Stefan Nowicki

An allen Schranken vorbei

Da hätte der Schaffner beinahe seine Arbeit vergessen. Meine Schuld. Und hätte der Zug nicht wieder einmal in einem Bahnhof gehalten, er wäre wohl bei uns sitzengeblieben, hätte seinen Dienst nicht so bald wieder aufgenommen.

Vor ungefähr 400 Kilometern war ich in diesen Zug gestiegen, Bis zu Hause waren es jetzt vieleicht noch 120. Ich hatte auf einen Fensterplatz in Fahrtrichtung, in einem ruhigen halbvollen Abteil gehofft. Doch es war voller als sonst. Ferien, ein Feiertag? Wer weiß. Mit etwas Glück bekam ich noch einen Sitzplatz, in der Mitte, mit dem Rücken zum Ziel, das mir angesichts der Enge unheimlich weit weg erschien. Ich war der letzte Ankömmling in dieser Sechspersonenzelle und mußte nehmen was mir überlassen wurde, die anderen hatten ältere Rechte und ich keine Reservierung. Also nahm ich meine Zeitschrift und blätterte lustlos vor und zurück. Die wirklich interessanten Artikel hatte ich gestern schon gleich nach dem Kauf des Blattes gelesen, auf einer freien Bank im Park. Nun quetschte ich die letzten Tropfen Text aus den Seiten die mir noch lesenswert erschienen. Doch wie sollte ich den schon recht dürftigen Inhalt einer Zeitung lesen, die ich noch nicht einmal voll aufschlagen konnte? Neben mir ein Typ in mittelfeinem Anzug hatte sich aufs Schlafen verlegt. Den Kopf an die Begrenzung zu meinem Sitzbereich gepreßt, mir so nahe, daß ich seinen Atem spürte, seinen Unterarm auf der ganzen Länge der Armlehne geparkt.

Auf der Seite zum Fenster die Dame drehte mir den Rücken zu, die Füße auf dem Heizungsrost, ihren Schal über die Wirbelsäule herunterhängend bis in meinen Schoß, ihren Ellenbogen auf der Spitze der Armlehne zu meiner Rechten. Sie roch intensiv nach Erfrischungstüchern, einem Parfum das ich nicht mochte und Kaugummiatem, den sie hin und wieder schmatzend, unablässig ausstieß.

"Fehlt eigentlich nur noch der Duft einer Leberwurststulle." Das hätte ich nicht denken dürfen. Denn gerade da kramte der alte Mann gegenüber des Schlafenden eine Brotbüchse hervor, klappte die kleine Tischplatte neben der Tür aus und bereicherte unsere Atmosphäre auch noch mit Kaffeedampf aus einer Thermoskanne. Hilfesuchend sah ich mich um. Das Fenster war zu, die Schlitze an der Tür waren offen, der Lüftungshebel über ihr stand auf "max". Zwecklos! Sehnsüchtig sah ich wieder zum Fenster, wissend, daß ich mich nicht trauen würde, auf zu stehen um es einen Spalt weit aufzuziehen. Draußen schob sich Landschaft vorbei. Mein Blick viel auf den von mir erhofften Fensterplatz in das Lächeln einer jungen Frau. Ihre Augen wirkten wie frische Luft. Ein kleiner Schauer lief mir über den Nacken. Ich senkte meine Augen verlegen um gleich wieder verstohlen in ihre Richtung zu sehen. Darauf hatte sie wohl gewartet. Sie sah mich an und schien meine Atemnot zu spüren. Kurz hielt sie inne und streckte dann ihren schlanken Arm nach oben. Der Ärmel ihrer Bluse rutschte dabei bis über den Ellenbogen. Sie faßte den Griff des Fensters und öffnete es einen Spalt. Unvermutet sah sie mich wieder an und meine Augen sprühten Beifall für das Lüften wie für den Arm und seine schöne Bewegung. Für diesen Augenblick war mir egal wie lange die Reise noch dauern sollte, nur mein Fuß war da anderer Meinung. Er war eingeschlafen. Ich hätte gerne die Beine bewegt, doch mir gegenüber saß noch jemand. Ein Kerl der ausgesprochen selbstbewußt schien. Zumindest deuteten dies seine bis unter meinen Sitz ausgestreckten Beine an. Er las eine Illustrierte und hatte den Kopfhörer eines Walkmans auf den Ohren. Sein Haarschnitt und der olivgrüne Seesack im Gepäcknetz über ihm sagten mir, Bundeswehr auf Wochenendheimfahrt. Und ich ließ meinen Fuß weiter schlafen. Der alte Mann neben der Tür hatte seine Brotzeit beendet. Mein Nebenmann sabberte im Schlaf, ein dünner Speichelfaden hing von seinem Mundwinkel bis zu einem kleinen, dunklen Fleck auf dem Jackenkragen. Die Luft war nun etwas besser und die Frau neben mir gönnte sich einen neuen Kaugummi mit viel Minze. Schweigend hockten wir uns auf der Pelle und ich konnte die Bahnreklame über unseren Köpfen schon auswendig. Meine Zeitung war alle. Ich sehnte mich nach Unterhaltung, aber die Nächsten saßen alle hinter einer Mauer des Fremden, weit weg in eigenen Gedanken. Auch meine Frischluftprinzessin. Sie hatte eine Zeitschrift über Wohnen und Raumgestaltung hervorgeholt und folgte nun Zeile um Zeile anstatt den Oberleitungsmasten vorm Fenster. Ich beobachtete sie, wie sie da saß, die Beine unter dem Stoff des Rockes übereinander geschlagen, in Ruhe lesend. Da nörgelte der Soldat: "Es zieht." Doch in Sachen Fenster hatte sie Hosen an. Der Kerl kehrte schmollend unter seinen Kopfhörer zurück und tat Unwohlsein kund, indem er seine Beine an sich zog. Welch Glückes Geschick. Ich bewegte vorsichtig den schmerzenden Fuß in die Mitte des Ganges ohne jemanden zu nahe zu treten. Er erwachte kribbelnd. Mein Nachbar wischte sich den Speichel ab und überließ mir die Armlehne. Jetzt hatte ich es bequemer, aber die Langeweile quälte mich weiter. Ich blätterte noch mal durch mein Heft, sah mich wieder um. Die Beherrscherin des Fensterspalts blätterte auch nur noch unschlüssig in ihrem Magazin und ließ es schließlich, offensichtlich ebenso gelangweilt wie ich, sinken. Sie sah mich an. Meine Verzweiflung gab mir einen Tritt, so daß ich mich traute sie anzusprechen. Alle im Abteil sahen mich an.

"Möchten sie vieleicht meine Zeitung? Wir könnten ja tauschen." lautete mein Vorschlag, deutlich hörbar für alle, und das Gleichgewicht des nötigen, sittsamen Abstands in dieser Enge brach zusammen. Die Angesprochene war dankbar für meinen Vorschlag. Sie strahlte mich an, sagte schlicht: "Gerne." und reichte mir ihre Zeitschrift. Ich gab ihr die meinige und wollte mich hinter die neue Lektüre zurück ziehen, doch das war nun nicht mehr möglich. Mein Gegenüber hatte den Kopfhörer nur noch um den Hals hängen. "Mensch das ist ja ne tolle Idee." jubelte er und hielt seine Zeitung hoch. "Möchte jemand mit mir tauschen" Die Pfefferminzkaugummifrau wollte gerne, hatte aber als Gegenleistung nur ein Rätselheft, wie sie bedauerte. Der Soldat fand es durchaus passend. Zufrieden machte er sich gleich an ein Kreuzworträtsel. "Dürfte ich mitmachen?" Fragte ihn darauf der ältere Herr und im Einverständnis legten sie das Heft zwischen sich auf die Armlehne und fanden Wort um Wort.

Meine Blicke wanderten verwundert durch das Abteil. Hunderte von Kilometern nicht ein einziges Wort und nun diese Eintracht. Es schien ansteckend zu sein. Der Herr zu meiner Linken hatte zwar nichts zu Lesen, doch bot er uns allen unvermutet nun Pralinen an. Die Dame rechts von mir ließ ihren Kaugummi im Aschenbecher verschwinden und beteiligte sich mit einer Packung Butterkekse. Der Bundeswehrsoldat hatte Limonade und sein Rätselkollege bot einen Schluck Kaffee an. Ich kam garnicht mehr zum Lesen. Die junge Frau ebensowenig. Sie lächelte und reichte mir die Kekse. "Interessieren sie sich für Innenarchitektur?" Und ich erzählte ihr von meinem Einzimmerappartment, den Anregungen, sowie den Träumereien die ich mir gerne aus solchen Zeitschriften holte. Während wir uns unterhielten kamen wir einander immer näher. Sie hatte sich vorgebeugt und ich war auf die vordere Kante meines Polsters gerutscht mit den Ellenbogen auf den Knien zu ihr hingeneigt. Hinter meinem Rücken unterhielten sich meine Nachbarn und vernichteten Pralinen. Im Gang erschien die uniformierte Gestalt des Schaffners. Er versuchte die Reservierungskärtchen aus der Halterung neben der Tür zu fischen, schaffte es aber nicht, weil er gefesselt war von dem Bild, das sich ihm hinter der Scheibe bot. Er öffnete die Tür. "Die Fahrkarten, bitte." Erstaunt sah er jeden von uns sein eigenes Billet hervorkramen. "Sie sind keine Reisegruppe?" fragte er beim Abstempeln. Wir schüttelten verwundert über die Frage die Köpfe. "Es ist richtig schön, mal in ein Abteil zu kommen in dem sich die Reisenden wohl fühlen." erklärte sich der Schaffner und bekam prompt vom alten Mann, der mit dem Soldaten die Armlehne hochklappte und zusammenrückte eine Sitzplatz und einen Schluck Kaffee angeboten. Der Kontrolleur fand es viel zu schön bei uns, als daß er hätte ablehnen können. Schon saß er bei uns und wir alle hörten ihm zu, wie er Eindrücke aus seiner Berufswelt schilderte, die unser Abteil aus der Normalität hoben. Wir saßen da, tauschten Erfahrungen aus, doch so wie wir einander näher kamen rückten auch unbemerkt unsere Reiseziele heran. Es kam der Bahnhof, der den Schaffner zum Aufstehen zwang. Auch der mittelgraue Anzug mußte umsteigen und trug dem alten Mann seinen Koffer auf den Bahnsteig, da er hier erwartet wurde. Der Soldat rätselte alleine weiter, nun wieder mit Musik. Die junge Frau fragte mich was ich besser fände, ein Hochbett oder eine Matratze in einem Podest? Und meine Nachbarin, ohne Kaugummi mir viel sympathischer, redete nun mit. Wir kamen zu keinem Ergebnis, nur der nächste Halt war sehr schnell erreicht. Die Dame stärkte sich mit einem neuen Kaugummi, schlüpfte in ihren Mantel und verabschiedete sich. Auch der Soldat mußte gehen und gab brav das Rätselheft zurück, nahm seinen Sack auf die Schulter und die Abfälle von Essen und Trinken mit.

Ich war mit der netten Lüfterin allein. Es kamen auch keine neuen Reisenden hinzu und so setzte ich mich ihr gegenüber auf den Fensterplatz. Aber jetzt war alles wieder anders. Nun ohne Öffentlichkeit war da eine Schwelle. Wir sahen aus dem Fenster und schwiegen. Schließlich schloß ich die Augen. Wie gerne wäre ich ihr näher und ich hoffte, daß das Wackeln des Zuges wenigstens den Zwischenraum meiner Beine zu ihren verringern und sie berühren lassen möge. Doch das Einzige, was immer weniger wurde war der Abstand zwischen mir und zu Hause. Ich kam an, verabschiedete mich, stieg aus, mit einer Zeitschrift die sie nicht gelesen hat. Der Zug verließ den Bahnhof. Mit ihm entfernte sie sich immer mehr. Genauso wie der Zettel mit meiner Adresse in ihrem Magazin.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.11.1999. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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