und jeder Hauch von Komfort. Ich kann deine Lage im Campeggio nicht verbessern, aber ich kann dich dort herausholen. Du bist nicht für diese Arbeit geschaffen. Sie bringt dich auch in keiner Weise weiter! Warum nehme ich dir nicht wirklich endlich ein Zimmer in einem schönen Hotel?"
"Das möchten Sie noch immer für mich tun?"
"Wie wäre es mit Taormina? Du bist doch begeistert von der Stadt. Sie hat alles, was ein junges Mädchen sich wünschen kann."
"Nein", sagt sie, die Arbeit im Campeggio mache ihr ja Freude. Sie habe dort ein paar gute Bekannte. Und Beinahe-Freunde ... Sie wolle da nicht weg.

Aber es ist so: sie möchte in Wirklichkeit zeigen, dass sie etwas taugt, dass sie zupacken und arbeiten kann, und ihm, Ernando, will sie signalisieren: "Bitte sieh mich nicht als Flittchen an, das sich an dich verkauft, das sich von dir aushalten lässt!"

"Du könntest in der Sonne liegen", sagt er, "schwimmen könntest du und lesen. Vielleicht in einer Schule dein Englisch und Französisch aufbessern. Oder du spielst Fremdenführerin für ausländische Touristen. Das kann auch amüsant sein. Es gibt hundert Dinge, die Spaß machen. Ich würde für dich sorgen und dich besuchen, so oft es geht."
"Aber Sie kommen ja jetzt schon viel zu selten!", stellt sie betont lässig, vorwurfslos und mit einem kleinen, aufgesetzten Grinsen fest.

"Minou, wenn du in einem guten Hotel wohnst, wirst du LEUTE kennenlernen. Die Stadt wimmelt von wohlhabenden Amerikanern und Engländern. Das sind interessantere Menschen als die, mit denen du im Campeggio zu tun hast. Du wirst schnell Freunde finden. Mit Jungen deines Alters solltest du tanzen gehen, solltest alles machen, wozu du Lust hast. Und du wärst frei! Frei, zu tun und zu lassen, was du magst. Du musst dir schließlich langsam ein Leben aufbauen!"

Minou wird schlecht, denn eines scheint er nicht zu begreifen: dass Freiheit ohne ihn für sie das größte Elend wäre.

"Ich habe nun einmal nicht so viel Zeit für dich, wie du brauchst ... und wenn der Winter kommt oder im nächsten Frühjahr", wirft er auf einmal aus heiterem Himmel ein, "dann hast du bestimmt Lust, heimzufahren und dort etwas Neues anzufangen. Höchstwahrscheinlich aber wirst du bis dahin längst einen netten Mann gefunden haben, wenn du es nur ein bisschen klug anstellst ... einen reichen Mann droben in Taormina ... einen fürs Leben. Un marito!"

Ach, sein Sinn fürs Praktische, fürs Sich-Arrangieren ... und ihr heißes, verwirrtes, alleingelassenes Herz!
In einer hilflosen Geste hebt sie ihm die Arme entgegen.
"Aber ich liebe doch nur Sie."
Das hat sie ihm noch nie gesagt. Und es ist das Allerdümmste ... Das wird ihr augenblicklich den Hals brechen. Klar.

Prompt kommt die Quittung: "Du musst aufhören, dich in Traumfantasien hineinzusteigern, musst dich Menschen und Dingen um dich herum wieder öffnen! Du hast dich verrannt, Minou", sagt er mit unglaublichem Gleichmut.

Das hat sie nun von ihrer Ehrlichkeit! Logisch ... wenn ein Mann weiß, dass eine ihm mit Haut und Haaren gehört, sinkt sein Interesse auf Null. Noch ist er freundlich, aber sie fühlt es: Er steht schon jetzt nicht mehr zu ihr. Ein wenig Zeit räumt er ihr noch ein. Dann wird er sie verlassen. Er hat ihr von Anfang an nichts vorgegaukelt, hat es nie für nötig empfunden, ihr Lügen aufzutischen, um sie in sein Bett zu bekommen. Und doch ... dass er klar vom Abschied spricht, von der Vergänglichkeit ihres Zusammenseins ... es tut irrsinnig weh.


"Wir sind heute zu dritt", stellt Ernando sie vor eine vollendete Tatsache, als er sie einige Tage später wieder einmal abholt. "Ich habe eine Bekannte von mir eingeladen, Liane, eine nette Dame. Du wirst sehen, sie könnte dir sogar eine Freundin werden. Sie freut sich schon auf dich. Wir werden gemeinsam essen gehen."

Seltsam, Minou, die sich nie in Gedanken mit Ähnlichem beschäftigt hat, ahnt gleich, was er meint. Sie weiß ... er hat mehr als nur ein Abendessen zu dritt im Sinn. Das liegt in der Luft. Sie spürt es.

"Ist sie eine Geliebte von Dir!"
"Es gab eine Zeit ..."
"Und manchmal triffst du sie noch!"
"MINOU!"
"Bring mich zurück! Bringen Sie mich bitte auf der Stelle zurück zum Campeggio!", flüstert sie und wird weiß.
"Nein, das tue ich nicht. Höre ... wir brauchen diese Frau nicht dabei zu haben, wenn du nicht möchtest. Ich werde ihr von irgend einem Telefon aus absagen. Es war nur ein Vorschlag. Ich wollte dich nicht verletzen."

Er unterbricht denn auch die Fahrt für ein paar Minuten, um den Anruf zu machen.

Sie reden an diesem Abend kein Wort mehr über die Sache.
Alles scheint gut wie immer, aber Minou hat das verworrene Gefühl, dass er ihr intimes Zusammensein diesmal nur noch zu seiner eigenen Lust nutzt.

Er tut ihr sehr weh. Rücksichtslos ist er und so kurz angebunden, ja barsch, wie sie ihn bisher nie erlebt hat.
Danach meldet Ernando sich fast zwei Wochen nicht. Bis er sie wieder zum mitternächtlichen Essen abholt.


Beim Mahl kommt er auf den letzten gemeinsamen Abend zu sprechen und auf die Angelegenheit mit Liane.

Minous Intuition hatte sie nicht getäuscht. Intimitäten zu dritt hatte er sich wirklich gewünscht.

Er sagt es nun selbst. Eine gute Freundin sei diese Dame, eine, die viel von der Liebe verstünde. Sie möge Männer UND Frauen. Auch er genieße solche Spielereien und Abwechslungen manchmal ... hin und wieder ... sie machten das Leben bunter, reicher an Variationen. Männer betrachteten das auf recht lockere Weise und manche Frauen eben auch, meint er.
"Nein, ich nicht", sagt sie kläglich.
"Ich weiß! Es ist meine Schuld, ich habe dich überfordert, mich in letzter Zeit auch zu wenig um dich gekümmert.
"Aber warum bist du nervös und reizbar? Vielleicht fühlst du dich hier nicht mehr wohl?", fragt er. "Bist du denn einsam? Ist es das Heimweh? Vielleicht möchtest du ja nach Hause fahren?"

Minou schüttelt den Kopf.

"Bitte, ich habe nie versucht, dich an mich zu binden", sagt er, "... et quand tu es tombée amoureuse ... und wenn du dich verliebt hast ... habe ich das nicht gewollt."

Er scheint großen Wert darauf zu legen, dass sie jedes einzelne seiner Worte versteht. Dazu bedient er sich sowohl der französischen als auch seiner italienischen Sprache, die ihr inzwischen nicht mehr fremd ist.
"Ich bin ein Egoist gewesen", sagt er. "Als du unerwartet im Campeggio auftauchtest, hat man mich gefragt, ob es mir lieber wäre, wenn man dich gleich wieder heimschickte ... sie befürchteten eventuelle Komplikationen. Aber nein! Mir ist deine Anwesenheit sehr recht gewesen. Ich wollte dich unbedingt hier haben!"
"O, Ernando!"
"Wie konnte ich wissen, dass du so leiden würdest. Obwohl ..."

Minou ... so verwirrt, so hilflos ist ihr Zustand .... sie ist ihm dankbar, weil er heute überhaupt gekommen ist. Und es erleichtert sie auf düstere Art, wie er ausführlich über all die schwierigen Dinge spricht und ihre Gefühle ernst nimmt. Prompt fasst die Kleine seine Hand und drückt ihm kleine, heiße Küsse darauf. Das hat sie noch bei keinem Menschen getan. Nie vorher im Leben. Sie denkt sich nichts dabei, spürt nur diese unsagbare, überbordende Liebe.
Und er? Befreit seine Hand, wenn auch sanft, aus ihrem hektischen Zugriff.

"Mir hätte vom ersten Augenblick an klar sein müssen, wie allzu ernst du die Sache nehmen würdest. Ich hätte gleich abblocken müssen", hört sie ihn sagen. "Doch das wollte ich nicht. Du bedeutest mir viel. Ich mag dich immer noch gern. Ti voglio bene."

*


Dabei war der Conte sehr erschrocken, als er sie eben sah, so krank und mager sieht sie aus.
Tatsache ist: Er hat in letzter Zeit mit wachsendem Unbehagen an dieses Mädchen gedacht. Die Kleine fängt an, für ihn zum Problem zu werden.
"Ich weiß, Sie werden mich verlassen", hört er sie jetzt noch mit Kassandra-Stimme prophezeien.
"Minou, du dramatisierst schon wieder. Ich verspreche dir, auch wenn meine Zeit knapp bemessen ist, lasse ich dich doch nicht im Stich", sagt er leise: "Nein, von Verlassen-Werden kann keine Rede sein. Dafür gefällst du mir zu sehr." Es klingt scherzhaft, warm und locker. In Wahrheit gefällt sie ihm in diesem Augenblick gar nicht. Er stellt es mit Staunen fest.

Als das Essen aufgetragen ist, treibt er die Kellner und den Küchenchef bis an den Rand eines Nervenzusammenbruchs, bemäkelt sogar Makelloses. Er lässt Minous Speisen mehrmals zurück gehen, als er sieht, dass sie ohne Appetit in ihnen herumstochert. Die berühmten Spezialitäten des Hauses erklärt er selbstherrlich für versalzen oder nicht frisch genug ... nur, weil sie der signorina offensichtlich nicht munden.
"Was möchtest du denn essen, auf was hast du wirklich Lust ... lass uns noch einen Versuch machen, Minou."
Aber ein Gericht scheint ihr so widerlich zu sein wie das andere. Nur wenige Bissen kriegt sie hinunter und er sieht nicht, dass ihr übel ist. Ein guter Geschäftspartner ist gerade an seinen Tisch getreten. Es geht um wichtige Dinge.

Er müsste eigentlich bemerken, wie das Mädchen ziemlich rasch hintereinander zwei oder drei Gläschen des starken Rotweins in sich hinein schüttet, vielleicht auch vier, wie sie lediglich ein bisschen an den Grissini herumknabbert, während er sich mit wachsender Aufmerksamkeit dem in Wirklichkeit vorzüglichen Mahl und der Auseinandersetzung mit dem zufällig hinzugekommenen, befreundeten Signore widmet.

Woher sollte er wissen, dass das arme Ding den ganzen Tag nichts gegessen hat und dass ihre Nüchternheit sich schlecht mit dem feurigen Wein verträgt. Gott sei Dank bemerkt Ernando ihren Zustand dann doch, ehe Schlimmeres passiert. Er bringt die kreideweiße Kleine gerade noch rechtzeitig auf das Zimmer, bevor sie zusammenklappt. Dort erbricht sie sich in die Toilettenschüssel, während er ihren Kopf hält, um sie halbwegs zu stabilisieren. Sie ist ziemlich betrunken und so elend, dass er sich kaum mehr vorstellen kann, sie je begehrt zu haben.

Später packt er sie dann mit einigem Widerwillen, aber auch schuldbewusst, ins Bett, wo sie gleich einschläft wie ein erschöpftes Kind. Er steht noch lange auf dem Balkon und blickt irritiert übers Meer.

*




ARRIVEDERCI, AMORE


Minou hat Ernando nicht mehr gesehen. Er hat auch nicht angerufen. Bleischwer sind die traurigen Gedanken in ihrem Kopf. Auch der Magen macht ihr inzwischen zu schaffen. Morgens steht sie mit Mühe auf und schleppt sich zum ufficio.

Es gehen Gerüchte um ... na ja, ihre sizilianischen Kumpel flüstern geheimniskrämerisch miteinander, wechseln jedoch das Thema, wenn Minou dazukommt.

Die Schweizerin Regula, die ja als Hausdame arbeitet, weiß mehr:
Ja, tatsächlich ... Sascala hat eine Neue! Wienerin ist sie, heißt Sylvia. Sie wohnt hier im Hotel.
"Mich hat der Conte telefonisch angewiesen, dafür zu sorgen, dass jeden Tag frische Blumen in ihrem Zimmer stehen und ein Korb mit Obst und Süßigkeiten", erzählt Regula.

Minou ist klar: ihre Freundin sagt die Wahrheit. Es sind die gleichen Aufmerksamkeiten, mit denen Ernando ihr im vorigen Sommer immer wieder gezeigt hatte, dass sie für ihn etwas Besonderes war ... all die Rosensträuße und kleinen Geschenke in ihrem Bungalow. Damals.

Spätestens jetzt weiß Minou: Er hat mich WIRKLICH verlassen.

Regula berichtet Intimes.
" Diese Sylvia ... ich hab sie kürzlich in der Dusche gesehen", grinst sie, "sie hatte vergessen, die Tür zuzuziehen ... also, DIE Riesentitten müsstest du sehen! Und ihre Vorhöfe ... groß wie Untertassen, ich schwöre es ... aber alles in allem sieht sie ja doch ziemlich gut aus ... ich denke, sie ist ein Typ, der Männer verrückt macht. Sascala himmelt sie an. Wie ein Gockel umschwänzelt er sie!"
Und so etwas erzählt mir Regula – gedankenlos – denkt Minou. Kann sie sich denn nicht in mein Leid hineinfühlen? -
Ist Regula denn nicht klar, was sie mit ihren Worten anrichtet! Minou ist ohnehin schon todelend zumute. Sie kann sich Ernando einfach nicht in enger Umschlingung mit solch einem Wesen vorstellen ... Eine mit massigen Brüsten! Ihr hatte er immer von den süßen, unschuldigen, kindlichen Formen erzählt , die er so sehr liebe.

"Pass auf, sie kommt zum ufficio herüber, ich hab sie zu dir geschickt", ruft Regula am nächsten Nachmittag durchs Telefon, " sie will Postkarten und Briefpapier kaufen."

Als die Angekündigte wenige Minuten später vor dem Schalter steht, weiß Minou endgültig: Ich habe verloren! Denn Riesenbrüste hin- oder her ... die junge Frau ist etwas Besonderes: irgendwie so eine auffallende ... Lichtgestalt mit Anita-Eckberg-Gesicht, Pfirsichhaut, üppiger, blonder, leicht ins Rötliche schimmernder Lockenmähne und veilchenblauen Augen. Als sie lächelt, sind sogar ihre Zähne hollywoodmäßig schneeweiß und perfekt, was in dieser Zeit - den 1950er Jahren bedingt durch die schlechte Ernährung der im Krieg Aufgewachsenen - eher ungewöhnlich ist. Auch Minou hat schöne Zähne – sagt man ihr zumindest - aber sie selbst weiß, dass da ein gewisser Gelbschleier ... nein, so hell und strahlend wie Sylvias Lächeln ist ihres höchstens am Abend bei künstlicher Beleuchtung.

Das Wiener Mädel vibriert vor Frische und Vitalität. Sie wird natürlich von den Umstehenden erstaunt bestarrt und von allen Seiten angeflirtet. Sogar von Minous eingefleischten Verehrern! Sylvia steht augenblicklich im Mittelpunkt. Sie lacht ... mit Mund UND Augen.

"Ach, jetzt hab ich doch tatsächlich meine Geldbörse im Hotel vergessen!", ruft sie verwundert, als es ans Bezahlen der ihr von Minou durch den Schalter hinübergereichten Schreibutensilien geht.
"Das macht nichts, dann geben Sie mir das Geld beim nächsten Mal."
"Ich leg es ihnen gerne vor", mischt sich errötend einer von Minous Jünglingen ( die täglich das ufficio belagern ) ein und schaut sehnsüchtig auf die verlockende Sylvia-Gestalt.
"O, das ist lieb von Ihnen, aber nein, nein. Ich vergesse solche Sachen sofort. Sie haben keine Ahnung, was für ein Sieb mein Gedächtnis ... bin rasch zurück!" Sie rennt schon los zum Hotel.
Unnötig zu sagen, dass die Wienerin nach einer viertel Stunde wieder da ist und ihre Schuld begleicht.

Nein, Minou kann nicht anders, sie muss dieses Mädchen sympathisch finden! Aber das nützt ihr nichts, sie selbst kommt sich neben ihr wie die graueste der grauen Mäuse vor.

Er habe die schöne, blonde Signorina schon zweimal am späten Abend draußen an der Straße, ein Stück oberhalb des Hotels heimlich in Sascalas Auto steigen sehen, sagt Salvatore. Anscheinend wolle der Conte nicht mit ihr gesehen werden.
Er selbst würde eine solche Frau keinesfalls vor aller Welt verstecken, wenn er sie denn besäße, fügt ‚il analphabeto‘ nachdenklich hinzu. Im Gegenteil ... stolz würde er mit seiner ‚machina‘ vorfahren, damit ihn alle bewundern könnten, wie er der bella donna die Tür öffnete, wenn er denn eine machina hätte und nicht nur dieses blöde, klapprige Motorrad.
"Ja, ja, Salvatore, ich weiß!", sagt Minou.

*

Sylvia wird ein paar Tage später mit großem Getue am Strand von Mare Luce für Bademode-Reklame abgelichtet.
"Una belezza", flüstern die sizilianischen Angestellten, die sich unerlaubt von der Arbeit in Küche oder Park weggeschlichen haben, um etwas von dem Spektakel mitzubekommen. Ein Vier-Mann-Kamera-Team, eigens aus Rom eingeflogen, dreht nämlich einen Werbefilm über Mare Luce und das neu errichtete Hotel. Sylvia als Hauptdarstellerin. Auch junge Touristen aus dem Campeggio stehen stundenlang herum und schauen staunend zu, wie "la bella bionda" sich leicht bekleidet auf Lavafelsen räkelt, neben Blumenbeeten süß lächelnd Tropenblüten und kleine Katzen küsst, ihren Körper am Strand wollüstig mit Sonnenlotionen verwöhnt.

Im Restaurant wird ebenfalls gedreht. Dort zeigen sich die Kellner von ihrer besten Seite und wollen mit der Schönen auf den Film kommen. Strahlend gustiert Sylvia die sizilianischen Speisespezialitäten, sowie den schmackhaften Wein vom Etna, wobei sie eine Aura von Freude und Eleganz verbreitet, während die Kameraleute sie ständig durch begeisterte Zurufe zu noch höherer Leistung anfeuern ... "Ja, ja, so ist‘s gut, lächle, lächle, meravigliosa, zeig die Zähne, zeig deine schönen Zähne, wunderbar, bellissima ..."
Es herrscht also ein Riesenwirbel.

"Ich glaube, das hat der Conte für sie arrangiert", sagt Regula. "Nur durch seine Beziehungen hat sie das gekriegt, denn soo toll ist sie ja auch nicht ... wie ein Mannequin sieht sie nicht gerade aus!"
"Doch, find ich schon!", widerspricht Minou.
"Sie will Filmstar werden! Das wird sie nie schaffen." Regula sieht die Deutsche triumphierend an, denn sie hat längst ein Haar in Sylvias Schönheitssuppe gefunden:
"Die wiegt mindestens zehn Pfund zu viel, in ein paar Jahren wird sie fett sein wie eine Otter!"

Das sagt Regula wahrscheinlich, damit ich Arme, Dünne, Verlassene mich ein bisschen besser fühlen soll, denkt Minou.


Salvatore hat Recht. Ernando zeigt sich nie mit seiner neuen Flamme. Er vermeidet offensichtlich alles, was auf Vertrautheit hätte schließen lassen.
Das hat er ja mit mir die ganze Zeit über genauso gemacht. Er nimmt, so scheint es, jetzt Rücksicht auf die öffentliche Meinung. Oder auf seine Familie?, vermutet Minou.

*

Es ist Anfang September. Minou verträgt fast gar keine Nahrung mehr. Gäbe es Regula nicht und die freundlichen Köche, die ihr statt des in Öl gebratenen Fleisches, der Rohkost-Salate und des frischen, weißen Brotes – alles Dinge, die ihr anscheinend nicht mehr bekommen – inzwischen Reissuppe, gekochte Kartoffeln, gedünsteten Fisch zubereiten, dann hätte sie ihre Kraft noch schneller verloren.

Es ist nicht allzu viel, was sie da jetzt im ufficio schafft. Sie ist immer erschöpft. Tadel hat sie zwar noch keinen bekommen, glaubt aber, manchmal die missbilligenden Blicke der Chefs auf sich zu spüren. Man ist unzufrieden mit ihr. Das fühlt sie. So etwas bildet man sich ja nicht einfach ein! Die Arbeit wächst ihr über den Kopf. Sie ist nicht mehr der gute Engel des Campeggio, den alle lieben und der locker überall zur Stelle ist, um die Probleme der Leute zu lösen. Sie ist nicht strahlend wie zuvor – wenn sie das überhaupt je war?? Die Gäste mögen sie nicht mehr so gern wie früher, fürchtet sie.
Sie ist matt vor Übelkeit. Von ständigen Durchfällen ausgelaugt, schleppt sie sich nach Dienstschluss erschöpft auf ihr Bett. Ja, es geht ihr miserabel.

Eines Abends sagt sie Don Arione, als er die Einnahmen abholen kommt, dass sie krank sei. Jetzt hat sie nämlich auch noch Fieber.

Hilflosigkeit zuckt über sein narbiges Warangesicht.
"Ich werde aus Siracusa einen Arzt kommen lassen, il più intelligentissimo Dottore in città, un mio buon amico", ruft er pathetisch.

Am nächsten Morgen geht Minou zum erstenmal nicht ins ufficio. Bleibt im Bett in ihrem Ein-Raum-Bungalow. "Und bitte, keinen Besuch, ich bin soo müde!", schärft sie Regula ein. Alles ist ihr zuviel. Sie hat nur noch den Wunsch, zu schlafen.

Ein paar Stunden später kommt Don Arione. Er riecht nach seinem blumig-süßen Duftwasser. Mehr als sonst. Da wird ihr ganz und gar übel. Auch hat er ihr eine langstielige, rote Rose mitgebracht. O Gott!

Wenn Don Arione unter Ausschluss der Öffentlichkeit eine rote Rose verschenkt, wird es gefährlich. Dass der massige Sizilianer Frivoles im Schild führt, sobald er zum Blumenkavalier mutiert, ist dem weiblichen Personal in Mare Luce nur allzu gut bekannt. Sein Frauenappetit ist wahllos. Er hat auch keinen bevorzugten Typus Weib. Mit anderen Worten: er probiert sein Glück so ziemlich bei jeder, die nicht gerade aussieht wie Quasimodo und jünger ist als fünfzig. Besser noch unter dreißig. Am Liebsten sind ihm die Touristinnen. In guter Selbsterkenntnis sucht er sich nicht gerade die Schönsten und Begehrtesten aus. So manche, eher Unscheinbare, nimmt eine Einladung zur Spazierfahrt im brandneuen Luxusauto mit anschließendem, vornehmem Abendessen gern an.

Bei seinen Eroberungsfeldzügen mimt er vor der jeweiligen Dame den in Leidenschaft entflammten, levantinischen Verehrer und lässt gleichzeitig durchblicken, er sei ein bedeutender und reicher Mann hier in seiner Welt. Und das ist nicht gelogen. Er ist der Herr. Wo er hinkommt, wird er auf Schritt und Tritt von seinen Leuten hofiert. "Boss", nennen sie ihn ehrerbietig. Er hat sogar viele Jahre in den USA gelebt.

Sein Auftreten scheint ausländische Frauen sogar seinen abstoßenden Körper vergessen zu lassen.
Dem weiblichen, sizilianischen Personal gegenüber legt er weniger geschliffene Manieren an den Tag. Um sie braucht er nicht zu werben. Hier kann er sich einfach nehmen. Er, der Padrone aller Padroni. Hat eine Frau seinen Appetit angeregt, dann ist es besser, sie legt ihm keine Steine in den Weg ... Minou weiß schon lange, dass das nicht bloß Gerüchte sind. Manches Küchen- oder Zimmermädchen kommt aus desolat armer Familie. Der schlecht bezahlte Job, den sie hier gefunden hat, ist für ihre Angehörigen zum Überleben notwendig.
Dieser krötenhässliche, dazu verheiratete und doch jedem Weiberrock nachgierende Zwei-einhalb-Zentner-Mann steht also jetzt plötzlich in Minous Bungalow.


Er wuchtet seinen riesigen Körper schwer atmend auf den Rand ihrer knarzender Bettstatt, die um ein Haar zusammengebrochen wäre. Jene Rose des Schreckens legt er mit großartiger Geste vor das malade Ding auf die Decke.
Don Ariones Haut ist von der Farbe fahler Oliven, die Augen winzig, sein Gesicht noch nie so ölglänzend gewesen wie heute
"Arione lässt keine schöne Frau im Stich", flüstert er und sieht sie aus seinen kleinen Echsenaugen unergründlich an ... Sie sei doch la sua brava piccola signorina tedesca, meint er, und ecco, werde er dafür sorgen, dass sie auch jetzt, wo sie krank sei, alles bekomme, was sie brauche ... Für die signorina nur das Beste .... Er tatscht nach ihrer Hand, die sie zurückzieht.
"Ist Arione nicht immer gut zu dir gewesen ?", sagt er pathetisch.
Minou nickt.
"Ecco ... Hat er dich jemals schlecht behandelt?
"NO", gibt er sich selbst die Antwort.
"Ecco ... Wie ein Vater ist Arione zu dir gewesen, stimmt‘s? Oder etwa nicht? Allora. Ecco..."
Arione packt plötzlich ihre beiden Hände. Versucht, ihr mit klebrigen, schneckenfetten Lippen einen Kuss auf den Mund zu drücken. Minou wehrt sich vehement.
Er hatte Minou bisher nie belästigt.
Nun zerquetscht er sie fast, grapscht gezielt nach ihrer Brust unter der dünnen Decke und versucht gleichzeitig, seine Zunge in ihren Mund zu wuchten. Da weiß sie, Ernando hat seinen Schutzmantel von ihr gezogen. Hat sie freigegeben für wen auch immer. Vor kurzem noch hätte Arione diese Attacke nicht gewagt!
Doch als sie mit ihren Nägeln in sein feistes Gesicht fährt, dort auch ein paar Spuren hinterlässt und ihm mit fester Stimme klarmacht, dass sie nicht seine "piccola signorina" sei, da gibt er ohne Verwunderung auf. Erhebt sich, behäbig ächzend ... schreitet ruhevoll auf und ab, tut, als sei nichts gewesen. Sie solle sich erst einmal schonen, zwei, drei Tage lang richtig ausruhen, sagt er – jeder Zoll ein besorgter Chef - morgen komme dann der Arzt zu ihr.
"Arione wird nun persönlich zum Restaurant gehen und der signorina etwas besonders Bekömmliches herüberschicken lassen", lächelt er.


Am nächsten Tag ist das Fieber noch höher. Minou ist jetzt so schwach, dass sie nicht mehr aufstehen will oder kann. Auch bleibt sie ungewaschen, denn im Bungalow gibt es kein Wasser. Das Gebäude mit den Toiletten und Duschen ist zirka hundert Meter von ihrer steinernen Hütte entfernt. Es sind aber immer Camper unterwegs, denen sie hätte begegnen können, darunter auch die Jungen, die sie sonst in ihrem uffizio umschwärmen und vor denen sie sich in ihrem kranken, abstoßenden Zustand besonders schämen müsste. Ihre Notdurft verrichtet sie in einen von Regula besorgten Nachtpott aus abgestoßenem, hellblauem Email, den Minou dann, wenn gerade niemand in der Nähe ist, hektisch nach draußen zwischen die Koniferen schiebt, die wie ein stachliger, grüner Schutzwall ihren Bungalow dicht umgeben. Regula leert das Ding später im Dunkeln in die Toilette und spült es sorgfältig. Die gute Regula.


Am darauf folgenden Nachmittag steht plötzlich ohne Vorankündigung "il più intelligentissimo dottore in città‘ vor Minous Bett. Er ist jung, rabenschwarzhaarig, mager, klein ... es geht der Patientin so schlecht, dass sie ihm nicht einmal ins Gesicht sieht. Il Dottore untersucht sie nun, klopft ihr Brust und Rücken ab, wobei er sie ausgiebig befingert ... mehr als nötig. Er gibt ihr eine Spritze ins Gesäß, drückt auf ihrem Bauch herum, viel zu intensiv. Viel zu tief hinunter wandert seine Hand ... sie ahnt, auf was es hinausläuft, macht sich starr wie ein Brett. Er fällt über sie her, so dreckig und fiebrig sie auch ist.

"Amore, amore" und sonstige ‚Koseworte‘ murmelnd, will er sie jetzt mit aller Macht in den Mund küssen. Wo sie doch seit zwei, drei Tagen ihre Zähne nicht mehr geputzt hat. Dem Mann scheint vor gar nichts zu grausen.

Sie verhindert seine Glut, indem sie die Beine anzieht, ihm mit den Füßen fest in den Leib tritt. Mehr glücklicher Zufall, als gekonnte Verteidigung! Aber es wirkt: er schnellt ein Stück zurück und fliegt vom Bett. Er ist ein Leichtgewicht.

Das hilft noch immer nicht. Er naht sich wieder, sie wehrt ihn mit den Händen ab. Fast verrückt vor Wut, vor Hilflosigkeit, ruft sie, dass sie... wenn er nicht sofort aufhöre, es DON ARIONE melden werde. ( Ausgerechnet dem! )Vor Wut und Übelkeit fängt ihr Magen an, zu rotieren, dazu hat sie diese grässlichen Gastritiskrämpfe in den Gedärmen. Sie werde augenblicklich schreien, faucht sie. Laut schreien. Dann könne er aber etwas erleben!
Er lässt wirklich von ihr ab, vielleicht auch, weil ihr Aussehen und ihr Zustand ihm doch nicht so ganz die Sinne rauben! Hastig kramt er ein paar Fläschchen und eine kleine Schachtel Medizin aus seiner brandneuen Arzttasche, legt sie ihr auf die Bettdecke mit Worten, die sie nur noch schwach wie durch Nebelschwaden plätschern hört. Dann wird alles schwarz um sie.
Als sie zu sich kommt, ist Regula bei ihr:
"Jetzt wirst du erst einmal eine gute, pürierte Gemüsesuppe essen, eine ohne Fettaugen, und danach musst du schlafen."


Ein, zwei Tage später geht es Minou etwas besser, Irgendwann erzählt ihr Regula, die Wienerin sei fort. "Nein, nein, sie ist nicht heimgefahren", sagt sie, "die meisten ihrer Sachen sind noch im Zimmer."

Minou weiß es schon, bevor Regula es weiter ausschmückt: Ernando hat Sylvia mitgenommen. ‚Bitte, bitte, aber nicht in unser Hotel an der Bucht!‘, denkt sie traurig.
Eines ist Minou unbegreiflich: Bestimmt hat er doch von ihrer Krankheit gehört?
Dass man so ganz und gar fallengelassen werden kann von einem Menschen, der einem so nah gekommen ist, wie kein anderer, hätte sie nicht gedacht. Wie kann er sie nur unbeschützt diesen Leuten ausliefern?


Später, als Regula gegangen ist, lauscht Minou in ihrem einfenstrigen Bungalow der abendlichen Geräuschkulisse, die von draußen zu ihr hereindringt. Heute ist Tanz. Wehmütig klingen süße Schlagerweisen herüber. Auch helles, hektisches Frauenlachen. Und immer wieder Fetzen der schönsten Musik. Sommermusik: Ge-el- so- mi- na, jene Melodie aus dem Film ‚la Strada‘... und dann:

Arrivederci Roma, come say goodbye to Rome - wobei sie statt "Rom" natürlich gleich "Ernando", denkt, während Verzweiflung und Wehmut sie wild überfluten.

City of a million moonlit places,
city of a million warm embraces,
where I found the ONE ABOVE THE FACES far from home.
Arriverderc‘ Ernando, it's time for us to part ...
doch ich geh‘ nicht fort für alle Zeiten,
überall wird mich dein Bild begleiten...
und ist wieder Frühling, dann werd‘ ich dich wiedersehn ..."


Jetzt stürzen ihr die Tränen aus den Augen.
Wenn die Melodien und die Stimmen der jungen Leute draußen für eine Sekunde stumm sind, ist da noch das Rauschen der See. Minou heult vor bitterem Schmerz.
"Arrivederci Ernando ... come say goodbye to me ...Doch du gehst nicht fort für alle Zeiten ... überall wird mich dein Bild begleiten ..."
O Gott, das Leben tut weh! Ihr Hals, ihre Brust sind schon nass von all den herunter gelaufenen Tränen.

Mitten im Weinen muss sie eingeschlafen sein.
Sie wacht gegen drei Uhr in der Frühe auf.

Zum ersten Mal seit langem spürt sie keine Übelkeit, keinen Brechreiz. Statt dessen fühlt sie sich ... leer. Ein Etwas, eine sonderbare Kraft zieht sie aus dem Bungalow hinaus. In den Zelten, in den Caravans rundum herrscht nun Ruhe, auch im entfernten Hotel und im Restaurant ist alles still. Eine Sternennacht ohne Menschenlaute! Nur die Brandung hört sie an diesem plötzlich sehr fremden Strand.


In Sommerpulli und Short, so wie sie im Bett gelegen ist, geht sie barfuß über den Sand ins Meer. Die Nacht ist wahrscheinlich kühl. Sie spürt es nicht. Sie friert nicht. Sie spürt nichts. Eine rätselhafte Gleichgültigkeit muss ihr vom Herzen in den Kopf gekrochen sein.

Jetzt ist sie im seichten Wasser. Mit federleichten Stößen und angetan mit ihren Kleidungsstücken, schwimmt sie ruhig immer weiter auf dem Mondstrahl hinaus in den Ozean.

Ernando soll um sie trauern. Sie sollen alle wissen, wie sehr sie ihn geliebt hat. Sie würde einfach langsam davongleiten.
Er ist der einzige Mensch auf der Welt, dem ihr Herz gehört. Soviel Süße hatte sie für ihn empfunden. Die Süße hatte sich langsam, schleichend zu Bitterkeit gewandelt. Eine tiefe Klarheit ist jetzt in ihr. Sie fühlt sich sogar wohl. Wohl und ruhig.

Um sie die mondbeschienene, nächtliche Wasserweite, in der sie sich mit kleinen Bewegungen fast nur noch treiben lässt. Das Meer scheint wie ein See, die Wellen sind seltsam flach. Es herrscht große Stille. Auch in ihr.

Doch die innere Ruhe hält nicht lange an.
Sie legt sich auf den Rücken, sieht über sich die kalten, klaren Sterne. Wie gewaltig der Himmel ...

Und kein Trost. Sie ist nie in ihrem Leben so matt gewesen, höchstens vielleicht früh in der Kindheit. Eigentlich will sie sterben, oder nein ... nur alles vergessen.

Spielt sie Sterben, malt sie es sich aus, ohne wirklich daran zu glauben? Lässt sie sich in ein Schicksal treiben, das sie aber vielleicht doch nicht wirklich will ... Tatsache ist, sie gleitet dahin im nächtlichen Wasser und driftet stets weiter weg vom Ufer.

Sie stellt sich ihren kleinen, blassen, noch immer niedlichen Leichnam vor, wie er am Morgen von den Wellen angespült wird, wie sie alle versteinert um sie stehen werden. Ernando wird kommen, sie süß und zärtlich in die Arme nehmen, sein Gesicht an das ihre drücken und ... weinen. Aber dann auch wieder glaubt sie nicht so ganz wirklich an das schöne, tröstliche Bild, denn er ist ja weit weg ... er wird vielleicht erst Wochen später kommen ... wenn sie längst begraben ist ... BEGRABEN - oder im Wasser verwest! - Dieser Gedanke packt sie ... plötzlich luftabschnürend.

Den dunklen Streifen des Strandes sieht sie fast nicht mehr ...
Da kommt die Panik. Sie denkt an Maxl, den kleinen Bruder, der ertrunken ist ... schon spürt sie die Ohnmacht ... "Nein, nein", sie kämpft, rudert mit Händen und Füßen, kämpft, schwimmt ums nackte Überleben, auf der Flucht vor dem schwarzen, dem alles verschlingenden Nichts, nein das Meer ist kein tröstender Mutterschoß, es ist kalt und leer wie das Universum. Es macht ihr Riesenfurcht. Sinnlos brabbelt sie nach Hilfe: sie will ja gar nicht sterben.

Wie durch ein Wunder erreicht sie das Ufer endlich doch. Da versagen ihr die Beine, sie sackt noch im seichten Wasser zusammen. Dort liegt sie, schlotternd vor Kälte, immer wieder von leichten, züngelnden Wellen überspült, im Sand. Liegt da eine Weile wie ein Stück Treibgut.

Komisch ... sie ist jetzt NUR von der EINEN Furcht getrieben, bei Anbruch der Helligkeit von jemandem in diesem Zustand gesehen zu werden. Was für ein Gerede, was für eine Fragerei es gäbe, was für eine Schande!

Sie reißt die letzte Kraft zusammen und kriecht auf allen Vieren zurück zum Bungalow.

Das war der lächerlichste Selbstmordversuch, den es vielleicht je gab, wird sie später denken, nicht einmal ganz ernst gemeint und kein Mensch wird je davon erfahren. Aber dabei wäre ich fast ertrunken.

Die Sache hinterlässt in ihr keine Spuren, außer einer vagen Angst vor der schwarzen Meeresnacht, dem erbarmungslosen Sternengefunkel des Alls ... dem einsamen Sterben.
Diese Furcht wird sie nie mehr wirklich loslassen.

Am Tag nach ihrer nächtlichen Schwimmstunde flammt das Fieber noch einmal auf und steigt bis zum Abend in gefährliche Höhen. Am nächsten Morgen ist es ... weg.

*



Was vorherging:

Minou Kern lebt in Marienstock mit Vater, Stiefmutter und den kleineren Geschwistern und arbeitet als Angestellte auf dem Fernsprechamt in Brückenstadt.
1955 fährt sie - inzwischen 16 Jahre alt - mit einer Jugendreisegesellschaft nach Sizilien.
Das Ziel ist Mare Luce, eine Campinganlage am Meer bei Siracus. Dort lernt sie den Conte Ernando Sascala kennen, einen Mann, den viele für dunkel und undurchsichtig halten. Nach einer ‚halben‘ Affäre zwischen ihnen, geht sie, als der Urlaub zu Ende ist, nach Hause zurück und versucht, weiterzuleben wie vorher. Dann schreibt Ernando ihr einen interessanten, wenn auch kurzen und knappen Brief. Sie, mehr denn je in Liebe entbrannt, setzt alles daran, in seine Nähe zurückzukehren
Bald arbeitet sie in Sizilien im Büro des Campeggio und erlebt ihre Liebe zu Ernando jetzt mit allen Konsequenzen. Eines Tages verlässt er sie für eine neue Gespielin. Minou wird krank.

*



BOTSCHAFTEN VOM POLYGLOTT


In den letzten Wochen vor ihrer Krankheit hatte Minou schriftliche Botschaften von einem Unbekannten erhalten. Sie waren in gesuchtem, fast poetischem Deutsch verfasst und sie fand sie in kleinen Briefumschlägen morgens, wenn sie ihr ufficio öffnete, unter der Tür durchgeschoben. Alle paar Tage bekam sie eine solche handgeschriebene Nachricht.

Es waren schmeichelhafte Dinge, die dieser geheimnisvolle Fremde ihr sagte. Dass er sehr von ihr angetan sei, dass sie ihn bezaubert habe ... das Übliche eben, was ein Mann so hervorbringt, wenn er sich um eine Frau bemüht. Nichts sehne er mehr herbei, als sie kennenzulernen, ihr näher zu kommen, schrieb er, da er auch fühle, dass sie einen wahren Freund nötig habe. Mit ‚POLYGLOTT‘ waren diese Briefe stets unterzeichnet. Das machte die Sache verwirrend. Auch erwähnte der Schreiber hin und wieder, was Minou im ufficio an dem und jenem Tag getan oder erlebt hatte. Das hatte sie irritiert. Er wusste auch sonst über ihren Tagesablauf, über ihre Freuden, Nöte und Sorgen Bescheid, als habe er sie beobachten lassen oder sei selbst in ihrer Nähe gewesen. Er kannte sogar die Geschichte mit Ernando. Wahrhaftig. Darauf ging er verständnisvoll ein, ohne je den Namen des Geliebten zu erwähnen. Und immer wieder war da sein Wunsch, sie möglichst bald zu treffen. Die Briefe hatten keine Absenderadresse, aber eine Telefonnummer. Er harre voller Erwartung Ihres Anrufs, schrieb er.

Minou rief nie dort an.
Sie konnte sich auf ein solches Spielchen mit einem Unbekannten nicht einlassen, zu beladen war ihr Herz. All ihre Gedanken bei Tag und Nacht, alle Gefühle, die ihr Innerstes bewegten, galten einzig und allein Ernando.
.
Dieser Fremde im tiefen Sizilien fügte auch manchmal ein paar Gedichtzeilen von Heinrich Heine oder Goethe - die Liebe betreffend - mit ein, was Minou aber nur peinlich berührte. Er trat selbst nie in Erscheinung. Sie wusste nicht, ob sie das interessant oder verdächtig finden sollte. ‚Polyglott‘ ... sie hatte dieses Wort noch nie im Leben gehört und keine Ahnung, was es bedeutete. Es klang.... unalltäglich. Ungewöhnlich... aber nicht im guten Sinne. Es gefiel ihr nicht. Der Polyglott! Das Wort löste in ihr das Bild einer wendigen Krake aus, die ihre Arme um sie schlingen wollte. "Glott." Sie schauderte. Dieses Synonym, das er gewählt hatte, ließ ihr den Mann nicht sympathisch erscheinen: Glibberig. Gut, sie hatte keine Ahnung, wie er aussah und machte sich doch Vorstellungen ...

Er riet ihr, mit seiner Hilfe das Campeggio zu verlassen, Er würde, wenn sie möge, die Sache mit den Chefs klären und sie aus ihrem Vertrag und aus diesem ebenso anstrengenden, wie schlecht bezahlten Job lösen und aus diesen äußeren Umständen, die weder ihrer delikaten Schönheit, noch ihrem Wesen gerecht würden. Fast musste Minou über seine Einschätzung ihrer Person – wenn sie denn echt war - lachen. Ach nein, es war ihr eher peinlich.

Uneigennützig sei er und nur auf eines bedacht ... ihr zu helfen, da sie es ihrer Schönheit wegen verdiene, schrieb er.
Haha ‚ES IHRER SCHÖNHEIT WEGEN VERDIENE‘ ... sie nahm das keine Sekunde für bare Münze, aber ...
Haben Sie keine Furcht, es wird nicht das sein, was sich die Gesellschaft üblicherweise unter einem solchen ‚Arrangement‘ vorstellt, schrieb er, ich werde Sie nicht berühren, so lange Sie das nicht selbst wünschen. Nur Ihr Freund möchte ich sein. Nichts anderes. Es ist mein heiliger Ernst. Ich kenne Ihr Leid gut, denn ich habe ähnliches erlebt und weiß um den Zustand eines wahrhaft liebenden und unglücklichen Menschen. Nie werde ich Ihnen zu nahe treten, das verspreche ich. Ich möchte Ihnen nur helfen und beitragen, dass Ihr Herz zur Ruhe kommt. Treffen Sie Sich mit mir! Seien Sie mutig. Machen wir doch einen Versuch!'

Natürlich hatte sie keinen ‘Versuch‘ gemacht. Mutig war sie auch nicht. Sie hatte diesen Mann nie angerufen.

*

Aber während ihrer Krankheit und auch jetzt, wo sie nicht mehr weiß, wo ein noch aus - hofft sie auf einmal zaghaft, dass er vielleicht doch ein Halt für sie werden könnte. Denn sie hat so viel Angst vor den Tagen in Mare Luce, die da kommen werden. Obwohl sie schon wieder ins ufficio geht, fühlt sie sich elend und nicht wirklich arbeitsfähig.

Immer noch hat sie keine Ahnung, wer er ist, er, der ein so gutes Deutsch schreibt, ein so fehlerfreies, perfektes Deutsch. Aber sie beginnt doch, mit Respekt an diesen Verehrer zu denken, wenn auch mit wechselnden und unbestimmten Gefühlen, die gewiss nichts mit sexueller Sehnsucht oder Neugier zu tun haben. Dass er kein teutonischer Tourist oder verrückter Traumtänzer ist, das hat er ihr in seinen Briefen zwischen den Zeilen bereits bewiesen. Sie ist SCHON etwas neugierig. Aber sie tut von sich aus keinen Schritt. Die einzige Möglichkeit, ihn zu kontaktieren, wäre ein Anruf bei der angegebenen Nummer. Davor scheut sie zurück. Das erscheint ihr ... unwürdig.

Eines Nachmittags ruft dann ER sie im uffizio an.
"Es wird Zeit, dass wir uns sehen", sagt er. "Ich werde Sie früher oder später ohnehin treffen, denn ich bin einer, der nie aufgibt." Sie hört sein leises Lachen durchs Telefon.
" Dass die Dinge endlich vorangehen, komme ich zu Ihnen ins Campeggio. Und zwar morgen. Falls Sie mich unerträglich finden, brauchen Sie sich nur wegwenden, Sie müssen nicht einmal mit mir reden. Sollte ich Ihnen aber passabel erscheinen, wer hält uns dann davon ab, miteinander zum Essen zu fahren? Das ist doch ein faires Angebot! Ich hoffe, Sie sagen nicht nein. Eines muss ich gleich bekennen - und Sie dürfen nicht erschrecken - ich bin kein junger Mann mehr."

*




DAS TREFFEN


Am nächsten Tag ist er tatsächlich da. Sie haben sich auf dem Gelände von Mare Luce bei Ninos kleiner Bar an der Marina verabredet.
Als er ihr gegenübersteht, fühlt sie augenblicklich die unüberbrückbare Fremdheit, die sie noch bei jedem gespürt hat, der Interesse für sie zeigte und der nicht Ernando war.

Aber davon abgesehen ... ist sie verwundert ... sie hat ihn sich weniger ... erfreulich vorgestellt. Die Art, wie er selbstbewusst auf sie zuschreitet, wie er sich ihr höflich vorstellt, sie nachdenklich und kritisch, zuletzt wohlwollend mustert, macht ihr gleich klar: er ist keiner, der nur ein guter Freund sein möchte ... er wird am Ende das wollen, was Männer eben wollen. Aber genauso gut weiß sie auch vom ersten Augenblick an, dass SIE es ihm nicht geben wird.

Er ist nicht kleiner als Minou mit ihren hohen Absätzen, aber auch kein Stück größer.
Zu Ernando hatte sie immer hoch, hoch aufgeblickt.
Der Angekommene, der sich ihr als Nikos Sakatis vorstellt, ist Grieche, schlank und drahtig, eher an der unteren - für Minou mit ihren 17 Jahren und dem Traumbild des Geliebten im Herzen – gerade noch akzeptablen Größe, die sie einem Mann zugesteht. Obwohl ein wenig höher gewachsen als die Mehrzahl der Sizilianer, scheint er ihr ... klein. Seine Haltung ist stolz, seine Bewegungen sind energisch und harmonisch. Er hatte ihr gesagt, dass er nicht mehr jung sei. Das stimmt. Aber alt wirkt er nicht. Nicht einmal seine Feinde könnten das behaupten. Er sieht weder durchschnittlich, noch unattraktiv aus. Neben der Leuchtgestalt des Geliebten kann er natürlich nicht bestehen. Doch denkt sie keine Sekunde daran, sich von ihm abzuwenden. Nein, er ist keiner, von dem sich IRGENDEINE Frau abwenden würde. BEDEUTEND sieht er aus, hat die Sicherheit derjenigen, die in ihrer Welt erfolgreich sind ... es ist dieses Selbstbewusstsein, diese versteckte Kraft des Willens. Nein, er ist es bestimmt nicht gewohnt, von Frauen weggeschickt zu werden.

"Ich muss noch mit Ihrem Boss verhandeln, damit er Ihnen heute einen freien Nachmittag gibt", sagt der Mann.

Nikos Sakatis Auftritt ist nicht schlecht, als er Minou dann zu ihrem ufficio begleitet. Jovial nimmt er die halbherzigen Begrüßungsfloskeln von Signor Maestroni entgegen, der heute anwesend ist. Der Grieche antwortet nicht viel auf das leutselige Geplauder des Campeggio-Chefs, sondern bittet, recht hochmütig, dass die junge Angestellte für den Rest des Tages beurlaubt werde.

Regula, der Minou von ihrem geheimnisvollen Verehrer erzählt hat, ist auch da und tut jetzt, als arrangiere sie die Reiseandenken auf den Ständern neu, hält aber den Ankömmling stets im Auge, verfolgt seine Gesten, lauscht jedem seiner Worte.

"Du bist ein Glückspilz, er ist ein ‚toller‘ Mann", ist das karge Fazit der Freundin, das sie Minou in einem unbeobachteten Augenblick leise zuraunt.
"Ach, das finde ich überhaupt nicht!" murmelt Minou.

Sie fühlt erst einmal ... Furcht. Er ist einer dieser schnell denkenden, rasch seine Worte formulierenden, energiegeladenen Männer. Sie muss zugeben, dass er durchaus annehmbar ist. Wenn man einmal von dieser schrecklichen Fremdheit absieht, die sie im Inneren fühlt. Er macht eine gute Figur ... ‚Bella figura‘ sagen sie hier in Italien. Das heißt, er hat Stil. Hat Eleganz in seinem Auftreten. Er gefällt ihr recht gut. Sie ist nicht enttäuscht. Sie denkt: Wir werden zusammen essen gehen ... aber sonst ... nichts. Was er da alles geschrieben hat, diese seine Angebote ... die sind peinlich, indiskutabel.
Doch, was ist schon dabei, mit einem Mann zum Essen in ein Restaurant zu fahren? Sie hat über ihn nachgedacht in den letzten Tagen. Ernstlich. Zumindest wird sie seine Vorschläge einmal anhören. Ach, wenn sie doch nur nicht so aufgeregt wäre, geradezu hektisch ... sie fühlt sich auch fehl am Platz, als sie dann , viel zu rasch, neben ihm im Auto sitzt und er den Motor anlässt.

*

Signor Maestroni macht saure Miene zum unverständlichen Spiel. Seine Angestellte - der man übrigens seit vier Wochen den Lohn schuldet - lässt also Arbeit Arbeit sein und fährt am helllichten Tag mit einem Mann davon, den sie offensichtlich nicht kennt. - Il Maestro weiß, wer der Mann ist.
"Schau an, die kleine puttana!" Er schüttelt den Kopf und blickt zu Regula hin.

Nino, den Minou noch schnell herbeigerufen hatte, damit er sie im ufficio vertrete, sagt nichts, zeigt mit seinen Fingern auf altbekannte Weise die ‚Fica‘ und sieht dem wegfahrenden Auto interessiert hinterher. Die Fica zu zeigen ist in Sizilien eine obszöne Geste.

*

Mitte September, ein besonders heißer Tag. Der fremde Mann fährt jetzt mit Minou die schöne Straße an der Küste entlang. Sein Auto ist weiß, geräumig, wahrscheinlich ein sehr teures Modell, sie hat von so etwas keine Ahnung ...
Erst nach einer Weile wagt sie - von der Seite – zu ihm hinüber zu sehen. Alles in seinem Gesicht passt harmonisch zusammen: die dunklen, eher kleinen Augen, die ziemlich ausgeprägten Backenknochen, die breiten, schwarzen Brauen, der harte, energische Mund. Nur nicht die Nase. Sie ist komisch und gleicht, so muss sie augenblicklich denken, der unbeschreibbaren seines griechischen Landsmannes, des Philosophen Sokrates, wie er auf Büsten abgebildet ist. Schon als Schulmädchen war sie vom Aussehen dieses berühmten Menschen entsetzt gewesen. Ein Denker mit so edlen, hehren Gedanken ( von denen sie nichts weiß, die auch im Unterricht nicht erwähnt wurden ) musste innen UND außen schön sein, hatte sie gedacht. Der hässliche Philosoph, obwohl er so tapfer den Schierlingsbecher auf sich nahm, war eine kleine Enttäuschung für sie gewesen.
Also, so ähnlich wie die von Sokrates sieht die Nase ihres Begleiters aus ... breit ... und im Profil mit der Spitze etwas nach oben gezogen. Diese ‚Mängel‘ empfindet Minou besonders drastisch, weil sie die überaus herrliche, edel-ausdrucksvolle und so perfekte ihres wunderbaren Ernando augenblicklich zum Vergleich heranzieht.
Also, der Mann ist trotzdem recht attraktiv, seine Züge weisen auch sonst keine Ähnlichkeit mit der abstoßenden Physiognomie des antiken Denkers auf. Und doch erinnert er sie stark an Sokrates. Warum?

Der Grieche hat gepflegte, sogar weiße Zähne, von denen Minou gleich erkannt hat, dass sie höchstwahrscheinlich alle noch seine eigenen sind – Das bei einem schon fünfzigjährigen Mann!
Interessant ist auch sein Haar, volles, üppig gewelltes, blauschwarzes Haar, das an den Schläfen ein paar breite, graue Streifen aufweist.
Nur diese Nase ... sie ist dem Rest seines Gesichtes überhaupt nicht gewachsen, denkt Minou ... Dennoch wirken die Züge des Griechen anziehend. Angenehm. Das machen seine besonderen, lebhaften, dunklen Augen.

Er trägt eine weiße Leinenhose, ein kurzärmeliges, marineblaues Polo-Hemd. Braungebrannt ist er. Und seine weißen Lederslipper kosten - das wird sie später feststellen - doppelt so viel als sie im ganzen Monat in Mare Luce verdient.

Dann sitzen sie beim Mahl. Sein Gesicht ist hinter der in Sizilien unvermeidlichen, dunklen Sonnenbrille verborgen, die er aber hin und wieder während des Gespräches abnimmt, um ihr lächelnd in die Augen zu sehen.
Nun ja, er ist weit davon entfernt, einen überwältigenden Eindruck auf ihre geknickte Seele zu machen. Aber sie spürt sofort, er ist irgendwie ... leicht zu mögen. Er hat einen Humor, der die eigene Person nicht allzu ernst nimmt, ist witzig, ohne es darauf anzulegen. Sodass Minou manchmal unwillkürlich lachen muss. Und vor allem kann sie mit ihm Deutsch reden. Sie KÖNNTE bei ihm – verbal - mehr Gefühle und Gedanken ausdrücken, als sie bei Ernando je imstande war. Aber das möchte sie ja gar nicht. Das Mahl mit ihm auf der Terrasse am Meer ist für sie aber nicht unangenehm.

Er kann vielleicht ein wirklicher Glücksfall sein, das muss sie ehrlich zugeben. Und ... die meisten Leute werden ihn sogar für einen attraktiven Mann halten. Doch ... der Grieche hat nicht im Geringsten die Ausstrahlung, die Minou bei Ernandos Anblick jedesmal zum Beben brachte, und ihr wild stolperndes Herz aus dem Takt warf. Mit anderen Worten ... er ist ein Nichts verglichen mit dem Herrlichen, den sie auch jetzt keine Minute aus ihren Gedanken vertreiben kann.

Während des Mahles macht ihr Begleiter Vorschläge. Märchenhafte Vorschläge eigentlich. Wie sie jetzt neben ihm auf der schattigen Terrasse sitzt, wie die Meerluft ihre Lungen durchflutet, lässt er sie wissen, er habe da eine hübsche, eine zufällig leerstehende Wohnung, in die könne sie einziehen und er würde natürlich für sie sorgen.

Er unterbreitet ihr also seine Idee für ein Nebeneinander-Leben in getrennten Wohnungen. Bietet ihr gleich das ‚du‘ an. Schon nach zehn Minuten nennt er sie beim Vornamen. Er bestellt kulinarische Leckerbissen, leichte Kost natürlich, denn sie ist ja noch krank.

Minou, verwundert, verwirrt, spürt keine Abneigung. Im Gegenteil: eine seltsame Anlehnungsbereitschaft lässt auf einmal so etwas wie neue Ruhe in ihr wachsen.

"Erst musst Du wieder ganz gesund werden", sagt er, "aber das werden wir auch noch gemeinsam schaffen .."
"Mir geht es schon gut."

"Ich werde dich aus Mare Luce herausholen, mich um dich kümmern, dir ein sicheres, geborgenes Leben bieten. Du wirst Zeit haben, interessante Dinge zu tun, interessante Menschen kennenzulernen", sagt er. Sieh dir doch zumindest die leerstehende Wohnung an. Vielleicht gefällt sie dir. Ich verlange ... Nichts.
"Ach, ich würde das so gern glauben!"
"Ich gebe es zu, auch ich bin kein edler Ritter, kein Troubadour, der Frauen aus der Ferne anbetet", sagt er, " ich möchte natürlich mehr, als nur dein Freund sein ... doch erst dann, wenn du dazu bereit bist. Nie werde ich Dich gegen deinen Wunsch anrühren! Nein, du sollst mir einfach Gesellschaft leisten, mich begleiten ... vielleicht ... wenn du es möchtest. Aber auch das steht dir frei. Willst du, dass wir einen Vertrag machen?"
Das kommt Minou ja nun ganz abwegig vor..
"Ach, das ist doch nicht nötig", murmelt sie verwirrt..

Sie kennt ihn nicht, sie kennt auch niemanden, der ihn kennt, hat mit keinem Menschen außer mit Regula über seine Briefe gesprochen ... trotzdem kommt ihr nicht einen Augenblick der Gedanke, dass er ein Halunke sein könnte.
"Wir fahren jetzt zurück und holen deine Sachen", sagt er nach dem Mahl mit dieser seiner großen Sicherheit und Souveränität. Morgen regele ich die Angelegenheit mit den Leuten in Mare Luce."
Sie nickt. Sie wird tun, was er für richtig hält ...

Als sie später mit ihren Habseligkeiten neben ihm im weißen Auto sitzt, da atmet sie tatsächlich auf. Da denkt sie, dass sie den Griechen mag. Fast vertraut sie ihm schon. Schon wächst er auf zum Fels in der Brandung. Sie fühlt sich fast gesund, voller Neugier und aufgeregt wie seit Wochen nicht mehr. Er ist jetzt da und wird sich um sie kümmern. Ab und zu wendet sie im Auto den Kopf und schaut ungläubig auf sein merkwürdiges, energisches, ihr doch Vertrauen einflößendes Profil. Alles, was jetzt so plötzlich mit ihr geschieht, ist ganz und gar unwirklich! So fühlt sie sich auch ... dem Boden enthoben, frei schwebend ... zu einem Ziel hin, das sie nicht kennt.

*




MINOUS NEUE WOHNUNG

Im dichten Verkehr fahren sie mitten hinein ins hektische, düstere Herz von Catania. Enge, dunkle, hohe Häuserfassaden bilden einen seltsamen Gegensatz zu dem noch immer hellen Sonnenlicht des langsam verlöschenden Tages. In einem engen, einstöckigen Parkhaus lassen sie das Auto stehen. Ein Wächter ist gleich zur Stelle, der sich um den Wagen kümmern wird. Draußen auf der Straße biegt Signor Sakatis mit Minou um eine Ecke und sie stehen vor einem imposanten, alten Gebäude.
Durch ein mächtiges Portal treten sie ein.
Das weite Entré mit dem marmorspiegelnden Boden macht einen prächtigen Eindruck.

Ein Pförtner im Erdgeschoss eilt, als er Sakatis sieht, aus seiner Loge heraus. Mit Überschwang begrüßt er ihn und Minou, die er ‚bella signorina‘ nennt, nach deren Nationalität er gleich neugierig fragt.
Dann Smalltalk: "Unerträglich heute der Scirocco, nicht wahr, dottore... und doch... etwas Gutes hat diese Hundehitze, sie lässt gegen Abend nach, haha ... non è vero, dottore... non è vero, la signorina?"
Minou lacht höflich, Sakatis murmelt: "Si, Si"

"Ach ja, der Wind aus Afrika kann einen Menschen traurig machen!", jammert der Pförtner in rätselhafter Schwermut. Minou ist stolz, dass sie sein Italiano halbwegs versteht.

Sie durchqueren die Halle. Auf dem Marmorfußboden verursachen Minous Stöckelabsätze ein lautes Klackern. Der Pförtner marschiert diensteifrig neben ihnen her.

Hinter schmiedeeisernem Gitterwerk wartet ein Lift, in dessen Türfüllung aus Milchglas als Dekor Blüten- und Rankenmotive wuchern. Der Pförtner drückt einen Knopf, um den Aufzug zu rufen – als ob man seine Hilfe dafür wirklich gebraucht hätte. Er plaudert und gestikuliert mit Sakatis in jener zugleich dramatischen, als auch fast hündisch-unterwürfigen Art, der man hier in Sizilien auf Schritt und Tritt begegnet und an die sich Minou noch immer nicht gewöhnt hat.

"Sitzt er immer dort unten in der Loge?", fragt sie nachher.
"Der Portinaio! Ja, er wohnt mit seinen zwei Töchtern im dahinter liegenden Raum. Ein etwas schwatzhafter Mann ..."

Es ist eine neue Welt, in die Minou nun Einzug hält. Schon das Vorhandensein eines Aufzugs kommt ihr außergewöhnlich vor. Wo dies doch allem Anschein nach ‚nur‘ ein Wohnhaus ist. Nicht einmal das sechsstöckige Amtsgebäude in Brückenstadt, in dem ihre Arbeitsstelle, das Fernsprechamt, untergebracht war, hatte einen Fahrstuhl aufzuweisen.

Die möblierte Wohnung liegt im vierten, zugleich obersten Stockwerk und ist fantastisch.

Auch wenn Signor Sakatis ihr ein viel einfacheres Domizil angeboten hätte, auch dann hätte sie es akzeptiert. Minou hat ihr Schicksal in die Hände des Mannes gelegt, den sie erst seit wenigen Stunden kennt. In ihrem Innern gibt es kein Zurück. Sie ist fest entschlossen, ihm zu trauen. Und es fällt ihr leicht, es kommt geradezu natürlich.

Kaum drei Stunden ist es her, da hatte sie vor den Augen der überraschten Leute von Mare Luce in ihrer Hütte die Habseligkeiten zusammengepackt und Taschen und Tüten mit Regulas Hilfe zum Auto des wartenden Griechen getragen.

Gewissenlos war sie sich SCHON vorgekommen ... und als Versagerin. Eine, die ihre Arbeitgeber in höchster Not im Stich lässt – wo doch das Campeggio gerade jetzt im Touristenansturm aus allen Nähten platzt.

Nichts als eine undankbare Gans sei sie, eine miserable, berechnende Putana ... dabei habe man alles für sie getan ... ALLES ... so hatte mit hochrotem Kopf und sich überschlagender Stimme Don Arione geschrien, den man schnell von einem Arbeitsessen im benachbarten Restaurant herübergerufen hatte.

Nikos Sakatis hatte währenddessen zeitungslesend in seinem Auto gesessen – das er ein Stück vor dem Eingang des Campeggio geparkt hatte - Offensichtlich hatte er die Schelterei nicht mitbekommen, sich aber auch dann nicht geäußert, als der cholerische Padrone zornentbrannt an seine geschlossene Autoscheibe geklopft hatte und mit ihm reden wollte. Ihm hatte der Grieche wortlos, jedoch mit souveräner Handgebärde zu verstehen gegeben, dass er mit dessen Personalproblemen nicht behelligt sein wolle.

Für Minou ist alles sehr peinlich gewesen, denn inzwischen waren auch Nino, Salvatore, Maria und Clara, zwei Küchenmädchen, um ihren Bungalow herumgestanden. Ein paar junge Deutsche waren ebenfalls ziemlich erstaunt herbeigekommen.
Aber ein Zurück hatte es nicht gegeben. Kurz und gerührt hatte Minou sich verabschiedet, auch von dem Carabiniere und dem Wachmann an der Pforte, mit denen sie oft geplaudert und gelacht hatte. Allen hatte die Verblüffung über ihren fluchtartigen Weggang auf dem Gesicht gestanden.
Einen letzten Blick hatte Minou noch auf ihr kahles, verwaist dastehendes ‘uffizio’ geworfen, vor dem zum ersten Mal keine Ständer mit bunten Waren Kunden anlockten und dessen Schalter man mit den metallenen Rollos hermetisch verschlossen hatte.

Im Auto, als sie davonfuhren, hatte Nikos Sakatis Minou von der Seite her ruhig angesehen.
"Die erste Hürde ist genommen, warum lehnst du dich nicht zurück und enspannst dich ..." Sein Deutsch war klangvoll!

*

Minou ist unsagbar erregt, als sie nun in der neuen Wohnung steht. Freudig erregt? Nein, verwirrt. Plötzlich spürt sie, wie ganz und gar fremd ihr der Mann ist ... so exotisch ... undurchschaubar.

Es sind drei Räume, in denen sie in Zukunft wohnen wird. Im weiten, lichtvollen Wohnzimmer eine große, perlweiße Polstergarnitur aus Leder um einen Marmorplattentisch gruppiert, bei der Tür eine fast eben so helle Musiktruhe. Darin eingebaut Schallplattenspieler und Radio. Verheißungsvoll! Viele Platten.

Musik hören, wann immer ich will ... das ist Minous Traum von Kindheit an gewesen!

In einer Vitrine hinter Glas eine Front von Bücherrücken. Heller Marmorfußboden. Das Schlafzimmer mit überbreitem, edlem französischem Bett. Die Wohnung strahlt, als wäre sie gerade neu renoviert worden und die wenigen Möbel vermitteln einen minimalen, klaren Stil, der ihr sehr, sehr gut gefällt.

Und da ist ein geräumiges Badezimmer mit Dusche, Wanne, französischem BIDET, ein smaragdgrün gekacheltes, eigenes Bad, in dem rund um die Uhr warmes Wasser fließt! Herrlich, jeden Augenblicklich abrufbares, warmes Wasser! Ein Bad, das nur ihr allein gehören wird, wie Nikos auf ihre Frage hin erstaunt bejaht. Wie primitiv ist es dagegen in Mare Luce, aber auch zuhause in Marienstock gewesen!

Ihr neues Appartement steht an modernem Komfort den Hotelsuiten, in die Ernando sie mitgenommen hat, in nichts nach.
In dem deckenhohen Spiegel – er umfasst eine ganze Wand der Diele - sehen Minou jetzt aus dunkelgebräuntem Gesicht die lebhaften, schwarzen Augen des Mannes mit einem rätselhaften Ausdruck entgegen. Lieber Gott mach, dass er sein Versprechen hält! Mach dass alles gut geht, fährt es ihr durch den Kopf und sie lächelt zurück ...

Vor dem Spiegel auf einer Konsole hatte sie beim Hereinkommen bereits das Telefon erblickt. Sie springt jetzt hin, immer noch unter Nikos Sakatis beobachtendem Blick und voller Furcht, dass der Mann sich vielleicht nähern und sie anfassen könnte. Aber er steht nur ernst da und sieht ihr zu.
"Wird es mir gehören... ich meine, darf ich eine eigene Nummer haben in meinem Namen und so?"
"Ja, ja!", sagt er, "ich werde das gleich morgen mit der Post arrangieren."
Minou hat noch nie im Leben ein eigenes Telefon besessen.
Es ist alles ... so aufregend.

"Ich wusste, dass dir die Wohnung gefallen würde. Jetzt sage ich schnell in der Garage Bescheid, damit man dein Gepäck heraufbringt!"

*





MINOU IST BEHÜTET UND UMSORGT


Nikos konfrontiert Minou nicht mit seinen Wünschen, von denen er zu spüren scheint, dass sie sie nicht teilt. Nach einer Weile küsst er sie bei der morgendlichen Begegnung väterlich auf die Wange, auch abends oder nachts, wenn er sie in ihre Wohnung zurückbringt, bevor er seine eigenen Wege geht.

Minou hat noch nie einen Menschen getroffen, auf den sie sich so sehr verlassen kann wie auf ihren neuen griechischen Freund. Was er versprochen hat, hält er. Er bietet ihr das leichte Leben eines herumgaukelnden Schmetterlings, ohne Pflichten, ohne Ziel. Aber sie vermisst weder Pflichten, noch Ziel, sondern ist vollauf damit beschäftigt, Tag und Nacht an ‚ihren‘ Heißgeliebten zu denken, Ernando, den Unerreichbaren, ach so Unvergleichlichen! Sie benutzt Sakatis in der Hauptsache als Zuhörer, um ihre hilflose Sehnsucht und durcheinander gewirbelten Gefühle mit jemandem zu erörtern. Als zukünftigen Liebhaber sieht sie den Griechen ohnehin nicht. Im Gegenteil, sie arbeitet hartnäckig daran, ihn zum Komplizen und Eingeweihten ihrer schmerzvollen Ernando-Leidenschaft zu degradieren.

Bevor sie mit Nikos Sakatis das Campeggio für immer verlassen hatte, hatte sie ihm das feierliche Versprechen abgenommen, dass er sie nicht berühren würde. "Nicht, solange du es nicht auch willst", hatte er selbstbewusst hinzugefügt.
"Du wirst mich nie zu etwas zwingen - schwör mir das bei allem, was dir hoch und heilig ist", hatte sie voller Pathos verlangt und er hatte erst nur gelacht, aber da sie nicht locker ließ und geradezu hysterisch darauf drängte, hatte er es ihr geschworen sulla testa ( auf den Kopf ) seiner jüngsten Tochter.

Es bleibt bei väterlichen Wangenküssen zum Abschied, zum Wiedersehen. Sie weiß, sie würde augenblicklich wahnsinnig werden, sollte er irgendwelche Annäherungen der Don Arione- oder Salvatore-Art versuchen. Er darf sich aber stundenlang ihr Gejammer, ihr Geheule, ihre zähneklappernden Ernando-Trauerergüsse anhören.

*

Nikos Sakatis ist geduldig. Denn bei seiner Lebenserfahrung ist für ihn klar, wie die Angelegenheit letztendlich ausgehen wird: das junge Ding wird sich früher oder später immer enger, immer notwendiger an ihn lehnen und zwar mit allen Konsequenzen. Er muss nur abwarten.
Krank hat er sie übernommen, krank ist sie noch immer ... gebeutelt von Erlebnissen, die zu viel für sie gewesen sind, denkt er, und krank an ihrer verworrenen Leidenschaft für Sascala. Er akzeptiert die Kleine mitsamt ihren Problemen, weil sie siebzehn ist, weil sie eine ranke, schlanke Gestalt und ein hübsches Gesicht hat und er in ihr schon die Frau sieht, die er mit wenig Mühe aus ihr wird machen können. Gute Voraussetzungen bringt sie ganz bestimmt mit. Ja, sie gefällt ihm ...

Trotz ihrer überschwänglichen Trauer glaubt er in ihrem Inneren noch genug von der Frische und Regenerationskraft eines jungen Mädchens zu spüren. Tatsache ist, dass sie ihn in ihrer Simplizität amüsiert, aber auch rührt. Deshalb darf sie ihm jetzt vorjammern, darf weinen, sich nach Ernando verzehren und das tut sie mit einer wilden Glut und Ausdauer, die er bisher so noch nie erlebt hat. Sie sind praktisch immer zu dritt. Sascala geistert überlebensgroß in ihrer beider Alltag herum.
Und ... sonderbar ... sie lebt hier geradezu wie auf Abruf. Sie hat noch KEINE persönliche Note zur Wohnung hinzugefügt, auch nach einem Monat nicht. Es steht, es liegt kein einziger Gegenstand von ihr herum.
Noch nie habe ich eine unpersönlichere Bleibe gesehen, denkt Nikos Sakatis, noch nie ein junges Mädchen erlebt, das sich weniger aus einem schönen Ambiente zu machen scheint.
Selbst im luxuriösen Bad hat die Kleine nur Kamm, Seife, Zahnbürste ausgepackt, alles andere hat sie in ihrem Kulturbeutel gelassen, den sie an einem Handtuchhaken aufgehängt hat - mit anderen Worten, sie hat sich in der Wohnung nicht wirklich heimisch gemacht.

*


Minou fühlt sich behütet. Nikos, der natürlich nicht bei ihr übernachtet und sich wie ein höflicher Gast, doch nie wie der Besitzer dieser Wohnung gibt, ist immer für sie da, regelt ihren Alltag, geht stets auf sie und ihre Wünsche ein. Er verlangt für sich selbst nichts.
Das beweist er mir schon seit vielen Tagen, sagt sie sich dankbar.
Es gefällt ihr, wie er sie umsorgt. Mit ihm darf sie auch ständig über ihr Liebeselend reden und das sogar in Deutsch ... eine große Erleichterung! Nur ihm kann sie ihre Leiden, ihre Leidenschaft anvertrauen. Wie einem guten Vater.


Ausschnitt aus einem Brief Minous an Heike in Hamburg:

Liebe Heike!
Ich muss Dir ein bisschen über das Umfeld erzählen. Also: die Gesellschaft Siziliens hat ein Janusgesicht. Die Armen sind unendlich ARM und unendlich, fast schon penetrant demütig dazu, Leute in Lumpen ... viele können nicht schreiben, nicht lesen. Aus Mangel an gesunder Nahrung verfaulen ihnen schon in jungen Jahren die Zähne im Mund.

Überall in Sizilien wachsen aber neuerdings Zeugen des Aufschwungs aus der Erde: Konservenfabriken, in denen Fisch und Frutti di mare gewinnbringend verarbeitet werden, auch neue Hotels, Campingplätze, Fremdenverkehrszentren. Man baut Hochhaus-Siedlungen inmitten und außerhalb der größeren Städte. Das Straßennetz hier im Gebiet des Ätna, wird ebenfalls ständig erweitert.
Denen, die ich durch Nikos hier kennenlerne, geht es gut, sie genießen ihr Dasein intensiv und greifen gierig nach allem Fremden, für sie Exotischen. Sie besitzen alten Reichtum, das heißt, sie haben furchtbar viel Land, das der Staat ihnen jetzt teilweise abnimmt oder wahrscheinlich abkauft. So genau weiß ich das nicht. Aber sie sind irgendwie auch mit dem neuen Aufschwung verbunden. Manche sind gerade dabei, sich prunkvolle Villen zu bauen - Mit Nikos bin ich auf Einweihungspartys gewesen – Viele haben auch noch Paläste, die aber nicht sehr komfortabel zu sein scheinen. Sie leben, wie seit Jahrhunderten, von einer Zahl Hausangestellter bedient und vom niedrigen Volk umschmeichelt. Die Familienehre ist heilig und Scheidung unmöglich. Untreue ist an der Tagesordnung. Besonders die gutgestellten Männer scheinen häufige neue Erlebnisse, du weißt schon - erotische - so notwendig zu brauchen wie die Armen ihr tägliches Brot und ihren Rotwein. Ich kann dir das nur sagen, weil Nikos die Lebensgeschichten der Leute hier gut kennt und mir von ihnen erzählt.

Gestern trafen wir uns unter anderen mit einem nicht mehr jungen Ehepaar zum Abendessen. Die beiden gingen besonders herzlich und respektvoll miteinander um. Das beeindruckte mich. Später erzählte mir Nikos, dass der Herr Baron für seine unzähligen Affären berüchtigt ist und die Gattin sich einen ganz offiziellen Liebhaber hält, nämlich den zwanzig Jahre jüngeren, aufstrebenden XYZ. Das ist aber für das weibliche Geschlecht keineswegs die Regel! Diese emanzipierte Dame kann sich solch eine Extravaganz leisten, weil sie es ist, die in der Familie das Geld hat, sagt Nikos.
Frauen scheinen hier dennoch eher Spielzeuge zu sein - die Ehefrauen ausgenommen – Nützliche Gegenstände, die die Signori auch leicht wieder auf die Seite werfen, wenn sie genug gespielt haben, denn sie sind lebhaft und schnell gelangweilt, diese Männer ... ihre geheimen Affären scheinen neben den Geschäften ihr zweiter Lebensantrieb zu sein. Nikos ist nun einmal ein guter Geschichtenerzähler, der mir immer bilderreich den Hintergrund der Leute schildert, mit denen wir es gerade vorher zu tun hatten. Nach außen hin wird Tradition und Ordnung bewahrt. Nicht anders als bei Euch in Hamburg oder bei uns in Marienstock. Nur ist es meinem Vater und meiner Stiefmutter zum Beispiel Ernst mit dem Hochhalten ihrer moralischen Werte. Sie bringen dafür Opfer. Denke ich zumindest.

Hier im Sizilien der Reichen ... wenn das Leben kompliziert wird, werden die Probleme durch Hochmut, Großzügigkeit und das Zur-Schau-Stellen eines edlen, kultivierten Lebensstils abgemildert. Klug sind diese Menschen und gewandt, nie langweilig. Ernando zum Beispiel ist ein komplizierter Mann ... nie ganz zufrieden und immer auf der Suche nach neuen Erlebnissen. Er ist auch ein guter Vater, der seine Frau und seine Kinder über alles stellt - sagte er zumindest und ich glaube es! - Ach, ich liebe ihn noch immer so unsagbar. Wenn ich ihn nur vergessen könnte! Wobei ich wieder einmal beim einzigen, mich wirklich interessierenden Thema gelandet bin. Verzeih.

Nun Adieu, denn Nikos kommt gerade, um mich abzuholen. Wir sind nämlich mit Freunden von ihm zum Essen verabredet. Ich werde den Brief gleich auf dem Weg beim Postamt einwerfen. Es grüßt Dich herzlich

Deine Freundin Minou.

PS. Nikos sagt gerade, ich solle Dich unbekannterweise auch von ihm grüßen.

*



NIKOS IST ATTRAKTIV FÜR SEIN ALTER

Beim ersten gemeinsamen Besuch am Strand stellt Minou fest: an Nikos Figur ist nichts zu bemäkeln. Breite Schultern, Waschbrettbauch... alles ist da... aber man könnte nicht sagen, dass er viel jünger als fünfzig aussieht. Nein, die Zeit seiner Blüte ist vorbei.

Nikos treibt Sport. Er ist gerade so muskulös und kraftvoll, wie es für einen gesunden, als attraktiv geltenden Mann nötig ist. Brust, Arme, Beine sind mäßig dunkel behaart.. auch das, wie es sich für einen Südländer gehört.
Nikos nimmt es im Club La Serena mit zwanzigjährigen Jünglingen auf, wenn es gilt, von der Klippe eines hoch ragenden Basaltfelsens, Kopf voran, in die See zu springen. Solche Wetten schließt man hier ab. Wer traut sich?
Einmal zum Beispiel ist das Wasser sturmbewegt. Die meisten jungen Männer verzichten lieber. Nikos springt als erster aus zirka fünfundzwanzig Meter Höhe. Er schafft das glänzend, erwähnt es aber später vor Minou ein bisschen zu oft. Da spürt sie, es ist ihm nicht so leicht gefallen, wie er die anderen glauben ließ. Er hat sich wirklich stark zusammenreißen müssen. Sie denkt, dass er es hauptsächlich für sie getan hat. Um ihr seinen Mut, seine Kraft zu beweisen... Sie weiß nicht, ob ihr das gefällt. Neben den goldenen Söhnen seiner Jugendfreunde - warum hält er sich stets lieber an junge Leute, statt an seine Altersgefährten? - unter den herrischen, hochgewachsenen Machos hier am Strand macht Nikos jedenfalls keine herausragende Figur mehr. Eine passable schon, vielleicht auch eine besondere, aber eigentlich ist er bereits aus dem Spiel. Er weiß es nur noch nicht. Es tut Minou weh, wenn er sich mit Männern misst, die halb so alt sind wie er. Obwohl er dabei, seines Humors und seiner Selbstironie wegen eine souveräne, sogar bewunderte Person bleibt. Minou ist manchmal schon stolz auf ihn, doch.... er könnte alles versuchen, sie wird trotzdem nie imstande sein, ihn zu begehren und zu lieben.

*




EIN LEICHTES LEBEN


Nikos Sakatis kümmert sich WIRKLICH um das deutsche Mädchen. Er nimmt sie ganz stark mit in sein Leben hinein.
Aber er arbeitet tagsüber. Während er im Büro ist, will er die Kleine nicht abgeschottet in der Wohnung dem Hamsterrad ihrer stets gleichen Gedanken und Erinnerungen überlassen. Dass sie auf ihn wirkt, wie eine, die mit ihrem Schmerz kokettiert, wird er ihr nie sagen. Sie wird es bestimmt anders empfinden. Für sie sind ihre Gefühle ungefiltert und pur. Das nimmt er ihr ab. Also diese Kleine darf man nicht sich selbst überlassen! Doch es würde ihm auch nicht gefallen, wenn sie sich allein oder in Begleitung früherer Campeggiobekannten in der Stadt herumtriebe. Deswegen holt er sie jeden Morgen gegen halb neun ab und bringt sie in den Club ‚la Serena‘, dem er schon seit seiner Jugend angehört.

*

Was für ein unendlicher Sommer! Minou ist jeden Tag draußen. Auf einer ins Meer ragenden, felsigen Landzunge, auf Lavagestein haben sich die Wohlhabenden ein subtropisches Paradies geschaffen und durch rankenumwobene, weiße Mauern und mächtige Tore gegen die Umwelt abgesichert. Es gibt einen kunstvoll angelegten Garten mit vielen exotischen Kakteen und einen Park mit alten Bäumen und bunter Blütenpracht.
Ein Platz für Auserwählte. Hergelaufene werden streng draußen gehalten.

Eine geräumige weiße Villa dient als Clubhaus. Im Inneren Luxus.
Schwierig, zum tiefer gelegenen Meer zu gelangen. Von Geländern umrandete Stege und Stufen sind in den schwarze Basalt hinein gehauen. Über sie erreicht man den Privatstrand. Nirgends ist die See so tief, so grün und glasklar, nirgends die Unterwasser-Welt so bunt und vielfältig. Ein Paradies für Taucher.
Das ganze Refugium ist ein geheim gehaltener Garten Eden.

Die Morgengäste, nein Mitglieder, meistens Damen, kommen schon zum Frühstück oben in den Speisesaal und genießen danach, tief unten am felsigen Strand, Sonne und See. Sie räkeln sich unter dachbreiten Schirmen auf weißbezogenen Liegen, lassen sich hin und wieder einen Obst-, Gemüsesaft oder kleinen Snack auf silbernem Tablett servieren – dazu müssen die armen Kellner all diese krakeligen Stufen und abschüssigen Wege bewältigen. Die Gattinnen der Wohlhabenden schwimmen im türkisfarbenen Meer, speisen am Mittag in Grüppchen im edlen Club-Restaurant, bleiben dann vielleicht noch zum Bridge- oder Tennisspielen. Denn ein Tennisplatz gehört auch zum Areal.
Ihre Männer – ewig in Eile - schauen höchstens am Vormittag kurz vorbei, nehmen auf die Schnelle in vertrauter Freundesrunde einen Espresso, nur so zum gegenseitigen Hallo-Sagen und sind gleich wieder weg, hektisch auf dem Sprung zu ihren geschäftlichen Unternehmungen.

Auch für die Damen ist der Club häufig nur der Anlaufpunkt für alle möglichen Aktivitäten.
Minou wird - das hat sicher Nikos für sie eingefädelt - von Alessandra Sanpedro, einer Dame um die Vierzig, in ihrem Wagen zu diversen Events mitgenommen: Konzert-Matineen, Lesungen, Ausstellungen ... alle eigentlich ziemlich nebensächlich für Minou und doch Ereignisse, die ‚la gente per bene‘ hier nicht missen mögen - oder dürfen?

*




ALESSANDRA SANPEDRO

Die hochgewachsene, ehrfurchtgebietende Contessa ist eine aus dem engeren Kreis um Nikos ... nein, man müsste eher sagen: Nikos ist einer aus IHREM Kreis. Denn sie ist der Mittelpunkt, um den sich locker, tänzelnd, schillernd viele Menschen in scheinbar gut einstudierten Rollen bewegen. Minou begegnete der Contessa zum erstenmal bei einer Premiere in der Oper von Catania, dann in Siracus beim Autorennen und jetzt trifft sie sie fast täglich auf ‚la Serena‘.

Alessandra Sanpedro ist wegen ihrer Scharfzüngigkeit gefürchtet, eine schicke Signora von der nachtdunklen Sorte mit glattem Rabenhaar und allerkühnster Nase.
Als Sizilianerin ist sie mit ihren zirka ein-Meter-fünfundachtzig zu auffallend gewachsen, um dem hiesigen Schönheitsideal auch nur annähernd nahe zu kommen.

Überlebensgroß, aristokratisch, elegant sogar im Badeanzug, eine schlanke, kraftvolle, sportgestählte, fast busenlose Erscheinung mit seidenglatter, extrem dunkelbrauner Haut. Ihre Gestalt, ihr Gesicht haben alle Attribute eines auffallend gutaussehenden ... Mannes, Adlerprofil und kohlschwarze, kühn blickende Augen inbegriffen ...
Nur hat die Natur aus all den guten, männlichen Zutaten eine Frau gemacht‘, fuhr es Minou beim ersten Zusammentreffen durch den Kopf.
Das hervorragendste Merkmal der Contessa, ihre ungewöhnlich große, aber auch edel geschwungene Nase, ist eigentlich sehr interessant, doch würde ihr Material mindestens für zwei Frauennasen reichen und stünde jedem stolzen Römer perfekt zu Gesicht, wenn er denn die dazu passende Statur und das Auftreten eines Cesare Borgia hätte.

Alessa Sanpedro küsst Minou heftig und ohne Grund plötzlich auf die Wange, als sie einmal gemeinsam im Auto sitzen.

Wangenküsse sind nur in der Öffentlichkeit keusch ... in dieser Zweisamkeit aber für Minou ... sehr verwirrend.

Die Contessa interessiert sich für Minous Lebensumstände und erfährt, dass sie ihre Mutter nicht gekannt hat und früh von zuhause ausgerissen ist. Dass sie wahrscheinlich aber keiner wirklich vermisse.
"Also sind Sie frei und niemandem verantwortlich ... dann kommen Sie doch einfach mit mir nach Rom ... ich lade Sie ein!"
"O je, ich weiß nicht, ob das Nikos gefallen würde!", ruft Minou.
Da müssen sie beide lachen.
"Lieben Sie Sakatis wirklich?", fragt die Contessa. Diese Interrogatrice!
"Ich mag ihn gern ... lo voglio bene."

Alexa nimmt Minous Hand...
"Sie haben so weitverzweigte, unterbrochene Linien ... und die Lebenslinie ... merkwürdig."

Sie reibt und streicht mit dem Zeigefinger über Minous innere Handfläche. Mehrere Male und sehr langsam. Minou ist für solche Berührungen empfindlich und entzieht ihr schnell die Hand.

Minou kann Alessandra in ihr Marienstocker Weltbild nicht einordnen.
Vielleicht hat sie ja in ihr eine neue Freundin gefunden. Die anderen Frauen sind einfach nur höflich zu ihr. In Wahrheit beziehen sie sie aber nur dann wirklich mit ein, wenn Nikos dabei ist. Doch der hält sich tagsüber in seiner Firma auf, kommt erst am späten Nachmittag. Männer gehen lockerer und freundlicher mit ihr um, als die Frauen. Sie fühlt sich noch fremd im Club. Trotz des Luxus, den sie bis zu einem gewissen Grad genießt, verliert sie unter diesen Menschen ihre Unsicherheit und innere Unruhe nicht. Und wird sie eigentlich mit Nikos ganz warm? Auch nicht wirklich! Es geht ihr aber richtig gut. Sie hat sich nie im Leben körperlich so gesund gefühlt.

*




MINOU VERURSACHT EINEN STURM IM WASSERGLAS

"Du hast keine Ahnung", sagt Nikos, als sie ihm einmal von dem Snobismus der Frauen in la Serena erzählt, "du hast keine Ahnung, wie schwierig es gewesen ist, dich vor vier Wochen überhaupt in diesen Verein hineinzubringen! Obwohl ich seit Jahrzehnten dort quasi heimisch bin und einen hohen Beitrag zahle, wollten sie nicht, dass ich dich als neues Mitglied einschreiben ließ. Man begann eine gereizte Diskussion und dann fand sogar eine Abstimmung statt. Stell dir das vor! Keiner hatte dich je gesehen, niemand wusste also, von welchem Mädchen ich überhaupt sprach und doch ereiferten sie sich, hielten dich nicht für würdig, die hehren Hallen zu betreten, wie sie überhaupt niemanden bei sich haben wollen, den sie für gesellschaftlich unebenbürtig halten. Nein, wer ihren Maßstäben nicht entspricht, hat nicht das Recht, das gleiche Meer, die gleiche Sonne zu genießen wie sie.

"Wenn wir EINEM Mitglied erlauben, die – sagen wir einmal - neue Dame seiner Begier einzuschleusen", hatte der Präsident, il Barone Lasi, erklärt, "so werden bald auch unsere ledigen Söhnchen ihre aktuellen Sommerliebschaften hierher schleppen und eine Meute kichernder, hinternschwingender Aupairs und Camerieren wird bald durch die Räume fegen ... Ich wehre also nur den Anfängen!"

"Langer Rede kurzer Sinn", sagt Nikos ironisch, "also ... Mitglied konntest du nicht werden, obwohl ich dich in den sympathischsten Farben schilderte ... sie haben aber einen Kompromiss mit mir geschlossen. Der Barone hat dir ein ungewöhnliches Privileg eingeräumt: bis zum Herbst darfst du auf La Serena vorübergehend GAST sein ... halleluja ... Mehr konnte ich leider nicht erreichen!
Minou bleibt vor Staunen der Mund offen stehen. Nun ist klar, warum man sie an ihren ersten Tagen im Club so gnadenlos beäugt und ein solch peinliches Getue um sie gemacht hat.


Man lädt Minou auf la Serena zu Bootsausflügen ein. Nach lockerem, ziellosem Kreuzen an der Küste entlang, legt die Jacht mit den unternehmungslustigen Leuten an irgend einer Marina an. Lässig zieht man durch Fischerorte, nimmt den Espresso, vielleicht auch ein gemeinsames Mittagsmahl in einer urigen Kneipe oder einem Restaurant, das gerade 'in' ist. Ständig treffen Minous Gastgeber auf alte Freunde und Bekannte. Es herrscht dann der schon beschriebene, exaltierte Jubel ... Wortschwälle, Küsse, Umarmungen. Minou – grinsend - wird mit in das Treiben hineingezogen und spürt, dass sie doch nicht wirklich dazu gehört.

Nach so viel schönem, nützlichem Tun, geht die Fahrt wieder zurück nach la Serena. Am späten Nachmittag ist endlich Nikos da. Er tummelt sich - aus Fitnessgründen - erst eine Weile schwimmend im Meer, nimmt später noch einen Drink auf der Terrasse. Inzwischen haben sich dort Ehemänner und andere Signori nach der Tagesarbeit eingefunden.

Nun kommt die Zeit, wo die Sonne niedrig steht, wo das vorher strahlende Bild von Himmel und Meer wie unter einem matten Dunstschleier vibriert, wo sich Farben sanft ineinander verweben und verschmelzen. Es ist immer wieder wunderbar, von hier oben das magische Schauspiel des zu Ende gehenden Tages zu beobachten.

Doch schon vor Sonnenuntergang hält es die meisten Leute nicht mehr im Club. Da kann der französische Maitre noch so charmant das liebevoll zubereitete Dinner anpreisen, da können im Seewind die schon entzündeten Kerzen der Leuchter auf den damastbedeckten Tischen noch so schön flackern, da kann durch die geöffneten Panoramascheiben der Blick übers Meer noch so grandios sein, nur wenige Mitglieder bleiben, um zu speisen.

Denn man will dorthin, wo das Leben wirklich pulsiert, wo lärmendes Treiben herrscht, will noch mehr sehen und von vielen gesehen werden. Dazu braucht man Öffentlichkeit. Jetzt beginnt das wahre, südliche Leben.
Abends fahren sie erst einmal zum Essen in ein Restaurant, das gerade in Mode gekommen, das heißt, so gnadenlos überfüllt ist, dass man fast aufeinander klebt und sein eigenes Wort nicht versteht, ein Lokal von der Sorte, in dem sich ‚tutto il mondo‘ trifft.

Vor oder nach dem Mahl wird ein Konzert – eine Ballett- oder Theateraufführung besucht, natürlich nur eine kontroverse, höchst umstrittene, um die überall schon im Vorhinein viel Wind gemacht wurde.
Man fährt in mehreren Autos. Fast schon einem kleinen Korso. Nikos braucht stets Menschen um sich. Inmitten von Freunden und guten Bekannten scheint für ihn jeder Tag ein Fest. Und er zieht Minou mit in diese sprudelnde Leichtigkeit des Daseins hinein.
Es ist ihr, als werde sie von einer fremden Musik getrieben, die sie immer schneller in den wirbelnden Tanz zieht. Zeitweise vergisst sie dabei ihren Kummer und genießt die Stunden. Zeitweise.

Man fährt nach Taormina, wo nachts im riesigen, antiken Freilichttheater unter den Sternen vor einer unübersehbaren Menge die Aufführung klassischer Heldenepen eine Sensation ist und auch sie verzaubert.

Man fährt zu Volksfesten in kleine Gemeinden. Aus kirchlichen Ritualen und Heiligenverehrung wird dort ein sehr weltlicher Rummel und ein riesiges Tohuwabohu mit Prozessionen und Feuerwerkszauber, der Tausende Einheimische aus den Häusern und die Touristen von weither anlockt.

Oder Nikos Clique probiert die Schlemmerlokale und ländlichen Edel-Trattorien aus, die versteckt an der Küste hervorsprießen. Alle Welt ist natürlich hochgespannt auf die neuen Einfälle eines mehr oder weniger berühmten Kochkünstlers, der das Lokal eröffnet oder seinen Namen dafür hergegeben hat. Man lechzt nach den köstlichen Gerichten, von denen erste Besucher schon begeistert erzählt haben.
Heute zieht vielleicht eine frisch eröffnete, versteckte Geheimtipp-Trattoria die stets nach dem Besonderen Ausschau-Haltenden magisch an. Morgen fällt man in den gerade eröffneten, auf avantgardistische Weise ganz in Grau und Chrom gestylten Esstempel eines umstrittenen Gastronomen ein, dessen zukünftigen Erfolg Leute wie Nikos und seine Freunde durch Mundpropaganda begründen oder aber durch hämische, vernichtende Kritik schon in den Anfängen abwürgen können.

Minou fängt an, sich jeden Abend – tagsüber auch - elegant zu kleiden, so dass sie sich äußerlich kaum mehr von den Signoras in ihrer Nähe unterscheidet.
Wenn Nikos dabei ist, fühlt sie sich in beinahe jeder Gesellschaft geborgen.

*


Nikos Sakatis weiß: Die kleine Deutsche wird von seinen Freunden beschmunzelt, auch als hübsch, aber ein bisschen unbedarft empfunden. Dass sie seine Geliebte ist, denken die meisten Leute. Und das stört ihn keineswegs.

An Orten, wo man sie beide nicht kennt, hält man sie aber für Vater und Tochter. Mit seinen beinahe fünfzig Jahren, glaubt Nikos, dass er, tennisgestählt und braungebrannt, keinesfalls alt aussieht, aber Minou wirkt eben sehr jung, fast kindlich.

Je länger sie mit ihm zusammen ist, desto unselbständiger, vielleicht auch ‚kleiner‘ wird sie. Wird zu einem ganz und gar angepassten Geschöpf, allerdings zu einem mit gutem Geschmack gekleideten. Darauf achtet er. Es ist sein Geschmack, nicht ihr eigener. Schon ist es so weit, dass sie, ohne seine Geliebte zu sein, kaum mehr einen Schritt ohne ihn tut. Ob sie will oder nicht ... er treibt sie immer wieder aus der Welt ihrer Ernando-Erinnerungen heraus, sie muss neue Dinge mit ihm unternehmen und ist stets in Bewegung.

*

Minou geht es gut. Nikos kümmert sich in jeder Hinsicht um sie. Um ihre materiellen Bedürfnisse. Und um ihr seelisches Gleichgewicht. Oder eher - die Wiedererlangung desselben!
Er bringt sie dazu, ein geregeltes Leben zu führen und achtet darauf, dass sie keine Mahlzeit mehr auslässt. Er, der so gut für sie sorgt, hilft ihr auch, die Sprache des Gastlandes rasch zu lernen.
"Deine kleine Deutsche spricht jetzt schon besser Italienisch als unser Schweizer Kindermädchen und das ist seit sechs Jahren im Land", sagte neulich die Contessa Sanpedro in ihrem Beisein zu Nikos.
Lachen, Beifallsgemurmel. Zustimmende, wohlwollende Blicke hefteten sich auf ihr Gesicht. Und sie spürte wie sie blass wurde und fast schwindlig. Eine solche Aufmerksamkeit ist etwas, das sie nur schwer erträgt.

Na ja, wirklich gut spreche ich immer noch nicht. Ich verstehe zwar fast alles, denkt sie optimistisch, aber sie weiß: nur bei einem einfachen Gespräch kann sie mitreden. Die Grenzen sind eng, darüber hinaus geht null. Die Feinheiten, die Nuancen einer komplizierter werdenden Konversation, begreift sie dann vom Vokabular her nicht mehr. Da hilft ihr auch Intuition wenig.
Wird sie jemals weiter kommen? Große Ansprüche stellt ohnehin keiner an sie und sie bemüht sich nur halbherzig.
"Hin und wieder sagst du etwas recht Witziges auf ‚Italiano‘", foppt Nikos und das ist eher Ironie als Lob.

Aber selbst in Gesellschaft ist Minou stets auf das ferne Bild Ernandos fixiert und nimmt alles andere nicht wirklich ernst. Merkwürdigerweise sieht sie die Zeit mit Nikos wie eine Art Intervall an. Ehrgeiz und der Wunsch, hier in seiner Welt Fuß zu fassen, kommen in ihrem Herzen und Kopf gar nicht erst auf.

*
Der Winter ist die Zeit der Theater- und Opernbesuche, der Einladungen zu Freunden in deren Heim.

Am Mittag des ersten Weihnachtstages findet Minou, die ohnehin von Nikos reich beschenkt worden ist, auf dem Kissen ihres Bettes ein Collier aus dicken, echten Zuchtperlen - die damals wahrscheinlich noch nicht so massenhaft verbreitet waren wie heute -
Nikos hat die Kette kreisförmig hingebreitet, dass sie die ovalen Umrisse eines Gesichtes bildet. Als Augen hat er erbsengroße Perlenohrclips in den Kreis gelegt und als Mund eine taufrische, rote Rosenknospe. Und darunter in winzigen Walderdbeeren – wo immer er die her bekommen hat – der Schriftzug: ich liebe dich - Minou ti amo. Sie ist aus dem Häuschen. Der liebevolle Einfall des sonst so ironischen, spöttischen Mannes, rührt sie.

Im Februar 1957 reisen sie für zwei Wochen nach Cortina D'Ampezzo zum Skifahren. Natürlich haben sie getrennte Zimmer, ist doch selbstverständlich. Dass sie nicht Nikos Betthäschen zu sein scheint, gibt der kleinen Deutschen den Status eines merkwürdigen Geschöpfes, das man irgendwie auch achtet, weil der sonst so Zupackende anscheinend WIRKLICH von ihr angetan ist. Das gibt Minou eine gewisse Würde unter den weiblichen Bekannten des Griechen und das Hotelpersonal behandelt sie, als sei sie Nikos Tochter. Na, wer weiß ... vielleicht hatte er das an der Rezeption angegeben.

Warum sind sie hier? Ach ja, natürlich zum Skisport. Unnötig zu sagen, dass Minou sich nicht einmal auf die Bretter zu stellen wagt, sondern lieber romantische Schlittenfahrten mitmacht oder fest in Decken eingewickelt auf einem Liegestuhl auf der herrlichen Terrasse unter dem Schneehimmel liegt und Thomas Manns Zauberberg und Krieg und Frieden von Tolstoi in sich hineinsaugt, während Nikos und Freunde ständig auf den Pisten sind.

Es ist angenehm, so gut versorgt und so unendlich traurig zugleich, über die eisstarrende Winterlandschaft zu schauen bis hin zu den majestätischen, weißen Gipfeln ... immer mit der Sehnsucht, der ungestillten Sehnsucht nach Ernando im Herzen. Minou badet in Wehmut und frischer Bergluft.

*




MINOU SCHREIBT EINEN ROMAN

Wieder zurückgekehrt nach Catania treibt es Minou mit Macht dazu, ihre unsterbliche Liebe in einem ebenso unsterblichen Roman zu verewigen und zwar auf ITALIENISCH! Die deutsche Sprache klingt ihr für ein solch grandioses Unterfangen zu schwerfällig!

Den bass erstaunten Nikos bestürmt sie so lange mit Bitten und Betteln, bis er ihr aus seiner Firma einen Stapel weißer Blätter, sowie eine sperrige Olympia-Schreibmaschine bringen lässt!
Sie richtet sich in der Schlafzimmernische eine Arbeitsecke ein. Nikos steuert noch einen funktionellen Bürostuhl und eine edle Tischlampe bei, damit sie nur ja gesund sitzt und sich auch nicht die Augen verdirbt. Für ein angemessenes Ambiente zur Ausübung ihrer schriftstellerischen Tätigkeit ist also bestens gesorgt.

Aber ... über mehr als zwei Seiten Text und einen Papierkorb mit zerknüllten Din A 4- Bögen kommt sie nicht hinaus, weil ihr Italienisch doch nicht wirklich wunderbar ist ... und obwohl lediglich mit zwei Fingern tippend, haut sie einen Flüchtigkeitsfehler nach dem anderen in die Tasten. Das geht an die Nerven. Aber na ja ... das Problem wäre innerhalb kurzer Zeit mit etwas Schreibpraxis zu beheben. Was tausendmal schlimmer ist: ihr fehlen einfach die Worte – in welcher Sprache auch immer - um ihre hehren Gefühle FÜR und die weltbewegenden Erlebnisse MIT Ernando in gebührende, künstlerische Form zu gießen. Sie muss es sich endlich eingestehen: ihr fehlt die Gabe.
Statt ihre Sehnsucht, ihre Erinnerungen, in Literatur und damit ewige Schönheit umzusetzen, leidet sie weiter passiv und bodenlos vor sich hin.

Gut, dass es Nikos gibt. Er reißt sie wieder ins Leben zurück, wenn sie vor Kummer über den Verlust ‚ihres‘ Ernando in den Zustand eines heulenden, hilflosen Bündels abzusacken droht.
.
Minou will nicht darüber nachdenken, was früher oder später auf sie zukommen wird, wenn Nikos eines Tages mehr von ihr haben möchte als nur ihre köstliche Gesellschaft. Soviel ist klar: das EINE, worum es im Leben geht, wird nie zwischen ihnen sein können. Nein, es wird dazu nie kommen! Weil er dem Vergleich mit Ernando - dem Herrlichen-- natürlich nicht standhalten kann.

"Aber ich mag ihn gern", sagt sich Minou trotzig. Und sie will ihn nicht verlieren, ihren einzigen, innig Vertrauten. Ihn, der ihr alle Steine aus dem Weg räumt.

*



Was vorherging:

Minou Kern lebt in Marienstock mit Vater, Stiefmutter und den kleineren Geschwistern und arbeitet als Angestellte auf dem Fernsprechamt in Brückenstadt.
1955 fährt Minou - inzwischen 16 Jahre alt - mit einer Jugendreisegesellschaft nach Sizilien.
Das Ziel ist Mare Luce, eine Campinganlage am Meer bei Siracus. Dort lernt sie den Conte Ernando Sascala kennen, einen Mann, den viele für dunkel und undurchsichtig halten. Nach einer ‚halben‘ Affäre zwischen ihnen, geht sie, als der Urlaub zu Ende ist, nach Hause zurück und versucht, weiterzuleben wie vorher. Dann schreibt Ernando ihr einen interessanten, wenn auch kurzen Brief. Sie, mehr denn je in Liebe entbrannt, setzt alles daran, in seine Nähe zurückzukehren
Bald arbeitet sie in Sizilien im Büro des Campeggio und erlebt ihre Liebe zu Ernando jetzt mit allen Konsequenzen. Eines Tages verlässt er sie für eine neue Gespielin. Minou wird krank.

Sommer 1957. Die achtzehnjährige Minou lebt jetzt als Gast und ‚ständige Begleiterin‘ des Griechen Nikos Sakatis, ihrem ‚uneigennützigen‘ Verehrer in Catania.

*

INTERESSANTE ABENDEINLADUNG

"Minou, möchtest du am Montag mit mir zu einem Fest in Taormina gehen", fragt Nikos Sakatis.
"Och, ich weiß nicht."
"Komm, versuch es. Es wird eine schöne Sache!"
Na ja, ein bisschen Lust scheint sie schon zu haben. Nun muss er nur noch sehen, wie er sie möglichst gut präsentiert, damit sie vor seinen Bekannten besteht und einen vorteilhaften Eindruck macht. Und da ist die Gelegenheit, das kirschrote Kleid auszuführen, das er ihr vor kurzem gekauft hat, diesen Hauch von schmiegsamem, weich fließendem Organza.
Sie kaufen noch ein paar passende Riemchensandaletten mit sehr hohen Absätzen und ein winziges Täschchen aus rotem Seidensatin.

Und eines verrät er ihr am Vorabend des Festes, etwas, das er besser für sich behalten hätte: "Ernando Sascala wird auch da sein."
Er hätte es wissen müssen: die überspannte Kleine schnappt jetzt vor Aufregung fast über. Erst schreit sie: "Nein, dann gehe ich nicht hin, ich schaffe das nicht!" Dann scheint sie sich mit dem Gedanken, ihn wiederzusehen, mehr und mehr anzufreunden und zu überlegen, wie sie ihren ‚Heißgeliebten‘ vielleicht durch besondere Eleganz doch noch beeindrucken und wieder für sich gewinnen könnte ...
Das rührt Nikos beinahe.

"Das rote Kleid ziehe ich nicht an, es passt nicht zu mir. Die Farbe ist viel zu hart, zu schrill. Das bin nicht ich. Aufgetakelt sehe ich darin aus ... und alt!", jammert sie, "bitte Nikos ... es wird IHM nicht gefallen!"

"Ich glaube, es interessiert Sascala kaum, ob du ein Kleid trägst oder dir einen Kartoffelsack umbindest, weil er den Inhalt ja ohnehin kennt."
Mein Gott, denkt er, das hätte ich nicht sagen dürfen. Ihr eben noch lebendiges, glühendes Gesicht zerfällt geradezu in Verwirrung, in Traurigkeit.

Nach manchem Hin und Her bleibt er in der Frage ihrer Garderobe eisern: Sie wird das rote Kleid tragen.

"Nikos, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen", jammert das kleine Nervenbündel am Morgen des Festes.
"Du legst dich nach dem Mittagessen noch ein bisschen hin!"

*



UNTER STERNEN

Taormina. Abend. Ein Palast hoch über dem Meer, ein weiter Park. Das Gartenfest.
Runde Lampen hängen wie große Ballons im Pflanzendickicht, werfen Inseln grüner Helligkeit in das dämmerige Blättergewirr, tauchen uralte Steineichen und Palmen in ein vages, fluoreszierendes Licht. Und überall diese hohen Büsche mit Wolken von kleinen weißen Blüten, die schweren, süßen Duft verbreiten ... Jasmin.

Aus barocken Becken sprühen Brunnen ihre Wasserfontänen zum Himmel. Von grünem Blattwerk umschlungen, posieren hoheitsvoll Nymphen und Götter aus Marmor.

Nach und nach fahren am Portal des Palazzo die hochherrschaftlichen Limousinen vor.
Kies knirscht unter den Schritten der illustren Gäste. Im Schein der Gartenlaternen: die Reichen, die Schönen, die aus den großen, alten Familien! Unbeschwert wie Kinder, die sich eine Weile nicht gesehen haben, stürmen sie aufeinander zu. Küsschen hier, Küsschen da! Im Park ist ein hoher, heller Pavillon errichtet. Dort servieren Butler und weiß behandschuhte Diener die Drinks und die Häppchen.

Lebhaft wird Nikos von Freunden und Bekannten begrüßt und umringt. Seine unbekannte Begleiterin nimmt man ohne große Überraschung zur Kenntnis. Er, der Grieche, der geschiedene Mann, kann sich solch eine Extravaganz leisten und irgend ein nettes, junges Ding herbringen. Ein Sizilianer könnte es nicht. Ein Sizilianer wäre auch niemals geschieden. Doch die Kleine scheint noch nicht recht angekommen an Signor Sakatis Seite. Sie wirkt ... schüchtern.

Eigentlich dürfte sie nicht hier sein, nicht in einem exclusiven Kreis wie dem ihrigen, denkt die eine oder andere Signora. Ein Mädchen obskurer Herkunft, eine vorübergehende, austauschbare Gespielin des unternehmungslustigen Sakatis! Offensichtlich eines dieser abenteuersüchtigen Flittchen, wie sie hier neuerdings als Touristinnen oder Aupairs getarnt, auftauchen und nicht die Absicht haben, bald wieder heim zu fahren, sondern versuchen, sich an die Seite gut gestellter Herren anzudocken. Nein, so ... irgendeine, und gäbe sie sich noch so dezent und wohlerzogen, gehört nicht hier her. Man sollte den Anfängen wehren. Nur ... Nikos Sakatis scheint sich wenig darum zu scheren. Er präsentiert seine Errungenschaft lachend der Meute. In dieser Nacht zeigt man sich denn auch als gut aufgelegte, tolerante Gesellschaft. Man verärgert den Griechen nicht gern.

Sakatis hat Minou bei der Hand gefasst. Sie lächelt. Immerhin. Zaghaft. Ihr Kleid leuchtet. Das Kleid aus roter Seide.

Die Herren zeigen sich denn auch von der Kleinen angetan, hätten gern mehr über sie gewusst. Man redet versuchsweise Englisch mit ihr. Und Französisch. Deutsch spricht hier keiner. Man stellt Wohlwollen zur Schau, testet sie, ob sie hell und schlagfertig ist, wirft ihr Scherzworte zu wie Bälle. Aber sie ist nicht schlau genug, diese aufzufangen und lässig zurückzuschicken. Nun ja ... einer Ausländerin, noch dazu einer so jungen, sieht man ein bisschen geistige Langsamkeit gern nach. Das Handicap könnte auch bloßer Ausdruck der Sprachbarriere sein.

Angenehmes sagt man Nikos leise: "Sie ist hübsch. Wie eine Deutsche wirkt sie nun aber gar nicht, eher wie eine kleine Französin ... impeccable."
Wie immer, wenn ein neues, weibliches Wesen in ihre Sphäre tritt, schätzen sie es nach seinem flüchtig erkennbaren Wert ein. Ist es jung und dazu ‘bellina’ – was man von Minou an diesem Abend sagen kann - dann löst sein Erscheinen in den Köpfen der Signori angenehme Reize aus. Für die Damen signalisiert aber der Anblick einer so unbekümmert Hereingeschneiten ... Gefahr. Da muss man auf der Hut sein!

Als der Grieche sich für eine Weile entfernt, ist seine Kleine schon von einer Schar plaudernder Herren umringt. Inmitten dieser Leute spaziert Minou bald über die nächtlichen Parkwege.

*


Betäubend duftet der Jasmin. Wunderbare Klänge tönen bis in die Tiefe der Gärten, bis zu Minous Ohren. Auf der Freitreppe vor dem Schloss, auf erhöhtem Podium, spielt ein großes Orchester. Ein junger, schwarzer Sänger, ein schöner Musik-Star singt:
‚Only you‘.
Später wird dieser Song der Platters unendlich oft und überall auf der Welt zu hören sein. Minou aber hört ihn in dieser Nacht zum ersten Mal.

Only you
can make this world seem bright ...
only you, can light the darkest night ...
only you and you alone can thrill me like you do ...


Only you ...

Als Farbtupfer schimmern die Kleider der Frauen aus den Schatten der Bäume heraus, bodenlange ‘Alta Moda‘-Roben. Jeder grelle Ton ist in dieser merkwürdigen Beleuchtung ausgelöscht ... nur Pastelliges: Rosa, Resedagrün, Lavendel im Licht der Lampen.
Doch, als Minou ihnen dann vorgestellt wird, den Trägerinnen der kostbaren Kleider, da sind immer diese runden, südlichen Augen, die sie ansehen, diese hochmütigen, herablassenden und leicht ironischen Blicke. Damen sind das, wuselig wie Eidechsen ... quecksilbrig, betont sachlich ... so robust, unsentimental – denkt Minou, so ... von draller Erdhaftigkeit, auch wenn sie schlank und ätherisch wie Modedivas aussehen. Aus ihrer Haut dringt der Duft von Dior-Parfüm. Von ihren Lippen kommen gewagte Worte, leicht hingesagt, aber immer auf Wirkung bedacht. Redeschwälle ... frivol ... und kaskadenhaft perlendes Gelächter, durchtönt von spitzen Ausrufen der schrillsten Bewunderung, wenn sie das Aussehen eines gerade hinzugekommenen, weiblichen Gegenübers in höchsten Tönen bejubeln. Ihre Stimmen wie die durchdringenden Schreie exotischer Vögel.

Die unstet schweifenden Blicke der Frauen sind immer auf der Suche nach Augenresonanz, denkt Minou, nach Blicken, die vielleicht an den ihren hängen bleiben. Alle Sinne haben sie wie Antennen ausgefahren, ständig suchen sie Nähe. Doch wie Königinnen in ihrem Reich schreiten sie dahin auf hochhackigen Abendsandaletten aus Florenz und Mailand. Auch die nicht so Grazilen unter ihnen sind immer noch stolz, elegant, kostbar. Angestammter Reichtum scheint ihnen tiefe Lebenssicherheit zu geben.
Die meisten Leute sind Angehörige des Adels – hat ihr Nikos im vorhinein gesagt. Minou sieht sie, lernt sie natürlich NICHT kennen, obwohl man ein paar gnädige Worte mit ihr wechselt ... und immer wieder die gleichen Namen hört sie, die sie aus dem Club kennt. Weit verzweigt sind die ‚edlen‘ Familien.

Nikos hat Minou von den Gepflogenheiten dieser Leute erzählt. Die großen Familien fühlten sich Jahrhunderte lang als Elite und mögen noch immer keine Eindringlinge in ihrer geschlossenen Gesellschaft.
Es soll aber vorkommen, dass ein kindsköpfig gewordener alter Esel von Patriarch, seine schöne ‘Sekretärin’, oder ein junger, lediger Spross aus altem Geschlecht seine unstandesgemäße Geliebte, die er irgendwo an einem Ferienstrand aufgegabelt hat, stolz zu einer dieser Soireen einschleust, um sie, strahlend aufgeputzt, den neidischen Blicken der Freunde zu präsentieren.
Solche hergelaufenen Weibchen, wenn sie sich denn als Mitbringsel eines Signore zu jenen exquisiten Einladungen verirren, mögen noch so hübsch, angenehm und witzig sein ... unter den Leuten, die 'zählen', sind sie nicht erwünscht und man macht das ihren Gönnern unmissverständlich klar. Beim ersten Mal drückt man ein Auge zu. Da ist man korrekt und recht freundlich zu solch einem 'niederen' Geschöpf, das nicht einmal ahnt, WAS für ein Stein des Anstoßes es ist. Sollte es beim nächsten Mal aber wieder erscheinen, ganz gleich in wessen hochrangiger Begleitung, so bleiben ihm die Tore erbarmungslos verschlossen, erzählte Nikos. Wirklich geschnitten werden hier natürlich nicht nur alle unstandesgemäßen Eindringlinge, sondern auch die hochwohlgeborenen, ledigen Mädchen, die eine unmoralische Affäre, das heißt, eine ohne Aussicht auf Heirat, unterhalten.

Und die Signori aus Adelsfamilien? Sie frönen ihren Lastern im Verborgenen, hat Nikos gesagt.
Ha ja, als ob Minou das nicht wüsste.
Diese Männer suchen sich elegante, vom Wohnort möglichst weit entfernte Treffpunkte, wenn sie mit weiblichen Wesen techteln, die nicht ihre Eheliebsten sind. Eine vom Gatten vernachlässigte, sich nach Zuneigung sehnende Dame aus den eigenen Kreisen kann das Objekt ihrer Betätigung sein. Oder eine gefallene Bürgertochter, die ihr Jungfernhäutchen an einen Nichtswürdigen verlor, der sie dann sitzen ließ. Nur eines bleibt einer solchen poveretta – die ohnehin nicht mehr geheiratet wird - dann übrig, zu verwelken oder die geheime Geliebte eines großzügigen, wenn auch verheirateten Mannes zu werden.

Woher weiß Minou das jetzt so genau? Nun, Nikos erzählt gern hin und wieder Dinge über Leute, mit denen sie in Berührung kommen.

Eine rechtschaffene, handfeste cameriera ist den meisten Signori für eine Affäre ebenfalls gut genug, vorausgesetzt, sie ist ‚abbastanza giovane‘ und ‚buona‘. Buona bedeutet so viel wie: mit Knackarsch und Riesentitten ausgestattet.
Die nordisch-exotisch-blonden Touristinnen sind jedoch bei weitem die Begehrtesten. Ihr Image als liebestolle, fröhliche, unzimperliche Prachtweiber lässt sizilianische Männerträume sprießen. Aber echte Casanovas sind erst dann wirklich zufrieden, wenn der Erfolg ihrer Pirschjagd von den Mit-Machos auch gebührend zur Kenntnis genommen und gewürdigt wird. Denn ein südlicher Mann kann nicht froh sein, wenn er eine schöne Frau erobert hat, aber niemand davon weiß und niemand ihn um sie beneidet.

Also ... eine leichte, vergnügliche Gespielin sucht sich ein streunender Latino-Familienvater als Lebenselexier. Deshalb darf eine Partnerin ruhig ein ziemlich oberflächliches Wesen sein. Ein richtiger Sizilianer mag seine Geliebte üppig gebaut - doch bitte nicht fett – quietschlustig, lieber bauernschlau als intellektuell, wobei er Kultiviertheit und Geist aber bei SOLCHEN Frauen hoch verehrt, die für ihn als Lustobjekte NICHT in Frage kommen. Für eine Affäre brauchen die hiesigen Don Juans eben eine Handfeste, nicht allzu Sensible oder Nachdenkliche, kein Kräutchen-rühr-mich-nicht-an. Auffallend soll die Geliebte sein. Ideal wäre eine rosig-weiße Haut und das Haar so blond, dass es beim Hinsehen in den Augen weh tut. Bemalt will er sie, grell, laut und nur ja nicht demütig. Zuhause hat er ja die friedliche Gattin, die ‘Santa Donna’, die nicht aufmuckt, die sanft schaltet und waltet und nur für ihn und die Kinder da ist.

Der Hurenwunsch geht also geheimnisvoll um im Kopf jedes echten sizilianischen Mannes. Doch an keine von der billigen Sorte denkt er dabei, an keine, die für alle zu haben ist, nein, eine ganz persönliche Hure muss es sein, eine, die viele verrückt macht, aber nur ihm allein gehört. Ehrensache ist es, ein solches Prachtstück, wenn er es denn gefunden hat, auch mit allen Annehmlichkeiten zu versorgen.
Doch er schämt sich seiner Schwäche ganz fürchterlich vor la Mama, vor dem Priester, vor Gott. Der Wohlgelungenheit seiner Ehe – eine Auflösung ist ohnehin unmöglich - tun solche Nebenwege keinen Abbruch ... so sagen solche Männer zumindest.


Nun ist die ‚Twilight-time‘ vorbei, die sonderbare Stunde der friedlich alles einlullenden Abenddämmerung, wo das Licht so vage und unwirklich wurde. Die Sterne sind auf einmal da. Die Nacht.
Minou ist überrascht, wie freundlich alle Leute zu ihr sind. Etwas gönnerhaft vielleicht. Vielleicht auch ein wenig distanziert.
Von den Club-Bekannten aus La Serena sieht sie hier niemanden. Und trotz der Leichtigkeit, mit der die anderen Gäste sie akzeptiert haben, spürt sie doch die kühlen, neugierigen Blicke, fühlt, wie sie von kritischen Augen gnadenlos taxiert wird.

Dabei hält sie schon die ganze Zeit nach Ernando Ausschau. Er wird bald vor ihr stehen. Es kann gar nicht anders sein. Und das macht ihr Angst. Vielleicht wäre es besser, sie würde ihm nicht begegnen. Ein Glas Champagner, von einem beflissenen Kellner ihr auf dem Silbertablett gereicht, hilft kaum gegen den hämmernden Herzschlag.


Auf ihrem Weg durch den weitläufigen Park mit einer lebhaften Gruppe, die sie in ihre Mitte aufgenommen hat – Nikos ist schon wieder verschwunden – begegnen Minou aparte Frauen mit großen, strengen Nasen, leidenschaftlichen Augen, schmalen Lippen. Würdige Matriarchinnen samt 'Hofstaat'. Immer wieder bleiben die Leute verzückt stehen, begrüßen sich theatralisch, aber auch liebenswert neugierig, wirklich am anderen Schicksal Anteil nehmend.

Nie hat die Deutsche so interessante, alte Damen gesehen. Wahre Matronen. Ihre feinknochigen, scharfgeschnittenen Gesichter haben Frische und Jugend verloren, doch nicht die herbe Schönheit. Bedeutend sehen sie aus, als ob das Erlebnis durchlittener, tiefer Liebesgeschichten und bis zur Neige ausgekosteter, vielleicht sogar berühmter Affären sich für immer in ihre Züge eingegraben hätte. Würde, Glanz ihres Auftritts, die Beachtung, die sie noch immer in dieser Gesellschaft finden, scheint das Alter nicht geschmälert zu haben.

Unter den Laternen auf den weißen Kieswegen des Parks, im fluoreszierenden Grün des Pflanzendschungels wandeln mit ihren Verehrern die Töchterchen aus bekannten Familien. Mädchen, kaum älter als Minou, aber selbstsicher und bis in die Fingerspitzen kokett! Weithin tönt ihr unbeschwertes Lachen!
Sie kommen aus einer sonnenhellen Kindheit, sind in ihren Clans behütete Prinzessinnen, denkt Minou, denen kann nie anderes als Großartiges im Leben begegnen!
Noch jüngere weibliche Geschöpfe halten sich scheu an Mütter oder Tanten und werden doch schon öffentlich herumgezeigt und von der Männerwelt kritisch und hochinteressiert gemustert. Vielleicht ist das so etwas wie ein Heiratsmarkt hier ...
Auf dieser Fete laufen die ‚Latin Lovers‘ zu Dutzenden herum. Es ist der gleiche, zähe Menschenschlag, der ihr in den Bossen und Mitarbeitern in Mare Luce begegnet ist, nur hier auf ‚gehobenerem Niveau‘.
Wenige dieser Herren sind groß gewachsen oder auf den ersten Blick attraktiv. Doch sie wirken elegant in ihren hellen Anzügen, mit ihrem leichten, energischen Gang, den rasch ins Theatralische ausufernden Gesten. Ob sie geistvoll sind, weiß Minou nicht ... zumindest sind sie einfallsreich und charmant. Was sie sagen, hört sich immer irgendwie ... bedeutend an. UND ehrlich. Doch sie sind alle Schauspieler, denkt sie. Jetzt freundlich zu mir ... beim nächsten Mal aber darf Nikos mich nicht einmal mehr zu solch einem Fest mitbringen - hat er gesagt - es sei denn, er heirate mich vorher oder wir verlobten uns offiziell ... haha. So streng ist hier die Moral.


Wie ein Blitzschlag ist es, als Minou später am Abend auf SIE trifft ... und SIE erscheint ihr reizender und echter als die anderen Signoras in dieser Runde. Minou bleibt beinahe das Herz stehen, als sie beim Vorstellen den wohlbekannten Namen hört. SIE ist Lucia Sascala, la Contessa, Ernandos Frau. Steht da im hautengen, weißen Kleid, hoch und schlank, ein ganzes Stück größer als der Durchschnitt der hiesigen Damen. Sie wirkt sehr jung. Dabei muss sie längst über Dreißig sein.

Lucia wurde gerade bei ihrer Ankunft mit den bekannten spitzen Schreien schrillen Entzückens von der Gesellschaft in Empfang genommen, und Küsschen hier, Küsschen da, in die Runde gezogen. Sie stimmt nicht ein in die Umtriebigkeit der anderen. Aus Italiens Norden stammt sie - hat Ernando Minou einmal erzählt - aus den Bergen, wo die Menschen nicht so überschwänglich sind. Tatsächlich redet sie wenig, das Theater um ihre Person scheint ihr nicht zu gefallen. Aber offensichtlich ist auch sie eine, die Aufsehen erregen will, die Wert legt auf ein kostbares Äußeres. In beeindruckender Robe ist sie gekommen, in trägerlosem, rückenfreiem, weißem Abendkleid und mit einem prunkvollen Perlen–Edelstein-Collier um den Hals. Ihr weiches Haar, kinnlang, voll, seidig ... es scheint, dass sie es weder färben, noch tönen lässt, denn ein solch unschuldiges, glänzendes Lichtbraun bringt nur die Natur hervor.
Das ist sie nun endlich, von der Ernando nie hatte reden wollen, über die Minou jedoch durch die Leute des Campeggio schon viel erfahren hat ... la Contessa Sascala.
Ihre erste und vielleicht letzte Begegnung!

Lucia mit ihrer samtigen, leicht gebräunten, leuchtenden Haut, den fast kindlich zarten Armen, dem makellosen Busen, dessen süßen Ansatz sie sehen lässt und ihrer gertenschlanken, auffallenden Silhouette! Wie ein Hollywood-Star steht sie da unter etwas weniger schönen, aber ebenso hoch gestylten Ladies. Lucia ... selbstbewusst und unnahbar. Sie hat ein perfektes, ernstes Antlitz, das kaum geschminkt und auf eigenartige Weise einprägsam ist.
Minou zittert vor Überraschung. Dass sie außergewöhnlich sei, hatte man ja schon gesagt ... aber soo! Lucia, kühl wie Schnee, ist bald schon von südlichen Männern umschmeichelt! DIE allseits anerkannte Schönheit scheint sie hier zu sein, man sieht es an der Art, wie sie alle, jung und alt, in ihre Nähe strömen. Für die Leute im Campeggio war sie die Heilige, Unnahbare, la Santa Donna ... Nun muss Minou überrascht feststellen, dass sie auch noch wie eine Mode-Diva aussieht. Lucia, la Contessa Sascala.
Vom eigenen Mann mit Wissen der Öffentlichkeit ständig betrogen – was eigentlich den erotischen Wert einer Frau mindern müsste, denkt Minou vage - wird sie dennoch von ihrer Umwelt bewundert und begehrt. Sie muss wieder an Salvatores Worte denken. Rätselhaftes Sizilien!

Wo denn der Göttergatte bleibe, fragt jemand erwartungsvoll. Dort drüben sei er von Bekannten aufgehalten worden, sagt Lucia und zeigt lässig irgendwo hin in die Gartennacht.
Beim bloßen Erwähnen SEINES Namens fällt Minou fast um. Fühlt sich auf schreckliche Weise benommen. Macht das die Magie dieses rauschhaften Ambientes oder der übermächtige Geruch des Jasmin - überall wuchert er scheinbar wild. Vielleicht der Champagner? Sie hat doch erst zwei kleine Gläser davon getrunken! Ihr ist merkwürdig zumute und sie hat nur den einen Wunsch ... bald in Ernandos Dunstkreis sein zu dürfen, nein, sich in seine Umarmung fallen zu lassen ...
Irgendwann muss er sich doch endlich zeigen! Doch nein!
Aber Nikos ist immer einmal wieder in ihrer Nähe und Garant dafür, dass man sie freundlich behandelt.

*


Das Mädchen im kirschroten Kleid ist linkisch wie eine, die noch nicht viel herumgekommen ist. Sehr genau wird sie von den Herren in Augenschein genommen mit dem rein männlichen Blick, der sich nur um Körperformen schert, diesem sezierenden Blick, den sie heimlich zu Hause bei ihren Kinderfräuleins und Aupairs auch benutzen.

Das Vorhandensein der Deutschen löst bei den südlichen Machos also die üblichen Signale aus, die immer dann auftreten, wenn ihnen in ihrer Welt eine unbekannte und einigermaßen anziehende junge ‘Sie’ über den Weg läuft. Gleich kommen Gedanken auf an ein opulentes Abendessen, eine versteckte Nobelherberge, an fremde Mädchenhaut, ‘bella ragazza’ eben und – flüchtiges - ‘fare l' amore’.

Ob Sakatis neue Begleiterin vielleicht doch ein bisschen leichtlebig und frivol ist? Männerfreunde ziehen den Griechen zur Seite, fragen augenzwinkernd, wo er denn so etwas Nettes, Frisches aufgetrieben habe und ob's dort noch mehr von der Sorte gäbe. Nikos lacht.

"Typisch Sakatis," murmelt weiter weg eine Dame, "die ausländischen Hürchen, die er in letzter Zeit anschleppt, werden auch immer jünger."
"Ach ... Nikos ist ein Faun." Ihre Nachbarin grinst.

*

Minou ist verwirrt. Dunkle Männer - glatt, elegant - lächeln jovial, küssen ihr die Hand ... Das hochmütige Benehmen, die selbstsicheren Gesten und allzu unverfrorenen Blicke machen sie unsicher. Nikos lässt sie bald wieder allein. Geschäfte – gli affari! – Er vertraut sie fremden Leuten an und entschwindet mit einigen Bekannten über einen Gartenweg in den Eingang des Palazzo.

Mehrere Herren bemühen sich um Minou. Ein rabenschwarzhaariger, bleicher, schmächtiger Knabe, ein Grafensöhnchen - wie sie später von Nikos erfährt - starrt sie aus finsteren Augen an, sagt nur wenige Worte, tanzt mit ihr und weicht nicht mehr von ihrer Seite. Aber zwei ältere, etwas stattlichere Herren sind auch um sie besorgt und überlassen sie dem Kerlchen nicht. Man trägt erlesene Happen und Erfrischungen für sie herbei, sagt ihr schmeichelhafte Worte. Um Tänze wird sie übrigens von vielen gebeten. Sie hält die ganze Zeit verstohlen Ausschau nach Ernando ... Es wäre soo schön, wenn er die Aufmerksamkeit bemerken könnte, die ihr die männlichen Gäste hier schenken. Doch der Ersehnte ist nicht da.

Sie glaubt, dass die Leute, die sie heute kennenlernt, sie gern mögen. Das stimmt, denn auf gelangweilte, südliche Machos wirkt eine unsichere Kleine immer anregend, besonders in einer romantischen, sternenklaren Nacht wie dieser. Auch Frauen sind ihr nicht ganz feindlich gesonnen, denn sie ist tatsächlich eine Scheue, Linkische, nicht selbstbewusst, nicht Herrin der Lage. Bescheiden hält sie sich zurück und das passt so gar nicht zu dem interessanten, roten Kleid, in das der Grieche sie gesteckt hat, zu den roten Abendsandaletten mit den übertrieben hohen Stöckelabsätzen, und der kunstvoll aufgesteckten Frisur.

Obwohl ein paar unentwegte Gänseriche sie umschnattern, scheint sie von schlichter ( oder ernster ) Natur - denken einige Frauen - keine Verführerin, keine wahre Gefahr ... Sie spielt ihre Reize nicht aus. Vom Flirten versteht sie offensichtlich überhaupt nichts. Erst recht ist sie keine, die - um hier Furore zu machen - mit Witz und Verstand wuchert. Wie könnte sie auch, die Ärmste! Ein naives, ziemlich unbedarftes Ding ... aber nett anzusehen ... das ist am Ende die allgemeine Einschätzung und erlaubt sogar strengen Matronen, sie ‘abbastanza simpathica’ zu finden.

Über Mangel an interessierten Machos kann Minou sich während Nikos kurzen Abwesenheiten nicht beklagen. Dass sie anscheinend dem Griechen gehört, stiftet manchen Signore erst recht dazu an, bei der Kleinen auch SEIN Glück zu versuchen.
Beim Tanzen - sobald der eine oder andere Partner sie dann auf dem sanft beleuchteten Rondell für sich allein hat - will er gleich erfahren, wo sie wohnt ... doch wohl bei Sakatis, oder? Und was sie so treibt. Sie sagt nichts. Wenigstens ihre Telefonnummer solle sie verraten, meint der oder jener mit Schafsgrinsen. Gibt sie aber nicht her. Ist sie wirklich nicht auf Kontakte aus? Das sind sie doch alle, diese nordischen Weibchen. Oder tut sie nur so unnahbar?

Seriös wirkende Herren mittleren Alters bieten Minou ihre ‘Freundschaft’ an. Sie würden diskret für sie da sein, flüstern sie beim Tanzen ... also, wenn sie Hilfe brauche. Jederzeit. Vielleicht bald, vielleicht einmal später. Man wisse nie, was das Schicksal ... Der eine oder andere versucht, ihr seine Karte zuzustecken, die sie nicht haben will und zurückweist. Nein, diplomatisch ist sie nicht.
Die lächelnden Gesichter, die unsteten Blicke ihrer Tänzer lassen sie schaudern.

Minou selbst hat keine Ahnung, dass sie in dieser Nacht recht geheimnisumwittert dasteht. So eine Hergelaufene, die ganz und gar nicht interessiert scheint an der angebotenen Bekanntschaft und es ihnen auch noch offen zeigt! Wie eine Glücksritterin auf Männerfang benimmt sie sich, weiß Gott, nicht. Auch ihr Verhältnis zu Nikos Sakatis ist wahrscheinlich erst ein kurzes und kein wirklich enges. Aus der merkwürdigen Distanz, die man zwischen ihr und dem griechischen Geschäftsmann spürt, glaubt der eine oder andere sogar herauszulesen, dass sie vielleicht nicht - oder noch nicht - seine Geliebte ist.

Keinem von ihnen ist klar, wie diese Kleine tickt ... Wohl eine nette Irre mehr unter der Sonne!

*




IN DER NACHT IST ERNANDO PLÖTZLICH DA

Irgendwann in der Nacht sieht Minou auf einmal Ernando, der bei einer Gruppe steht, auf die Nikos, sie selbst und ihre Begleitung gerade zusteuern.
Da zuckt der stechende Schmerz durch ihren Leib. Verloren, möchte sie nur eines ... sich in seine Arme stürzen. Weiß wird sie wie ein Leintuch, ein Schwindelanfall wirbelt sie fast von den Beinen ... o Gott.

Ihre spitzen Fingernägel krallt sie tief ins Fleisch der Unterarme, bis diese bluten. Durch den Schmerz - das hat sie gelernt - kann man die Kreislaufschwäche etwas vertreiben. Nikos fasst sie bei der Schulter, wie um sie zu stabilisieren, er stellt ihr Ernando vor, als habe sie ihn nie gekannt ... Minou hört, wie der Heißgeliebte ein paar Worte zu ihr sagt, kühle Worte, gleichgültige auch? Sie versteht nichts ... tiefer krallt sie ihre Fingernägel ins eigene, blutende Fleisch: "O Gott, lass mich bitte nicht umfallen!" Sie hängt sich an Nikos Arm, Halt suchend. Und Gott hat ein Einsehen. Die Schwäche geht halbwegs vorüber.

Weil sie nicht weiß, wohin jetzt mit den bebenden Händen, hält sie sich an ihrem mit Glitzerperlen bestickten Abendtäschchen fest. Vor dem Wegfahren hat sie es in der Wohnung noch schnell mit ihrem besonderen Duft ausgestattet, ihrem chyprischen Gemisch von Parfüm und Sonnenöl, von dem sie nur den Bruchteil eines Tropfens innen ins Lederfutter gerieben hat. Für Ernando hat sie es getan. Tatsächlich ist dieser Duft nun, wo sie das Täschchen öffnet, ganz gut wahrnehmbar.

Es ist der Geruch, den ER immer so liebte. Einmal war nach dem Schwimmen im Meer das Öl noch auf ihrer Haut vielleicht auch in der Haut gewesen. Er hatte ihr gesagt, wie sehr er ihren Geruch liebe. Und dann hatte er sie wild und erregt genommen mit all dem Duft auf ihrem Körper. Beim Gedanken an diesen Nachmittag wird sie schon wieder matt und schwindelig.

Ernando sieht Minou an ... dieses Lächeln aus dem Hintergrund seiner Augen. Blickt danach aber ruhig und ebenso interessiert in andere Gesichter und mit dem gleichen Lächeln. Da ist sie bereits wieder nahe am Umfallen.
‚Nur eines würde mir jetzt helfen‘, denkt sie... ‚mich vor dir niederzuwerfen, damit du mich aufhebst und festhältst.‘
Aber nein ... sie gibt sich stolz, abweisend. Was er kann, schafft sie auch.

Es ist nicht wahrscheinlich, dass er im Trubel ihre von den eigenen Fingernägeln ruinierten, blutenden Unterarme bemerkt hat. Niemand bemerkt sie. Das nächtliche Laternenlicht, vom Blattwerk der Bäume gedämpft, wirft gnädig verhüllende Schatten.

Wenn nur ein Wunder geschähe und er sie zum Tanzen auffordern würde, nun wo die Musik von neuem beginnt! Da würde sie für eine Weile, obwohl den Blicken der anderen nicht entzogen, so doch nahezu unter ‘Ausschluss der Öffentlichkeit’ bei ihm sein können, ihn für ein paar Minuten wieder spüren. Er würde sie halten, in seinen Armen bergen. Er würde sie fest und sicher über die Tanzfläche führen, sie brauchte sich nur anzulehnen. Vor allem würde sie endlich mit ihm sprechen können. Er aber auch mit ihr. Er MUSS und WIRD doch jetzt mit ihr tanzen !

Nein ... er fordert eine andere auf, eine, die gerade neben ihm steht, offensichtlich eine gute Bekannte, so wie alle Leute in diesem Kreis sich gut zu kennen scheinen.

*

Ein Uhr nachts. Nikos ist wieder einmal verschwunden. Minou gerät - noch immer von dem jungen Grafen und den zwei unentwegten Herren umgeben - in eine Runde, wo auf weißen Liegestühlen und Hollywood-Schaukeln die Gäste in gemütlicher Runde miteinander plaudern, sich an Drinks und Häppchen erfrischen und vielleicht noch mit halbem Ohr der fernen Musik und dem Sänger lauschen. Wie Seerosen im silbrigen Mondlicht, schimmern die hellen Kleider der Frauen über dem blaugrünen Hintergrund des Rasens. Mit der Nachtbrise weht schon wieder der starke Duft aus den blühenden Büschen herüber und in diesem Augenblick erklingt jene merkwürdige Weise, ‘Lisbon Antigua.’ Wehmut ... sie denkt an die Souterrain-Bar und an die Nacht, in der sie dieses Lied zum erstenmal hörte. Und wie Ernando sie, die Verliebte, damals aufgefordert und mit ihr getanzt hatte, während die schwarze Lady mit der Blues-Stimme sang. Ernando hatte öfter mit ihr getanzt, als mit den anderen Mädchen vom Campeggio und nach einer Weile nur noch mit ihr. Das war der Anfang von allem gewesen. Vor einem Jahr.
‘Lisbon Antigua.’ Auf einer Liege sitzend, das Geplauder eines ihrer Herren im Ohr, versucht sie der Stimme des Sängers zu lauschen, der von der Terrasse her die portugiesischen Worte zärtlich durchs Mikrofon in die Weite schickt.

Da erblickt sie plötzlich Ernando. Seine hohe Gestalt. Seine Augen sehen sie an ... o magic moment.

Aber ... er hat sie wahrgenommen und kommt nicht zu ihr. Auf einem Teller trägt er Party-Happen, die er für eine in Minous Nähe sitzende Dame geholt hat und die diese mit Dankbezeugungen entgegennimmt.
Ist es Zufall, dass er gerade jetzt hergekommen ist, wo sie ihrer beider Lied spielen? Vor lauter Aufgewühltsein stürzen Minou die Tränen aus den Augen. Wie gut ... es ist dunkel hier.

Ernando setzt sich dann - allerdings ein Stück von ihr entfernt - zu der lautstark diskutierenden Gesellschaft. Was geredet wird ... Minou weiß es nachher nicht mehr. Kein Wort behält sie.

Ernando. Unter der diffusen, nächtlichen Beleuchtung sieht man nur seine Statur und seine Bewegungen, irgendwann blitzen seine Züge aber auf, als er der Dame neben sich Feuer gibt, und wieder ist er so dunkel, so unvergleichlich anders als alle übrigen Männer ... Minou muss sich eisern zusammenreißen, dass seine Nähe ihr nicht schon wieder die Selbstdisziplin raubt. Sie könnte sich auf ihn stürzen.
Ihr ganzes Körpersystem ist in schreiendem Aufruhr. Sie bebt. Sie versucht, ruhig seiner Stimme zu lauschen und kann ihre Erregung doch nicht unter Kontrolle halten.

Rundum sind die Einzelgespräche verstummt. Man hört IHM zu, der er seine Worte wie scharfe Klingen in die Konversation wirft. Die anderen Diskutanten sind unbedeutend geworden, nur seine gewichtigen Worte zählen. Sein markanter Mund ist schwer, ist herrisch, hart. Was er sagt, klingt so klar, dass auch Minou akustisch keine Silbe verloren geht. Und doch versteht sie kaum etwas. Er redet schnell. Minou hört den merkwürdig heiseren Klang seiner Stimme. So rasch kann sie nicht denken, wie er spricht. Kühl blicken seine Augen. Die Frauen in der Runde beginnen mehr Charme zu versprühen, spielen ihre Rolle plötzlich koketter als zuvor. Für ihn tun sie es, denkt Minou.

Sie weiß nachher überhaupt nicht, wovon das Gespräch gehandelt hat.
Am Schluss, bevor er geht, wendet der Conte sich ihr auf einmal zu. Natürlich bemerkt er nicht, wie taumelig sie wird.
"Du siehst gesund aus. Es geht dir gut, nicht wahr", sagt er.
Er und Nikos Sakatis seien alte Bekannte, privat hätten sie sich leider aus den Augen verloren, doch jetzt ... Und warum solle man sich nicht einmal treffen... zu viert... er würde Lucia mitbringen. Ein Abendessen, ein Theaterbesuch! Vielleicht könne man noch ein paar Freunde dazu einladen, schlägt er vor.
"Das wäre schön", sagt Minou bebend und fasst es nicht, dass er hier bei ihr steht.
"Ich werde auf alle Fälle mit Nikos telefonieren ... ja wir sollten tatsächlich etwas gemeinsam unternehmen." Sie glaubt, ein begehrendes Glitzern in seinen Augen zu sehen, wie er sie so anblickt, bevor er wieder durch andere Gäste von ihr getrennt wird.

O Gott, er hat sich ihr zugewandt. Er hat sie nicht vergessen! Er hat klar Kontakt mit ihr gesucht. Das macht sie glücklich. Auch wenn er jetzt schon wieder weg ist. Sie fühlt, wie die Musik plötzlich in jede Faser íhres Körpers strömt und auf einmal kann Minou ‘wirklich’ tanzen.

Sie wirbelt von einem Arm in den anderen, Männer reißen sich geradezu um sie, denn sie ist schön und sie glüht. So vergeht die Nacht. Jeder spürt ihre plötzliche Lebendigkeit und Energie, alle Welt scheint ihr zuzulächeln.

Ab und zu sieht sie auch Ernando in der Nähe oder Ferne stehen und glaubt, durch halb geschlossene Lider zu bemerken, wie sein Blick manchmal auf ihr ruht.


Als er und Lucia sich verabschieden und das Fest verlassen, stiehlt Minou sich heimlich unter einem Vorwand weg von ihrem sonderbaren, jungen Grafen, der noch immer eng bei ihr ausharrt, läuft weiter auf versteckten, von dichter, dumpf-feuchter Vegetation überwucherten Wegen, wo sich hohe Schlinggewächse um altes Gemäuer ranken. Sträucher und Bäume schimmern unwirklich im Abglanz weit entfernter Laternen.

Da sind Marmorbänke und breite Balustraden aus Stein. Und davor fällt die Küste hunderte von Metern jäh und steil ab zum Meer hin. Schimmernde Nacht. Tief unten funkelt die See, Naxos und die weite, mondbeschienene Bucht. Pescatori fischen nach Tintenfisch, dem Calamar. Eine Armada von Booten mit gelben Lampen gleitet langsam wie eine lautlose Prozession auf dem Wasser dahin. Lichtgeflimmer liegt über dem Meer. Die Kronen der Wellen glitzern wie flüssiges Gold und über allem funkeln die Sterne.

Von den Basaltklippen unten am Strand ragen die Umrisse der Indischen Feigenkakteen bizarr zum heller erscheinenden Himmel. Bald wird hier draußen der Tag anbrechen. Minou sitzt lange da, eine Stunde, vielleicht zwei, bis die fahle Dämmerung heran kriecht. Das Orchester spielt schon längst nicht mehr.

Nikos, der sie sucht, findet sie erschöpft auf einer der steinernen Bänke.
"Ich habe es gewusst", sagt er, Du konntest ja nirgends anders sein als an diesem Ort."
"Es ist alles so unwirklich", sagt sie.

"Du bist einfach müde, hast wie eine Wilde getanzt ... Wir müssen heimfahren", sagt er, "komm!"
Mit festem Griff legt er ihr das Pelzcape um die Schultern.
Da erst spürt sie die Morgenkälte.

Nun wird sie viel Zeit haben, um in Sternennächten zu träumen. "Der Etna schläft nie", hatte Ernando einmal zu ihr gesagt. Ihre einsame Liebe schläft auch nicht! Die Gedanken laufen immer im Kreis und drehen sich nur um Ihn. Sie wird einzig dafür leben, ihn wiederzusehen. Wann aber? Bald? Morgen? Übermorgen?

*




PHYLLIS IST VERLASSEN WORDEN


Minou wartet. Wann kommt endlich der Tag, an dem Nikos Sakatis ihr sagen wird, dass Ernando angerufen hat, um das Versprechen jener Taormina-Nacht einzulösen!

Sie wohnt nun schon lang in dem Appartement in Catania, das Nikos Sakatis gehört. Auch heute fahren sie, wie jeden Abend, zum Essen hinaus.

Hoch über dem jonischen Meer auf einer Felsenterrasse in Taormina, im ‚Timeo‘ werden sie heute speisen. Minou ist schon früher mit Ernando dort gewesen. Das Timeo ist ein ehrwürdiges, geschichtsträchtiges Hotel, vor langer Zeit erbaut, mit kostbarer, antiker Einrichtung und einer atemberaubenden Aussicht. So ziemlich alle bekannten Gestalten aus Kultur und Gesellschaft sind im Verlauf von fast eineinhalb Jahrhunderten irgendwann hier eingekehrt, heißt es ... aber das sagen die Portiers immer, ganz gleich, wohin man in Sizilien kommt und dann zählen sie auf ...

Das Timeo liegt also hoch oben im Zentrum der alten Stadt mitten in einem wundersamen Park voller exotischer Gewächse. Tief unten leuchtet das Meer. Mit einer Gondelbahn – die Haltestelle ist nicht allzu weit entfernt - können Gäste bequem hinunter zum Strand fahren. Das Restaurant des Timeo ist für seine lukullischen Köstlichkeiten berühmt.

Minou wird heute einige neue Freunde von Nikos und auch seinen Bruder, Ari, kennenlernen, der aus Athen gekommen ist.

Sie war vor dem Wegfahren ängstlich gewesen, dachte, dass sie ‚furchtbar‘ aussah, hätte am Liebsten wieder ihr Gesicht mit pastigem Make-up überkleistert, um die Unvollkommenheiten auszublenden...
Doch Nikos sagte, so, wie die Natur sie geschaffen hätte, sei sie gut. "Außer Lippenstift brauchst du nichts."

Das Kleid, das Minou trägt – klein, schwarz – ist eng geschnitten, rücken- und schulterfrei, mit spaghettidünnen Trägern. Ihre schmale Taille, die langen Beine, der gerade noch schicklich genug verhüllte Busen als Blickfang... o ja, ihre Figur wird ihr helfen, ein wenig selbstbewusster aufzutreten!
Zu ihrem Outfit gehört heute ein kurzes, weißes Nerzjäckchen. Einen Pelz müssen alle Frauen zu dieser Jahreszeit bei sich haben, denn man will in der Nacht auf Terrassen herumsitzen und am Meer spazieren gehen. Die kühle Brise ...

Aber dieser Abend ist lau.
Das Jäckchen hängt Minou über die Stuhllehne. Ihre Füße stecken in silbernen Sandaletten mit schmalen Riemchen und sehr hohen Absätzen. Bei sich hat sie ein Abendtäschchen, kostbar, aus silbernem Leder, eines, das so dünn und so klein ist, wie ein BRIEFUMSCHLAG. Außer Puderdose, Minitaschentuch, einem kleinen Kamm kann man nichts hineinzwängen ... Aber diese Täschchen sind nun einmal in Mode.

Bei der Tischgesellschaft, die sich inzwischen gut gelaunt auf der Terrasse eingefunden hat, sind auch Antonio und Stella Agnoni, ein mit Nikos befreundetes Ehepaar. Stella ist, Gott sei Dank, wenigstens eine unter so vielen Fremden, die Minou ein wenig vertraut ist. Man kennt sich vom Club her.

Es ist die Zeit zwischen dem Fünf-Uhr-Tee und der langsam einbrechenden Dämmerung. In der Abendsonne leuchtet tief zu ihren Füßen das Meer. Süß sind die spätsommerlichen Ausdünstungen des Parks um sie her.
Zypressen und Palmen, Oliven-, Zitronen-, Mandelbäume wachsen hier und weinrote Riesenblüten sind vielleicht gerade dabei, im üppigen, rankenden Grün langsam in Schönheit zu verblühen.

La elegantissima Estella sitzt an der kostbar gedeckten Tafel neben Minou und unterhält sich ab und zu demonstrativ mit der Kleinen, wie um zu zeigen: ‚Ganz gleich, was ihr anderen hier von Nicos neuer Dulcinea haltet, ich nehme das junge Ding an und behandle es ebenbürtig.

Ari, der Beauftragte für italienisch-griechische Geschäftsverbindungen ( hat Minou das jetzt richtig verstanden? ) Nikos Bruder also, ist ebenfalls nett zu ihr. Na ja ... nett, wie man vielleicht zu einer Waise oder einem Findelkind sein würde um das man sich jetzt etwas kümmern MUSS: ein bisschen nachsichtig, doch freundlich. Der Minister rafft sogar ein paar einsame Brocken Deutsch zusammen, um ihr eine Freude zu machen – aber was heißt, ‚ein paar Brocken‘ – er bietet dem Mädchen Hoch-Literatur und zwar in äußerst korrekter Form:

"Ein Männlein steht im Walde", rezitiert er mit seiner warmen, sinnlichen Stimme:

"Ein Männlein steht im Walde
ganz still und stumm.
Es hat von lauter Purpur den Mantel um.
Sag, wer mag das Männlein sein,
das da steht im Wald allein....
mit dem purpurroten Mäntelein,
mit dem purpurroten Mäntelein..."


‚Bravo‘, ruft Estella, die garantiert kein Wort verstanden hat und einige in der Tafelrunde applaudieren verwirrt. Nur Elaine, Aris griechische Frau – der Sprache der Dichter und Denker natürlich nicht mächtig, aber vermutend, dass ihr Mann da vielleicht wieder einmal Schlüpfriges lässig von sich gegeben habe - wendet sich mit leichtem Kopfschütteln ab und zeigt ihm die kalte Schulter.
‚Ein Männlein steht im Walde.‘

Es stört die hochgestimmte Gesellschaft kein bisschen, dass um den Tisch herum ein ständiges Kommen und Gehen herrscht. Man kennt sich hier untereinander... Besonders Ari, der Athener Bürger, der in Sizilien geboren und aufgewachsen ist, wird gebührend von Vorbeikommenden begrüßt und gewürdigt. Immer wieder bleiben Freunde bei ihnen stehen, verharren eine Zeit lang plaudernd, spreizen ihre Worte wie Pfauen die Federn. Sie haben viel zu sagen und zwar mit Schwung und Leidenschaft! Über Politik... die lieben Mitmenschen... das Wetter auch ... wer hätte das gedacht!

Und ER ist stets lebendig in den Unterhaltungen der Leute. ERNANDO. Sein Name wird erwähnt. Ab und zu. Dabei beginnt Minou jedesmal im Inneren zu zittern. Was er bei der oder jener Einladung tat, mit wem er dort war. SEINE Anwesenheit schien einem Ereignis Glanz verliehen zu haben. Seine Meinung wird sogar von anderen zum Maßstab genommen.
"Dann sagte Sascala..." oder "der Conte hat das auch so gesehen!", bekräftigt man eine Aussage.
Eine Anzahl anderer Leute wird genauso häufig erwähnt, über ihre Tätigkeiten wird ebenso ernsthaft geredet und diskutiert. Das überhört Minou natürlich. Ihr kommt es vor, als spräche alle Welt ständig nur von dem EINEN.
Im Verborgenen trägt sie ihre brennend heiße Liebe mit sich herum ... im Verborgenen. Niemand außer Nikos, weiß davon.

Diese Leidenschaft für Ernando hebt ihr Schicksal hoch über das der anderen Frauen hinaus, glaubt sie. Mögen diese hier ihr in den meisten Dingen überlegen sein, wohlhabend, aus alten Familien, von liebenden Verwandten umsorgt, von Freunden umringt, keine von ihnen hat eine so große, wunderbare, eine so bittersüße Geschichte erlebt.
Das ist auch der Grund, weswegen ich nie im Leben mit einer anderen tauschen möchte, denkt sie pathetisch - niemals!

All die Dinge, die zwischen IHM und ihr gewesen sind ... die aufwühlenden ... daran klammert sie sich mit aller Macht und hofft noch immer auf eine Wiederholung. Obwohl er bis jetzt noch nicht bei Nikos angerufen hat. Sicher vermisst Ernando sie ebenfalls ... nein... nicht sicher... aber vielleicht - mit einem großen Fragezeichen? Für ihn hält sie sich gesund und schön, seinetwegen kleidet sie sich elegant. Stets in der Hoffnung ...

Nein, sie würdigt NIKOS keineswegs für das, was er für sie tut. Sie würdigt ihn auch nicht für das, was er ist: ein zufriedener Charakter, ein umgänglicher, verlässlicher Gefährte, an den andere sich voller Zuneigung lehnen. Viele Menschen haben ihn tatsächlich gern, zeigen es offen und ehrlich, das spürt sie. "Ich mag ihn ja auch sehr gern, sagt sie sich immer wieder.

Jetzt sind sie am Ende des Mahls beim formaggio angelangt. Ein Ober bringt eine große Platte mit Käsespezialitäten herbei. Als kultivierter Gast darf man unter zirka fünfundzwanzig mundwässernden Sorten höchstens drei auswählen und lässt sich davon jeweils lediglich ein winziges Eckchen abschneiden und auf den Teller legen. Ach, wie Minou das leid tut! Wo sie Käse so wahnsinnig gern isst! Mehr zu verlangen, wäre aber ein Zeichen von Gier.
Dann das Obst: alle exotischen Arten, die es nah und fern gibt. Auch von der ‚frutta‘ nimmt niemand mehr als eine aus dem übervollen silbrigen Korb, den ein Kellner herumträgt.

Unter den letzten Strahlen der sinkenden Sonne liegt das weite, pittoreske Rund des Teatro Greco mit den gewaltigen Sitzreihen und Ruinenbauten zu ihren Füßen. Noch viel tiefer unten leuchtet der Ozean, die Bucht von Taormina mit all ihren kleinen, weißen Schiffen und Jachten und in der Ferne das weite, schneebedeckte Massiv des Ätna ... Alles ist mit EINEM grenzenlosen Blick zu umfassen.

Fliegen möchte Minou, vom roten Wein beflügelt, fliegen hinein in diese Weite!
Nur das Wichtigste fehlt. Fehlt. Es geht ihr sehr gut, aber ganz glücklich ist sie nicht. In dieser verzauberten Stunde wartet sie eigentlich jeden Augenblick darauf, dass ER plötzlich auf die Terrasse tritt.

Jedoch Ernando Sascala erscheint nicht, sondern eine junge Frau kommt plötzlich an ihren Tisch gerannt.
Sie stürzt sich ausgerechnet Nikos entgegen:
"I have to talk to you." Packt ihn beim Arm, den er überrascht zurückzieht. Da steht sie, schmal, blassblond, eine, der man die Ausländerin ansieht, eine, mit der offensichtlich etwas nicht stimmt, eine, die verkrümmt mit eingezogenen Schultern, dasteht. Sie weint.
"I MUST talk to you."
"Bitte mach jetzt kein Theater, Phyllis", sagt Nikos auf englisch. Das ist alles, was er sagt.
Sie schluchzt. "Why did you drop me? Warum? Was hab ich falsch gemacht?" - Und so geht es weiter ... Minou hat das noch nie erlebt: den herzzerreißenden Auftritt einer verlassenen Frau!

Nikos scheint unberührt. Sein Gesicht ist abgewandt. Krank steht die Frau da. Ausgebleicht wirkt sie im sparsamen Licht hier draußen, blutleer mit ihrer farblosen Haut, der fahlen Helligkeit ihrer langen, zarten Haare, die sie zu einem dünnen Pferdeschwanz zurückgebunden trägt. Trotzdem... sie ist schlank, hat eine hohe Gestalt und ein gutgeschnittenes, schmales Gesicht. Das gleicht allerdings jetzt vor lauter Heulen einer schlecht bemalten Fastnachtsmaske mit geschwollener Nase und viel Rot um die Augen.

Diese junge Frau bietet ein Bild des Jammers. Krampfhaft hält sie Nikos Arm fest. Der versucht, ihre Finger von seinem Jackettärmel zu entfernen, wie man Kletten ablöst.

"I have to talk to you", wiederholt sie zum dritten Mal. Fest steht sie nicht. Sie schwankt. Ganz klar... sie muss auch noch getrunken haben.
"Du willst mit mir nicht reden", schreit sie plötzlich, you liar, you dirty, dirty..."

"Führen Sie diese Person weg", ruft Antonio Agnoni den Leuten zu, an deren Tisch das Mädchen zuvor gesessen hat, "sehen sie nicht, der Dame geht es schlecht!"

Phyllis klammert sich an Nikos Ärmel fest, bis zwei Männer kommen, rasch die jetzt laut Schreiende fortziehen und nach draußen schaffen.
Die Gesellschaft bestarrt die Szene mit Abscheu und Faszination.

Minou spürt eine merkwürdige Distanz. Sonderbar, diese Angelegenheit lässt sie gleichgültig! Auch Mitleid mit der Frau hat sie kaum, aber sie ist unsagbar erstaunt, dass der Mann für den SIE keine Leidenschaft empfinden könnte, solche Verwirrung in der Seele eines weiblichen Wesens anzurichten imstande sein soll! Seltsam!

Diese Phyllis hat vor Nikos auf dem Tisch einen Brief hinterlassen, den er dann doch aufnimmt und einsteckt.

In der Nacht, in ihrem Bett, denkt Minou etwas mehr über die Frau nach. Am Morgen, als der Grieche kommt, um sie abzuholen, bringt sie die Rede gleich auf den abendlichen Vorfall.
"Du darfst Phyllis nicht eiskalt abtun. Sie ist krank. Eigentlich braucht sie Hilfe."
"Minou, ich weiß, warum du das sagst. Du gibst dir die Schuld, dass ich sie verlassen habe. Sei beruhigt, bevor ich überhaupt von dir wusste, war unsere Verbindung schon beendet ..."

"Nikos, sie fühlt etwas für dich. Sie liebt dich. LEIDENSCHAFTLICH. Solch eine Frau solltest Du nicht wegschicken. Siehst du nicht, in welchem Zustand sie ist!"

"Komisch... sie hat mir einmal gefallen. Sie galt als sehr attraktiv, obwohl sie gestern ein Bild des Verfalls bot", sagt er nachdenklich, "sonderbar, wie schnell bei solch dünnhäutigen Nordeuropäerinnen die Leuchtkraft ihrer Farben verblassen kann. Aber das ist nicht meine Schuld. Ich bin kein Schuft. Diesen Schuh will ich mir nicht anziehen!"
"Du hast ihr bestimmt viele schöne Worte gesagt. Du hast sie umworben!"
"Nur ... von Zukunft ist niemals die Rede gewesen. Das Leben ist eben ... kompliziert!"

"Du könntest uns alle zwei behalten!", sagt Minou, das Schlau-Schwätzerchen. Es ist NICHT NUR, weil sie meint, dann könne zwischen Nikos und Phyllis alles beim alten bleiben, denn Phyllis tut ihr heute morgen ernsthaft leid.
Also ... so hätte Nikos nämlich eine Frau zum Bei-Schlafen, während sie die Unberührbare, Unantastbare bliebe und weiterhin mit ihm ausgehen, sowie reichlich seelische und materielle Zuwendung von ihm bekommen würde. Denkt sie das wirklich? ... eher ist es doch so etwas Unklares ... halb Unbewusstes hinten in ihrem wirren Köpfchen ...


"Ich habe Phyllis nach London zu ihrer Familie zurückgeschickt", erklärt Nikos einige Tage später.
Es ist das letzte Mal, dass irgend jemand von der blonden Engländerin spricht!

*

Minou hat in ihrer Wohnung eine komfortable, vollständig eingerichtete Küche.
"Ich will nicht, dass du da anfängst, irgend etwas zu köcheln", sagt Nikos. "Und lagere bitte auch keine Lebensmittel ein... Möchtest du eine Tasse Kaffee, Kuchen, ein Sandwich oder einen Becher mit Eis... hier auf diesem Zettel ist die Telefonnummer der Bar an der Ecke... sie bringen es dir in fünf Minuten herauf." Und ohnehin werden wir jede Mahlzeit in Restaurants einnehmen."
Das ist Minou recht. Hausfrauenpflichten haben sie noch nie gereizt.

Einmal, zu Anfang ihrer Bekanntschaft hatte sie den verdutzten Griechen am Abend mit selbstgekochten Spaghetti Bolognese überrascht. Am nächsten Morgen – na ja, sie waren noch ausgegangen, es war spät geworden und das Geschirr in der Spüle hatte sie noch nicht abgewaschen - in der Frühe also führte eine Ameisenstraße quer durch die Küche. Unter dem Fensterrahmen kamen sie durch, die Winzlinge. Zu Herd und Spüle marschierten sie wie Soldaten in Reih und Glied, meisterten steile Möbelwände und jeden Höhenunterschied, schleppten in stetiger Schlangenprozession winzige Pastakrümel davon. Das sah eigentlich niedlich aus.
"Mach sie bloß nicht tot", schrie Minou entsetzt, als Nikos ihnen mit Vertilgungsmittel zu Leibe rücken wollte ...

*




SANTUZZA

Am nächsten Morgen - Minou kam gerade nackt aus dem Bad - rutschte eine schwarz verhüllte Frauengestalt auf den Knien in ihrem Schlafzimmer herum, schrubbte den Boden, fuhrwerkte wild mit allen möglichen Putzutensilien herum. Mit nur zwei braunen Stummelzähnen im Mund, lachte ihr eine Greisin recht vergnügt ins Gesicht.

"Sono Santuzza io", rief sie so laut, dass Minou zusammenfuhr und zeigte mit knochigem Daumen auf ihre Brust. Seither kommt sie dreimal die Woche. Nikos hat nämlich darauf bestanden: seine Prinzessin braucht von Anfang an eine Reinemacherin für die Wohnung.
Es ist der Deutschen kaum möglich, mit der Frau zu reden. Obwohl Santuzza sie die ganze Zeit über mit verschmitzten Blicken und heftigen Lautschwällen überschüttet, versteht sie kein einziges Wort, denn das Mütterchen spricht eine ausgefallene Sprache: Sizilianisch.

Nikos sagt, sie arbeite schon seit Jahrzehnten für seine Firma. "Sie ist eine ehrliche, zuverlässige Haut und wird GUT bezahlt. Wenn du sie wegschickst, wird sie eine Stange Geld weniger bekommen. Das wird ihren nichtsnutzigen Enkeln dann fehlen!"

Minou versucht, Santuzza zu erklären, dass sie sich weniger anstrengen und nicht immer so feucht und intensiv putzen müsse ... sie könne trotzdem kommen.
"Pero lo Signore, lo Dottore, Signorina?", murmelt die alte Frau fragend ...
Da solle sie eben tun, als ob sie putze, der Dottore würde das nicht merken, es sei ja kaum je wirklich schmutzig hier. Aber die Arme versteht nichts oder will nichts verstehen, kriecht in den Morgenstunden weiterhin schrubbend auf den Knien herum, um noch das letzte Stäubchen in den Griff zu bekommen und die Wohnung auf Hochglanz zu polieren. Minou lässt ihr jedesmal von der Bar einen Capucino und zwei süße Brioches heraufbringen, die sie dann im Kaffee aufweicht und mit Begeisterung in ihren zahnlosen Mund versenkt.
Minou ist schon immer von Natur aus bequem gewesen. Nikos scheint zu wollen, dass sie nun gar nichts mehr selbst tut. Was Santuzza angeht, da meint er nur:
"Sie hat ihr ganzes Leben lang geschuftet. Sie ist gerade sechzig. In DEM Alter arbeiten hier ALLE Leute noch hart. Lass sie doch! Sie macht das vorzüglich."

So unterstützt Nikos Minous Faulheit.

Aber ihr bleibt bei der Sache ein schlechtes Gewissen. Darum gibt sie Santuzza etwas von dem reichhaltigen Taschengeld, das ihr Gönner in gewissen Abständen für unverhoffte Ausgaben in eine Küchenschublade legt.

Zuletzt kann Minou das herzzerreißende Lächeln der alten Frau nicht mehr ertragen. Einmal ist sie gerade im Begriff, fluchtartig die Wohnung zu verlassen, Nikos wartet schon unten im Auto - sie hat der Greisin eben noch schnell einen Schein auf der Dielenkommode gelassen - da packt Santuzza, die wie so häufig mit gekrümmtem Rücken und quietschnassem Putzlumpen vor ihr auf dem Boden herum rutscht, plötzlich Minous Knöchel, küsst ihr den beschuhten Fuß, wie man den Fuß einer südlichen Heiligenstatue, der heiligen Rosalia etwa, hierzulande küsst - was weiß denn Minou - während die Ärmste sie gleichzeitig mit einem ihrer unverständlichen Wortschwälle übergießt und aus tränenfeuchten Augen dankbar anblinzelt. Das ist ein kurioses, das ist kein gutes Erlebnis.

Auf Minous Bitte hin, richtet Nikos es so ein, dass die Frau erst dann kommt, wenn sie am Morgen schon aus der Wohnung gegangen ist. Minou ließ am Anfang mit dem Geld, das sie hinlegte, auch einen Zettel auf der Dielenkommode zurück: ‚Für die liebe Santuzza‘. Santuzza klaubte sich die Münzen oder den Schein herunter und ließ den Zettel schön leuchtend auf dem Möbelstück liegen. Die schlaue Alte! Sie bewegte den Zettel nicht um einen Zentimeter. So hätte Minou ihn entweder von sich aus stillschweigend wegnehmen können, wozu sie nicht kaltblütig genug war, oder sie muss eben jedes Mal wieder ein Trinkgeld dazulegen. Auch trifft sie eine Vereinbarung mit der Capucino-Bar, dass Santuzza weiterhin ihren Kaffee und die von ihr heiß geliebten Brioches heraufgebracht werden.

Ach, Minou ... ein gutes Gewissen hat sie in dieser Sache nie mehr. Sie hätte ja die Reinigung ihrer Wohnung selbst in die Hand nehmen können. Aber nein ...

*




ELKE DI BERLINO


Nikos hat Minou eine junge Deutsche vorgestellt. Elke aus Berlin. Sie ist neunzehn Jahre alt und derart schön, dass alle Leute sich auf der Straße nach ihr umdrehen. Blond, sehr groß, ohne Makel. Beine, die - wie man banal sagt - nie aufhören. Ihr Gesicht hat sogar schon zweimal die Titelseiten einer viel gelesenen, römischen Boulevardzeitschrift geziert. Das Gesicht wohlgemerkt, einzig das Gesicht, nicht Busen und Po, obwohl auch diese Attribute des Vorzeigens wert gewesen wären. Nur das Gesicht also. In der Septemberausgabe 1957 ist sie die ‚Schöne des Herbstes‘, im Mai war sie "Göttin des Frühlings". Poetisch sind diese Journalmacher allemal! Bellezza d‘Autumno ... Divina di Primavera ... Elke die Berlino. Ein kindliches Lächeln. Jean Seeberg ähnlich. Streichholzkurz das Blondhaar. Natürlich hat Elke die beiden Hefte aufbewahrt und zeigt sie stolz Minou. Ja, eine Titelbildschönheit ... man muss sich vorstellen, wie sie eine Weile lang von den Kioskwänden in ganz Italien herunterlächelte! Ihr Nachname aber steht da nirgends zu lesen. Ist den Machern wohl nicht des Aufschreibens wert gewesen.

Elke ist Mannequin. Noch kein wirklich berühmtes, doch dabei, im süßen Leben Roms Fuß zu fassen. Mit Appartement im vornehmen Stadtteil Parioli, so erzählt sie.
Hat sie einen Vertrag als Modell eines Modeschöpfers? Oder reiche Gönner? Minou hat null Ahnung. In solch elementaren Dingen bleibt Elke vage und geheimnisvoll. Fotografen hatten ihr offensichtlich Angebote gemacht. Ihre Karriere schien zu beginnen. Wenn ihr nur nicht die Liebe dazwischengekommen wäre. Jetzt ist sie in Sizilien gelandet und ihre romantische Geschichte ist noch voll im Gange. Ihr Geliebter ist ein berühmter Wasserpolo- oder Wasserball-Star - Minou hat keine Ahnung von diesen Disziplinen, interessiert sich nicht - Aber Francesco ist ein Idol. DAS Idol. DER Sportheld schlechthin, der damals in der gesamten Region von Tausenden bejubelt wird ... Francesco, der aussieht wie Jean Paul Belmondos wilderer Bruder, Macho pur, ganz Körper und Muskeln, Boxernase und Robustheit. Er hat eine sonderbare Art von Humor, kann eine Partygesellschaft allein unterhalten und die Leute zum Grölen bringen ... eine Mischung aus Jerry Lewis und römischem Gladiator. Wenn Francesco sich amüsiert, soll der gesamte Festsaal mitbrüllen ... Seine unbändige, permanente Lustigkeit verursacht Minou Bauchkrämpfe. Vor solchen Typen hat sie Horror. Der blödsinnige, krass- clownische Jerry-Lewis-Anteil in ihm, seine nachgeahmten Bewegungen, das Augenrollen ... Francesco ist für sie ein Alptraum.

Aber die zarte, sensible Elke. Bellezza die Primavera. Bellezza d‘ Automno. Und Francesco ihr Abgott! Auch er muss wohl beim ersten Anblick der ‚gran bella ragazza‘ auf irgendeinem römischen Laufsteg von Leidenschaft gepackt worden sein - so ist es wohl gewesen - und er will sie von da ab in seiner Nähe haben. Es gibt nur ein Problem, er ist ein verheirateter Mann, hat zwei Bambini und eine fantastische Frau mit allerlieblichstem Gesicht, Rosanna. Minou hat Rosanna schon durch Nikos kennengelernt. Diese Frau hat viele Freundinnen und Bewunderer. Sie ist eine Blüte sizilianischer Weiblichkeit - das meint Minou ganz und gar ehrlich. Rosanna besitzt Geduld, viel ausstrahlende Wärme, dazu Selbstvertrauen, Nerven wie Drahtseil und ein großes Maß an gesundem Alltagsverstand. Sie hat nur zwei Mängel... sie ist klein gewachsen und sie ist grassa ( fett ). Mit letzterem Prädikat belegt sie sich selbst häufiger als ihre Umgebung es tut. Woran man sieht, dass ihre ‚Unförmigkeit‘ sich in Grenzen hält. Auch trägt sie wieder ein Kind unter dem Herzen, ihr drittes. Sie, DIE italienische Matrone par excellence mit dem breiten Hintern, passt trotz all ihrer guten Eigenschaften aber doch nicht so recht zu dem jungen, aufstrebenden sexy Sportstar, dem die Teenies hinterher hecheln. Dabei ist Rosanna viel jünger, als sie aussieht. Sie ist nun aber eben ‚la Mamma‘, bei der sich alle Leute zu Hause fühlen.

Elke dagegen geheimnisvoll, verschlossen, die nordische Blondine, la bella modella di Roma!
Und ihr Leben ist das reinste Chaos. Francesco bringt sie, wenn er mit seinem berühmten Sportclub auf Reisen ist, in wechselnden Hotels und geheimen Pensionen in allen möglichen Ortschaften unter. Er muss sie ständig umquartieren und verstecken vor seinem Familienclan, den Managern, den Fans, vor Zeitungsreportern, vor seiner Rosanna, die von Francesco übrigens - berichtet Nikos - wie eine Santa Donna, wie eine Heilige, verehrt und wohl auch auf Händen getragen werde. Rätselhaftes Sizilien!

Elke muss auf eine Art verborgen werden, dass ihr Liebhaber sie jederzeit besuchen, doch niemand sie mit seiner Person in Verbindung bringen kann. Er, der Star, hat also jetzt eine wunderschöne Geliebte, um die ihn jeder Sizilianer auf der Welt beneiden würde und darf sich nirgends mit ihr zeigen. Die Ärmste lebt in einem Gespinst von Unsicherheit und Heimlichtuerei. Sie ist neunzehn. Ein unfertiges Geschöpf, das sich erwachsen, das sich als die Herrin der Lage gibt und ach, so cool und abgehärtet wirkt, aber nichts davon wirklich ist. Una bellezza di primavera, die mit ihren Gefühlen und inzwischen auch finanziell von diesem ‚netten Kerl‘ abhängig ist.
‚Was für einen unterschiedlichen Männergeschmack wir haben!‘, denkt Minou. Sie selbst ist von dem robusten Sporthelden erotisch nicht angetan, ebenso wenig wie Elke sich je hätte mit Ernando einlassen können – sagt sie zumindest – weil sie Francesco ‚unendlich‘ liebe, mehr als je einen Mann zuvor in ihrem Leben. Unbegreiflich für Minou. Eine Frau, die Ernando kennt und NICHT in ihn verliebt ist!

Elke wohnt für eine Weile bei Minou. Häufig bummeln sie zusammen durch die Stadt. Machen Einkäufe, gehen ins Kino. Nikos spielt gern Chauffeur und lässt sich noch Zeit für einen Espresso oder ein Eis in Gesellschaft der beiden Mädchen, bevor er rasch wieder ins Büro fährt. Er ist dann stolz, sich mit gleich zwei ‚belle ragazze‘ zu zeigen - wobei Minou um viele Stufen weniger spektakulär aussieht, das wissen wir ja schon ... wie damals neben Marlene so verblasst sie auch jetzt geradezu vor der auffallenden Größe und Apartheit Elkes. Minou ist tatsächlich ziemlich unscheinbar neben ihr - das muss gesagt sein.
Elke di Berlino wirkt sehr überlegen und souverän. Sie habe keine Ängste, erklärt sie, als Minou einmal neugierig nachfragt. Nein... so etwas kenne sie nicht. Das ist für Minou unbegreiflich, die ständig von Ängsten und Unsicherheiten gebeutelt wird.

Elke ist mutig wie ein Junge. So lernt sie zum Beispiel hier unten in Sizilien auf Anhieb Wasserski-Fahren, einen Sport, der gerade erst aufkommt. Ciccio, Besitzer eines schnellen Bootes, bietet den beiden Mädchen die Gelegenheit zum Üben. Er ist ein guter Lehrer. Bereits am zweiten Tag schwingt, rast, kurvt Elke stundenlang elegant über die Wellen und kann nie genug davon bekommen. Schon allein der Gedanke, zu stürzen und mit dem Kopf unter Wasser zu geraten, was ja kaum ausbleiben kann, treibt Minou jedoch den Angstschweiß aus allen Poren. Sie versucht es zwei Mal, dann hat sie genug.

Gut tauchen kann Elke auch ... sie schnorchelt nicht, nein, sie geht so richtig tief hinunter mit Ausrüstung, Sauerstoffflasche auf dem Rücken und allem ...
Nur im ganz gewöhnlichen Brustschwimmen ist Minou schneller.

Elke schluckt täglich sündhaft teure Vitamintabletten und Mineralien, um sich fit und lebensfähig zu halten. Denn ihr Dasein ist ein hektisches. Ihr Motor scheint immer ein wenig schneller zu laufen, als der anderer Leute.
Elke - beide Eltern sind im Krieg umgekommen - hat ihre Kindheit in den 1940er Jahren im zerstörten Berlin verbracht, wo sie mit ihrer Großtante in einer feuchten Kellerwohnung hauste. Trümmerkind. Im Schutz der Ruinen ist sie von ihrem ersten Freund geküsst worden. Voller Lebenshunger stürmte sie einige Jahre später in die Welt hinaus ... allein ... eigentlich ebenso allein wie Minou.

In Minous breitem Bett liegend, verplaudern die Mädchen halbe Nächte. Verstehen sie sich überhaupt? Sie sind beide tief in Männerliebe verstrickt und reden kaum je von etwas anderem. Elke leidet auch, ist aber doch wenigstens manchmal wieder glücklich, wenn sie ihren Francesco hat. Sie geht keineswegs so leer aus wie Minou. Allerdings muss sie sich das Verständnis des wankelmütigen Sportstars für ihre Lage, in die ER sie natürlich erst gebracht hat, immer neu erkämpfen. Minou hingegen hat ja den guten Nikos, der nichts verlangt und für sie sorgt – doch wie lange noch? Die deutschen Mädchen diskutieren ausgiebig ihre Gefühle, ihre Gedanken. Nackt hüpfen sie inzwischen lässig voreinander durch die Wohnung, was in den 1950er Jahren durchaus nicht ‚alltäglich‘ ist. Aber ... sie halten heilige Distanz. Und das nicht nur körperlich. Warum finden die zwei versprengten Geschöpfe auch seelisch nicht zusammen? Nein, es kommt zu keiner wahren Freundschaft.
Liegt es an Minou? Sie verehrt und bewundert Elke doch über alle Maßen!
‚Ich habe ihr meine Zuneigung nie gezeigt‘, wird sie später traurig denken, ‚die Scheu ist zu groß gewesen.‘

Sie haben sich später in Rom noch einmal gesehen, eines Abends in diesem schillernden, schrillen Szenerestaurant in Trastevere, wo schöne Kellner, in antike Tuniken gekleidet, altrömische Speisen servieren. Beide Frauen waren in größerer Gesellschaft, Elke außerdem in enger Begleitung eines blässlichen Herrn von zirka vierzig Jahren, der sehr ruhevoll und angenehm wirkte, sie geradezu anhimmelte, und den sie als ihren Verlobten vorstellte. Es gehe ihr gut... o ja, es gehe ihr sehr gut, sagte sie mit ihrem gewissen, immer etwas müden Lächeln. Sie hatte sich offensichtlich mit dem Leben arrangiert.

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ALS WÄRST DU MEIN VATER

"Mit dir habe ich mir etwas aufgebürdet, Mädchen", sagt Nikos manchmal lachend. Er, der selbst zwei Töchter hat, die allerdings mit ihren Müttern zusammen leben, sieht sich plötzlich bei diesem fremden Ding wieder in die Vaterrolle hineingedrängt. Er fühlt sich aber recht wohl dabei.

Viele halten Minou für seine Geliebte. Man behandelt sie mit Nachsicht, weil sie jung und ein unbeschriebenes Blatt ist. So eine darf ruhig etwas unsicher sein. Nikos weiß: in Wirklichkeit ist sie sogar hilflos. Die Kleine ist nicht imstande, für sich selbst zu sorgen. Er muss ständig ihren Tagesablauf regeln. Aus eigenem Antrieb rafft sie sich kaum je zu irgendeiner Tätigkeit auf. Trauert in merkwürdiger Treue Ernando Sascala hinterher, diesem Don Juan, über den man kein Wort zu verlieren braucht, dessen Leben wahrscheinlich durch seine unkontrollierten Begierden, seine immer neuen Affären und die Anhänglichkeit der Weiber mehr gebeutelt als beglückt ist. Für Männer wie Ernando sind Frauen bereit zu leiden, das weiß Nikos. Und Minou führt ihm dieses Leiden auf eine wilde, jedes normale Maß sprengende Art vor, die einem weniger geduldigen Verehrer längst die Galle zum Überlaufen gebracht hätte.
Was bleibt ihm übrig ... wenn ihre Lethargie sie wieder angefallen hat, zieht er sie schnell in das bunte, lärmende, südliche Treiben mit hinein. Nikos, der Nichtraucher, Nichttrinker - auch er gilt als Frauenverführer, was Minou aber ungerührt lässt - lebt sein Leben mit großer Disziplin. Und so geordnet er das Seine eingerichtet hat, soll auch das Leben derer sein, die ihm nahestehen. Dem jungen Ding soll es ebenfalls gut gehen. All ihre Angelegenheiten hat er in die Hand genommen, von der Begleitung zu Zahnarztbesuchen bis hin zur Zusammenstellung ihrer Garderobe.

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SIGNORA CARPATA

Die Betreiberin des Modeateliers schäumt über vor Temperament und Tatkraft. Sie lässt ihre Angestellten immer wieder neue Schnittmuster, Knöpfe, Schnallen, Applikationen daherbringen. Sie nimmt Maß, schwänzelt und tänzelt um Minou herum, drapiert lächelnd Stoffe um ihren Körper.
"Was die Signorina für wunderschöne Arme, für ein makelloses Dekolleté hat", jubelt sie bei der Anprobe, "und diese Taille, die schmalen Hüften. Herrlich. Alles kann sie tragen ... alles! "
Es ist ja gut, denkt Nikos Sakatis. "E molto gentile, Signora", sagt er zu der dynamischen Plauderin. Er sieht, wie die arme Minou sich wortlos windet ... aber die Edelschneiderin fährt fort, ihm zu schmeicheln, wissend, dass er ja offensichtlich der Herr und Ernährer dieses jungen Geschöpfes ist. Wenn er schon sein Geld in die Kleine investiert, dann will sie ihm wenigstens als kluge Geschäftsfrau das Gefühl geben, es zumindest gut angelegt zu haben.
Nikos Sakatis wird Minou nie sagen, wieviel er für die diversen Kleidchen berappen muss. Unter Wert verkauft die schlaue Sizilianerin ihre Arbeit nicht. Ihm - dem ‚Professore‘ gegenüber – aha, zum Professor hat sie ihn schon selbstherrlich erhoben – also sie stellt ihm gegenüber eine demütige Unterwürfigkeit zur Schau, die sie – soviel kennt er seine Sizilianer - im Innern natürlich nicht empfindet. Aber er spielt das Spiel locker und amüsiert mit.

Wie er ohnehin im Umgang mit Menschen stets den rechten Ton trifft. Für ihn ist die Welt einfach gestrickt: Die einen sind oben, die anderen unten! Nikos versucht gar nicht erst, die tiefe Kluft zu überbrücken. Er hat nie das soziale Gefüge dieser kuriosen Gesellschaft als unfair empfunden. Warum auch? Es ist seine Welt. Die Welt seiner Familie und seinesgleichen. Sakatis, aus alter Kaufmannsdynastie - ganz prosaisch im Olivenöl- und Citrusfrüchte-Export etabliert, scheint ebenso weit vom Leben der kleinen Leute entfernt wie Ernando, der Adelige und er stellt das System noch weniger in Frage als der Conte. Minou erlebt ständig wie er seine vorgefasste Meinung eisern vertritt. Er glaubt an den hohen Stellenwert der alten 'edlen' Familien und der Leute mit Geld in dieser Gesellschaft. Dann gibt es noch die ‚gente per bene‘, die GUTEN LEUTE. Das sind Inhaber von Einzelhandelsgeschäften, Avvocatos, niedergelassene Ärzte, auch Staatsbeamte. Unten kriecht, laut Nikos, der Bodensatz ... und damit meint er die restlichen, die weniger Privilegierten, die Arbeiter und kleinen Handwerker, den ‚Abschaum‘ eben ...


Es ist nicht zu fassen, denkt Minou‚ wie einer, der soviel Liebe und Verständnis in sich hat, gleichzeitig solch unsagbaren Ideen anhängen kann!‘ Paradox ist auch dieses: die von Nikos so missachteten‚ minderen‘ Leute scheinen stolz, dass ein Signore wie er ihnen freundlich zunickt, manchmal sogar ein paar leutselige Worte für sie übrig hat.

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KINO UM 1957

Die Frauen, mit denen Minou tagsüber zusammen ist, gehen gern nachmittags ins Kino. Vorher trifft man sich in einer schicken kühl-chromigen Pasticceria. Nach der Vorführung nimmt man dann noch einen Plauder- Drink und bespricht das Gesehene. Societydamen streiten sich lauthals wie die Fischweiber, wenn‘s um Gina Lollobrigidas oder Brigitte Bardots Charme oder Nichtcharme geht.. O diese KLEINEN Filmchen der 50er Jahre, längst Relikte einer überholten Zeit. Wie die Gemüter sich über ein wenig nacktes Fleisch mehr oder weniger erregen! Jahre später wird Minou das nicht mehr fassen können. Damals sind diese erdhaften italienischen Werke vielbesprochene Hits: zum Beispiel ‚Pane, amore è gelosia – ‚Brot, Liebe und Eifersucht‘ aus 1954 mit Vittorio de Sica und der Lollobrigida. Für damalige Begriffe ein toller Streifen, über den man sich ziemlich amüsiert. Mit der jüngeren Lollo-Kontrahentin Sophia Loren gibt es dann prompt ähnliches: ‚Pane, amore è mille baci‘ - ‚Brot, Liebe und tausend Küsse‘ oder auch ‚Stolz und Leidenschaft.‘
Der schöne Burt Lancaster mit Gina zusammen im Zirkusfilm ‚Trapez‘ gefällt Minou schon sehr...
"Unsere Köchin schwärmt seit Tagen von ‚Sissy‘, der Kaiserin", sagt jemand.
"Und meine Friseuse ebenfalls."
"So etwas ist ja auch schön! La Romy. La Schneidèr... das ist ein wunderbares Geschöpf ... che bellina, bellissima!"

Ja, ganz Sizilien scheint nach der süßen Romy Schneider und ‚Sissy, der Kaiserin‘ zu lechzen!

"Aber die Monroe im hautengen, roten Kleid in ‚Niagara‘, die hat mich auch umgeworfen."
"Du solltest sie in ‚Blondinen bevorzugt‘ sehen. Oder in: ‚Wie angelt man sich einen Millionär‘. Ich glaub' auf der ganzen Welt gibt‘s keine witzigere Frau.
Witzig..??
"Na dann eben... erfrischend !"
"Nur.. spielen kann sie nicht!"
"Was heißt spielen? Die IST doch umwerfend."
"Apropos Blondinen! Die unbekannte Kleine, die im Vorspann des Films die Milchreklame macht, das niedliche, rundliche Ding... sie ist der wahre Renner ... Mein Mann kauft zum Beispiel Eintrittskarten für irgendwelche Kino-Machwerke, nur um dieses junge Mädchen eine halbe Minute lang Milch trinken zu sehen. Er ist verrückt nach ihr."
"Dein Mann ist verrückt, punto ... hab ich dir doch schon immer gesagt, mia cara Carla."
Das ergibt Gelächter.
Und was haltet ihr von Marcello Mastroianni, unserem großen Lover?"
"Ach, er ist ein stinknormaler Latino!"
"Das ist es gerade, was die Leute rund um den Globus an ihm so fasziniert. Er ist weltberühmt. Wisst ihr das?"
Stolzes Geraune.


Aber ... sie diskutieren auch ernsthaft über das, was sie gesehen haben. Es ist aber wiederum nicht spannend genug, dass Minou es länger als ein paar Tage im Kopf behält.

Die Frauen genießen einen belanglosen Unterhaltungsfilm, der gerade in den Zeitungen gelobt wird, ebenso, wie die aufwändige, von der Kritik hochgelobte Norma- Aufführung in der geschichtsträchtigen, barocken Oper von Catania, wo sie, in lange, festliche Roben gekleidet, den Prunk der alten Zeiten für einige Stunden aufleben lassen.
Aus allem, was sie tun, machen sie ein Fest. Irgendwo in näherer oder fernerer Umgebung findet immer etwas Besonderes statt. Sie sind stets auf neue Erlebnisse aus. Wenn das Ereignis sich als nicht ganz so großartig erweist, wie man erwartet hat, dann sind es eben die Menschen selbst und die Art, wie sie es gemeinsam erleben, die es im Nachhinein bemerkenswert macht. Bis gegen zwei, drei Uhr nachts ist man häufig unterwegs.

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NIKOS HAT EINE AFFÄRE, GOTT SEI DANK

Nikos und Minou wohnen, wie wir wissen, getrennt. Sie macht sich kaum Gedanken, wohin er geht, wenn er sie nachts in ihre Wohnung gebracht hat, oder woher er kommt, wenn er am Morgen pünktlich gegen halb neun bei ihr läutet, sie abholt und zum Club bringt. Offiziell ist er nach seiner Scheidung in das geräumige Haus seiner Familie - seiner Mutter - gezogen, wo es mehrere Wohnungen gibt.

So alleinstehend, wie sie zuerst dachte, ist Nikos jedoch nicht. Er hat eine Geliebte. Das erzählt ihr eines Tages Elke. Es ist ein Gerücht, aber kein Geheimnis!
Nikos soll also eine Bettgeliebte haben, eine Signora Vasculi. Alter um die vierzig. Mit einer Bettgeliebten zeigt ein Mann sich nicht in der Öffentlichkeit.
"Francesco hat es mir erzählt. Mit Phyllis, der jungen Engländerin, ist Nikos überall hingegangen, genauso wie jetzt mit dir", sagt Elke. "Die Vasculi hatte er nur so nebenbei und hat sie auch jetzt noch ... eine verheiratete Sizilianerin, eine von ihrem Mann getrennt lebende, für hiesige Moralbegriffe also ‚gefallene Frau‘... hihi, eine richtige Sünderin.
Wusstest du das?", fragt Elke.
"Nein", sagt Minou ehrlich. Und es ist wunderbar zu hören. Innen ist sie sogar erleichtert.

Wieder einmal muss sie über sich selbst staunen, wie sogar das intimste Leben Nikos sie unaufgeregt lässt. Von Eifersucht keine Spur. Im Gegenteil: alles fügt sich, wie sie es haben will.
Es ist gut, dass eine andere ihm die körperliche Liebe gibt, die sie ihm nicht geben kann ... Was sie am Anfang wirklich gefürchtet hatte, waren sexuelle Berührungen und Befriedigungen – jenseits des tatsächlichen Miteinander-Schlafens – gewesen, die Männern – das wusste sie von Ernando – sehr wichtig sind, aber auch so etwas hatte Nikos nie verlangt. Nun ist die Erklärung da und sie heißt Signora Vasculi. Minou ist erleichtert. Wirklich.

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THE GAMES PEOPLE PLAY


Wenn sich Abends ‚tutto il mondo‘ bei Veranstaltungen trifft, beginnen augenblicklich jene amüsanten Spielchen, die vor allem die Frauen perfekt beherrschen. Das ist ein Küssen und Umarmen, wenn ein Weibsstück dem anderen jubelnd begegnet, ein entzücktes Geschrei und Gepiepse. Und allen geht es blendend: "sto benissimo, benissimo, mia cara!"
Das Busseln und Umhalsen hört nicht auf. Nicht, dass man damit die Person der zu Begrüßenden besonders hervorheben will, wenn das auch so den Anschein hat. Nein, man tut es fürs eigene Ego, gibt sich gern schrill, macht viel Wind und will, dass möglichst viele Menschen herschauen. Auch scheint es Minou, als ob man an der gerade mit Lobhudelei Überschütteten immer ausgerechnet das toll findet, was vielleicht an diesem Abend ihr Schwachpunkt ist. Zum Beispiel das wie ein Sack hängende, aber hochaktuelle Kleid, über das alle schon heimlich grinsen. Je offensichtlicher der modische Fehlgriff, je missratener eine gewagte Frisur, desto fanatischer die Bewunderung durch die Rivalin. Auch lobt man an der anderen ausgerechnet das, was, wie jeder weiß, an der eigenen Person viel attraktiver zur Geltung kommt, so dass alle Umstehenden nicht umhin können, stumme Vergleiche zu ziehen ...
"Wie göttlich du heute wieder einmal aussiehst", flötet man einer 'Freundin' laut zu, gerade dann, wenn diese mit eingefallenen Wangen und Augenringen so unvorteilhaft wirkt wie sonst nie und man selbst sich für sehr viel frischer hält.
"Was hast du nur mit deinem Gesicht gezaubert", jubelt eine, "du scheinst heute abend fast jünger als Tina, deine Tochter! Wie alt bist du eigentlich inzwischen, kleine Tina?"
"Neunundzwanzig", sagt die Angesprochene verwirrt.
"Ah... dio mio, ich hätte dich für viel jünger gehalten. Höchstens zweiundzwanzig, dreiundzwanzig."
"O nein, sehr liebenswürdig, o Danke für das Kompliment!", sagt dann die so Gelobte, die etwas verloren abseits steht, errötend.
"Weil du noch nicht unter der Haube bist, Tina", ruft die Ulknudel, klatscht sich auf die Schenkel und lacht... "ein Scherz!"

So könnte es weitergehen. Es liegt eine schöne Boshaftigkeit über der Szene und alle scheinen es zu genießen. Minou hat es anscheinend hier mit rundum gutgelaunten, übermütigen Menschen zu tun.
Sie bemerkt aber, dass Leute, die sich mögen und wirklich gut kennen, diese Art gegenseitige, öffentliche Entblößung sein lassen. Auch spricht kaum jemand über Krankheiten, Elend, Not. Man beeilt sich, wenn die Konversation ins Negative abzugleiten droht, schnell zu ‚interessanteren‘ Themen überzuspringen, zum Beispiel in enthusiastischen Tönen die Kunst des Kochs hier zu loben ... oder andächtig flüsternd bewundert man die Schönheit eines jungen Kellners – doch... er soll der Geliebte des Grafen M sein!! Wie extrem peinlich! Oder man belächelt das unmögliche Aussehen jener klapprigen französischen Kokotte, mit der Barone XYZ gerade stolz durch die Lande zieht.

Man diskutiert lang über den Reiz des mit Stahl- und Glas eingerichteten Esstempels, in dem man sich gerade aufhält. Wenn auch das ganze Ambiente - findet man einstimmig - eher unterkühlt wirkt, ist doch die Idee des Architekten genial gewesen, das muss man zugeben. Obwohl die Sache nicht ganz gelungen ist! Man wird dem Besitzer - gran Sympaticone! - durch regelmäßiges Erscheinen unter die Arme greifen. Zumindest solange, bis man Lust bekommt, ihn fallen zu lassen.

Es ist merkwürdig wie nah Begeisterung und Häme beieinander liegen, denkt Minou.
Und sie sind wieder einmal alle in so guter Stimmung! An Tischen nebenan lässt man sich tief begeistert über die traumhaften Geschäftserfolge eines Verwandten in USA oder über die ausgezeichnete, neue Schneiderin aus, deren Adresse einem una cara amica unter dem Siegel der Verschwiegenheit zugesteckt hat.

Atemlos berichtet jemand über jene jugendliche Amme des Neugeborenen der Signora Franchoni, eine Amme namens Pina, die man vom Land hat kommen lassen, eine ledige, junge Mutter und vorzügliche Milchspenderin, die ihr eigenes uneheliches Baby hat mit in die Familie bringen dürfen.
"Achtzehn Jahre jung ist das Mädchen und Dio mio, sie hat bessere Brüste als die Loren", verrät Signor Franchoni mit runden Augen.

Es ist alles superb, perfetto, fantastico.... Minou ist da in eine Gesellschaft von höchst begeisterungsfähigen und mit ihrem Leben scheinbar sehr zufriedenen Leuten geraten, die ihre Wirklichkeit dem schönen Schein gut angenähert haben.

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MINOU TUT KEINEN SCHRITT OHNE NIKOS

Nikos genießt es, wenn er Minou den Anblick immer neuer Naturschönheiten schenken kann, von den einsamen, öden Flanken des Etna hoch oben, die sie auf einer Bergsteigerpartie erwandern, bis zu den Cyclopenfelsen von Aci-Trezza, von Palermos bröckelnder Pracht über die herrliche Altstadt Notos bis zu den vielen antiken Tempelruinen mitten im Land. Vieles davon hat sie schon mit Ernando erlebt, doch Nikos weiß es nicht. So tut sie, als betrete sie bei jedem geschichtsträchtigen Städtekern, jedem schläfrigen Fischerort, den er ihr stolz vorführt, Neuland, um ihm die Freude nicht zu verderben. Dafür braucht sie keine Schauspielerin zu sein. Der Anblick klassischer Stätten, sowie ihrer mit der Tageszeit und dem Stand der Sonne sich ständig verändernden Schönheit, wird nie langweilig.
Und es gibt einen Vorteil gegenüber den früheren Besuchen: sie kann sich jetzt ganz auf die Farben, den Geruch, das Licht, auf die besondere Atmosphäre, die sie umgibt, einstellen. Damals, wenn Ernando dabei war, war sie stets in einer Art bebender Aufregung gewesen, da hatte ihr Herz bis in den Hals hinauf geschlagen, sie war taumelig gewesen vor lauter Begehren. Nur ihn hatte sie gesehen und Menschen und Dinge, die sie umgaben, nicht in ihrer Schönheit, nicht in ihrer Einzigartigkeit würdigen können. Erst jetzt, erst nachträglich ...

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GARAGENJUNGE

Die Kellner in den Restaurants der Umgebung vibrieren vor Diensteifer bei jedem ihrer Besuche, obwohl sie eigentlich inzwischen wissen müssen, dass das vom Dottore gegebene Trinkgeld recht knapp ausfallen wird. Bei Ernando hatte Minou sich stets über die Großzügigkeit gewundert, mit der er die Ober bedachte. Nikos praktiziert genau das Gegenteil, erzielt aber trotzdem bei den Leuten das gleiche Resultat ... eine geradezu kriecherische Unterwürfigkeit und Ehrerbietung. Die Demut dieser sizilianischen Menschen erstaunt Minou immer von neuem. Das über Jahrhunderte unterjochte Volk habe lernen müssen, den jeweiligen Herren zu schmeicheln und nach dem Mund zu reden und das aus reiner Überlebensstrategie ... so ähnlich hat sie es schon mehrmals gelesen. Als ihre jetzigen Herren sehen sie eben die halbwegs Reichen an, denkt Minou.

Auch Roberto, der Junge, der in der Garage auf Nikos Auto aufpasst, glüht vor Freude, bedankt sich überschwänglich selbst für die klein-kleine Münze, die ihm der Dottore ab und zu reicht.
Einmal geht Minou schon vor zum Auto, weil Nikos noch draußen mit jemandem etwas verhandelt. Der Alfa ist abgesperrt. Der Bub hält den Schlüsselbund in der Hand, klimpert herausfordernd damit, rückt ihn aber nicht heraus ... wo Minou sich doch schon gern in den Wagen gesetzt hätte.

Das Bürschlein wedelt grinsend mit dem Schlüsselbund: "Kommen Sie, holen Sie ihn sich, Signorina!" Er rennt davon, Minou jagt lachend hinter ihm her. Es gibt ein Gerangel.
In dem Augenblick kommt Nikos dazu. "Du benimmst dich wie eine Cameriera", sagt er nachher, als sie allein sind, "aber dir ist anscheinend nicht klar, dass du in diesem Augenblick vor dem Jungen dein Gesicht verloren hast!"

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DIE TÖCHTER DES PORTINAIO


Nikos hat ihr auch verboten, mit den beiden Töchtern des Portinaio mehr als ein paar belanglose Worte zu sprechen. Die Zwillinge, Rosalia und Pina kommen immer aus ihrer engen Loge hinter der Glasfront heraus gelaufen, wenn sie das deutsche Mädchen braungebrannt und mit der Badetasche am Arm in die Halle treten sehen. Zusammen mit ihrem Vater bewohnen sie einen einzigen Raum hinter dem Pförtnerschalter.

Sie sind ungefähr in meinem Alter - stellt Minou fest - und mit ebenso schlimmen Aknepickeln geschlagen, wie ich sie vor wenigen Jahren auch hatte. Und ihre Gesichter sind so farblos, als hätten sie nie die Sonne gesehen. Die nackten Arme der beiden und das Fleisch ihrer Hälse ist ständig wie von Gänsehaut überzogen und bläulich angehaucht.
Sie seien noch kein einziges Mal am Meer gewesen, hat Pina gesagt. Verrückt hört sich das an, wo man doch mit dem Auto in knapp 15 Minuten bei den schönen Stränden von Aci-Trezza sein kann. Aber sie sitzen den ganzen Tag im künstlichen Licht des Portierhäuschens, häkeln, stricken, sticken, wenn sie nicht gerade Korridore und Treppenhäuser schrubben. Sie haben große, runde, sehr dunkle Augen, sonderbar leidenschaftslose, ruhige Blicke und eine Fülle langer nachtschwarzer Haare, die, frisch gewaschen, wahrscheinlich eine Pracht wären, die sie jedoch stets fettig und unattraktiv, am Hinterkopf zu recht wirren Dutts zusammengesteckt tragen.

Neid scheinen die beiden Sizilianerinnen nicht zu kennen, auch keine anderen, bösen Gefühle. Sie sind von einer erstaunlichen Gutmütigkeit und scheinen sich schon in ihr trostloses Lebens gefügt zu haben. Minou bringen sie eine ganz unverdiente Zuneigung und Wärme entgegen und schenken ihr ein Deckchen, das sie aufwändig bestickt haben. Aber der Vater dürfe es keinesfalls erfahren, flüstert Pina. Er verkaufe nämlich alle von ihnen gemachten Sachen, damit sie halbwegs über die Runden kämen.
Ihre Mutter ist vor Jahren gestorben.
Minou will natürlich für das Deckchen zahlen, doch die beiden lehnen das ihnen hingehaltene Geld konsequent ab und sie spürt: würde sie weiter insistieren, so würden sich die Schwestern in ihrer Ehre gekränkt fühlen.
"Lass sie uns doch einmal mitnehmen zum Strand", sagt Minou, "wir könnten ihnen damit eine riesige Freude machen, bitte, bitte!"
Nikos der Ausgeglichene, der nie unter Launen oder Gefühlsschwankungen Leidende, der eigentlich vom Glück begünstigte Mann, kann Armut anscheinend nicht ausstehen.
"Du bist verrückt", murmelt er, "solche Geschöpfe sind ... skrofulös sind sie ... krank. Es gibt unzählige von dieser Sorte in Sizilien... ein trostloser Anblick, wenn sie denn ab und zu und NUR an Kirchenfesten zu den Prozessionen, fahl wie Grottenolme aus ihren finsteren Höhlen ans Tageslicht kriechen.
Du kannst im Vorbeigehen ein paar höfliche Worte mit ihnen wechseln, aber bleib nie stehen. Biederst du dich solchen Leuten an, dann wirst du von ihnen wie ihresgleichen behandelt. Erst, wenn du gebührenden Abstand wahrst, respektieren sie dich!
Es mögen gute Menschen sein", fügt er etwas milder hinzu, "doch ich und auch du... wir werden uns von ihnen fern halten. Ein freundlicher Gruß... ein paar Worte übers Wetter ... mehr braucht es nicht!"

Das macht Minou wütend. "Wenigstens arbeiten sie, was ich im Augenblick nicht tue. Und der alte Mann, ihr Vater, wann schläft der eigentlich? Man trifft ihn in seinem Pförtnerkasten rund um die Uhr und er macht alle Reparaturen, ob es nun am Morgen ist oder mitten in der Nacht. Vielleicht arbeitet er sogar mehr als du?", fügt sie provozierend hinzu.
"Du wirst es wahrscheinlich nie begreifen, Minou."
Da versucht sie, ihm klarzumachen, dass ER es ist, der veraltete Vorstellungen hat und man überall auf der Welt die Gleichheit der Menschen längst akzeptiere, dass die Gesellschaft in den meisten Ländern schon lang danach handle. Sie weiß nicht einmal, ob das stimmt, was sie sagt ... es wird aber sicher so sein ... eigentlich hat sie nie im Leben daran gezweifelt. Hauptsächlich will sie Nikos aber ärgern, denn sie ist wütend. Er ist oft so überheblich.
"Deine kindlichen Ansichten überzeugen mich nicht, Gleichberechtigung mag es bei euch in Deutschland geben, hier in Sizilien existiert so etwas nicht", sagt Nikos, "und das ist gut so!"

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NIKOS HAT 'ERNSTE ABSICHTEN'

Die südlichen Menschen lieben Wortspiele, die die Dinge oft nur andeuten. Sie verstehen sich untereinander schon mit Blicken, spürt Minou. Sie zeigen ihr nur ein Stückchen ihres Wesens und haben eine merkwürdig kantenlose, glatte Art, mit ihr umzugehen, eine unernste Art, in der bei Männern immer Sex im Hintergrund ein wenig mitspielt. Auch lässt man Minou nachsichtig und ein bisschen herablassend, leise spüren: eigentlich um Nikos und nicht um ihrer selbst Willen duldet man sie. Sie fühlt das. Meistens denkt sie, dass alle sie gern mögen. Sie selbst glaubt, sich recht gut in dieser Welt eingelebt zu haben. Die Wahrheit ist, dass sie von gesellschaftlichen Schranken, die es nun einmal gibt, früher zuhause nie etwas gehört hat und auch jetzt nichts wissen will.
Nikos zieht sie mehr und mehr in den Kreis seiner Familie hinein, er scheint es ‚ernst‘ mit ihr zu meinen, was immer das bedeutet - und fängt sogar an, davon zu reden, dass er sie sich - als neue Ehefrau vorstellen könne. Bald fragt er klipp und klar, ob sie ihn heiraten möchte. Auch von Kindern spricht er in diesem Zusammenhang ...

Nein, nein, nein ... das alles will Minou absolut nicht.
Sie, die sich zu keiner neuen Liebe fähig fühlt, steht nun seiner Frage ratlos gegenüber. Doch ist sie zu egoistisch, vielleicht sogar hinterhältig UND zu unehrlich, um ihm ein klares ‚Nein‘ zu sagen. Sie lässt ihm Hoffnung. Sie brauche mehr Zeit, murmelt sie ...

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Nikos beobachtet sie ständig.
"Das hast du heute Abend bei der Einladung gut gemacht", lobt er. Du bist souverän gewesen. Meine Bekannten, auch meine Brüder, sind ziemlich von dir angetan."
Er sagt ihr aber auch, wo und wann ihr eine ‚Gaffe‘ unterlaufen sei, was sie beim nächsten Mal an ihrem Verhalten ändern müsse.

"Du hättest ruhig etwas koketter auftreten können, als der Principe dir vor allen Leuten die Hand küsste. Du solltest ruhig ein wenig flirten."

Wenn Nikos feststellt, dass seine Freunde oder Geschäftspartner sie mit Interesse und Wohlwollen wahrnehmen, ist er zufrieden. Er ist nicht immer mit ihr zufrieden. Manchmal macht sie einen hilflosen Eindruck, steht auf Partys mitten in einer Gruppe unsicher und steif herum, die Arme auf linkische Weise vor dem Leib verschränkt, unfähig, ein vernünftiges Wort herauszubekommen.
"Du darfst dich nicht auf diese Art hinstellen und deinen Bauch festhalten, das erinnert grauenvoll an eine schwangere cameriera", rügt er sie nachher im Auto.
"So stehe ich doch immer", murmelt sie verwirrt.


Nikos erregt Aufsehen mit Minou. Stets hat er die Kleine bei sich und zeigt sie überall herum.
Aber was ist das für eine? Äußerlich hat der Grieche eine gut angezogene, durchgestylte Puppe aus ihr gemacht. Doch das ist sie nicht NUR. Sie strahlt schon etwas mehr aus. Ein merkwürdiges Geschöpf, manchmal klug und funkelnd und man fängt an, sie interessant zu finden, dann ist sie plötzlich wieder hilflos, wortlos, verschlossen, unbedarft. Man schwankt ... weiß nicht, was man von ihr halten soll.

Nikos spürt bald die Handicaps und Beschränkungen des Mädchens. Trotz vielversprechender Möglichkeiten, zweifelt er daran, dass sie in dieser ihn umgebenden Gesellschaft ihren Platz finden wird, wohl weil sie es nicht wirklich WILL. Sie würde nie eine schillernde Rolle in seiner Welt spielen. Ohne Durchsetzungskraft ist sie, zeigt auch nicht den präzisen Verstand, den er ihr zugetraut hat ... ein bescheidenes Ding ohne Ehrgeiz eben, so als habe sie ihr ganzes Sein auf Sparflamme gesetzt, als hätte sie hundert Leben zu verschenken, statt aus dem einen das Bestmögliche herauszuholen.

Sie besitzt Stilgefühl. Und Fantasie hat sie auch. Aber sie versagt – das spürt er - wenn es gilt, Erobertes festzuhalten, eine Zukunft zu planen, auf ein Ziel hinzuarbeiten. Sie ist wie ein Rohr im Wind. Ihr fehlt sogar die Lust am gesellschaftlichen Glanz. Wenn es darauf ankommt, will sie nichts darstellen. An den spannenden Spielen, die man hier spielt, ob mit- oder gegeneinander, die man auch sonstwo auf der Welt spielt, nimmt sie keinen Anteil. Sie scheint vollkommen gleichgültig allen Werten gegenüber, die er und seine Schicht so heftig hochhalten. Aber auch eigene Ideale und brennende Wünsche sucht er an ihr vergebens. Ihr Wesen bleibt ihm oft fremd. Dabei ist sie nicht dumm im herkömmlichen Sinn, Sie braucht länger als andere, etwas zu begreifen, doch wenn sie einmal begriffen hat, hat sie bis in alle Tiefe begriffen und es bedarf keiner Fragen mehr.
Alles in allem aber stellt die Kleine ihr Licht auf unsägliche Weise unter den Scheffel, denkt er. Nein, schillernd oder geistreich im mediterranen Sinn würde sie nie sein. Diese Hoffnung, die er am Anfang in sie hinein sah, hat er bereits aufgegeben. Seine erträumte ‚Fair Lady‘, das Mädchenwunder würde wohl schwerlich aus ihr werden. Seine Freunde finden sie jedoch sympathisch, die Damen seiner Umgebung haben nichts gegen sie einzuwenden ... aus dem einfachen Grund, dass sie für keine eine Gefahr bedeutet.

Die Schwerfälligkeit von Minous Handeln bringt Nikos, der einen beweglichen Geist hat und über viele Ecken und Windungen hinweg denkt, manchmal aus der Fassung. Aber, auch wenn er sie kritisiert, tut er es auf eine ironische, charmante ‚Nebenbeiweise‘, um sie so wenig wie möglich zu verletzen.


*


Was vorherging:

Minou Kern lebt in Marienstock mit Vater, Stiefmutter und den kleineren Geschwistern und arbeitet als Angestellte auf dem Fernsprechamt in Brückenstadt.
1955 fährt Minou - inzwischen 16 Jahre alt - mit einer Jugendreisegesellschaft nach Sizilien.
Das Ziel ist Mare Luce, eine Campinganlage am Meer bei Siracus. Dort lernt sie den Conte Ernando Sascala kennen, einen Mann, den viele für dunkel und undurchsichtig halten. Nach einer ‚halben‘ Affäre zwischen ihnen, geht sie, als der Urlaub zu Ende ist, nach Hause und versucht, weiterzuleben wie vorher. Dann schreibt Ernando ihr einen interessanten, wenn auch kurzen Brief. Sie, mehr denn je in Liebe entbrannt, setzt alles daran, in seine Nähe zurückzukehren
Bald arbeitet sie in Sizilien im Büro des Campeggio und erlebt ihre Liebe zu Ernando jetzt mit allen Konsequenzen. Eines Tages verlässt er sie für eine neue Gespielin. Minou wird krank.

Sommer 1957. Die achtzehnjährige Minou lebt jetzt als Gast und ‚ständige Begleiterin‘ des Griechen Nikos Sakatis, ihrem ‚uneigennützigen‘ Verehrer in Catania.

*



ERNANDOS SPIELE


Nikos scheint Minou nun zuzutrauen, dass sie sich auch ohne Begleitung in der - längst nicht mehr fremden - Umgebung wird behaupten können. Es ist das erste Mal, dass er sie allein zu einem Stadtbummel los schickt. Er hat ihr ein Bündel Scheine in die Hand gedrückt.
"Geh, kauf dir etwas Schönes. Denk daran, dass wir nächste Woche zur Hauseinweihungsparty von Estella gehen werden. Such dir selbst ein Kleid aus!" Dass es ein Experiment ist, dass er sehen will, ob sie eigenen Stil und Geschmack hat, sagt er ihr nicht. Und auch nicht, dass er neugierig auf das ist, was sie mitbringen wird.

Soviel Geld! Minou nimmt es aber wie selbstverständlich hin, ohne ihm besonders zu danken. Warum auch? Als wohlverdienten Tribut sieht sie es an, Tribut an ihre liebenswerte, kleine Person.

Eine Stunde später stöckelt sie, bereits mit mehreren Päckchen beladen, durch die Via Etnea. Die Lire wirft sie nicht ganz so leicht – schon mit etwas schlechtem Gewissen hinaus. Denn sie braucht nichts Neues. Was Kleidung betrifft, gibt es wenig, das sie nicht schon hat. Dennoch greift sie da und dort lässig zu ... je nach Augenblickslaune.
Elke hätte sich vielleicht für eine solche Summe zwei oder drei exquisite, hochwertige Teile gekauft, denkt sie. Minou ersteht hier ein Fetzchen, da einen Fummel, rote und schwarze Unterwäsche – ach soo sexy - und Handtaschen, Modeklunkern, einige Paare total verrückte Schuhe, hübschen, bunten Firlefanz, Nichtigkeiten. Je mehr, desto besser.

Zum ersten Mal ist sie hier allein unterwegs. Es scheint an diesem späten Nachmittag, als berste das Zentrum Catanias unter Lärm und Trubel aus den Nähten. Autohupkonzerte. Menschenmassen wälzen sich die enge Via Etnea entlang. Chaotisch, explosiv erscheint Minou die Stadt!

Sie wird mit "Bella-Bella"-Rufen abgerissener oder auch chic aussehender Casanovas konfrontiert, die in diversen Männerrudeln von dreien, vieren, an Häuserecken und vor Straßencafés lauern, sie intensiv beäugen, durch die üblichen Papagalli-Sprüche beglücken, auch verfolgen.
Das kommt davon, dass man sie als Ausländerin erkennt. Ausländerinnen – sie sind noch rar im Stadtbild - dürfen von sizilianischen ‚Bewunderern‘ angesprochen und umringt werden. Ich glaube, die halten es hier für ihre Pflicht, den in den Süden verschlagenen, armen hergelaufenen Frauen auf diese Weise ihre Attraktivität zu bestätigen. Irgendwie scheinen die Typen das eigene Treiben - das womöglich aus Langeweile entsteht, nicht verbissen zu sehen, eher ihr Machotum freiwillig und lachend selbst zu parodieren.
Sie sind ja nicht wirklich hinter mir her, betrachten das Ganze eher als Gruppensport und würden sich erst richtig amüsieren, wenn ich verschreckt nach der Policia riefe, fährt es Minou durch den Kopf und sie grinst.

Ha ... solche Kleinigkeiten prallen doch an ihr ab! Sie läuft zügig weiter. Die Anwesenheit all der übrigen, seriösen Leute – beiderlei Geschlechts – umgibt sie mit einem Gefühl des Beschützseins inmitten der Menge, sodass dieses Männergehabe für sie eher eine prickelnde Zutat ist zur merkwürdig aufgeheizten, sinnlichen Atmosphäre des Nachmittags.

Aus der Pasticceria, an der sie gerade vorbei kommt, duftet es nach Rosenwasser und anderen Backaromen, Orangen Marzipan, Pralinensüße. In den Bistros hängt das Aroma von frisch gebranntem Kaffee. Wohlhabenheit herrscht hier ... aber nur auf der Flaniermeile. Catania ist ungeordnet, keine ‚schöne‘ Stadt. Minou war zuvor auf ihrem Bummel in dunkle, elende Gassen geraten, vorbei an - wie sie weiß - mit Menschen eng zugestopften Souterrain-Wohnungen, Kellerlöchern gleich, und alten, im Krieg von den Alliierten zerbombten, nun verfallenden Barockpalästen in der Via dei Cruciferi: einer einst reichen Prachtstraße. Dutzendweise obskure, verschachtelte Hinterhöfe und Behausungen ohne Sonnenlicht, nur wenige Meter vom Glanz der Boutiquen und Cafés entfernt.

Während sie aber durch die Via Etnea in nordwestlicher Richtung läuft, hebt sich ihr Blick geradewegs zum Berg Ätna. An diesem sommerwarmen Novembernachmittag trägt er bereits seine Leuchtkappe aus Schnee. Er, Catanias mächtiger Torwächter.

Minou ist erregt, fühlt sich ganz als Teil des chaotischen und im Chaos doch – wie ihr scheint - so harmonischen Ganzen.
Vor einem Luxusschaufenster mitten im Gewühl einer stark frequentierten Passage, spürt sie plötzlich eine hohe Gestalt hinter sich, dreht sich nicht um. Das hat sie inzwischen gelernt, fremde Männer schaut man nicht an - und ein Mann muss es sein, der da viel zu nah bei ihr steht, das fühlt sie.

Fallen ihr alle Einkaufspäckchen schlagartig aus der Hand? Wird sie taumelig? Bleibt ihr Herz stehen? Beinahe.
Denn ihren Namen hört sie plötzlich leise: "Minou."
Den Schock überlebt sie mit rasendem Puls und bebenden Knien. Sie weiß sofort: ER ist es. Ernando!

Stürzt sie ihm in die Arme? Ja ... aber nein ... Sie läuft einfach weiter.
Er neben ihr.
"Komm mit ins Auto, Minou!" Er deutet mit der Hand zu einem Parkplatz. Sie spielt die Stumme.
Er packt sie beim Arm.
Sie reißt sich los.
Ist sie verrückt geworden? Rennt sie ihm doch tatsächlich davon!
Er jetzt dicht hinter ihr, versucht wieder, ihren Arm zu fassen.
"Lass uns irgendwo einen Kaffee trinken!", lockt er.
Scheinbar unbeirrt stöckelt sie weiter.
"Lass uns reden, Minou!"
Ihr Herz wird gleich aussetzen. Lang steht es das nicht durch. Sie weiß es. Nur nicht umfallen, jetzt!

Sie läuft. Erhobenen Hauptes. Die Unnahbare. Er hatte sie im Campeggio allein gelassen, seinetwegen war sie krank geworden. Dann hatte er ihr auf der Taormina-Fete ein Wiedersehen vorgeschlagen und sich niemals gemeldet.
Jetzt kann endlich ICH die Hochmütige sein. Die Ablehnende, denkt sie, während alles Blut ihr in den Kopf schießt.
Sie ist inzwischen mindestens fünfhundert Meter gelaufen und er verfolgt sie immer noch gegen den dichten Strom der ihnen Entgegenkommenden.
Er ist manchmal ein paar Schritte hinter ihr, manchmal neben ihr. Dann packt er sie beim Arm.
Langsam wird er laut.
"Mädchen, was spielst du mir eigentlich vor!"
Sie schweigt. Er erwischt ihren Ellenbogen und sie entwindet sich. Die Leute halten ihn wohl schon für ihren Belästiger. Ein paar bleiben irritiert stehen und gaffen. Schon bilden Ernando und sie auf dem Bürgersteig ein Hindernis für die Passanten.
Sie schüttelt seine Hand ab.
Doch der Sog zu ihm hin ... die magnetische Kraft! Minou beherrscht sich, spielt die Rolle. Gut?
Weiter strebt sie, vorwärts. Als kenne sie ihn nicht.
Jetzt hat er aber genug. Er hält sie ganz einfach fest.

"Minou, du kommst jetzt sofort mit!"
Es starren aber einige Leute inzwischen nervös und einmischbereit zu ihnen her.
"Lassen Sie mich!" schreit Minou laut, macht sich los, ist soviel kleiner und gelenkiger als er. Und sie rennt.
Merkwürdig ... warum eigentlich?

Da ... sie flüchtet rasch in einen Laden, atmet auf, neugierig wie es nun weitergehen wird. Sie blufft. Eigentlich blufft sie nur. Ein Mädchen muss sich rar und kostbar machen ... Lisas Worte.
Und fällt dann aus allen Wolken, denn er kommt nicht nach, scheint endlich genug zu haben von dem Theater. Damit hat sie keineswegs gerechnet. Bebend späht sie durch die Schaufensterscheibe. Er ist fort.

Wie sie es bedauert! Ihn loswerden, DAS wollte Minou nicht!
‚Noch heute hätte er mich mit zu sich genommen ... in sein Bett, in Geborgenheit und Ekstase, in seine Arme, in ein Glück, ein kurzes, wahrscheinlich aber dennoch ... Und ich habe mir alles selbst verdorben ... die Chance vergeben, ich Blöde, und das aus – aufgesetztem - Stolz! Aus Moral, die ich innen nicht fühle, denkt sie vage ...
Und doch ... das ist vielleicht ein Wendepunkt in meinem Leben. ER begehrt mich! Er wird wiederkommen!

Das spürt sie. Sie weiß das. Ernando. Er würde nie so hinter einer Frau herlaufen, an der ihm nichts liegt. Ihre aufgewühlten Gedanken gleiten auf dieser Schiene weiter.

*

Nikos freut sich über Minous hochgemute Stimmung, als er sie später in ihrer Wohnung trifft. Sie leuchtet geradezu von innen heraus, stolziert tänzelnd vor dem Spiegel umher in einem der neu gekauften Kleider. Dies hier ist marineblau mit weißen Pünktchen, weit schwingendem Rock, breitem, ebenso blauem Ledergürtel, Kragen aus blütenweißer Spitze. Hochgeschlossen ist dieses Wunderwerk der Schneiderkunst, das Minous Brüste und schmale Taille aber doch recht hübsch betont.
"Und es hat fast gar nichts gekostet!"

"Aha", denkt Nikos amüsiert, "genau so, wie ich es mir vorgestellt habe ... sie hat den Geschmack eines Dienstmädchens ... jede Cameriera aus der Provinz hätte sich genau das für ihren Osterspaziergang ausgesucht!‘
Er grinst. "Lass mal sehen, was du sonst noch entdeckt hast." Da führt sie ihm die reinste Modeschau vor, kindlich und fröhlich, eine kleine petticoat-queen! Unmögliches Zeug.
"Lauter Sonderschnäppchen!" jubelt sie.

Sie zeigt ihm auch eine knallrote, große Handtasche aus glänzendem, geflochtenem Bast mit verschiedenfarbigen Perlen garniert, ein paar Seidenschals voller Silber- und Goldstickerei – billige orientalische Ware, doch teuer eingekauft, weiß er, als sie ihm den Preis sagt.
Ein echtes Weibchen, denkt er zufrieden, man muss sie nur zum Einkaufen losschicken ... schon ist all ihr Kummer und ihre Depression wie vom Wind weggeblasen."

In dieser Stunde kommt sie ihm reizend vor ... da ist dieses innere Glühen, das er so stark nie an ihr wahrgenommen hat. Es fällt ihm schwer, sie nicht gewaltsam an sich zu reißen ...

*

Um zwei Uhr in der Nacht dann liegt Minou im Bett und denkt aufgewühlt an die Ernando-Begegnung. Anschließend war sie mit Nikos und einigen seiner Freunde zum Abendessen in Taormina gewesen ... doch unwichtig ... schon vergessen!
Danach hatte Nikos sie an ihrer Wohnungstür abgesetzt, in die Arme genommen, väterlich auf die Wangen geküsst. Wie immer, war er so spät nicht mehr mit hinein gegangen. Gewartet hatte er noch auf das Geräusch des Schlüssels, den sie von innen umdrehte, sein "gute Nacht, schlaf schön" war durch die Tür gekommen und dann hatte sie den Aufzug gehört, der ihn nach unten brachte.

*

Laut zerreißt plötzlich neben Minous Bett das Geschrille des Telefons die Samtruhe der Nacht.
"Es muss noch einmal Nikos sein ... merkwürdig. Das tut er doch sonst nicht."
Auch Regula oder Elke rufen nie zu einer solchen Zeit an! Und sonst hat keiner ihre Nummer.

Dann hört sie DIE Stimme.
"Minou, ich bin ganz in deiner Nähe! Komm nach unten. Lass uns reden. In zehn Minuten werde ich vor deinem Haus sein!"

"Ernando ... wie sind Sie in die Leitung geraten?", stammelt Minou, denn die Telefonnummer hier ist eine geheime. "Keine Auskunft der Welt gibt sie heraus", hatte Nikos gesagt. Und überhaupt ... wie kann er eigentlich wissen, wo sie wohnt? An ihrer Klingel unten in der Eingangshalle steht ein Firmenname, nicht der Ihre. Ist ihr Sascala am Nachmittag heimlich gefolgt?

"Ich warte auf dich", sagt er. Sie kann seinen Willen spüren, das Verlangen in seiner Stimme.
Warum spielt sie nicht weiter die Kostbare, Fliehende?

Nein ... statt dessen stürzt sie hektisch ins Bad und unter die Dusche, um zwei Uhr in der Nacht wacher denn je! Kleidet sich an mit fahrigen Bewegungen. Sie wird ihm nicht schlampig entgegentreten, sondern angezogen wie zu einem offiziellen Rendez-vous. Noch ein paar wenige Bürstenstriche übers Haar ... im Spiegel sieht sie schön aus in dieser Minute. Sie stellt es mit Staunen fest. Sieht besser aus als sonst. Nie schienen ihre Augen so groß, nein, ihre Wangen so rosig. Sie braucht keine Bemalung. Doch sprüht sie - vielleicht absichtlich - ein bisschen zuviel Parfum auf die Haut, jenen Duft, den er immer so gern gemocht hat.
Der Fahrstuhl kommt und kommt nicht, sie rennt wie eine Wilde die Treppen hinunter.

Da ist er wieder, der große Sog. Der Strudel, der sie Ernando entgegenzieht. Jetzt sind Stolz und all das unwichtig. Da hat sie nur noch eines im Kopf ... EINES ... das einzige, was zählt.
......
Im Wagen – Sascala ist nicht ausgestiegen, sondern hält ihr von innen die Tür auf – sieht sie im Dunkel halb verborgen sein schönes, fremd gewordenes Gesicht. Sein Lächeln. Sie spürt den von damals vertrauten, herb-guten Geruch. Eiskalt und heiß rieselt es ihren Rücken herab. Da klammert sie sich in höchster Not an seinen Körper wie an einen Rettungsanker. Ernandos Arme umfangen und halten sie. Sein Mund schon auf dem ihren, fordernd ... seine Zunge ...
Seine Hände, die sie liebkosen ... Romantik und Überrumpelung zugleich für ihr verwirrtes, junges Herz.
Dann plötzlich lässt er sie abrupt los, der Motor springt an, der Wagen schießt vorwärts.

Nach fünf Minuten Fahrt parkt er in einer Tiefgarage, geht um das Auto herum, öffnet Minous Tür.
"Er fasst Minou bei der Hand, zieht sie vorwärts, hält ihre Finger schmerzhaft gepresst, während er sie mit sich zieht.
Eine ihr unbekannte Straße im Zentrum von Catania um halb drei Uhr nachts! Ein Haus, ein Zimmer. Er will nur das eine. Er will es augenblicklich. Sie aber möchte Zärtlichkeit. Auch reden, reden ... Da überschlägt sich ihre Kinderstimme. "Ich hab so lang gewartet ... warum hast du nie etwas ..."
Er küsst sie, küsst sie ... er spricht nicht.

Es ist kein fröhliches ‚fare l‘amore‘. Er über ihr, in ihr mit seiner wütenden, dunklen Gier. Er nimmt sie so heftig, dass es wirklich sehr weh tut, wirbelt ihr Körper und Seele durcheinander, ihre Gefühle - das spürt sie - sind enger bei ihm, als je zuvor. Die seinen sind wohl verworrener.
"Du kleine Hure ... tu so, als ob ich ein Fremder wäre, nichts als ein geiler Fremder, der dich auf der Straße aufgelesen hat", sagt er, "du bist ein armes Mädchen, das meinem Schwanz jetzt ausgeliefert ist - fliehen kannst du nicht mehr, musst dich von ihm ficken lassen, ob du willst oder nicht.
"Ja", flüstert Minou - bebend und demütig.
Er tut ihr sehr weh.
"Schrei ruhig, schrei ruhig ... doch du weißt ... was ich mit dir tue, ist gut für dich. GUT. Auch wenn du schreist. Sag es mir. Sag, dass du eine kleine Hure bist und deshalb alles ertragen musst, was man mit dir macht! Und dass es dir gefällt. Gefallen muss!"
Sie schluchzt.
"Ja ... du bist eine verletzbare Kleine. Ich bin ein verderbter Mann ... meine Wünsche sind nicht freundlich, ich weiß es!"

Er benutzt sie. Ihr Körper setzt seinem Drang wenig Substanz entgegen. Wie gelähmt sind ihre Gefühle. Und aufgewühlt zugleich. Die Lust. Er tut ihr weh. Weh. Sie hat sich ihm ergeben. Ohne Stolz, ohne Selbstbestimmung. Glücklich ist sie in der Erniedrigung. Glücklich wirklich. Er muss mich für ein Schilfrohr im Wind halten, ein Nichts, denkt sie vage. Und auch das macht sie glücklich.

Schlimm die grässlich knarrende Bettstatt! Deshalb finden sie sich beide bald auf dem Fußboden. Dem harten, kühlen Boden aus Stein. Ernando nimmt sie seinem Willen, seiner Macht entsprechend. Ausgeliefert ist sie ...

Und immer ist er geschützt durch diese dünne, fremde Haut aus Kautschuk. Merkwürdig kontrolliert. Überlegen. Rücksichtslos und abgesichert. Das steigert noch ihre Hingabe. Den dunklen Zauber.

Als sie nachher an seinen Körper geschmiegt, wimmernde Laute ausstößt, nimmt er sie in die Arme, hebt sie von den glatten Marmorfliesen auf, über die ihre Körper während des ganzen Gerangels bis zur entfernten Wand gerutscht, geschlittert sind und trägt sie wieder zum Bett.

Aber jetzt scheint Ernando nicht mehr an sich zu denken. Nur an sie. Gibt ihr Lust. Auf zärtliche, ihr dienende Weise schenkt er ihr Lust. Mit sanften, einfühlsamen Lippen, mit seiner Zunge, seinem Mund am Zentrum ihrer Weiblichkeit. Wie früher, ist er auch jetzt darauf bedacht, ihr den Orgasmus zu verschaffen, den sie während seines wütenden Liebemachens vorhin nicht bekommen hat, den sie gar nicht unbedingt braucht. Denn sie wäre auch so atemlos glücklich. Glücklich, von ihm benutzt und begehrt worden zu sein. Das Objekt seiner Lust. Sonst nichts. Doch er schenkt ihr den Orgasmus ... den aufwühlendsten. Und er schenkt ihr Küsse jetzt. Zärtliche.

Da löst sich ihre Spannung endlich in Weinen und Schluchzen. Nun zerfließt sie geradezu in seinen Armen.
"Ich habe immer an dich gedacht, Ernando."
"Ja", sagt er.
"Ich bin so froh, dass du wieder ... es war so schwer ohne dich."
"Ich habe dich auch nicht vergessen, Kleine", sagt er.
Noch nie ist er ihr so nah gewesen, mit wenigen Worten so nah.
"Ich sehe in deine Seele, du bist kein zufriedener Mensch", fährt es ihr durch den Kopf. Da hofft sie ... sie sei ihm wichtig und könne ihm helfen.

Er ist stumm und verschlossen, als er ihr wenige Stunden später, am sehr frühen Morgen, beim Anziehen hilft, indem er ihr ernst das Höschen, das Kleid, hinreicht ...

"Oh, ich liebe dich, ich liebe dich", möchte Minou ihm nachher im Auto sagen, auf dem Weg zurück. Das tut sie aber nicht ... lehnt statt dessen ihr Gesicht wie Hilfe suchend an seines.

Doch er spricht nicht vom Erdbeben dieser Nacht, nicht von Dauer und Zukunft, gibt ihr nur ein vages: "Ich werde dich morgen anrufen" als Hoffnung mit.

Ein Stück von ihrem Haus entfernt, setzt er sie ab.
"Lauf jetzt, damit dich niemand sieht."
Warum sagt er das? Sie schämt sich dieser Nacht kein bisschen. Und er?
Er wartet, bis sie am Eingangsportal die Hand hebt. Auch er gibt ihr ein Handzeichen. Während sie die Haustür aufsperrt, hört sie in der Stille des erwachenden Tages, wie er den Motor anlässt.

*

In ihren Kleidern legt sich Minou aufs Bett. Erschöpft, aber mit einem Gefühl allumfassender Geborgenheit kann sie jetzt noch eine Stunde ruhen, bis Nikos zum Frühstück kommt.
Wundergläubig ist sie wie ein Kind. Ein großes Glücklichsein ist in ihr. ‚Ernando wird alles ins rechte Lot rücken‘, denkt sie, ‚er wird mich zu sich holen. Er wird bestimmt nicht länger wollen, dass wir getrennt sind.‘

*


Doch das hier ist Sizilien.
Was Minou nicht weiß: Robert, der Garagenjunge – er wohnt direkt neben seiner Arbeitsstelle und scheint wie der Portinaio kaum je zu schlafen - verrät ihren Fehltritt gnadenlos und augenblicklich. Er ist loyal zu seinem Herrn, Nikos Sakatis. Er ist nicht loyal zu Minou, mit der er stets so freundschaftlich geplaudert, der er oft geschmeichelt hat.

Er habe die deutsche Signorina in der Nacht in einen unbekannten Wagen steigen und in der Frühe aus dem gleichen Auto kommen sehen, vermeldet der Junge dem Dottore pflichtschuldig, als der ihm am Morgen die Schlüssel seines Alfa übergibt. Sogar die Nummer des betreffenden Wagens hat Roberto sich notiert.

*


"Du bist verändert, Minou! Was ist mit dir?", fragt Sakatis am Kaffeetisch mit beiläufiger Stimme. "Hast du etwas auf dem Herzen, möchtest du mir etwas sagen?"
Sie weiß augenblicklich, dass er vermutet, dass er ahnt ... sonst würde er so etwas nicht fragen.
Sie schweigt.
"Dein Gesicht ist heute Morgen ein offenes Buch und ein einziger Name steht dort in goldenen Lettern geschrieben. Aber du hast mir ja nichts zu sagen? Oder?"
Minou fasst es kaum!
Doch sie ist ganz ruhig. Sie hätte es ihm ohnehin verraten ... vielleicht!

Minou redet. Sagt nur einen Satz. Sagt Nikos in dünnen Worten nicht viel und doch mehr als er vermutet hat.

Es ist wohl weniger Eifersucht als Eitelkeit, die den Griechen reagieren lässt.
"Sicher hast du Sascala verraten, dass da nichts ist zwischen UNS!"

"Er hat mich nicht danach gefragt."
"Er hat dich nicht gefragt? Was für eine Unverfrorenheit! Er hat dich nicht gefragt? Er musste folglich glauben, wir seien ein Paar und hat ES dennoch getan. Nicht einmal das hält ihn von seinem Treiben ab! Du verirrtes Kind! Weißt du, was ich jetzt tue? Ich werde zu ihm hinfahren, ihn zur Rede stellen. Heute. Gleich. Ich kenne ihn gut und weiß schon jetzt ... er wird die Schultern zucken, ein gelangweiltes Gesicht ziehen. Er wird alles zugeben und dich trotzdem verleugnen, die Angelegenheit als Bagatelle abtun. Du wirst sehen! Ich will, dass er mir Rede und Antwort steht ..."

"NEIN", brüllt sie, "NEIN! Bitte nein! Wenn du das tust, werde ich ... werde ich ..." ( was wird sie? Sie hat keine Ahnung, was sie dann machen wird! )

"ICH werde ihn fragen, wie er sich die Sache mit dir weiterhin vorstellt", schreit Sakatis, "aber ... er stellt sich die Sache gar nicht vor, ich kenne ihn, er wird sich lächelnd aus der Affäre ziehen, ich kenne ihn!"

"Bitte Nikos, geh nicht zu ihm", schluchzt Minou, "verdirb nicht alles, tu‘s mir zuliebe nicht, geh nicht, mach nicht alles kaputt!"

*

"Nikos, du hast DOCH mit Ernando geredet", murmelt Minou ein paar Tage später.
Sakatis nickt.
"Was hat er gesagt? Ich will jedes Wort wissen, bitte, bitte", insistiert sie.
"Er hat nicht schlecht über dich gesprochen. Hauptsächlich hat er geschwiegen.

Ich habe ihm angeboten, dich zu ihm zu schicken, ihm deine ganze, kleine Person samt deinen Habseligkeiten persönlich auszuhändigen, damit ER in Zukunft für dich sorge. Dass ich dich ihm sozusagen frei Haus liefern werde, habe ich ihm gesagt, ihm die Augen geöffnet und erzählt, wie du um ihn leidest, wie sehr er dein Abgott ist. Das hat ihn anscheinend ziemlich auf den Boden der Realität heruntergebracht."
"Nikos ... nein ... nein!"
"DOCH! Er hat Ausflüchte gebraucht ... mit anderen Worten, er will keine Verantwortung für dich übernehmen!"
"O, o, o ... du hast alles zerstört. Absichtlich hast du alles zerstört, Nikos."
Minou ist von Zorn überwältigt: "Du hast ihn aus Bosheit von mir weggetrieben."
"Ach", sagt Nikos, "er schien ganz und gar unbeteiligt, er sprach sehr sachlich von dir."
Sachlich, denkt sie und hört wieder vor ihrem geistigen Ohr seine Stimme, auf deren Grund sie in jener Nacht Liebe vermutet hatte ... Liebe!
"Dabei wärst du nicht seine erste Affaire gewesen, die er heimlich untergebracht und finanziell versorgt hätte. Das weiß hier jeder! Aber in deinem Fall will er es anscheinend nicht. Was magst du sonst noch hören?"
"Du hast alles kaputt gemacht."

*

Nikos spürt: Sie nimmt jedes Wort, das er sagt, für bare Münze und das ist es ja auch im tieferen Sinn und doch weiß er, dass er so gut wie jede Tatsache verdreht hat.

Er hat Ernando Sascala nämlich in dem Glauben gelassen, er selbst sei längst mit der Kleinen intim. Er hat ihm sein ernsthaftes Interesse an dem - wie er sagte – seelisch noch etwas labilen, unausgereiften jungen Ding bekundet und ihm das Versprechen abgenommen, sich dem Mädchen nicht mehr zu nähern ... damit endlich ihre Psyche sich erhole ...
Nikos hat also von dem Conte klipp und klar verlangt, ihm in Zukunft nicht mehr ins Gehege zu kommen, sonst ...

"Es könnte ein Spektakel geben, das deiner Familienidylle nicht zuträglich ist, mein Freund ... ein bisschen Gerede da und dort von meinen Leuten ausgestreut ... jeder kennt die liebende Sorge des großen Signor Datone ( Ernandos Schwiegervater ) für seiner Tochter Lucia und seine Unnachgiebigkeit, ja seinen Ekel, wenn es um deine erbärmlichen Affären geht." Solche und ähnliche Sätze hatte Nikos sich zurechtgelegt, um den gewissenlosen Don Juan in seine Grenzen zu verweisen. Aber dieser Drastik hatte es nicht einmal bedurft, denn Ernando erklärte sich ganz selbstverständlich bereit, dem jungen Ding in Zukunft nicht mehr nahe zu treten.
"Ich konnte doch nicht ahnen, dass dir dieses deutsche Mädchen so stark am Herzen liegt! Du weißt, ich respektiere die Gefühle eines Mannes. Ich wünsche dir viel Glück. Behandle sie gut, mein Freund", hatte er Sakatis noch mit auf den Weg gegeben, "wir kennen sie nun beide und wissen, bei all ihren jugendlichen ... Unzulänglichkeiten ... und auch Qualitäten ... muss man ihr eines lassen: Sie ist keine puttana und keine cameriera."

Dass er und Ernando ohne Rivalität, zuletzt sogar in gutem Einvernehmen auseinander gegangen sind, sagt Nikos der Kleinen lieber nicht.

*




MINOU ... WIEDER EIN NEUER JOB

Herbst. Ernando Sascala ist irgendwo in Nordafrika auf Löwenjagd. Er fährt regelmäßig dort hin, sagt Nikos. Sizilianer tun das.
‚Es passt gut zu ihm. Seine fremdartigen, dunklen Züge zeigen, dass er ohnehin maurisches Blut in den Adern hat‘, denkt Minou. Afrika ist von der Südwestküste Siziliens nur eine kleine Schiffsreise übers Meer entfernt.
‚Löwenjagd! Deshalb also lässt Ernando nichts von sich hören‘, denkt Minou.
Die Erinnerung an das letzte Zusammensein und die Tatsache, dass der Geliebte sie seit jener letzten Nacht allein gelassen hat, beschäftigt ständig ihre Gedanken. Sie fühlt sich erbärmlich, von neuem von ihm verlassen ... und nutzlos.

Sie möchte - und muss - wieder etwas Sinnvolles tun, nicht nur als Nikos mäßig bestauntes Anhängsel mit ihm durch die Gegend ziehen. Nur so kann sie ihren Stolz wieder finden.

"Geh doch als Gouvernante zu den Sprösslingen der Baronessa Cavetti", sagt Alessandra Sanpedro. "Das letzte Fräulein – ein Mädchen aus Francoforte - hat gekündigt. Und weil die Kleinen gerade begonnen haben, so schön Deutsch zu lernen, kämst du meiner Freundin wie gerufen."

Signora Cavetti ist auch gleich einverstanden.
Minou führt also die Kette von ‚Erzieherinnen‘ fort, die man sich über die Jahre hinweg gehalten hat. Ein deutsches Fräulein, die französische demoiselle, die englische nanny, tragen zum Prestige von Familien wie dieser ebenso bei, wie die möglichst junge, möglichst naturbelassene, einfach strukturierte, vor Gesundheit strotzende Amme mit dem goldenen Herzen und der guten Milch, die man sich kurz vor der Geburt eines Babys anheuert und die rituell aus tiefer Provinz stammt. La Balia.

Familie Cavetti ist erst vor kurzem in das zweihundertfünfzig Quadratmeter große Dachterrassen - Appartement eines neu errichteten Hochhauses eingezogen.

Es gibt noch zwei ältere Kinder, die aber im Internat sind. Die beiden jüngsten wird Minou nun betreuen. Der blonde Luigi ist dreieinhalb, das Mädchen, Occhio, fünfeinhalb Jahre alt. Den Kosenamen hat Occhio von ihren schönen Augen, die tatsächlich riesengroß und tief sind. Hübsch sind die Geschwister nicht – noch nicht - werden es später jedoch bestimmt einmal sein ... noch lässt viel zuviel Babyspeck ihre Gesichter rund wie Monde, ihre Bewegungen unbeholfen und drollig erscheinen.

Die dunkelhaarige Signora Cavetti, zirka fünfunddreißig Jahre alt, zierlich, kosmetisch-hübsch, energiegeladen, lässt sich niemals ungestylt, unfrisiert oder nur im Geringsten negligéehaft in der Wohnung sehen. Sie scheint eine Dame voller Disziplin und Ordnungsliebe und ist ständig auf dem Sprung zu außerhäuslichen, gesellschaftlichen Ereignissen.

Minou darf als einziges Nicht-Familienmitglied mit den Cavettis zu Tisch sitzen, nein, sie ist sogar dazu gezwungen. Beim Essen ergibt sich nämlich eine gute Gelegenheit, die Kinder in der deutschen Sprache zu trainieren und - wichtiger noch – das kluge Fräulein soll den zwei kleinen Temperamentbolzen Manieren beibringen, was der Signora Mama anscheinend zu beschwerlich ist.

Der Hausherr und Baron, ein typischer sizilianischer Adeliger, Besitzer einer Agrarmaschinen-Fabrik, ist ein stattlicher, plaudersamer Mittvierziger. Schon in der Art wie er Minou beim Mittagessen auffällig oft mustert und sich immer wieder betont charmant ihr zuwendet, erkennt Minou den Verführer. Sie weiß instinktiv, dass sie, dass ihre Person ihm nicht mehr als viele andere Frauen gefällt ... und doch versprüht er seinen ganzen Charme zu ihr hin ... nein, es ist der Jagdinstinkt, den ein Mann wie er in sich trägt und dort auslebt, wo er die Möglichkeit hat, wo er kein Risiko eingeht, aber dort unterdrückt, wo ihm oder den Seinen Unannehmlichkeiten aus seinem erotischen Appetit entstehen könnten. Und Minou, so nah bei Frau und Kindern, ist tabu und tatsächlich im Schoß der Familie Cavetti gut aufgehoben.
*


Nikos bringt sie morgens gegen neun Uhr zu ihrer neuen ‚Arbeitsstelle‘ und holt sie am späten Nachmittag wieder ab.

"Langweilst du dich bei mir, dass du dort hingehen musst", hat er am Anfang beleidigt gefragt. Nein, es ist einfach so: Minou möchte sagen können: "Ich arbeite." Jeder Mensch hier tut etwas Sinnvolles, nur sie lebt schon zu lange faul in den Tag hinein.

Das Geld, das sie verdient, ist nicht der Rede wert. Aber sie hat ja Nikos, der für sie sorgt. Was muss sie bei den Cavettis schon tun? Braucht sich weder um das Aufstehen der Kleinen, noch um das Zubettgehen, weder um die Mahlzeiten, noch um ihre Garderobe zu kümmern. Alles, was wirklich Arbeit macht, obliegt den sizilianischen Dienstboten. Minou ist nur da, um Deutsch mit den Geschwistern zu reden,
Sie singt mit ihnen auch deutsche Kinderlieder, die sie bereits von früheren Fräuleins her kennen.
"Ich weiß noch ein neues", sagt Minou:

Fuchs, du hast die Gans gestohlen,
gib sie wieder her,
sonst wird dich der Jäger holen
mit dem Schießgewehr.
Seine große, lange Flinte
schießt auf dich den Schrot,
dass dich färbt die rote Tinte ...


"Ein komisches canzone! Und was bedeutet rote Tinte auf italiano?", interessiert sich Occhio prompt.
"Die rote Tinte... das ist Blut – il sangue!"
"Uhh, che brutto."
"Und das Schießgewehr?"
"Un fucile", sagt Minou, nachdem sie im Wörterbuch nachgesehen hat, "es macht auf alle Fälle bummbummbumm!"
"Krrr", sagt Occhio.
Minou fragt sich, ob es eine gute Idee gewesen ist, den Zweien gerade diesen Text erklären zu wollen.

Egal. Jetzt werden sie das Lied vom Fuchs und der Gans lernen. Komme was da wolle:

... dass dich färbt die rote Tinte
und dann bist du tot.
Liebes Füchslein lass dir raten,
sei nur ja kein Dieb,
sei nur ja kein Dieb,
nimm du statt dem Gänsebraten
mit der Maus vorlieb.


"Mit der Maus vorlie- ieb", kräht Luigi, der dreieinhalbjährige Jung-Tenor begeistert.

"Warum soll der Fuchs das Mäuschen fressen, aber die blöde Gans leben lassen? Das ist nicht fair!", sagt Occhio auf Italienisch und grinst hämisch. "Das ganze Lied ist doof. Balardo. Gefällt mir nicht."

Minou staunt wieder einmal über den treffenden Geschmack dieses Kindes.

"Gut, ihr zwei ... und wie wäre es mit dem schönen Lied von der strega? :

Hänsel und Gretel verirrten sich im Wald.
Es war so finster und auch so bitter kalt..."

"Lo conosco", jubelt Luigi. Gleich brüllt er mit:

Sie kamen an ein Häuschen von Epferküchen fein.
Wer mag der Herr wohl von dieses Häuschen sein?
Hu, hu, da schaut eine alte Hex heraus!
Sie lockt die Kinder ins Epferküchenhaus.
Sie war gar träumisch, o Hänsel, welche Not!
Sie wollt' ihn braten und essen zwischenrot ...


Was soll’s? Dieses herrliche Lied scheint sich dem Kleinen tief eingeprägt zu haben.

*


Minou führt die beiden auch ins Kino zu Märchenvorstellungen. Oder der Chauffeur kutschiert sie alle drei in blankgeputzter Limousine zum Spielplatz fern beim Piniengürtel der Stadt und zu Spaziergängen am Strand. Nur Spaziergängen, denn die Badezeit ist vorbei. Gewaltige Herbststürme haben eingesetzt, die das Meer berghoch aufwühlen. Auch stürzen in Minutenschnelle Unmengen Regenwasser vom Himmel. Dann werden die Straßen Catanias zu reißenden Bächen, ein wüster Spuk, der ebenso rasch vergeht, wie er beginnt.


Mit der Sehnsucht nach Ernando im Herzen, ohne wahren Elan, ohne Erzieherinnentalent wird der Job Minou aber mehr und mehr zur Bürde. Es ist viel einfacher gewesen, am Morgen lang zu schlafen, zu lesen, Musik zu hören, mit Alessa Sanpedro kulturelle Veranstaltungen zu besuchen oder mit Elke bummeln zu gehen, ganz abgesehen von all den Tagen, wo sie sich hat im Club am Strand verwöhnen lassen.

Kinder, je intelligenter und wissbegieriger sie sind, desto mehr schlauchen sie einen. Und diesen beiden kann man nicht gerade Dummheit oder geistige Schläfrigkeit nachsagen", denkt Minou.
"Ich glaube, dein Gouvernante-Spielen ist kein guter Einfall", sagt Nikos schon bald. Er merkt es also auch.

Nein, Minou hält diesen Job nicht lange aus.

Occhio, die Baronessina, weint bitterlich, als ‚das Fräulein‘ ihr nach kaum zehn Wochen sagt, dass sie nun bald nicht mehr kommen werde. Ja das kleine Geschöpf schluchzt laut und hängt sich ganz fest an Minou, die mit so einem Gefühl nicht umgehen kann. Der Bub heult auch, als er das Schwesterchen heulen sieht. Minou weiß, sie ist die schlechteste ‚Erzieherin‘ gewesen, die diese niedlichen Egoisten je gehabt haben. Die beiden, so hat ihr Signora Cavetti einmal erzählt, sind an strenge Vorgängerinnen gewöhnt.
‚An Personen, die wenigstens ETWAS pädagogisches Konzept und Autorität mitbrachten‘, denkt sich Minou.

Natürlich sind sie nun nicht begeistert, eine Aufpasserin zu verlieren, die ihnen nie das Geringste verboten, sie nie bei den Eltern verpfiffen hat, auf alle ihre Tricks hereingefallen ist, die immer geduldig ihre Spiele spielte und alle Fragen beantwortete, so gut sie es eben konnte.

Das mit dem Beibringen der Sprache - na ja - damit ist es nicht so weit her gewesen. Natürlich hat sie meistens deutsch mit ihnen geredet. Kurze korrekte Sätze. Sie lernten es leicht ... und fehlerhaft. Wie erklärt man Kindern, im Vorschulalter die Grammatik?

Sie habe sie ganz doll lieb, sagt Occhio mit filmreifem Tränenausbruch zu Minou. Noch nie habe sie ein Fräulein so gern gehabt. Und dass sie gar kein anderes mehr haben wolle, nein, nie mehr, stampft sie heftig mit dem Fuß angesichts der schönen, verdutzten Signora Cavetti, ihrer Mutter, die gerade dazu kommt. Vielleicht ist ihr zur Schau getragener Kummer über Minous bevorstehenden Abschied eine schlaue Inszenierung und Occhio will so die eigene Mamma eifersüchtig machen, um mehr Hinneigung von ihr zu ergattern! Zuzutrauen wäre ihr so etwas. Aber la mamma bleibt kühl.
"Gehen Sie nicht weg, Minou, gehen Sie nicht weg", jammert die sonderbare Kleine und schielt zur Mutter hin.

Occhio, trotz ihrer Intelligenz und Süße, hat dennoch manchmal merkwürdige Dinge getan. Zu häufig sprangen Knöpfe an ihren Kleidern ab, die Minou dann immer prompt annähte, denn auch diese geringe Arbeit noch der Cameriera zuzuschustern, wäre bodenlos arrogant gewesen

Einmal aber kommt sie hinzu, wie Occhio gerade dabei ist, mit der Schere dem Wegfall der Knöpfe nachzuhelfen. Warum um Gottes Willen tut sie das?

Am Strand ritzt sich die Kleine auch einmal mit einem rostigen Nagel blutende Risse ins Fleisch, sodass Minou sie mit dem Chauffeur hektisch zu einer Krankenhausambulanz fährt. Der Doktor ist verwundert: Wie ist die Wunde auf ihre Armoberfläche geraten, wenn der Rostnagel, wie Occhio sagte, doch im Sand lag? ‚Hat sie auch da nachgeholfen? Ist das Kind durchtrieben? Oder sehr einsam?‘

"Schreiben Sie mir bitte etwas in Deutsch auf, dann hab ich ein Andenken und kann es lesen, wenn ich einmal in der Schule bin", bittet Occhio, dieses sonderbare Intelligenz- und Gefühlsbündel!

Da schreibt Minou in Druckbuchstaben einige ihrer Lieblingsgedichte aus dem dünnen Lyrikband ab, den sie als Kind auf dem Speicher in Marienstock gefunden und mit nach Sizilien genommen hat. Sie bemüht sich, weißes Leinenpapier mit einem schönen, ästhetischen Schriftbild zu versehen, damit Occhio, wenn sie die Blätter einmal später lesen kann, sich vielleicht daran erfreut.

‚Eigentlich flehten die Kleinen um Liebe, vor allem das Mädchen‘, wird Minou später denken. ‘Ich habe versagt.‘
Noch nie hat jemand ihr nachgetrauert, aber die beiden weinen tatsächlich dicke Tränen.
"Das haben sie schon öfter gemacht, wenn eine der signorinas ging", sagt die Köchin.

*

Nikos führt Minou nun tagsüber noch öfter als früher mit verheirateten Frauen aus seiner Schicht zusammen. Sogar diese bringen, trotz ihrer vielen Freizeit, eine gewisse Leistung und sei es nur die Zufriedenstellung ihres launischen Gatten, das Delegieren der Alltagsarbeiten an die Dienstboten, das Austragen und Gebären von Kindern. So sind auch ihre Hauptgesprächsthemen i bambini e il personale. Aber sie haben ja noch ihren Club, die Präsenz in der Öffentlichkeit, die Eleganz.

Genau so wird mein Leben werden, wenn ich Nikos heirate. Jeden Tag werde ich eingebunden sein in 'Aktivitäten', immer auf dem Präsentierteller ... das werde ich nie schaffen", fürchtet Minou.

*


Jetzt sind auch die deutschen Freundinnen abgereist. Elke di Berlino schwebt wieder über die Laufstege im ewigen Rom und ziert ein neues Titelbild, das auch in Catania von den Kiosken leuchtet. ‚Bellezza di verno‘ diesmal. Winterschönheit. Elke, von Kopf bis Zeh in kuscheliges, weißes Pelzwerk gehüllt.

Sie wird jetzt von einem sehr verliebten Signore gesponsort, hat sie Minou am Telefon gesagt, Wohnung in Parioli und alles wie gehabt. Francesco, der Schwimmstar, den sie noch immer ‚furchtbar vermisst‘, ist wohl aus praktischen Überlegungen und einem alten Heimatgefühl heraus zu seiner ‚santa donna‘, der Rosanna und den Bambini zurückgekehrt. Er komme sie aber noch hin und wieder in Rom besuchen, sagt sie mit unsicherer Stimme.

Regula wird bis zum kommenden Sommer daheim im Kanton Uri bleiben.
- Vielleicht nimmt mein Leben aber einen optimalen Verlauf und ich komme überhaupt nicht mehr wieder - schreibt sie - ich habe nämlich einen äußerst sympathischen HERRN kennengelernt, einen Landsmann, dem das Hotel gehört, in dem ich jetzt arbeite. Schön wäre es, wenn er mich um meine Hand bitten würde. Und das ist gar nicht so abwegig, glaube ich - fügt sie hinzu. Minou weiß: Wenn Regula so etwas sagt, dann muss man davon ausgehen, dass sie das ‚Jawort‘ schon so gut wie in der Tasche hat.

Sie kann das herbe, klare Heidi-Gesicht der Schweizerin mit den akkurat um den Kopf gelegten, braunen Zöpfen genau vor sich sehen und muss grinsen.

*



LONDON SCHOOL


Catania. Was für ein Winter! Kühl und klamm. Trist. Das Meer weißgrau, sturmgepeitscht, hat all seine Farben verloren. Manchmal wird das Stadtzentrum am Tag von sintflutartigen Regengüssen durchspült. Die Gullis können die Mengen nicht mehr fassen. Wie Bäche stürzt das Wasser knöchelhoch die Straßen, die Bürgersteige herunter, dass die Passanten sich in Häuser und Geschäfte flüchten. Der Spuk dauert meistens nur wenige Minuten. Ein grauer Himmel hängt schon eine Woche lang über allem.

In Minou breitet sich eine dumpfe, lähmende Stimmung aus.
Elke ist in Rom, Regula daheim in der Schweiz und Ernando in Afrika auf Safari.

"Nikos, ich will auch weg!"
Das hat sie ihm schon seit langem sagen wollen.
Sein Gesicht ist bestürzt. Dieses Mädchen hat es noch immer nicht begriffen: er sieht in ihr seine zukünftige Frau.

"Wirst du aber wiederkommen?"
"Ich glaube schon."
Was soll ich denn ohne dich anfangen?, hätte sie fast noch hinzugesetzt. Tut sie aber nicht.

Er behauptet in letzter Zeit, dass er sie liebt. Sie denkt: Ihm gefällt meine Jugend. Er begehrt MICH nicht wirklich.
Käme er aber in der nächsten Zeit mit seinen Männerwünschen auf sie zu ... wie würde sie sich da verhalten? Sie mag nicht daran denken.

Nikos, der noch immer hofft, aus Minou eine Signora nach seinem und dem Geschmack seiner Umgebung zu formen, hat die Geschichte von Eliza Doolittle im Sinn, dem schnöden Blumenmädchen, das dieser Professor Higgins in mühseliger Aufbauarbeit in eine wahre Dame und Strahle-Prinzessin verwandelt.

Im Rahmen seines ‚Fair-Lady-Programms‘ spielt er schon lange mit dem Gedanken, Minou zum Erlangen gesellschaftlichen Schliffes nach London zu schicken. ( Englische Lebensart wird in Sizilien sehr hoch geschätzt! )

Wenn sie schon unbedingt verreisen will, dann könnte man ja gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen ...

Nikos schreibt Minou also in einer 'Finishing-School' ein, einem Pensionat für junge Ladies, das in mehreren vornehmen, altehrwürdigen Gebäuden einer kleinen Gemeinde im grünen, ländlichen Gürtel außerhalb Londons untergebracht ist. Eine Internatsschule für – sagen wir einmal – ziemlich konventionell erzogene Töchter aus ‚besseren Kreisen‘, die schon einen Highschool- Abschluss haben oder auch nicht und denen man hier nicht viel Akademisches beibringt, statt dessen aber Reiten, Golf, Tennis, Bridge, die Kunst der Konversation, des wirkungsvollen Benehmens, der Repräsentation. Aber auch ein bisschen Literaturkunde-, Musik-, Politikunterricht. Das weiß Minou aus Prospekten, den Rest denkt sie sich dazu ... Eine Schule also, die halbgebildete, junge Damen nach traditionellen Regeln auf eine standesgemäße Ehe und die Hausherrinenrolle in der Gesellschaft vorbereiten soll.

Eines Morgens bringt Nikos Minou zum Bahnhof.
Und dann beginnt ihre Irrfahrt ( irre Fahrt ) aber sie hat es so gewollt. Bis Rom ist ja alles klar. Aber dann hätte sie nach Norden fahren können über Florenz , Bologna, Parma, Milano dann durch die Alpen ( oder Alpenausläufer, keine Ahnung ) nach Oulx, hinüber nach Modane, Chambéry in Frankreich, weiter Lyon, Dijon, Paris. Auch das wäre anstrengend genug gewesen.

Aber nein, Minou hat sich eine Karte vorgenommen. Von Rom aus will sie an der Küste entlang reisen, die Ligurischen Strände sehen, Civitavecchia, Livorno, Viareggio, Genua, Savona, San Remo, dann die Cote d’Azur: Monaco, Nizza, Cannes - ihre Namen allein schon machen sie zu Wundern - dann Frejus, Toulon, Marseille. Von da aus rollt der Zug an der Rhone entlang durch die Provence und Van Gogh-Land: Arles, Avignon, weiter nach Norden: Orange, Montélimar, Valence, Vienne, Lyon, dann Mâcon, Chalons sur Saône, Dijon. Von Dijon über nie gehörte Städte wie Les Laumes, Nuits-sous-Ravieres, Laroche Migenne in immerhin 3-stündiger Fahrt bis hinüber nach Paris. Dann über Amiens, Lille nach Calais und auf die Fähre. Von Dover in nur noch 2 Stunden bis London und noch eine bis zu ihrer Finishing-School. Ja, so wird ihre Reise aussehen.

"Du wirst mindestens drei Tage und drei Nächte in Zügen herumsitzen, ein dutzend Male umsteigen müssen. Das bringt sehr viel Stress. Warum nimmst du nicht das Flugzeug Catania – Rom – London und alle Probleme sind vom Tisch."
Dabei weiß er doch, dass sie noch nie geflogen ist und große Angst davor hat! Aber das ist es nicht allein: Nein ... Minou will die Städte sehen, die Küsten: Ligurien, Cote d’Azur, die Provence, PARIS, den Ärmelkanal und und ... Zugfahren ist für sie ein herrlicher Traum.

"Nimm nur wenig Gepäck mit, Wintersachen kannst du dir in London kaufen", rät Nikos.

Die Strapazen dieser ihrer einsamen Reise kann sie im Vorhinein nicht ahnen, aber sie gelangt tatsächlich an die Grenzen ihrer Kraft. Die Züge, in denen sie sitzt, sind langsam, halten auf jeder Station, sind oft überfüllt. Die meisten haben keine Speisewagen. Es sind nicht jene modernen Züge, die die deutschen Reisegesellschaften benutzen. Minou ist mitten unter den Menschen der Gegenden durch die sie fährt. Das wollte sie ja. Nun hat sie das ursprüngliche, das pralle Leben der Mitreisenden in Reichweite und sie beobachtet. In Cannes und später in Paris unterbricht sie kurz die Fahrt, schläft jeweils eine Nacht in Hotels nahe beim Bahnhof. Tut es nur, weil sie übermüdet ist und fast umfällt. Sie ist nicht wirklich aufnahmefähig. Diese fremden Städte ERLEBT sie nicht, höchstens einen winzigen Hauch ihrer Atmosphäre. Auch muss sie am nächsten Morgen schon weiter. Sie hat einen festen Terminplan. Ein paar Tage Verzögerung hat sie schon eingeplant. Aber die Zeit drängt. Also schnell in den nächsten Zug und weiter.
Was sie erlebt, sind die herrlichen Ausblicke, die Meeresküsten, das weite Land, die Bilder und Aromen der Welt, die sie in sich hineinsaugt, hineintrinkt. Nach jedem Umsteigen schafft sie es, einen Fensterplatz zu ergattern, manchmal mit Mühe und nur nach langem durch-die-Züge-irren, manchmal mit Leichtigkeit. Und das mit der Einsamkeit stimmt ja so auch nicht. Sie lernt immer wieder neue Leute kennen, ist mitten im Zug-Geschehen, findet Menschen sympathisch und wird sympathisch gefunden, sie führt interessante Gespräche, aus denen sie Neues lernt, wird auch von jungen Männern angeflirtet, hat am Ende einen halben Block voller Namen, Telefonnummern und Adressen aus halb Europa. Aber dennoch, allein ist sie schon, wenn sie von Bahnsteig zu Bahnsteig hastet, obwohl ihr oft nette Menschen - Männer - ihren Koffer tragen und man vielleicht einen kleinen Abschnitt der Reise gemeinsam tut ...

Nikos hat Minou keine unbegrenzten finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt, sonst würde sie bestimmt auf der Reise trödeln, sich gar in der Fremde verlieren. Die Finishing-School ist im voraus bezahlt - damit hat sie nichts zu tun - Taschengeld wird er ihr regelmäßig überweisen. Im Internat der Schule hat sie einen festen Termin, zu dem sie einchecken muss, einen Ankerplatz sozusagen, an den sie sich andocken kann. Es ist nicht mehr lange hin.

Zuletzt unterbricht Minou ihre Fahrt in Calais. Zum ersten Mal der Atlantik! Heftiger Wind fegt durch die nass gewaschenen Straßen der grauen Stadt. Sie saugt die frische Seeluft in sich hinein. Der Wind pfeift wie ein Orkan um die Häuserecken und Regen peitscht ihr ins Gesicht. Der Wind und der Geruch nach Frische weckt all ihre Lebensgeister. Stundenlang läuft sie erst durch Calais, dann am Meer entlang. Mitten im Sturm. Zur Nacht checkt sie noch einmal in einem Hotel ein. Eines auf ihrem Weg und nahe genug beim Bahnhof, dass sie morgen in aller Frühe weiter reisen kann. Ihr ist ganz heiß nach diesem langen Spazierlauf. Es ist wohl Fieber auf einmal. Ja, jetzt hat sie sich schon erkältet. Und sie merkt, wie müd und erschöpft sie ist.

Während sie zum Fahrstuhl geht, um zum Zimmer zu fahren, redet sie einer an. Ein recht junger Typ. Also ... der erste Mann, der ihr in der menschenleeren, düsteren Hotel-Lobby über den Weg läuft, macht sie an, fragt sie mit sonderbarem Lächeln und ohne höfliche Umschweife, ob sie für ihn Zeit hätte. Komisch ... er spricht nicht von Einladung zu Abendessen oder dem Drink an der Bar, das wäre noch im Rahmen gewesen. Er spricht von der Gemütlichkeit seines Zimmers. Und zu trinken sei auch reichlich dort vorhanden.
Was ist es nur? Gleiche ich wirklich einem leichten Mädchen? Oder hat er, der ein ebenso schlechtes Englisch spricht wie ich - schien Holländer - sich nur sonderbar ausgedrückt? Vielleicht hab ich ihn missverstanden?, denkt Minou. Oder bin ich hier in ein Stundenhotel geraten? Der Typ nimmt die stillschweigende Abfuhr offensichtlich mit großem Erstaunen wahr und verschwindet.
Minou will nur schlafen. Geht sofort ins Bett. Sie muss morgen aufnahmefähig sein und nicht als halbe Leiche in England ankommen.

Im Internat wird sie gleich mit Samthandschuhen angefasst. Mit einer Minou beschämenden Aufmerksamkeit – weil sie ihr übertrieben und unecht vorkommt - und in einer merkwürdig piepsenden Stimme, weist die Dame, die ihre Betreuerin sein wird, Minou in die Räumlichkeiten und Gepflogenheiten der Anstalt ein.
Im Sommer muss es schön sein hier ... weite Parkanlagen, sogar ein See, das klosterartige, reine, geräumige Innere, großzügige zwei-Bett-Zimmer in efeuumrankten ehrwürdigen Gebäuden. Alte Tradition ...
Doch es ist Herbst. Und Minou stirbt fast vor Unsicherheit ... schon nach einem Tag weiß sie ... in diese Umgebung gehört sie nicht ... das hier ist ganz falsch für sie. Nikos ist ein Traumtänzer. Wie konnte er nur meinen, dass sie sich hier einleben würde!

Der englischen Sprache kaum mächtig und mit wenig Selbstbewusstsein, schneidet sie im Vergleich zu den stolzen, sich des eigenen Wertes und dem ihrer Familien sehr bewussten, noch kindlich denkenden Mädchen, eher miserabel ab. Mit anderen Worten: sie glaubt sich weder innerlich noch äußerlich der Sache gewachsen. Nicht zugehörig. Schade, sie hatte gehofft, dass hier wohlhabende, doch versprengte junge Menschen aus aller Welt ... auch unperfekte mit Ecken und Kanten wie sie selbst, deren Muttersprache nicht unbedingt English ... aber nein, es ist nur der Schlag dieser stromliniengeformten, verhaltenen, angepassten Engländerinnen vertreten.

Minou sieht für sich kein Ziel. Dieses Leben mit diesen Anforderungen wird sie nicht durchstehen. Will sie auch gar nicht. Niemand könnte so ungeeignet sein zur zukünftigen Society-Dame wie sie. Sie hat es einfach nicht in den Genen. Schon bei der Disziplin fängt es an. Bei der Pünktlichkeit. Dem geregelten Tagesablauf. Das schafft sie nur unter äußersten Qualen. Der Unterricht ist das am wenigsten Schlimme. Es sind die langen traditionellen Mahlzeiten in diesem vornehmen Verein, es ist die ihr ungewohnte Mentalität der Mitbewohnerinnen, der sowohl stolz und hochmütig, als auch unsagbar naiv scheinenden Geschöpfe - Jungfrauen sicher noch - mit denen sie auch gar nichts gemeinsam hat. Es sind die starren Regeln der Hausordnung, von denen manche für Minou keinen Sinn machen. Das ständige Bewacht- und Geleitet-Werden - sie nennen es tutoring - durch Aufsichtsdamen und psychologisch Geschulte. Und ... es ist eine reine Frauenwelt. In einem Konvent könnte es nicht züchtiger und konformer zugehen ... denkt sie. Und dann stellt sich die Frage: Wozu das alles? Um Nikos zu heiraten, der sie zur Ehefrau und Repräsentantin seines Hausstandes machen will. Ist das erstrebenswert?

Heimlich packt sie ihre zwei Koffer. Zum Glück ist ihre Zimmernachbarin noch nicht eingezogen, auch ist sie mit niemandem hier wirklich - und sie meint: WIRKLICH! - bekannt und warm geworden. Mit niemandem hat sie auch nur ein Gespräch geführt, das über Belangloses hinausgegangen wäre und das lag nicht an den anderen ... Nun braucht sie sich zumindest nicht wortreich und peinlich verabschieden. Nur weg von hier. Es ist ihr gleich, dass das Schulgeld schon für ein Quartal im Voraus bezahlt ist. Das Wissen um ihr Versagen, ihre Unfähigkeit, sich einzuleben, hat ihr schon drei schlaflose Nächte bereitet. Rastlos, krank und mit einem Gefühl, als habe man ihr den Atem abgeschnürt, flüchtet sie in einem Cab. Sie hat es genau dreieinhalb Tage ausgehalten!

Am Bahnhof Paddington angekommen, bricht die Freiheit grenzenlos über sie herein ... da steht sie inmitten der lebenssprudelnden, boomenden, brodelnden Stadt!
Vorläufig nimmt sie sich erst einmal ein Zimmer - Bed and Breakfast - bei einer Witwe im St. Josephs-Drive in Southhall, einem Vorort Londons. Sie hat die Adresse rasch aus einer Zeitung herausgesucht.

Und Nikos? Minou kann überzeugend sein am Telefon. Mit - wie ihr scheint - ziemlich grimmigem Lachen verzeiht er ihr das Versagen mit der Finishing-school. Als Trost erzählt sie ihm von einer berühmten Sprachschule auf der Oxford-Street, direkt im Herzen der Stadt, die sie ausfindig gemacht hat. Dort kann man bei englischen Vor- oder Grundkenntnissen nach drei Monaten eine Art Diplom erreichen. Sie wird sich ernstlich bemühen, zumindest das zu schaffen.

"Na, da bin ich gespannt!" Nikos klingt wenig begeistert. Am Schluss des langen Gesprächs schickt er ihr aber tanti baci durch die Leitung ... nein er ist nicht böse. Natürlich wird er Geld überweisen, damit sie eine Weile bleiben kann ...
Am Ende legt Minou zufrieden den Hörer auf.
Von da ab wird er sie jeden Abend anrufen und von ihrem Tun und Lassen und ihren Sprachfortschritten hören wollen.

Minou ist zufrieden. Das ist schon ziemlich viel Freiheit!
Hallo London, here I am.

*


Brief Minous an Heike in Hamburg

London im Januar 1958

Liebe Heike
ich bin verwirrt und keines klaren Gedankens fähig. Menschen aller Nationalitäten überfluten hier die Straßen. Was für ein Sprachgewirr! Ich bin heute den ganzen Morgen in der Stadt herum gelaufen, ließ mich vom Strom der Passanten mitreißen und hab mich verirrt.

London ist, glaube ich, die größte Stadt der Welt. Langsam verwirrt sich mein Geist. Mir dröhnen die Ohren. Die abenteuerlichsten Gestalten bevölkern das Straßenbild. Riesenlange Neger*, die aber wirklich pechschwarz sind – von einem Schwarz mit anthrazitgrauem Schimmer - viel schwärzer als die dunklen amerikanischen Soldaten bei uns zu Kriegsende ... eine ganz andere Rasse scheint das zu sein. Merkwürdig ... viele der schwarzen Frauen in der Subway und auf den Straßen, sehen ärmlich aus, haben auffallend dürre, knochige Beine an ihren gar nicht besonders mageren Körpern. Auf ihrem dunklen Fleisch tragen sie billige, bunte, sehr dünne Fähnchen unter schäbigen Mänteln. Und dabei ist doch Winter!

Kaffeebraune Maharadschas in weißen Gewändern, perlenbestickten Turbanen, wallenden dunklen Bärten, stolzieren lächelnd und behäbig dahin. Und Inderinnen mit kostbaren, knöchellangen Saris von unsagbar leuchtenden Farben schreiten wie Göttinnen, hoheitsvoll und niemand findet das auffallend, außer mir ... anscheinend. Dann sind da die irgendwie stets etwas abgemergelt aussehenden Engländerinnen mit grell überschminkten Gesichtern. Engländerinnen sind meistens nicht hübsch. Ein großer Teil der britischen Männer - nicht alle! – laufen den ganzen Tag mit schwarzem Anzug, Regenschirm und Zylinder herum. Wie aus einer Satire-Zeichnung, aber ganz und gar wahr!

Mächtige, knallrote, zweistöckige Autobusse durchqueren behäbig die Straßen. Wie schwarze Kutschen von 1890, die man zum Spaß mit einem Motor ausgestattet hat, irgendwie so sehen die Taxen aus. Beim Fahren rütteln sie wüst, schütteln einen durcheinander.

Die Bahnhöfe der Underground lassen mich immer wieder hell begeistert verharren: unter der Erde Cafés, Geschäfte! Alles taghell erleuchtet! So etwas gibt es nur in London.

Die Straßen scheinen eng, weil die Gebäude riesengroß und erdrückend sind. Bushaltestellen gibt es unzählige. Ich weiß wirklich nicht mehr, welche Strecke ich fahren muss, um zurück zu kommen nach Southhall ... man könnte auch die Underground und dann erst den Zug nehmen, aber das ist noch komplizierter. Ich habe schon mindestens sechs Leute nach einer Auskunft gefragt, aber fünf waren Ausländer wie ich – man sieht es uns ja nicht an. Eine ENGLISCHE Dame aber schaute nur mitleidig und sagte, sie wohne schon über dreißig Jahre in London, doch St. Josefs Drive, davon hätte sie noch nie gehört. Southhall, das kenne sie nicht.

Jetzt bin ich in einem Postamt, um dir zu schreiben. Keine Ahnung, in welchem Stadtteil. Die Mitte des hallengroßen, kahlen Raumes bildet ein viereckiger Tisch, so riesig, dass um ihn ungefähr dreißig Leute sitzen und in sich versunken schreiben oder Formulare ausfüllen. Keiner nimmt vom anderen Notiz.

Ich werde schon irgendwie zu meiner Wirtin zurückkommen. Eine Stadt kann noch so groß sein ... alle Wege führen nach Rom! Ich musste mir nur 'Paddington Station' merken. Von dort habe ich eine Zugverbindung nach Southhall. Paddington Station. Ein vor Menschenmassen und Lärm berstender Bahnhof. Wilderes, hektischeres Treiben kann man sich kaum vorstellen.

Im Augenblick bin ich in einer Nebenstraße der Oxford Street.
Ich fühle mich wie ein Entdecker, stürze mich mutig auf alles Neue. An den Ecken der Garküchen stehen Negerköche und bieten appetitliche Ham and Eggs an, die man an Tischchen draußen gleich verzehren kann. Ich habe Hunger.
Es ist drei Uhr nachmittags. An einer Straßenecke brüllen Redner ihre Weisheiten über die Menge hinweg. Vorhin haben uniformierte Leute Bibeln verteilt. Auch mir hat man eine in die Hand gedrückt. Da habe ich gleich heute Abend englische Bettlektüre.

Mein Heim in Southhall ist sehr gemütlich. Die Wirtin, Witwe, ist ungefähr 55 Jahre alt, dünn und zäh, grell bemalt, mit schütteren, blöndlichen Haarlöckchen und zu Hause stets in einen rosa oder hellblauen Baby-Doll-Stil gekleidet, mit weiten pastelligen Blüschen und kurzen, ebenfalls süßfarbenen Bermuda-shorts. Sie wirkt auf mich ein bisschen wie ein quirliges, gelenkiges, kicherndes, junges Gänschen. Sie singt und springt in der Wohnung herum. Quietscht. Zwitschert mir schon früh morgens mit ihrem hellen Kinderstimmchen etwas vor. Aber sie ist nett. Und ihr Benehmen spiegelt die liebenswerte Naivität, die sie - glaube ich - tatsächlich hat! Sie behandelt mich wie ihre Tochter. Gestern Abend saßen wir am knisternden Kaminfeuer, sie erzählte mir alles mögliche aus ihrem Leben. Ich verstand natürlich nur Bruchteile, doch wenn sie lachte, lachte ich auch und wenn sie verzückt quietschte, quietschte ich mit. Nachher hat sie mir Rock'n Roll vorgeführt. Sie hat nämlich einen, wie sie sagt 'Cockney-Freund', mit dem sie jede Woche mindestens einmal tanzen geht und von dem sie ganz verzückt schwärmt. Vor allen Dingen kocht sie gut. Heute morgen hat sie mir sogar den Kaffee ans Bett gebracht. Mit Keksen. Nein, keinen Kaffee, es war der early-morning-TEA. Der Frühmorgentee ... So um sechs Uhr!! Danach nehmen wir zusammen erst zirka eine Stunde später das richtige Frühstück ein. Dann aber wirklich mit Kaffee.

Diese Stadt macht mich euphorisch.
Wo soll man zuerst hinschauen, was zuerst besichtigen? Die großen Kaufhäuser - die meisten sind zirka fünfstöckig mit zehn Aufzügen, Dutzenden von Rolltreppen und so ... bieten die herrlichsten Sachen zu überhaupt nicht teuren Preisen. Ich habe schon viel Geld ausgegeben. Habe in den ersten Tagen wahllos Kleider gekauft.

Ich bin total durcheinander. Bei dem allgemeinen Lärm und Getöse im Postamt, in dem ich hier stehe, ist es mir nicht mehr möglich, mich auf meinen Brief an Dich konzentrieren. In ein paar Tagen werde ich Dir alles ein bisschen ausführlicher schildern. Auch das Fiasko mit der Finishing-School. Das ist ein Kapitel für sich.

Also, ich kann Dir mit bestem Gewissen sagen, dass es mir SEHR GUT geht, dass ich glücklich bin und es bestimmt nicht bereuen werde, diese Stadt kennenzulernen. Es grüßt Dich herzlich

Minou,
der kleine Punkt im großen Irrgarten London.

*


Londons Himmel ist in dieser Jahreszeit ständig grau verhangen. Aber die bunt gekleideten Menschen, ihr optimistisches, zielgerichtetes Treiben, die lichtstrahlenden Warenhaus-Paradiese, die Minou mit Duft und warmem Luxus empfangen, sobald sie durch die Drehtür kommt, lassen keine trübe Stimmung zu. In dieser Stadt kommt Minou aus Anspannung und Staunen nicht heraus.

Sogar den berühmten pea-soup-fog erlebt sie schon an einem der ersten Tage. Allerdings in Southhall. Sie möchte an dem Morgen ins Zentrum von London fahren, verfehlt aber den Bahnhof, obwohl sie sich tapfer vorwärts tastet und nicht unterkriegen lassen will. Man sieht NICHTS. Von Menschen und Umwelt isoliert, erkennt man nicht die Hand vor Augen, wankt auf zittrigen Beinen und weiß nicht, wohin der nächste Schritt führt! Es ist, als ob auch jeder Laut extrem gedämpft an die Ohren dringt. Autos sind ohnehin keine unterwegs. Durch die vielen Straßenlaternen, die nun am Tag brennen, deren Licht jedoch sofort verschluckt wird, hat der Nebel eine opak-gelbe Färbung angenommen. An solchen verhexten Tagen - so heißt es- soll einst Jack, the Ripper unterwegs gewesen sein. Und plötzlich erlebt sie das nach. Nein, Minou kommt auf einmal nicht mehr vorwärts. Ohne ein menschliches Antlitz in der Umgebung wahrnehmen zu können, zu spüren aber, dass andere da sind, ganz in der Mähe, Unbekannte, Lauernde vielleicht, im Angesicht der watteweich drohenden Gefahr und voller Panik vor dem Absturz ins Nichts, schafft sie bebend und am Ende ihrer Nervenkraft gerade noch den Weg zurück zum Haus ihrer Wirtin. Sie war ohnehin nur wenige Dutzend Meter gegangen!

*

Am folgenden Montag beginnt sie mit der Schule. Nun muss sie jeden Morgen um halb sieben aus dem Haus, denn die Fahrt mit dem Zug und dann der Underground ist recht lang.

*


Minou ist schon seit Monaten in London.
"Du amüsierst dich, ich warte. Wie lange wird das noch so gehen? Komm zurück!" sagt Nikos am Telefon.

Amüsiert sich die Herumtreiberin?
Minou sitzt in einem Coffee-Shop. Kritzelt in ein Heft Krakelbuchstaben. Der Kaffee hält sie hellwach. Schreibt: ERNANDO, ERNANDO, ERNANDO . Schreibt wie es war. SEINE KÜSSE... ACH WIE SEINE HÄNDE IHREN HINGEBUNGSVOLLEN LEIB ...

Was dieses junge Ding da nur die ganze Zeit über zu notieren hat... ", denken die Gäste. Die Kellnerin hat schon öfter intensiv auf ihre Blätter gestarrt. Leider wird ihre Neugier nicht befriedigt. Sie versteht die fremde Sprache nicht. Das Mädchen sitzt da und schreibt, schreibt ...

WIE ER IN MICH EINDRANG, MICH ÜBERWÄLTIGTE GANZ UND GAR ... nein so geht das nicht ... hört sich schlimm an, hört sich banal an ... Nach Jahren beim Wiederlesen wird sie in den Boden versinken vor Scham. Blöderes über die Liebe hat noch nie jemand gelabert.
Sie bemüht auch Fausts Gretchen: UND LIEBEN DICH SO WIE ICH WOLLT, AN DEINEN KÜSSEN VERGEHEN SOLLT ... Das geht fast ebenso wenig. Auch hier ist aller Zauber verloren, nicht einmal Goethe kann wirklich über die Liebe schreiben ... nein Gretchen ... was für ein müder Abglanz ... so kann man es auch nicht machen, denkt sie ... Als ob es so leicht auszudrücken und einfach verlaufen wäre zwischen ihr und Ernando ... nein ... tief war, zum Sterben tief und intensiv, was sie mit ihm ... Minou schreibt ihre ganze Sehnsucht. Findet nicht die richtigen Worte - das ist ihr traurig klar - und schreibt doch weiter.

Es kommen, es gehen die Leute, tuscheln, sie trinkt Kaffee, Kaffee. Sie isst nichts.

Kritzelt in ihren Block: ERNANDO, ERNANDO, ERNANDO. WIE ES WAR MIT IHM UND NICHT MEHR IST ...

fühlt vage, dass das Leben um sie brandet. Sieht draußen hinter der Glasfront die von Menschenbewegung durchwirbelte, von Autolärm durchtoste Oxford-Street! Sieht gleichmütig, wie um sie die Gäste kommen und gehen und rätselraten: Was ist das für eine ... schreibt da die ganze Zeit ... eine so junge, schreibt nicht in Englisch ... eine Ausländerin. Wie kurios.
"She is writing a book", lacht jemand..
"Sitzt schon seit zwölf Stunden", flüstert der Kellner, "sitzt und kritzelt in dieses Heft. Sitzt und schreibt ... Ein komisches Ding."

Minou ist es gleich, was sie denken. Schreibt: ERNANDO, ERNANDO, ERNANDO. Manchmal kommt der Kellner, gießt ihr frischen Kaffee in die humpengroße Tasse. Sagt: "It‘s for free ..."

*
Oxford School of English Language. Da geht sie morgens hin. Die sind Leute von allen Enden des Empire. Bestimmt tausend Studenten. Die meisten, aber keineswegs alle, sind jung. Es gibt auch Vierzigjährige.

Wie neu und besonders ist das alles für Minou! Da sind Japaner, Philippinos, Inder. Und all die verschiedenen Europäer. Auch aus Südamerika die Latinos. Haben Dutzende von Heimatsprachen. Nur eine ist die Weltsprache ... Jede Nation hat ihren eigenen, nuancenreichen, unverkennbaren Akzent. Auf hundert verschiedene Arten sprechen sie Englisch.

In dieser Schule IST das pralle Leben. Es spielt sich ab in einem imposanten, massigen, vielstöckigen alten Gebäude mit unzähligen Korridoren, Klassenräumen. English teaching rund um die Uhr. Nachmittags Konversation in wohnzimmerartig eingerichteten Salons. Dort kann man hingehen, muss man aber nicht. Abends Partys international bis in den Morgen. Ständig ist etwas los in diesen Hallen. Man bleibt am Anfang möglichst im Schutz einer Gruppe von Landsleuten und streckt von da die Fühler aus.

Minou wohnt inzwischen mit Mara aus Köln und Nicky aus Klagenfurt zusammen in einer möblierten, preiswerten vier-Zimmer-Flat im vierten Stock eines dieser großen, alten Mietshäuser mit riesigen Räumen, hohen Decken voller Stuck und einem Gasheizungskörper mit Münzbetrieb in jedem Zimmer.

Winter ist es. Die Flat wird so warm, wie man sie haben will. Wenn man nur immer genug Geldstücke in den Heizautomaten nachwirft. Alles riecht hier nach Staub und uraltem Polsterzeug. Flohstaub. Halb zerfledderte Orientteppiche auf den Böden stehen stramm vom Dreck der Jahre. Sie haben lang keinen Staubsauger gesehen. Und sehen auch jetzt keinen. Sie werden von den Mädchen mit dem Besen abgekehrt. Einmal in der Woche.

Unten in der Diele des sechsstöckigen, fahrstuhllosen Gebäudes ein Riesenspiegel. Dass man sein Aussehen ganz überprüfen und richten kann, bevor man sich euphorisch in den Trubel Londons stürzt. An den Rändern ist der Spiegel blind. Und voller Fliegendreck. mindestens zweihundert Jahre alt das Monstrum. Und daneben das einzige, vergammelte Telefon des Hauses. Ein Münztelefon.

Dazu ein hochherrschaftliches, wahnsinnig beeindruckendes, wenn auch verkommenes Treppenhaus mit wunderbarer Wendeltreppe.

Nicky, Mara und Minou schwänzen die Schule. Lassen sich in den Straßen Londons treiben.



Manchmal schwänzt Minou allein. Die anderen beiden sind etwas motivierter. Wollen mit einem Abschlussdiplom heimkommen. Minou glaubt für sich selbst nicht mehr wirklich daran. Weil Ernando, Ernando ... Irgendwie wirft sein Bild sie noch immer aus der Bahn.

Im Coffee-Shop nimmt sie ihr kleines Notizbuch heraus. ERNANDO... schreibt sie, ERNANDO, ERNANDO. Schreibt auf, WAS ER GESAGT, WAS ER GETAN, WAS SIE GEFÜHLT, WAS E R VIELLEICHT GEFÜHLT, VIELLEICHT? ... sonderbar in seinen Armen gelegen zu haben, so eng waren die Körper vereint und er doch IMMER so weltenfern und fremd. Hundert Mal zum Höhepunkt gekommen, aber die Sehnsucht im Herzen ungestillt! Das Wort ‚todtraurig‘ ist für Minou keine Übertreibung. Staccato kratzt sie ihren Kummer aufs Papier. Drückt sie ihr Leid immer tiefer in die weißen Bögen. Kriegt kaum etwas zusammen... Ernando.
In der Flat finden ihre Wohngenossinnen, denen sie natürlich ebenfalls vorjammert, die Sache mit dem Sizilianer nicht mehr sehr lustig.
-
Und in Catania wartet Nikos. Zieht ihr Herz sie wirklich zu ihm hin?
"Tu ti diverti ... e io sono l’imbecile che paga ... du amüsierst dich und ich bin der Trottel, der zahlt", beklagt er sich – natürlich lachend – am Telefon. Aber o je, so etwas hat er noch nie gesagt! Er hat sich und seine Wünsche, seit sie ihn kennt, nicht ignoriert, aber noch nie todernst genommen.
Und er hat lange gute Miene zu Minous Spiel gemacht ...
"Wird’s nicht langsam Zeit, dass du zurückkommst?", fragt er jetzt bestimmter und nicht mehr so verhalten als noch vor einem Monat.
"Sono l’imbecile que paga."
Es wird langsam ernst. Nikos will Nägel mit Köpfen machen. Hat wieder die Gründung einer Familie im Sinn. Sein dritter Ehe-Anlauf. Er hält Minou für geeignet. Mutter seiner Kinder ... Liebe spürt er für sie. Behauptet er. Hat er ihr stets bewiesen. Aber kann ein Mann seines Alters, mit so viel Vergangenheit behaftet, wirklich lieben? Und warum ist ihr das ... peinlich? Oder glaubt sie es nicht einmal?
"Komm zurück Glykamou, ich warte, Agapi.‘ Auch das ist ihr ... irgendwie ... nicht angenehm.

Sie driftet. Lässt sich mal hierhin, mal dorthin mitnehmen. Zieht mal mit dem, mal mit jenem jungen Mann durch die Stadt. Lässt sich mit niemandem ein. Nicht wie die beiden gleichaltrigen Wohngefährtinnen, die locker flirten und LIEBEN. Minou tut nichts dergleichen ... denn Ernando, Ernando, Ernando!

London ein wirrer Traum. Aus Farben, Gerüchen, Geräuschen, exotischen Menschengesichtern in niemals endender Flut. London, der Molloch. Oxfordstreet. Piccadilly. Es brandet der Autoverkehr. Leutestrom. Dort treiben sich die Mädchen am Liebsten herum: Piccadilly Circus. Und nachts in Soho. Erleben übergenug. Später einmal wird Minou in nostalgischen Zeitungsartikeln lesen: London war nie so wild und tosend wie in diesen Tagen ... Swinging London und die Nachtclubs von Soho. Minou erlebt täglich Neues, aber genießt es nicht zur Neige. Nimmt oft alles wie durch einen Schleier wahr. Ihr Herz ist beschwert ... Weil Ernando Ernando ...

*


Die ‚School of English Language‘ ist eine Kennenlern-Börse für die internationalen Studenten. Die Tausend. Ein Schmelztiegel. Mädchen sind in der Minderzahl und die einigermaßen hübschen haben an jedem Finger Verehrer. Auch Minou. Doch sie ist ein Eisblock, wenn es ums Flirten geht.

Und einer ihrer Lehrer... durch die Oxford Street läuft er hinter ihr her.
‚Verrückte finden Verrückte‘, wird sie später denken. Ob sie Schreibmaschine schreiben könne, spricht er sie an und lässt nicht locker. Er wird sie dafür bezahlen. Braucht jemanden zum Manuskripte-ins-Reine-Tippen... Poetry nach Schulschluss. Minou sagt: "vielleicht". Sie spürt es längst: Er hat Charisma. Bringt ihnen wunderbare Dinge im Unterricht bei. Zitiert Keats, Shakespeare und überhaupt die Weltpoeten ... Er ist geistvoll, spricht erregend, macht den Lehrstoff zu einem Erlebnis. Die Klasse hängt an seinen Lippen. An die Tafel schreibt er merkwürdig schöne Sätze: The splendour that was Greece and the glory that is Rome.
Er, keltisch, Lockenhaar, ein großer, schwerer Mensch. Von den Frauen angehimmelt. Wortgewaltig. Teacht English für Leute aus aller Welt. Es gefällt Minou, was und wie er lehrt. Als Mann findet sie ihn sonderbar. Irgendwie unattraktiv. Blassweiß seine Haut, rosig die Wangen ...

*

Es ist auch ein Perser hinter Minou her. Er ... im Gesicht Narben wie von Pocken, Haut wie schmutzigbraune Oliven, aber herrliche Nase und schöne Zähne, kraftvolle Züge, männlich durchaus, riecht angenehm, ist einer der älteren Students. fünfunddreißig oder so. Er lädt sie ein nach Soho. Da geht man hin, wenn man eine Frau etwas unkonventionell ausführen will ... Die Restaurants. Er führt sie in ein berühmtes Lokal. Grabschwarzes Interieur. Geisterhafter Laden. Weiße tablecloths. Schwarz die Wände. In schwarzeisernen Leuchtern verströmen bleiche Kerzen kaum Licht. Und das wenige Licht verschlingen die Wände. Dort trifft sich für eine Weile ganz London, heißt es. Minou ist es gleich. Geht wohl nur mit, um dem Perser zu erzählen ... im eigenen Leid zu baden? Vielleicht Verständnis zu erfahren? Erzählt, erzählt. Von wem wohl?

Während und nach dem - übrigens köstlichen - Essen traktiert sie den großzügigen Spender mit ... ERNANDO. Drängt dem Verdutzten bei Wein und Kerzenschimmer ihre Lebensbeichte auf, die nichts ist damals als ihre Liebesgeschichte und aus nichts besteht, als Ernando, Ernando. Etwas erleichtert fühlt sie sich endlich nach zwei Stunden hemmungslosen Herzausschüttens, wobei sie doch immer um den heißen Brei herumredet und die wirklichen Liebeserlebnisse, ihre wehmütig erinnerten Höhen und Ekstasen dem fremden Mann schamvoll verschweigt. Nicht eine Sekunde kommt ihr der Gedanke, dass ihr Begleiter sie je berühren könnte/dürfte. Obwohl er ihr seine Wünsche schon längst zu verstehen gegeben hat. Er, der anscheinend vor Leidenschaft und Begehren brennt, vermittelt aber Minou keine Spur von Sinnlichkeit ... Ach sie fühlt sich so ... unbeschreiblich. Dann fängt sie zu weinen an. Seit dem dessert heult sie die ganze Zeit.

Am Ende ist der Mann ratlos und kann sich nur wundern, was er überhaupt mit ihr hier verloren ... sie bemerkt ihn ohnehin kaum, er spielt keine Rolle.
‚Eine Gestörte‘, denkt er. Dabei schien die Kleine im Klassenraum normal ... Er versucht, sie auf andere Gedanken zu bringen, sie abzulenken, fängt vorsichtig an, von aktuellen Londoner Neuigkeiten zu reden, von interessanten Klassenkameraden und Lehrern, versucht wohl auch, sie ein bisschen zu berühren, ihre Hand zu fassen ...

"Aber ... ich liiiiiebe ihn sooo", schneidet sie ihm jammervoll das Wort ab und stößt seine Hand von sich ... sie könne einfach nicht mehr weiter - der Wein hat nun ihre Zunge vollends gelöst - und sie käme nicht über Ernando hinweg, sie wisse nicht, wie das noch furchtbar ende ...

"Ausgerechnet so eine musste ich mir in den Kopf setzen", denkt der Mann aus Teheran. Eine Weile schon hat er sie in der Schule umworben. Nun hat er sie neben sich. Er hört ihr geduldig zu ... ihren leidenschaftlichen und unergiebigen Wortergüssen - diese noch in einem Englisch, das er nur mit Mühe versteht. Aber ganz gleich, was sie labert, er wird sie trotzdem ins Bett kriegen. Irgendwann. Doch erreicht er nichts. Nicht einmal eine zweite Verabredung kann er ihr entlocken.

Am Schluss will er ihr beim Heimbringen um drei Uhr morgens im Cab einen Kuss geben, wenn auch nur zum Abschied, denn die symbolische gemeinsame Tasse Kaffee bei ihm oder bei ihr wagt er längst nicht mehr einzufordern. Dem Kuss entwindet sie sich. Doch leider berührt er unachtsam ihre Schulter, ihre Brust sogar, natürlich über der Jacke. Versehentlich. Da dreht die Verrückte ganz durch, schlägt ihm ihre flache Hand mit Wucht ins Gesicht und läuft weg, während er und der britische Cabdriver sich erstaunt ansehen.

Im lavatory des Restaurants hatte sie übrigens ihr goldenes Schlangenarmband am Handwaschbecken liegen lassen. Nach einer Stunde hatte sie es vermisst und war zurück gelaufen. Vergeblich. Es war weg. Nun gut, das war schade, aber nicht wahnsinnig schlimm und müsste auch nicht groß erwähnt werden.

Doch der persische Mann hat von Minou noch immer nicht genug. Zwei Tage später folgt er ihr, als sie die Schule verlässt. Er hastet hinter ihr und den beiden Wohnkameradinnen her. Minou ... er müsse ihr etwas geben, murmelt er und bittet sie, einen Augenblick stehen zu bleiben. Der Verlust ihres Armbands sei quasi seine Schuld, er habe sie schließlich in dieses bewusste Lokal eingeladen und nun wolle er den Schaden wieder gut machen.
Die ganze Zeit hält er ihr ein Schächtelchen vor die Nase.
"Machen Sie es doch bitte auf!"
Nein... sie rührt es nicht an.
"Ich habe lange nach einem Schlangenreif gesucht, der dem Ihren ähnlich sieht ... bitte, es ist nur eine kleine Geste ...
"Nein!"
Oder ich ersetze Ihnen den finanziellen Schaden und Sie besorgen Sich ein neues Armband nach ihrer Wahl ... bitte."
Hält er sie auch für käuflich, oder was?
"You don’t owe me anything!" schreit sie
Er schiebt ihr die kleine Box in die Manteltasche.
"Ich will Ihr Geschenk nicht!"
Schauen Sie es doch wenigstens an. Es sollte Ihnen eine Freude..."
"Dann sehen Sie , was ich damit mache!" Und ‚klack‘ wirft sie die Schachtel in weitem Bogen mitten auf die Oxford-Street, wo sie über das Trottoir hüpft, sich öffnet. Etwas Goldenes rollt zwischen die Beine der Passanten. Nicky und der Perser hechten beide gleichzeitig hin, um die Kostbarkeit zu retten. Minou geht unbeteiligt weiter.

"Eh, da hast du ganz schön gesponnen", sagt Nicky später in der Flat ... "weißt du was ... er hat mir das Armband gegeben, hier siehst du ... GESCHENKT, einfach so ... Weil er nicht wusste, was er jetzt noch damit machen sollte."

*

Da ist noch Ali, ein Achtzehnjähriger, auch ein Perser, dem sein Vater - irgend so ein Geschäftsmann - Kaviar schickt. Beluga.
"Das Zeug hängt mir längst zum Hals heraus", behauptet Ali, ich schenk‘ euch davon so viel ihr wollt."
"Ach komm, du handelst doch damit", sagt Nicky.
"Na ja ... aber ihr seid eine Ausnahme."
Nun fressen die drei Kaviar bis er ihnen zu den Ohren heraus kommt. Kaviar aus Halbpfunddosen. Kaviar zum Frühstück auf Toast, Kaviar mittags und abends. Vor allem, gegen Ende des Monats, wenn das Geld fürs Essen knapp wird, darf Ali wieder Beluga bringen.


Eines Tages geht Minou wirklich zum Lehrer. Nach Unterrichtsschluss. In sein kleines Büro. Manuskripte abtippen. Was er schreibt, interessiert sie sehr. Poetry. Aber er ist ein denkwürdiger Dichter. Die Werke, die er geschrieben hat, bejubeln alle auf sonderbar verquere Art die ROYAL FAMILY. Die meisten englischen Worte versteht Minou ja. Erst traut sie ihren Augen nicht und fragt ihn linkisch, was das ... ? Aber ja ... es sind leidenschaftliche Lobgesänge und er wird sie in den Buckingham-Palace schicken. Kann er in Prinzessin Margret verliebt sein? In Elisabeth, the Queen? Tatsächlich ... es scheint so ... Ist der Typ noch zu retten? Preist die englischen Königsmädchen in intimen Tönen, als sei er ihr verzückter Lover! So etwas hat Minou ja noch nie erlebt. Das ist nicht normal. Sie soll zirka fünfzig – für ihre Begriffe - allerkitschigste Liebesgedichte abschreiben für Frauen, mit denen er gar nichts am Hut haben kann. Er ist verrückt! Der faszinierende Geschichtenerzähler ... der vergötterte Lehrer! The glory that was Rome ...
Was soll’s? Minou tippt die ‚Machwerke‘ eben ab. Aber es kommt noch kurioser. Schon in der zweiten Sitzung konfrontiert er sie dann ... nein, nicht mit dem, was Männer normalerweise wollen ... nichts in der Salvatore- oder Don Arione-Art. Da wäre sie auf vertrautem Gelände gewesen. Da hätte sie augenblicklich selbstverteidigerisch reagieren können. Nein ... er überrascht sie gewaltig, kriecht plötzlich unter den Schreibtisch – hat er etwas verloren? Sie sieht nur noch seine zwei runden, massigen Hinterbacken in straffgezogener Hose, spürt ihre Knöchel umpresst von feuchten Händen, fühlt ihre Nylons beleckt - hört ihn winseln wie ein Hündchen, spürt ihren Fußspann bezüngelt. Der Mann murmelt von Verehrung ... Dass sie immer so schöne, hochhackige Schuhe trüge und so ... stolz und erhaben ... und ob sie ihm gnädig erlaube, einen ihrer Pumps auszuschlecken - "lick it out? may I, please." Sie begreift noch nicht, aber mit dem Fuß kickt sie - bewusst wird es ihr erst später - seinen Kopf von sich und rennt ... Sie ist achtzehn. Von einer solchen Männerlaune hat sie ja noch nie etwas gehört.

*


Es kommt der März. Sie schreibt in ihr Notizheft: Frühling ist der wehe, erhabene Gedanke an meine Liebe. Meine Liebe ist hoch erhaben über alles Irdische, fixiert für immer in meinem Herzen, fern allem Alltäglichen, Meine Liebe zu Ernando ist mit tausend zärtlichen Erinnerungen umrankt. Von ihnen will ich ein Leben lang zehren. Gestern Nacht träumte ich, Ernando saß auf meinem Bett. Ich kniete vor ihm auf dem Boden und küsste abwechselnd seinen linken und seinen rechten Fuß. Er lächelte mir warm und etwas ironisch zu.

Es ist wahr - schreibt sie in ihr Heft - ich lebe hier in dieser Stadt keinen Tag ohne IHN. Ich esse kein Butterbrot, rauche keine einzige Zigarette, ohne schmerzvoll an ihn zu denken. Ich laufe tagelang durch London, statt in die Schule zu gehen. Sehe nicht rechts, noch links, nehme die Leute kaum wahr. Weil meine Gedanken immer bei ihm sind. Der wunde, stechende Schmerz an meinem Herzen ... er ist mir zur zweiten Natur geworden. Ich wache mit ihm am Morgen auf, ich gehe mit ihm zu Bett und er verlässt mich den ganzen Tag nicht. Ich spüre heiße Schauer, die mir durch Brüste und Leib fahren wie scharfe Messer. Ich streichele und befriedige mich stundenlang selbst und denke an ihn, wenn Mara und Nicky zur Schule gefahren sind und ich wieder nicht aus dem Bett komme. Ich möchte diese unselige Begierde loswerden, sie ist wie Fieber. Vor kurzem brach ich um Taille und Hüften in wässerige Pusteln aus! Manchmal sitze ich von morgens bis Abends in dem gleichen Oxford-Street – Coffee-Shop, wo mich die Kellner schon kennen. Ich schreibe. Ich lebe von schwarzem Kaffee und dem Gedanken, dass, wenn ich Ernando schon nie mehr haben werde, ich ebensogut still und edel dahinsiechen sollte wie la Traviata – die Oper haben wir übrigens vor kurzem gesehen - Aber auch das gelingt mir nicht. Und sterben will ich schon gar nicht! Ich schreibe, schreibe. Meine Geschichte. Auch lächerliche, zwanzig Seiten lange Briefe an Ernando, die ich ihm nie senden werde. Sie sind so verworren, überkritzelt, unleserlich, dass ich sie am Ende des Abends, wenn der Coffee-Shop zumacht, wegwerfe. Ich bin krank. Ich beschreibe Berge von Papier, möchte unsere Liebe als wunderbare Erinnerung bewahren und mir gleichzeitig allen Kummer vom Herzen wälzen, zerreiße dann am Schluss alles, werfe es in den Mülleimer. Fremde blicken schon zu meinem Tisch herüber, murmeln sich zu. Sie halten mich für verrückt. Mir ist das gleich. Es drängt mich immer zum Schreiben, aber es gelingt mir gar nichts. Ich habe nichts aufzuweisen, wenn es Zeit wird, in die Flat zu fahren, denn ich habe ja wie Mara und Nicky auch, Pflichten, betreffend Abendessenzubereitung, Spülen, Saubermachen.

Unter all den lebenshungrigen Englisch-Schülern gebe ich gewiss eine düstere Figur ab. Trotzdem werde ich eingeladen, gehe auch mit dem oder jenem aus. Mein Herz kann aber nicht wirklich dabei sein. Zuerst hielten sie mich einfach für hochmütig und schwer zu erobern, was sie sogar noch reizte, inzwischen aber sehen sie mich wohl eher als verschroben an.

Tu nicht so, sagt eine kleine, innere Stimme in Minou ... Du sitzt nicht IMMER einsam und in dich gekehrt, schreibend in Coffee-Shops herum. Du machst mit Mitschülern die Nachtlokale Sohos unsicher ... Du kannst tanzen ... du hast auf einmal Rhythmus, bist umworben, du fliegt von einem zum anderen, heimst Komplimente und Angebote ein, die dich stolz machen müssten ...

Ja, Minou kann manchmal glühen und andere bezaubern. Wahrheit ist aber auch, dass diese ekstatischen Momente rar sind. Wahrheit ist, dass sie keinen der Verehrer wirklich nahe kommen lässt ...

Die Mitbewohnerinnen grinsen schon nicht mehr über die allabendlichen Anrufe des, wie sie ihnen erzählt hat, fünfzigjährigen Griechen aus Sizilien, den sie vielleicht heiraten wird, vielleicht aber auch nicht - da ist sie sich selbst noch keineswegs schlüssig - und der ihr den Londonaufenthalt ermöglicht, während die beiden Gefährtinnen - wie die meisten Sprachschüler - von ihren Eltern finanziert werden.

Minou lädt die Mädchen zu Abendessen und Kino ein und den alten Kühlschrank versorgt sie mit allerlei kostspieligen Lebensmitteln. Sie kauft Klamotten, über die sie sich für kurze Zeit freut. Auch für Mara und Nicky kauft sie Sachen und wirft überhaupt ziemlich vernunftlos das Geld zum Fenster hinaus, das Nikos ihr reichlich, doch immer nur einmal am Anfang des Monats, überweist. So lebt sie, im Inneren sehnsüchtig und krank, in den Tag hinein. Nur sporadisch interessiert sie sich für das Studium der englischen Sprache.


Nikos sagt in seinen Anrufen, dass es nun aber tatsächlich an der Zeit wäre ... Er setzt ihr ein Ultimatum. Bitte jetzt augenblickliche Rückkehr nach Sizilien und Heirat, oder ... Er drückt es so drastisch nicht aus, denn er ist ein Gentleman, aber der Sinn ist derselbe: er will sofort ihre endgültige Entscheidung.

Da macht sie noch einen halbherzigen Versuch, auf eigenen Füßen zu stehen, weil sie ihn ja nicht leidenschaftlich liebt, wenngleich aber als Mensch und Freund sehr gern hat, denkt sie. Also: sie könnte im Notfall ja in London in einem Restaurant Geschirr spülen. Auch hat man ihr ( sie wartete dafür stundenlang bei einer Arbeitsvermittlung ) eine Stelle als Platzanweiserin in einem großen Kino offeriert. Das Schöne: sie würde all die neuesten Filme kostenlos zu sehen bekommen. Aber die Bezahlung ... nein, von diesem Geld würde niemand, auch sie nicht, existieren können. Am nächsten Tag erfährt sie dann: diesen Job im Kino kann sie ohnehin vergessen. Als Ausländerin gibt es für sie in England keine Arbeitserlaubnis. In Wirklichkeit sieht sie es ein: Das Leben zwingt sie, wieder zu Nikos zurückzukehren.

Eigentlich vermisst sie seine Fürsorge. Von Zeit zu Zeit hatte sie sogar Heimweh nach ihm und nach der Wohnung in Catania gehabt, wie nach einem Vater und einem Vaterhaus.

Plötzlich findet sie es gar nicht mehr so abwegig, Nikos zu heiraten.

*


Ein schwedischer Mitschüler gefällt ihr recht gut. Ist kaum älter als sie. Ein angenehmer Typ. Sven. Sonst würde sie ja nicht mit ihm ausgehen. Groß ist er, hübsch, blond. Auch er berührt ihre Seele leider nicht. Nicht als Mann. Hat nichts an sich, um den Geliebten zu ersetzen. Ernando, Ernando. Aber ein netter Junge. Sven lädt sie Anfang April zur Regatta nach Cambridge. Dort rudern jedes Jahr zwei Universitätsmannschaften gegeneinander um eine Trophäe. Ein schöner Ausflug. Ein perfekter Vorfrühlingstag. Nach Gras und Frische duftet das klare Land!

Eine Woche später erlebt sie an Svens Seite im British Museum mit merkwürdig genussvollem Schaudern die ersten Mumien ihres Lebens. Sven führt sie auch in den London-Zoo. Sonntagsspaziergang. Erstes Grün an den Zweigen. Weidenkätzchen. Der Junge plaudert, macht Pläne: morgen fahren wir zum Flugplatz und Saturday könnten wir abends in Soho tanzen ... Er küsst sie. Nicht IN den Mund. Das würde sie nie erlauben.

Im Zoo. Beim Wolfsgehege geschieht es dann, als gerade ein besonders räudiger Rüde schamlos die Wölfin bespringt. Kahl ist das Fell der beiden Tiere an vielen Stellen, miserabel aussehende Exemplare die beiden.

"Heh, look what they‘re doing", sagt Sven lachend und fasst Minou neckisch um die Hüften. Da wird’s ihr schwarz vor Augen, da bleibt ihr die Luft weg, die Übelkeit packt sie, schlimm wie der Tod. Jetzt fällt sie um, nein, kann sich noch klammern, krallt sich im Efeu fest, am Vorgitter des Geheges ... rutscht dann kraftlos zur Erde. Um sie bricht die Welt in sich zusammen. Schwarz. "O Gott hilf mir!" Dann das Nichts. Der Junge, der null begreift, kniet verdutzt neben der Leblosen nieder. Und Minou, als sie zu sich kommt, fühlt angstvoll, dass irgend etwas mit ihr schon lang nicht mehr stimmt .... ‚Wie in den schlimmsten Tagen ihrer Kindheit. Krank bin ich‘, denkt sie: ‚Ich wär beinahe gestorben.‘

Der Wolf treibt‘s da noch immer mit der räudigen Wölfin. Nur weg jetzt ... Warum ist ihr hier plötzlich so schlecht geworden? Wo sie sich doch in der Zeit vorher einigermaßen gut fühlte?

Nikos sagt: "Komm zurück Agapimou, Minoukilove. Komm nicht mit dem Zug, das ist zu anstrengend. Ich schicke dir die Pounds für das Flugticket. London Rom Catania. Du, komm sofort."


Wie schnell die Zeit in London vergangen ist. Was für ein Winter! Was für ein Sommer! Und jetzt ist Herbst.


Nicht wegen Nikos geht sie zurück. Obwohl sie sich freuen wird, ehrlich freuen, ihn wiederzusehen, ihn, den einzigen Freund. Ihn, nach dessen Fürsorge sie sich sehr sehnt. Aber eines ist viel wichtiger, deshalb wird sie London ganz schnell und ohne Bedauern verlassen: da unten atmet und LEBT Ernando.

*

Anmerkung*
Neger ist in den 1950er Jahren eine überall benutzte Bezeichnung für Schwarze und bedeutet damals keine Diskriminierung.
*





ALPEN- UND ANDERE GIPFEL


An einem blauen Oktobermorgen unter klargewaschenem Himmel fliegt Minou in London ab.
Die kleine Maschine ist mit ungefähr fünfundzwanzig Passagieren voll ausgelastet. Ihr Nachbar tauscht nach kurzer Zeit mit ihr den Platz. Er hat anscheinend schnell gespürt, dass es ihr erster Flug ist und sie daraufhin angesprochen. Nun darf sie am Fenster sitzen.
"Ich bin Vielflieger und habe vorgestern meinen Millionsten Kilometer über den Wolken hinter mich gebracht", erzählt er.
"Wie wissen Sie das so genau?"
Ein Freund hat es mir ausgerechnet!"
Er sei ein businessman aus London und auf dem Weg nach Rom, sagt der ältere Herr. Business kann alles bedeuten oder gar nichts. Minou hat sich noch nie übermäßige Gedanken gemacht, womit erfolgreiche Leute so ihr Geld verdienen. Dieser braucht dazu anscheinend Flugreisen.

"Sorgen Sie sich nicht wegen der Turbolenzen", beruhigt der businessman Minou, als sie über dem Ärmelkanal auf einmal grün im Gesicht wird.
"Es passiert nie etwas", sagt er, "ich bin der beste Beweis dafür, haha."


Später presst Minou ihre Stirn immer fester gegen die runde Scheibe und erstaunte kleine Schreie entringen sich ihr. Sie wird dem Mann für den Fensterplatz ewig dankbar sein, denn nun enthüllt sich der wahnsinnigste Anblick ihres bisherigen Lebens. Sie sind mittlerweile über den Alpen. Der Pilot hat die Maschine tief heruntergezogen. Sie schweben in Schleifen über arktisch weißen Gipfeln mit nadelscharfen Spitzen. Da ist kein Schnee mehr, nur Eis. Gleißende, schlanke, steil aufragende Bergzinnen ... so weit das Auge reicht. Tausende müssen es sein dort unter ihnen. Wie Lanzen aus funkelndem Kristall stechen sie dem kleinen Flugzeug entgegen. Gefährlich? Der Anblick ist erhaben. Unwirklich? Ja.
Fliegt die Maschine nicht zu tief? Fast streifen sie die nadelspitzen, eisigen Gipfel.

"Das sind die mächtigsten Gebirge Europas, Matterhorn, Mont-Blanc, Monte Rosa", sagt der Mann.
Mein Gott ... Minou hatte sich bisher unter diesen berühmten Namen Einzelberge vorgestellt. DAS Matterhorn, DER Montblanc. Dabei sind das riesige, zusammenhängende Bergmassive aus denen Tausende dieser schlanken, spitzen Nadelgipfel herausragen, steil in den Himmel stechen.

Und da ist nichts als unendliches, in der Sonne glitzerndes Eisweiß und das Blau der Luft.

Menschen, auch wenn sie unter Lebensgefahr die höchsten Berge besteigen, können niemals ein solches Panorama erblicken, denkt Minou, sie schauen nur ein Stück weit. Wir sehen das GANZE Bild, vom Himmel aus.

Minou hat ihre Angst, hat das Flugzeug und den eigenen Körper vergessen. Es ist ihr, als ob sie hineintrudelte, steuerlos, schwerelos in die kalte, klare Schönheit. Die Maschine zieht noch immer ihre Kreise über der Unendlichkeit dieser Ausnahmewelt. Der Horizont ist grenzenlos. Alles offenbart sich von hier oben her. ALLES. Die Essenz der Hoch-Alpen. Minous Herz ist auf seltsame Weise ganz ruhig.
Zum Greifen nah sind unter ihnen diese tausend unirdischen, kristallinen, nadelspitz zulaufenden Gebirgszinnen, an denen das Sonnenlicht sich in explodierenden Strahlen bricht.

Lieblich wird es, als sie dann nach einer Weile die starren Gebiete des ewigen Eises verlassen und unter ihnen nach diesen lebensleeren Gebieten wieder gewohnte Natur auftaucht. Jetzt glänzen zwischen Schneebergen die Schweizer Seen und italienischen Lagos. In genügender Höhe fliegen sie, dass man eine ganze Reihe der blauen, funkelnden Edelsteine gleichzeitig sieht, die in Wirklichkeit weit von einander entfernt liegen. Und unerwartet auf einmal in den Tälern hellGRÜNE Frühlingsfluren und die Dörfer, die Städte Südtirols. Sie fliegen nah genug am Boden, um jedes Flüsschen, jede Ansiedlung scharf erkennen zu können, doch gleichzeitig hoch genug, damit die Seele in dem unendlichen Raum badet.

*

Noch ganz und gar benommen, muss Minou in Rom in eine zweite Maschine umsteigen. Sie ist noch kleiner, hat nur zwölf Sitze. Fünf Passagiere steigen ein. Sie ist der sechste. Ständig hört man das mühsame Tuckern des Motors ( der Motoren? ). Allmählich wird es Nacht. Sie nahen sich Catania von See her. Sie sieht die gelben Lampen all der Boote auf dem samtglatten Meer, dann die Lichter der Stadt hingegossen am blauen Wasser. Für eine Minute ist es Minou, als käme sie nach Hause.

*

Nikos, sein Bruder Georgio und Alessa Sanpedro holen sie am Terminal ab. Es ist ziemlich feierlich. Nikos schließt sie in die Arme.
"Dio mio, dünn bist du geworden."

Dass sie an Gewicht verloren hat, ist ihr nicht bewusst gewesen. Und dass sie so wirkt, wie sie wirkt, auch nicht. Sie kann es nicht fassen, als man nach einem Abendessen eine Woche später ein Filmchen vorführt, einen Super-Acht, der am Tag ihrer Ankunft ( da wurde Georgios Geburtstag gefeiert ) vor dem Haus der Sakatis von irgend einem Verwandten gedreht worden war und auf dem auch sie mehrmals festgehalten ist. Nie ist sie bisher auf einem bewegten Bild gewesen, wirkt irgendwie verloren in diesem weißblau getupften, ärmellosen Kleid mit dem weit ausschwingenden Rock. Ihre Mitte ist zum Abbrechen fragil, ihre Arme und Beine sind viel zu dünn.

Was ... dieses schwächliche, kraftlose Ding bin ich, während alle anderen Personen so handfest, gesund und natürlich aussehen? Total fremd ist ihr das Wesen, das man da fotografiert hat!
Dieses Mädchen - das sie sein soll - wirkt wie ein blutleres Etwas, spaziert nicht strahlend, nicht selbstsicher wie die Sakatis-Frauen über die blumenumsäumten Gartenwege, nein es schwebt überleicht, fast substanzlos dahin.
Doch es ist nicht das Äußere, es ist eine auffällige innere Kraftlosigkeit, die aus den matten, viel zu langsamen Bewegungen, den unsicheren Gesten, dem vagen, hilflosen Lächeln des Mädchens durchscheint und jetzt gnadenlos von der Filmkamera enthüllt wird. Minou erschrickt ja fast zu Tode:
'Das kann nicht ich sein', denkt sie und schüttelt innerlich den Kopf. Nicht dass sie hässlich wäre, aber ... ich wirke wie ein Wesen, das, halb erloschen, im luftleeren Raum schwebt, denkt sie entgeistert, so saft- und kraftlos. Furchtbar!
"Du bist sehr fotogen", schmeichelt Pia, Nikos Cousine, die bei der Vorführung neben ihr sitzt.
Um Gottes Willen, denkt Minou, sie lügt, ich mache einen jämmerlichen Eindruck!

Minou, ziemlich rat- und hilflos in der ungewohnten Umgebung unter so vielen neuen Menschen, wird von Nikos jetzt von Tag zu Tag abhängiger und wundert sich, dass es ihr früher nie aufgefallen war, was er doch für eine gute, stilvolle Figur macht und wie angenehm er ist. Noch mehr gewinnt er, wenn sie ihn mit Leuten ihrer vorübergehenden Wahlheimat London vergleicht.

Sie lernt auch Nikos Mutter kennen. Signora Sakatis ist eine Ehrfurcht einflößende, stolze Frau, Witwe seit vielen Jahren, äußerlich fein und zart gebaut, elegant, auch hinfällig. Keine dieser behaglichen, südlichen Mamas und Küchenköniginnen. Sie ist eine hoch geehrte, umhegte Dame. Das junge Mädchen findet Gnade vor ihren Augen. Minou wird im Beisein von Nikos Familie von ihr umarmt und auf die Wangen geküßt. So etwas bedeutet in Sizilien viel ...
"Meine Mutter mag dich", wird Nikos später sagen, "das ist für mich sehr wichtig!"

Was empfindet Minou im Augenblick des Kusses? Unsicherheit. Schuld. Weiß sie doch gut, dass sie kein ehrliches Spiel mit Nikos treibt. Die Matriarchin ist sicher viel zu lebensklug, um das nicht zu durchschauen. Aber sie hat sie akzeptiert. Kein gezwungener Kuss aus Tradition, sondern ein warmer Beweis von Sympathie ist es. Danach streichelt sie Minou übers Haar und nickt ihr energisch zu. Als wollte sie ihr sagen: "Kopf hoch ... ich kenne dich besser, als du glaubst ... geh, mach deine Sache, sei selbstbewusst." So kommt es Minou zumindest vor.

Unabhängig von meiner Beziehung zu ihrem Sohn mochte sie mich, wird sie später denken und den Moment des Zusammentreffens mit dieser besonderen Frau, den Augenblick der innigen Umarmung niemals vergessen. Nicht nur dieser Umarmung wegen wird Minou sich immer mit großer Wärme an sie erinnern, als einen von den Menschen, die sie gern viel näher kennengelernt hätte.

"Ach, Nikos, du hast eine so große Familie und ich habe niemand."

Eines Abends kommt Nikos zu ihr ins Bett. Nackt. Ganz selbstverständlich. Sie setzt ihm keinen großen Widerstand entgegen. Müde, auch verwirrt von den Londoner Erlebnissen, unsicher, hungrig nach körperlicher und seelischer Nähe, lässt sie ihn gewähren, weint aber ... es ist wie ein Treuebruch Ernando gegenüber, aber auch ihrem Ideal gegenüber, sich nur aus wahrer Liebe hinzugeben.

Nikos ist ein guter Liebhaber, einfühlsam, in allen Dingen erfahren, geübt, rücksichtsvoll, dominierend zugleich. Der zweite Mann in ihrem Leben und schon wieder einer, der alles daran setzt, sie glücklich zu machen und zum Höhepunkt zu bringen. Mit Erfolg. Wenn sie ehrlich zu sich selbst wäre, müsste sie sich eingestehen: Er ist nicht schlechter in seinem Liebe-Machen als Ernando, nicht weniger großzügig ausgestattet, was seine männlichen Attribute angeht.
Aber ... hätte er ihr auch die Sterne vom Himmel geholt, so hätte es ihm und ihr doch wenig geholfen. Mitten im körperlichen Genuss ist Minou ... ach ... so gar nicht glücklich!


Rückblende

Nikos hat schon vor einiger Zeit einen Brief an Oskar Kern geschrieben, in dem er ihn offiziell um die Hand seiner Tochter bat: ‚Ich bin kein sehr reicher, aber keineswegs ein armer Mann", schrieb er. Kühl, sachlich führt er darin auf, was er Hermine in der Ehe bieten werde: ( das in Sizilien übliche ): Köchin und Hausmädchen von Anfang an, eine Amme gleich nach der Geburt des ersten Kindes, beim zweiten zusätzlich noch eine bambinaia. Dann das Finanzielle: er beschreibt genau, was sie bekommen wird, wie gut sie versorgt sein wird, auch im Fall seines Todes ... recht großzügig abgesichert für immer.

Woher weiß Minou das? Sie wird viele Jahre später im Keller des alten Hauses in Marienstock, wohin Lisa alle Erinnerungen an sie, die Stieftochter, verbannt hat, diesen Brief finden. Nikos hat also Oskar Kern offiziell - doch ohne Minous Wissen – kontaktiert. Aber auch ihr Vater hat mehrere Briefe nach Catania geschickt. Ja, Papa scheint dem Griechen sogar zuerst geschrieben zu haben. Er muss irgendwie herausgefunden haben, dass Minou bei ihm lebte, nachdem sie den Job im Campeggio geschmissen hatte.

"Für deinen Vater waren dein verwerfliches Tun und deine Lebensumstände da im Süden Europas der reinste Sargnagel", wird Lisa später sagen, "denn die Wahrheit ist ... du lebtest dort ohne Job und Geldverdienst, aber anscheinend recht bequem, also notgedrungen in Sünde und Schande ... auch wenn du es jetzt herunterspielst. Papa war vor Gram krank, der Arme, und konnte doch nichts tun, als deinen VERFÜHRER, diesen Herrn Sakatis, brieflich zur Fairness aufzufordern und ihn zu bitten, sich seine Tochter nicht länger als Maitresse zu halten, sie entweder heimzuschicken, oder sich vor aller Welt zu ihr zu bekennen."
Vielleicht hatte Ingrid vom Fernsprechamt, mit der Minou zu der Zeit in Briefwechsel stand, Papa ihre sizilianische Adresse verraten?
Dann muss ein Austausch von Nachrichten hin- und her gegangen sein zwischen ihm und Nikos Sakatis ohne dass Nikos ihr etwas davon gesagt hatte.

*


Nach ihrer ersten Liebesnacht, morgens beim Frühstück zeigt Nikos Minou also einen Brief ihres Vaters, den er schon vor Wochen erhalten hat, als sie noch in London war.
Sie schämt sich fast für den Papa, so unterwürfig, ja hilflos scheint ihr das mit mancherlei Höflichkeitsfloskeln und altmodisch-gezierten Redewendungen gespickte Schreiben. Papa hat es tatsächlich in einem gestelzten FRANZÖSISCH verfasst, und es scheint, als habe er, der gerade einmal ein paar Grundkenntnisse in dieser Sprache besitzt, es zu Teilen aus einem Lehrbuch für höhere Briefkunst etcetera abgeschrieben ... wohl in der Annahme, dass man einem so feinen, weltläufigen Herrn am besten in der edlen Sprache der grande nation beikomme. Heftig apelliert er an Nikos Gewissen, sein von ihm entweihtes Kind endlich zur ‚ehrlichen Frau‘ zu machen.

"Worauf ich deinem Vater auf Deutsch geschrieben habe, ich hätte ja nichts dagegen einzuwenden, sondern selbst den Wunsch, seine Tochter zu ehelichen", sagt Nikos. "Ich will dir hiermit nur zeigen: Herr Oskar Kern will unsere Heirat ebenfalls!", sagt er und grinst.

Nikos kokettiert inzwischen vor Minou mit Papas Briefen. Obwohl er ja nicht der Räuber ihrer Unschuld ist, wie dieser glaubt, ja sie sogar während der Wochen des Briefwechsels noch immer nicht angerührt hatte, so benutzt der Grieche Papas Vorwürfe und Bitten jetzt, um der störrischen Minou ins Gewissen zu reden und sie endlich zum Ja-Wort zu bewegen. Auch um ihres lieben Väterchens Seelenfrieden Willen ...

Ja, ja, nun nimmt Nikos die gemeinsame Zukunft vehement in Angriff. Minou wird immer mehr in die griechische Großfamilie hineingezogen. Sehr tolerant und nachsichtig sind diese Leute.
Menschen, denen es im Leben gut geht, kennen weniger Neid, weniger Bosheit, weniger Ressentiments als arme Gebeutelte, das ist eine neue Weisheit, die sie gelernt zu haben glaubt. Tatsächlich ... mit Wärme und ungeheuchelter Freundlichkeit kommen sie ihr entgegen. Aber es wird nicht um den heißen Brei herumgeredet. Vor allem Nikos Schwägerin Myrna redet Tacheles:
"Es wird Zeit, dich jetzt langsam mit den Angelegenheiten deines zukünftigen Lebens vertraut zu machen. Was tust du? Hältst dich aus allem heraus. Lebst in den Tag hinein. Du kümmerst dich viel zu selten um die Einrichtung des Hauses, das Nikos für euch gekauft hat. Interessiert dich das überhaupt? Und was hat dieser zukünftige Trip nach Rom schon wieder zu bedeuten?

Es ist wahr: Minou hat schon immer die heilige Stadt kennenlernen wollen, von der sie nur wenig durch das Zug- und zuletzt Flugzeugfenster gesehen hat, vom nichtssagenden Aufenthalt im Terminal ganz zu schweigen. Nach Rom will sie jetzt, einfach so, das MUSS Nikos ihr bitte erlauben, noch bevor sie heiraten! "BITTE, bitte." Sie würde nur kurze Zeit bleiben.

Nikos erlaubt es und telefoniert augenblicklich mit einer in Rom lebenden Signora, einer guten Freundin der Sakatis, die seine kleine Braut unter ihre Fittiche nehmen wird. Soll Minou sich doch mit dieser Frau ein wenig die Stadt ansehen ... da kann sie in Rom auch gleich ihre Garderobe-Einkäufe tätigen - unter anderem wird diese elegante Dame sie auch bei der Besorgung des weißen Hochzeitskleides, das ohnehin in Rom geschneidert werden soll, betreuen. So rechtfertigt Nikos den neuerlichen Ausbruch seiner Zukünftigen aus der catanesischen Familienidylle vor den Seinen.

*



FRÜHSOMMER – AUSBRUCH 1959


In Rom zieht Minou gleich in ein Hotel und nicht, wie es geplant war, ins Haus der Signora. Sie ist aber einige Tage ausschließlich mit ihrer ‚Bewacherin‘ unterwegs und die Sache mit dem Kleid wird in einem Salon in die Wege geleitet. Dann trifft sie zufällig zwei deutsche Rucksacktouristen, die einmal mit ihr im Campeggio gewesen sind - lang ist das her. Mit denen zieht sie in die Jugendherberge, von der sie ihr lange begeistert erzählen. Das ist natürlich aufregender, als mit der fünfzigjährigen - wenn auch netten - Signora und ihrer Mutter! den Tag zu verbringen.

Mit neuen Bekannten ihres Alters durchschweift Minou die ewige Stadt und erlebt allerhand interessante Dinge, inclusive eines ‚Jahrhundert‘-Boxkampfes im Kolosseum. Wer da gegen wen ... das kriegt sie gar nicht recht mit. . Aber die Atmosphäre! Als Beifahrerin wird sie dorthin mitgenommen von einer Motorradgang junger Römer, zusammen mit anderen, ebenso locker aufgegabelten und ihr total unbekannten Mädchen. Ein merkwürdiges Erlebnis ist das Boxspektakel tatsächlich: Spät in der Nacht in diesem riesigen, antiken Freilichttheater, in dessen Mitte unter Flutlicht ein winzig aussehender Ring aufgebaut ist. Dazu das Gebrüll und Getöse von Tausenden Zuschauern. Ein gelber Mond und die Sterne über der Szene. Moderne und eigentlich recht zahme Volksbelustigung am Ort früherer grausamer Gladiatorenkämpfe.

Das Ereignis wird aber schon am folgenden Tag himmelhoch übertroffen durch eine Audienz bei Papst Johannes dem Dreiundzwanzigsten, den sie eine Stunde vorher auf der Kanzel des überfüllten Domes San Pietro hat predigen hören. Seine einfachen, klaren, gewaltigen, selbst für Ausländer verständlichen Worte haben ihr Herz für immer für diesen italienischen Papst eingenommen, der wie ein kerniger, bäuerlicher Großvater aussieht.

Nach der kurzen Gruppenaudienz gibt er Minou, wie den zirka zwanzig anderen Teilnehmern auch, die Hand - eine feste, massive Männerhand – Sein Blick hält Minou dabei eine Sekunde lang fest und sein offenes, gutes Lächeln gilt in diesem unglaublichen Moment nur ihr. Stolz spürt sie das Besondere des Augenblicks, den sie nie wieder vergessen wird.
Das erhabene Gefühl hält einige Stunden an, die Euphorie ist stark, doch vergänglich. Große Dankbarkeit bleibt aber auch für den, der ihr die begehrte und dennoch kostenlose Einladungskarte besorgt hat, einen jungen unbekannten Büroangestellten, der irgendwo im Vatikan arbeitet, wieder eine Zufalls-Bekanntschaft aus dem Café Greco, der mit dem Geschenk auf sie hat Eindruck machen wollen und dem sie es dann natürlich doch nicht lohnte.

Sie lernt auch diverse Museen, sowie finstere Gräberkatakomben und andere christliche und antike Gedenkstätten recht gut kennen, weil immer irgend jemand sie dorthin mitschleift.

Rom ... eine verzauberte Zeit. Nächtliches Fest mit Tanz und Wein auf dem Pincio, hoch über der strahlend beleuchteten Stadt, am Tag Spaziergänge mit neuen Bekannten in den grünen Niederungen der Villa Borghese. Minou versucht sich im Flirten, hat schöne und merkwürdige Begegnungen, weiß sich begehrt und doch ... seltsam fremd kommt sie sich vor unter den Altersgenossen, die viel unbeschwerter sind als sie ... Minou, oft schlagartig von einem Gefühl der Unsicherheit, ja Panik befallen, schafft dennoch die Gratwanderung, bei allen beliebt zu sein und trotzdem keusch und unnahbar zu bleiben unter so vielen jungen Wilden. Und das in den von Düften, Bildern, Musik und all den Geräuschen überbordenden Lebens angefüllten Mainächten Roms.

"Es sind doch nur Fluchten ... eine Hinhaltetechnik betreibst du", mahnt Myrna, als Minou, überwältigt von ihren neuen Erlebnissen, zurückkommt, "aber Vorsicht ... Nikos ist kein Narr. Und sei froh, dass wir dich alle gern mögen!"

Minou schweigt. Lass mich mit deinen Anforderungen in Ruhe, Leben, denkt sie, ich will nicht heiraten, will weder Köchin, noch Hausmädchen, weder Kinder, noch eine Versorgung.
Sie fühlt sich schon jetzt unwohl, dass sie sich Nikos hingegeben hat, so lieb er ihr auch als Mensch ist. Sie will nur EINES: wieder in Ernandos Armen liegen. Und weiß doch: nun hat sie keine Ausrede mehr, sich Nikos Körper, seinen Wünschen und Bedürfnissen zu entziehen ... Das Beschämendste von allem: sie genießt, den Orgasmus, den er ihr regelmäßig verschafft.

Sie handelt verworren, vage, unentschlossen. Gibt Nikos nie eine klare Absage. Einfach zu angenehm ist seine Person, ja, es ist so leicht, mit ihm zu leben. Geradezu paradiesisch. Befriedigende Liebesstunden haben sie auch zusammen ... und trotzdem ...


Es müsste eigentlich ein großer Tag sein, als auch die beiden übrigen Brüder von Nikos und deren Frauen sie zärtlich in die Arme nehmen und auf die Wangen küssen. Ganz ist sie jetzt im Clan der Sakatis aufgenommen. Eigentlich doch geborgen. Aber innen bleibt ihre Unruhe, da sind auch Schuldgefühle. Soviel von Nikos Zeit, von seiner materiellen Fürsorge hat sie schon in Anspruch genommen. Ob er es seiner Mutter gesagt hat, dass ihr Herz noch immer an Ernando hängt? Die alte Frau wirkt weise und spürt bestimmt das große Fragezeichen, das zwischen ihrem Sohn und seiner ‚sposa‘ steht.

Eines Abends füllt sich für Minou das Glas der Bitternis von neuem. Sie treffen nämlich während der Pause einer Bellini-Oper, die sie mit Stella, Tonio Agnoni und noch einigen Freunden von Nikos besuchen, im Foyer auf Ernando - auch er von Begleitern umgeben, wie das in Sizilien so üblich ist - und wie sich das gehört, bleiben die beiden miteinander bekannten Gruppen beisammen stehen.
Ernando macht Minou – notgedrungen? - Komplimente, wie das die Höflichkeit erfordert - das gehört nun einmal dazu, sie macht sich da nichts vor. Und er beglückwünscht Nikos zur bevorstehenden Hochzeit. Minou wird wieder einmal taumelig und schwarz vor Augen. Sie fällt fast um.
Verlangen frisst sich augenblicklich in ihren Leib, eine Gier, ein Schmerz, stechend ... es ist immer dasselbe, sie wird nie davon loskommen ...

Der Impakt dieser Begegnung wirft sie wieder aus der Bahn. Ernandos Zauber wischt für sie jeden Heiratsgedanken augenblicklich aus ihren Gedanken fort.
Was soll sie bloß machen? Sie ist ratlos ... ratlos, als sie abends neben Nikos im Bett liegt. Ich betrüge die ganze Familie und spiele allen mein Einverständnis vor, denkt Minou.
Eines ist klar: wenn Nikos und sie auch verheiratet sein werden, so wird sie doch nie Kinder mit ihm haben. Das wird sie ihm natürlich jetzt noch nicht sagen. Kinder ... nein, nein ... dann wäre sie ja an ihn gebunden. Eine Ehe ist auflöslich. Erst gemeinsame Kinder würden sie unauflöslich machen. Sie möchte schon noch gern eine Weile bei ihm bleiben. Aber doch um Gottes Willen nicht für immer ...

In weniger als einem Monat wird sie ihm das Jawort geben müssen. Es gibt kein Zurück mehr. Alles ist vorbereitet, das weiße Kleid wird schon aus Rom erwartet.

*




IL 'GRANDE FINALE'


Dann kommt jener Abend. Die Familie der Sakatis – damit auch Minou – sind zur Hochzeit der Tochter einer bekannten Familie geladen. Ein antiker Hotelpalast in Taormina dient als passende Kulisse. Für beinahe zweihundert Gäste ist ein Festessen bereitet. Unter den entfernten Verwandten des Bräutigams auch Ernando Sascala mit Lucia.

Von dem Augenblick an, wo sie von Ernandos Anwesenheit weiß, ist für Minou die Welt wie verhext. Äußerlich ist sie noch gefasst, doch innerlich ein bebendes, aufgelöstes Bündel. Bald hat sie den Conte erspäht. Sie bildet sich sogar beim Mahl ein, seine ernsten Augen aus der Ferne auf sich gerichtet zu sehen. Er kommt jedoch nachher nicht zu ihnen, als sich die Gäste im Park und den vielen Räumen plaudernd mit einander mischen. Absichtlich scheint er einem Zusammentreffen aus dem Weg zu gehen. Als der Abend so fortschreitet, die Stimmung immer lauter und gelöster wird, bringen die Leute zunehmend Nikos und Minous kommende Heirat aufs Tapet ... Man beglückwünscht den Griechen und seine zukünftige ‚piccola sposa‘, man freut sich auf das Fest in drei Wochen - das übrigens auch in diesen heiligen Hallen stattfinden wird.
Minou, als zukünftige Signora Sakatis, ist für eine Weile die Attraktion und bekommt mehr Aufmerksamkeit als die eigentliche Braut. Die ist schließlich allen von Kindheit her vertraut. Aber das deutsche Mädchen macht sie neugierig! "Sei fortunato Nikos" loben die Damen, so als würden sie einen Bauern zum Kauf einer recht prächtigen Kuh beglückwünschen ... und dass sie ja nun GAR nicht wie eine Deutsche aussehe, wollen wieder einige festgestellt haben, nein, viel eher wie eine kleine Franzö ... und so weiter.

Zahlreiche Anwesende kennen Minou nicht, sehen sie heute zum ersten Mal: "Che ragazza veramente bella e simpatica ..."
Ein Glas Rotwein trinkt die ‚Schöne‘ – schließlich hat sie als gute Magenunterlage ja das ausgiebige Festmahl - sie trinkt noch ein Glas ... auch Champagner ... ab und zu. Man tanzt. Es wird spät.

Ernando ist stets irgendwo im Raum und doch weit weg in all seiner dunklen Unerreichbarkeit. Die Sehnsucht .... Sie fühlt, wie die Sehnsucht von Stunde zu Stunde, von Glas zu Glas immer stärker, immer mächtiger wird. Er, der einzig und allein zählt, ist nicht einmal zu ihnen herüber gekommen, um ein paar Worte mit ihr zu reden. Minou tanzt und lächelt und es gibt nur den EINEN, der so mächtig, so dunkel, von einer Ecke des Raumes her ihr Herz aus den Angeln hebt. Er steht, an eine Fensterbrüstung gelehnt, inmitten einer Gruppe von Gästen. Plaudert.

Da kann sie nicht mehr an sich halten. Ihr ist die Lust am Tanzen vergangen. Mit Nikos und mit anderen. Sie bedeuten alle null. Auch Nikos ... Nichts ... Dort drüben steht ihr mächtiger Herrscher, ihr König, Mittelpunkt der Welt und mit Augen so unergründlich.

Minou lässt alle anderen stehen, läuft quer durch den Festsaal und direkt auf Ernando zu, in ihrem rauchblauen Alta- Moda- Kleid und den krakeligen Stöckelsandaletten. Wie ein kurz vor dem Zusammenbruch stehender Marathonläufer dem Ziel, so wirft sie sich Sascala entgegen. Rennt auf dem Weg zu ihm leider eine Porzellankonsole samt Blumengebinde über den Haufen. Rumms. Die es hören, sehen erstaunt aus.
Auf ihn, ihren Felsen, stürzt sie sich. Das Herz überfließend. Sein Bild im Hirn. Wirre Worte stammelt sie an seiner Brust, während sie ihn umschlingt und mit ihren Füßen losgelöst vom Boden an seiner Gestalt klebt, hoch in der Luft, denn er ist ein großgewachsener Mann. Das verrückte Ding klammert sich also an ihn. Heulend. "Ernando, Ernando" stammelnd!
Benebelt im Kopf, führt sie hier ein urkomisches Spektakel auf, über das aber keiner lacht.
"Ich liebe dich doch ... ich liebe dich", hört man sie schluchzen und sonst fällt ihr nichts mehr ein. Ubriaca.
Der Conte löst sie – offensichtlich ziemlich irritiert - mit einiger Mühe von sich ab ... bitte schön, was soll er sonst machen?

Lucia ist es dann, ausgerechnet Lucia, die das total verrückt gewordene, schluchzende Ding mit Mühe von ihrem Mann wegzieht.

Nikos kümmert sich gleich um sie und bringt sie an die frische Luft. Einer seiner Freunde spielt den Vorfall herunter. "Was soll‘s. So ein junges Füllen. In dem Alter flippen sie doch scharenweise aus, fallen sogar in Ohnmacht, wenn irgend ein hergelaufener Schlagerschnösel sein Liedchen trällert. Und Sascala ist nun einmal ... na ja ... eben Sascala. Sie wird nicht das erste weibliche Wesen sein, das sich in seiner Nähe merkwürdig verhält. Aber peinlich ist die Sache doch ... dumm gelaufen."
Es ist mehr als dumm gelaufen. Nikos steht vor aller Welt bis auf die Knochen blamiert da und bemüht sich, das Ganze mit der ihm eigenen Selbstironie herunterzuspielen.

Die Anwesenden der Familie Sakatis aber beurteilen das ganz anders und fällen gnadenlos ihr Urteil, vor allem die weiblichen Mitglieder: Man hat es ja gespürt: das junge Ding ist entweder blöder als jede Cameriera oder nicht recht bei Trost. Höchstwahrscheinlich beides. Eines ist klar, der liebe Nikos hat jetzt wirklich ein Problem. Was für ein Glück aber auch, dass dieses Showdown vor und nicht nach der Hochzeit stattgefunden hat.
Unnötig zu sagen: das wird Minous Ende sein in dieser Gesellschaft.

Nikos packt die Widerstrebende ins Auto und fährt sie zur Wohnung. Kleidet sie aus. Er packt die noch immer nach Ernando Jammernde nicht gerade sanft an. Wenn sie sich ihm nun auch noch entzieht, dann wird er ... Sie wehrt sich eine Weile heftig, heult und schluchzt weiter als er, berstend vor Wut und Frustration seine Besitzerrechte diesmal mit Gewalt wahrnimmt.

"Agapimou, mein Liebes ", flüstert er bald darauf wieder versöhnt und scheint alles vergessen zu haben. . Er ist anscheinend genau so verrückt wie sie ...

Minou, wird von Panik gepackt und von wilder Verzweiflung. Um Gottes Willen ... ich wollte nie mit dir schlafen, Nikos, denkt sie, ich wünschte, ich hätte es nie getan, nein, es darf alles nicht wahr sein.
Das, was sie unter Einwirkung der ungewohnten Promille von diesem letzten Beischlaf mitbekommt, ist aber keineswegs so abstoßend. Sie weiß, es ist ihre Verfassung, ihre Seele, die alles so schwer macht.
Nikos Leidenschaft, sein Drang zu ihr hin ist echt, seine Worte jetzt klingen ehrlich, es scheint wahr zu sein: er hat sie gern.
"Ich nehme dir die Sache mit Ernando nicht übel, meine Kleine. Ich weiß, wie sehr du leidest. Du wirst ihn vergessen.
Sie weint nur unterdrückt in die Kissen.
"Er wird sich ohnehin von dir fernhalten. Gib mir bitte eine Chance. Wenn du erst ein Kind hast, wird es dir viel besser gehen! Weißt du, ich habe vor kurzem meine Spermien testen lassen. Sie sind noch sehr lebendig und beweglich. Es steht einer Empfängnis gar nichts ..."

Spermien ... lebendig und beweglich! Empfängnis!! Ist er wahnsinnig geworden? Nichts will sie von ihm empfangen. Nie. Sie muss hier weg, sie muss hier weg ... und dann: "ich werde dich NICHT heiraten, Nikos!", schreit sie.
"Du weißt nicht, was du sagst!"
Er klingt erstaunt. "Glaub mir, ich verzeihe dir und habe schon eine Strategie ausgearbeitet wie wir dem Gerede der Leute beikommen. Wenn ICH fest zu dir stehe, möchte ich den sehen, der auch nur ein unschönes Wort über dich verlauten lässt. Also, wir werden den Vorfall von vorhin einfach ignorieren, verstehst du. Ich werde morgen Dimitri, den dottore, bitten, meiner Mutter zu erklären, dass der ungewohnte Alkohol diese Reaktionen bei dir ausgelöst hat, dass du Allergikerin ..."

"Hör auf, hör auf mit den Lügen! Nikos, ich kann nicht mehr." Vor lauter Anspannung sind sogar ihre Tränen jetzt versiegt. "Ich liebe dich nicht und Kinder ... Kinder will ich erst recht nicht von dir ... eher sterbe ich ..."

Da wird sein Gesicht fahl und zum ersten Mal wirklich alt unter der Bräune. Da packt er sie und schüttelt sie, dass ihr Hören und Sehen vergeht, schlägt ihr mit der Hand ins Gesicht und schleudert sie aus dem Bett in die Ecke, wo sie unter lautem Gepolter landet.
Nicht genug damit .. er zerrt ihre Kleider aus dem Schrank, Alles, was er in die Hände bekommt, reißt er in Stücke. Zu Fetzen macht er den edlen Fummel, den teuer gekauften, stampft noch etliche Schallplatten in den Boden und feuert im Badezimmer das Zahnputzglas klirrend gegen den Spiegel, der aber standhält, wie Minou später feststellt, was man von dem Zahnbecher nicht sagen kann, denn sie wird sich nachher beim Aufstehen ein paar Scherben davon in die Fußsohle rammen...
Als Nikos von seiner - wortlosen - Raserei, nach einiger Zeit genug hat, hört sie dann, wie die Tür merkwürdig leise ins Schloss fällt. Sie ist allein.
Er hat die Wohnung entweiht. Überall Ruiniertes, auf dem Boden Zerstreutes. Nun heult sie wieder, die Versteinerung löst sich. Ihre Nase blutet mit dem rechten Fuß um die Wette ... Und das ist alles so furchtbar ... so furchtbar. Nein, sie kann nicht mit Nikos zusammenbleiben ...

Sie muss weg hier. Weg. Jetzt gleich in der Nacht. Nein, es ist ja schon Morgen. Betrunken ist sie nicht mehr. Ein paar Habseligkeiten, die heil geblieben sind und ihr Kosmetikzeug wirft sie in die Reisetasche.

Mit dem Bus fährt Minou im Morgengrauen Richtung Siracusa ... nach Mare Luce. Zum Campeggio. Um der alten Zeiten Willen. Vielleicht kann sie ja wieder angestellt werden?

"Schwierig, schwierig", sagt Enzo, da müsse er erst die Erlaubnis von Don Arione einholen ... "molto complicato ..."

Am nächsten Tag arbeitet sie aber bereits, als hätte sie nie aufgehört. Diesmal als Serviererin im Hotelrestaurant.

Am Nachmittag telefonieren der Conte Sascala und Nikos Sakatis miteinander. Ernando hat nämlich gerade erfahren, dass Minou wieder im Campeggio wohnt.
"Was soll ich machen?", fragt Nikos und redet mehr zu sich selbst, als zu dem anderen, "ich kann sie doch nicht diesen Leuten überlassen!"
"Heirate sie, mach ihr ein oder zwei Kinder, lass dich nicht beirren, mein Freund ... "aus sentimentalen Mädchen werden gute Frauen und Mütter ..."
"Du scherzt! Die KLEINE will mich nicht. Ich hab mich ohnehin heute Morgen wieder zum Affen gemacht und sie angerufen und gebeten, sie solle zurückkommen. Sie mag nicht. SIE MAG NICHT. Was soll ich noch tun? Vollends zum gehörnten, alten Esel geworden bin ich schon. Andererseits kann ich sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen!"

"Das Beste ist, wenn sie heimfährt, zurück in den Schoß ihrer Familie", sagt Ernando beiläufig, "doch sie wird schwer zu überreden sein."
"Sie hat keine wirklichen Bindungen da hin."
"Das sagt SIE zumindest."
"Ich muss nun ihrem Vater schreiben, dass sie eine Ehe mit mir glattweg ablehnt. Sie wird zwanzig. Da ist man kein Kind mehr. Ich kann sie ja nicht zwingen."
Die beiden Männer sind sich einig: Das junge Ding ist extrem labil. Ganz in Ordnung ist die nicht!
"Sie war nie anders. Was sie auch tut ... sie wird von einer Kalamität in die nächste stolpern", sagt Ernando.

*

Minou serviert gerade den Gästen in Mare Luce das Mittagessen.

"Gehen Sie gleich ins Büro nebenan", ruft die Empfangsdame sie durch einen Telefonanruf aus ihrer Tätigkeit heraus, "dort wartet ein Signore, der Sie sprechen will."
"Am Telefon?"
"Nein, in Persona."
'O Gott. Sicher ist es Nikos. Oder vielleicht sogar Ernando?"

Keiner von beiden ist es, sondern ein wildfremder Mensch, seines Zeichens Rechtsanwalt. Avvocato.

"Ich komme, um Ihnen Ihre Lage zu erklären", sagt er, und bittet sie, Platz zu nehmen.
"Also, was nutzt es, um den heißen Brei herumzureden? Sie sind ohne Aufenthaltserlaubnis und ohne Geld, Signorina. Man wird Sie abschieben. Das geht hier sehr schnell. In zwei Stunden wird die Polizia da sein und Sie in einen Zug Richtung Deutschland setzen."
"O nein!" Minou sieht ihn entgeistert an. "Nach Deutschland gehe ich nicht. Nur über meine Leiche!"

"Na, na, das müssen Sie nicht unbedingt. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie brauchen nicht nach Hause zu fahren. Sie müssen nur Italien verlassen. Ihre Aufenthaltserlaubnis wird definitiv nicht mehr verlängert. Aber Sie haben Freunde, die ihnen helfen wollen.

Es werden Ihnen die Mittel zur Verfügung gestellt, damit Sie normal leben können in einem Land ihrer Wahl... für eine gewisse Dauer natürlich. Nicht für immer. Nur bis Sie wieder ganz gesund sind und ein bisschen selbständiger im Leben stehen! Wir haben an ein Jahr gedacht."

Minou begreift nicht wirklich.

" Sie könnten nach Frankreich gehen. Paris! Oder noch einmal nach London? Sogar eine Ausbildung würde man Ihnen ermöglichen. Und wenn Sie da Erfolg haben, würde mein Mandant auch länger die Kosten übernehmen!"

Langsam versteht Minou.
"Wenn Sie akzeptieren ist alles gut. Lehnen sie aber ab, werde ich ..."
"Wer hat Sie geschickt?" ( As ob sie das nicht ahnte! )
Natürlich gibt er ihr darauf keine Antwort.
Minou wird taumelig. Wie damals, als am Strand eine Welle sie fast überrollte.
"Ich akzeptiere gar nichts. Ich bleibe ... ich kann hier arbeiten!"
"O nein, Sie arbeiten hier nicht mehr. Ich werde Sie allein lassen und ihnen Zeit zum Nachdenken geben. In ein paar Stunden werde ich wiederkommen."


Da versucht Minou, telefonisch Ernando zu erreichen. Die von ihr fast nie benutzte Nummer hatte er ihr – einstmals - geradezu aufgedrängt Jetzt erklärt man ihr, der Conte sei unter dieser Nummer nicht zu erreichen. Sie hatte nichts anderes erwartet. Und Nikos? Ihr fehlt absolut der Mut, ihn zu kontaktieren. Er ist so fern. Innerlich. Nur Ernando zählt. Und der ist noch viel weiter weg. Obwohl sie es sich nicht eingesteht, hofft Sie aber noch heimlich, dass Nikos wieder, wie immer, auf sie zukommen und sie in letzter Minute zurückholen, die Dinge sozusagen wieder in Ordnung bringen wird. Ihr Ritter und Retter. Doch das ist er ja seit der Nacht, als er sie schlug, nun auch nicht mehr.

"Wir brauchen Sie hier nicht länger, Signorina!", sagt Enzo ihr telefonisch- er hat sie an den Apparat rufen lassen, gerade, als sie möglichst unauffällig im Speisesaal mit Servieren fortfahren wollte.
"Morgen früh um 10 Uhr müssen Sie Ihr Zimmer geräumt haben." Seine Stimme ist metallisch, kühl.
Auch das hat sie geahnt. Er lässt sich nicht einmal persönlich bei ihr sehen. Inzwischen ist er ein großer Chef. Die Sizilianer nennen ihn: die Eidechse.

Nun ist Minou schlagartig klar: entweder sie kooperiert oder sie wird hier den Kürzeren ziehen. Sie hat niemanden auf ihrer Seite.

Der Avvocato macht ihr alles leicht, als er gegen Abend wieder vorbeikommt.
Sie darf eigene Wünsche betreffs ihres neuen Zieles äußern.
Nach Hause: niemals
London: Nein ... das kennt sie ja.
Irgend eine Schule in der Schweiz: viel zu anstrengend. All die Disziplin. Um 6 Uhr aufstehen ... Das wäre so ähnlich wie die grässliche Finishing-School damals in London.
Paris: Mangelnde Sprachkenntnisse.
Italien ebenso wie Sizilien: ist ihr verwehrt.

Da kommt ihr Griechenland in den Sinn. denn am MEER will sie bleiben.
Die Sonne, die Inselwelt. ‚The Splendour that was Greece.‘

Ja, Griechenland hört sich gut an. Dort ist es ähnlich wie hier.

"Einigen wir uns auf das schöne Hellas, Signorina. Gut?", sagt der Avvocato wohlwollend. "Also Kopf hoch!"
‚Alles Maske‘, denkt sie.
"Athen also?"
"Ja", nickt sie. Was geschieht da eigentlich mit ihr? Sie ist sonderbar gleichgültig.
Packen Sie Ihren Koffer. Morgen früh wird man Sie abholen. Auch die Schmuckstücke, persönlichen Dinge, Kleider, die noch in Ihrer Wohnung sind, wird man mitbringen.
"Ich lasse Ihnen jetzt eine Geldsumme da. Sie sind jung und wie die meisten jungen Menschen wohl nicht sparsam. Deshalb wird ihnen das zukünftige Geld in monatlichen oder dreimonatlichen Beträgen ausgezahlt werden. Und vergessen Sie nicht ... es wird nur für eine kurze, begrenzte Zeit sein. Also planen Sie ihr Leben gut! Ein Anwalt in Athen wird das Geld für Sie aufheben und Ihnen weiterhelfen."
*

Früh am nächsten Morgen fährt eine Limousine vor, darin ein schweigsamer Mann. Ein Chauffeur?
Arrivederci Mare Luce, Ernando, Nikos! Sie ist in einem Zustand merkwürdiger Leichtigkeit. Oder ist das schon die Erstarrung? Es geht ihr aber nicht schlecht.

Der wortkarge Sizilianer bringt sie im Wagen all den Weg nach Norden, dann auf die Fähre und aufs Festland. Sie fahren noch ziemlich lang, stoppen irgendwo und essen in einer Trattoria. Schweigend. Der Mann ist im Hirn unantastbar, sagt "ja" oder "nein", und keine Silbe mehr, wenn sie etwas von ihm wissen will. Er macht sich bewusst zur Unperson, denkt sie. Sie fragt ihn auch kaum etwas. Im Hafen von Brindisi - oder ist es Bari - sie weiß es nicht und es ist ihr vollkommen gleich - trägt er ihr Gepäck vom Auto in die Kabine des weißen Luxusliners, der aus New York kommend, gerade angelegt hat und mit dem sie nur eine verschwindend kurze Strecke fahren wird. Kühl nickt ihr der Sizilianer hinter seiner dunklen Brille zu. Dann ist sie allein.

Plötzlich gleitet sie übers Meer davon, in Richtung Griechenland. Alles um sie scheint weit weg. Seltsam unberührt fühlt sich Minou. Es geht ihr nicht schlecht, nein, es geht ihr nicht schlecht. Es ist nur alles irgendwie ... so unwirklich.





Copyright Irmgard Schöndorf Welch

*

Ende von

DER SIZILIANER



Siehe das 3. Buch:


ERFAHRUNGEN

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*

 

   

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.04.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Ein tiefes Blau - Berlin von Heiger Ostertag



Während eines Berlinaufenthalts lockt eine schöne Unbekannte den Schriftsteller Alexander Veldo in die Räume einer Vernissage. Dort wird er mit einem Bild konfrontiert, das ihn völlig in den Bann schlägt. Am nächsten Morgen ist das Gemälde verschwunden. Die Suche nach dem Bild führt Veldo tief in die faszinierende und vielfältige Welt der Kunst. Im Kunstmilieu selbst begegnen ihm Anne, Julia und Antonie, drei sehr eigenwillige Frauen, mit denen bald ein verwirrendes Beziehungsspiel beginnt. Im Hintergrund des Geschehens agiert der Händler Panduli, der Veldo für seine zwielichtigen Kunstgeschäfte zu nutzen sucht. Veldo macht sich in seinem Auftrag mit Julia auf die Suche nach dem verlorenen Bild. Auf der Reise intensiviert sich das kunstvolle Spiel ihrer Verbindung. Doch bald zerstören Pandulis dunkle Geschäfte die Idylle. Julia verlässt ihn und Veldo lebt kurz mit Anne und dann mit Antonie zusammen. Eine unbestimmte Drohung lastet über den Beziehungen, vor der Veldo nach Ägypten flieht. Vergeblich, denn während einer Schiffsfahrt auf dem Nil treten ihm erneut Anne, Antonie und Julia entgegen und Veldo verliert sich mit ihnen in einer surrealen, Angst erfüllten Traumwelt, aus der er nur mit Mühen entkommt. Schließlich kehrt er mit Anne nach Deutschland zurück, aber ihre Beziehung scheitert erneut. Monate vergehen, die er mit der Verarbeitung und der Niederschrift seiner seltsamen Erlebnisse verbringt. Und eines Tages macht Veldo eine eigenartige Entdeckung.

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