Ulrike Niemann

Ein friedliches kleines Dorf

 

Ulrike Niemann

 

Ein friedliches kleines Dorf

 

Kurzgeschichte

 

 

 

 

Unter allen Leidenschaften der Seele

bringt die Trauer am meisten Schaden

für den Leib.

 

Thomas von Aquin

 

 

 

*

Es war Herbst, als die Fremde ins Dorf kam.

Mrs. Peggy Fisher, Witwe und Besitzerin des örtlichen Lebensmittelladens, hatte an diesem Morgen nur wenig Kundschaft und putzte das Schaufenster. Ein notwendiges Übel, doch wenigstens konnte sie auf diese Weise das Treiben im Dorf beobachten. Gerade ging Max Stevens, der ledige Bestattungsunternehmer, in seinem besten Anzug in die Bank. Warum hatte er sich wohl so sorgfältig angezogen? Hatte er wichtige Geschäfte zu erledigen? Sie würde Herb Marshall fragen, wenn er später in den Laden kommen würde, um seine Post abzuholen. Die Aussicht auf etwas Klatsch und Tratsch heiterte sie auf. Kurze Zeit später sah Mrs. Fisher den Überlandbus am Rathaus halten. Neugierig drehte sie sich um und sah eine junge Frau, die sich mit einem kurzen Nicken beim Fahrer bedankte, sich suchend umsah und dann das Maklerbüro des Dorfes betrat. Fieberhaft überlegte Mrs. Fisher, welche Häuser frei standen. Lance Bridges war letzten Monat verstorben, aber soweit Mrs. Fisher wusste, hatten seine Kinder beschlossen, das Haus zu behalten, um dort selbst einzuziehen. Familie Mitchell hatte das Dorf vor einigen Wochen verlassen, um in die Stadt zu gehen -  unverzeihlich, wie Mrs. Fisher meinte. Das Haus der Mitchells war von Linda, Herb Marshalls Tochter, und ihrem Ehemann gekauft worden. Mrs. Fisher hatte immer noch nicht herausbekommen, woher das Geld für den Kauf des Hauses stammte. Herb hatte keinen Cent dazugegeben, soviel wusste sie. Nach reiflicher Überlegung und Beobachtung war sie sich nun sicher, dass der Schwiegersohn des Bankbeamten in dubiose finanzielle Machenschaften verwickelt sein musste. Aber das war ein anderes Thema. Wieder ging sie in Gedanken das Dorf durch, dann hob sie den Kopf und blickte erstaunt zum Maklerbüro. Rose Cottage, dachte sie. Mrs. Peggy Fisher eilte mit einer für ihr Alter beachtlichen Geschwindigkeit in den Laden zurück und griff zum Telefon.

*

Rose Cottage stand leer, seit James Butler und seine kleine Familie das Dorf verlassen hatten. In den folgenden Jahren war es weder verkauft noch vermietet worden und im Dorf kam man zu der Überzeugung, dass er eines Tages zurückkehren wollte. Allein. - Vernünftig. - Doch nichts geschah. Der Garten verwilderte, das Reetdach wurde marode. Im Winter nannte eine Familie von Waschbären das Cottage ihr Zuhause. Die Kuh von Russell Miller hatte sich im Sommer auf die Veranda verirrt und den wilden Wein abgefressen. Ansonsten war Rose Cottage unbewohnt.

Es gab unterschiedliche Begründungen dafür, warum James Butler seinen Heimatort verlassen hatte.  Mrs. Fisher betonte, dass es mit seiner Verbindung zur Mafia zu tun haben muss. Mr. Marshall meinte, es sei wichtig, dass ein junger Mann die Welt kennen lerne, nur dann könne er seine Heimat schätzen. James Butler selber würde antworten, dass die Bewohner seiner Frau das Leben zur Hölle gemacht hatten und er das Dorf mit ihr und ihrem kleinen Sohn Elias verlassen musste, nachdem sie versucht hatte, sich das Leben zu nehmen.

*

Im Dorf existierte keine Zeitung oder Radiostation. Stattdessen gab es „Will’s Bar“. Clayton Miller, der Barmann, hatte für jeden ein gutes Wort. Max Stevens saß an der Theke und starrte trübsinnig in sein Glas. Sein vor kurzem noch sorgfältig gebügeltes Jackett lag zusammengeknüllt auf dem Hocker neben ihm, er hatte sich die Krawatte gelockert und die Hemdsärmel achtlos aufgekrempelt. „Wusste gar nicht, dass jemand gestorben ist“, sagte Clayton. „Ist auch niemand gestorben“, gab Max mürrisch zurück. „Wozu hast du dich denn dann so fein gemacht?“ – „Kümmere dich um deine Angelegenheiten.“ Clayton war ein besonnener Mann und zu klug, um sich mit Max Stevens anzulegen. Er zuckte mit den Schultern, nahm einige Gläser aus der Spüle und begann sie zu polieren. Herb Marshall trat ein und kam auf Max zu. „Max, gute Neuigkeiten! Ich habe gerade mit unserer Filiale in der Stadt gesprochen. Sie haben noch ein paar Fragen, aber grundsätzlich würden sie einem Kreditantrag zustimmen.“ Er setzte sich neben ihn und bestellte einen Kaffee. Der andere Mann blieb stumm, nahm mit einer schnellen Bewegung sein Glas und kippte den Rest des Bieres in einem Schluck herunter. „Ich werde keinen Kredit beantragen“, erwiderte er.  „Was soll das denn heißen? Willst du das Geld nicht mehr?“ –„Ich brauche es nicht mehr. Das Haus steht nicht zum Verkauf.“ Er blickte auffordernd zu Clayton, der ihm ein neues Bier zapfte. „Aber wie das denn? So plötzlich? Das kann doch nicht…“ Max Stevens schlug mit der flachen Hand auf den Tresen. „Wie? Was? Wieso? Was weiß ich. Es ist weg. Rachel hat noch mal mit dem Notar in der Stadt gesprochen, der für das Haus verantwortlich ist. Es gibt eine neue Besitzerin, die selber einziehen will. Mehr weiß ich nicht. Die Sache ist erledigt. Behalte dein Geld.“ Er griff nach dem rettenden Bierglas. Clayton konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Max, was wird Rita sagen? Wird ihr nicht gefallen, noch länger bei ihren alten Herrschaften zu wohnen. Wette, sie hatte schon alles im Geiste eingerichtet, vor allem das Schlafzimmer, denn im eigenen Haus könnte man ja endlich mal…“ Er machte eine rüde Handbewegung. Das Glas flog um Millimeter an seinem Kopf vorbei und zerbrach klirrend an der Wand. Bierbäche rannen zu Boden und bildeten eine hässliche Pfütze. Max Stevens war aufgesprungen und starrte Clayton wütend an. Herb Marshall brachte sich und seine Kaffeetasse in Sicherheit.  Max ließ sich zurück auf den Barhocker fallen und sagte verbittert: „Seit zwanzig Jahren steht das Haus leer und verfällt und gerade in dem Moment, wo ich mich dafür interessiere, taucht aus dem Nichts eine neue Besitzerin auf. Ich möchte wissen, was eine Fremde hier will. Zieht einfach in ein abgelegenes Dorf, wo sie niemanden kennt.“ Clayton Miller stellte ihm ein frisches Bier hin und meinte lakonisch: „Sie wird uns schon noch kennen lernen.“ Die Männer lachten. Sie waren sich wieder einig.

*

Am nächsten Morgen betrat die junge Frau „Fishers Laden“. Mrs. Fisher hatte seit Stunden erwartungsvoll die Straße beobachtet. „Natürlich wird sie als allererstes einkaufen müssen“, hatte sie zu ihrer Freundin Gladys Smith am Telefon gesagt. „Ich werde sie im Namen des Dorfes begrüßen.“ Außerdem werde ich sie genau unter die Lupe nehmen, hatte Mrs. Fisher in Gedanken hinzugefügt, und genau das tat sie jetzt, als die junge Frau zwischen den gut gefüllten Regalen umherging. Ihr schmales Gesicht war bleich und wirkte aus der Nähe betrachtet sehr jung. Mrs. Fisher schätzte sie auf Ende Zwanzig. Die langen schwarzen Haare waren im Nacken zu einem Knoten gebunden. Obwohl der Himmel bewölkt war, trug sie eine schwarze Sonnenbrille, von der sie sich auch im Laden nicht trennte. Unter dem schweren, offen stehenden Lodenmantel war ein weißes Männerhemd zu erahnen, das ihr zu groß war und fast bis zu den Knien reichte. Außer einem Ehering trug sie keinen Schmuck. Mit jedem Blinzeln speicherte Mrs. Fisher einen neuen Eindruck. Die junge Frau trat an den Tresen und stellte den gefüllten Korb schweigend ab. Mrs. Fishers großer Augenblick war gekommen. Sie holte tief Luft. „Wie erfreulich, dass ich Sie als erste in unserem Dorf begrüßen darf. Ich bin Mrs. Fisher und die Eigentümerin dieses Geschäfts.“ Erwartungsvoll blickte sie die junge Frau an, doch die sagte keinen Ton. Irritiert fuhr sie fort. „Wie Sie sehen, ist die Auswahl hier in meinem Laden mehr als ausreichend, aber wenn Sie etwas vermissen, sagen Sie mir Bescheid und ich werde versuchen, es zu besorgen. Das verstehe ich unter gutem Service. Wir sind alle sehr froh, dass endlich wieder Leben in Rose Cottage ist. Wie gefällt es Ihnen denn bis jetzt, Mrs…?“ Die junge Frau begann, ihren Einkauf auf den Tresen zu legen und antwortete mit einem zögernden Lächeln: „Es gefällt mir gut, danke. - Wie viel macht das bitte?“  Ungehalten darüber, nicht mehr Information bekommen zu haben, tippte Mrs. Fisher die Preise in die Kasse und nahm das Geld entgegen. Die junge Frau verabschiedete sich höflich und verließ den Laden. Mrs. Fisher starrte ihr hinterher. „Was soll man denn nun davon halten?“ murmelte sie.

*

Nun versuchten auch die anderen Dorfbewohner, die junge Frau zu treffen und es entwickelte sich eine Art Wettbewerb, wer die meisten Informationen über die neue Nachbarin bieten konnte. Sie alle scheiterten kläglich. Man sah die junge Frau manchmal auf der Veranda sitzen, grüßte, ging dann aber weiter, da die junge Frau den Kopf bereits wieder in ihr Buch steckte. Man traf sie beim Spazierengehen in den Wäldern, doch auch hier kam außer einem kurzen Gruß kein Kontakt zustande. Wer darauf hoffte, sie sonntags in der Kirche zu sehen, hoffte vergeblich. Das weckte den Ehrgeiz des Pfarrers, doch selbst er kam ohne brauchbare Neuigkeiten von Rose Cottage zurück. Nachdem er seine Einladung zum sonntäglichen Gottesdienst ausgesprochen hatte, hätte sie ihm gedankt und wäre ins Haus gegangen. Was denn, rief man aus, noch nicht einmal den Pfarrer lädt sie ins Haus ein? Eine unerhörte Sache! Unmut schlich sich in die Gemüter der Dorfbewohner. Die Kleidung der jungen Frau wurde kritischer beäugt. Immer trägt sie diese weiten weißen Männerhemden und den schweren Mantel, obwohl das Wetter doch wirklich noch gut genug ist, um einen netten Herbstmantel zu tragen. Nein, sie ist so gar nicht adrett, meinten besonders die Frauen, dabei wäre sie bestimmt sehr hübsch, wenn sie ein bisschen auf sich achten würde. Fragen wurden gestellt: Was macht sie bloß den ganzen Tag im Cottage? Hat sie denn keine Arbeit? Wovon lebt sie? Warum ist sie hier? Wie alt sie wohl ist? Wo ist ihr Mann? Fragen über Fragen. Die Einzige, die sie beantworten konnte, schwieg.

*

So verging der Herbst und der Winter stürmte ins Land. In wenigen Tagen war Weihnachten. Im Dorf gewöhnte man sich zwar an die ungewöhnliche Nachbarin, doch es brodelte in so mancher Seele. Die anfangs noch häufig ausgesprochenen Einladungen wurden weniger, der Pfarrer stellte seine Besuche ein und Mrs. Fisher verlor eine Kundin. Nach einem verzweifelten Versuch ihrerseits, das Schweigen der jungen Frau zu brechen, hatte diese fluchtartig den Laden verlassen und ließ sich seitdem die Einkäufe aus der Stadt liefern. Als Mrs. Fisher davon hörte, sortierte sie gerade die Post und ließ fast vor Überraschung Gladys Smith’ langersehnte Lieferung einer antiken Porzellantasse auf den Fliesenboden fallen. Noch nie hatte sie eine Kundin verloren! Gut, da war das Problem mit Herb Marshalls’ Tochter, aber die würde schon zurückkommen, wenn sich herausstellte, dass Mrs. Fisher mit ihrem Verdacht über die dunklen Geschäfte ihres Ehemanns Recht hatte. Ihr Blick fiel auf einen blauen Umschlag im Poststapel, auf dem sich eine ausländische Briefmarke befand. Sie zog den Brief hervor. Sie entzifferte „Rose Cottage“ und den Namen des Ortes. Weiter stand dort nichts. Kein Name. Kein Absender. Der verwischte Briefstempel half auch nicht weiter. Für einen Moment stahl sich eine Idee in Mrs. Fishers’ Kopf, doch dann schüttelte sie energisch die grauen Locken. Das Postgeheimnis war ihr heilig. Nachdenklich blickte sie auf den Umschlag. Wie sollte die junge Frau, für die dieser Brief ohne Zweifel bestimmt war, ihn erhalten? Der Brief musste zu ihr gebracht werden. Der Gang zu Rose Cottage würde ihr die Gelegenheit geben, die junge Frau als Kundin zurückzuerobern. Gleichzeitig könnte sie auch einen Blick in das Cottage werfen. Sie steckte den blauen Umschlag ein und rief Melissa zu, dass sie bald wieder zurück wäre. Mrs. Fisher vergrub die Hände in den Manteltaschen und machte sich auf den Weg. Bald tauchte das Cottage vor ihr auf. Im Näher kommen konnte sie erkennen, dass die bunten Vorhänge im Wohnzimmer von Rose Cottage zugezogen waren. Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, als James Butlers Frau den Stoff bei ihr im Laden abgeholt hatte. Sie hatte ihn - ganz vornehm! - in der Stadt bestellt. Als ob es hier im Dorf keinen Stoff zu kaufen gäbe! Mrs. Fisher war beim heimlichen Blick auf die Rechnung fast in Ohnmacht gefallen und hatte James gegenüber eine Bemerkung über verschwenderische Frauen fallen lassen, aber James ließ sich ja von niemandem etwas sagen. Mit der Frau zu sprechen war sowieso sinnlos. Sie hätte wie immer nur genickt und gelächelt. Dieses ständige Lächeln war Mrs. Fisher am meisten auf die Nerven gegangen. Kein Mensch sollte ständig lächeln. Mrs. Fisher öffnete das Gartentor von Rose Cottage. Sie blickte sich um. Von der jungen Frau war nichts zu sehen und Mrs. Fisher stahl sich an das Wohnzimmerfenster. Durch den Schlitz zwischen den beiden Vorhängen warf sie einen Blick ins Innere. Das Zimmer war leer. Auf dem Sofa lagen eine Decke und ein aufgeschlagenes Buch, auf dem Tisch daneben befanden sich eine Tasse und, Mrs. Fisher blinzelte überrascht, eine Pfeife. Im Kamin loderte ein Feuer und die Flammen warfen ihr Licht in den Raum. Mrs. Fisher zog den Kopf ein, als die junge Frau hereinkam. Über dem weißen Hemd trug sie heute eine wollene Strickjacke, deren Ärmel sie umgeschlagen hatte. Sie setzte sich auf das Sofa und blickte in die Flammen. Dann nahm sie die Pfeife in den Mund und entzündete den Tabak. Verwundert beobachtete Mrs. Fisher, wie die junge Frau den Rauch einzog und ihn dann auf die Ärmel der Jacke blies. Für einige Minuten wiederholte sie diesen merkwürdigen Vorgang, dann legte die junge Frau die Pfeife zur Seite und schlang die Arme um sich. Mrs. Fisher merkte, wie die Kälte langsam an ihr hoch kroch, doch um nichts in der Welt hätte sie ihren geheimen Beobachtungsposten verlassen. Im Wohnzimmer nahm die junge Frau jetzt einen Bogen Papier aus der Jackentasche, entfaltete ihn und begann zu lesen. Mrs. Fisher versuchte zu erkennen, um was es sich handelte und wünschte, ein Fernglas dabei zu haben. Es ist ein Brief, dachte sie und trat einen Schritt nach links, um einen besseren Blick zu erhaschen. Plötzlich schrie sie auf. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihr Bein. Sie blickte sich um und sah eine streunende Katze, die sich unbemerkt angeschlichen hatte und der alten Frau mit ausgefahrenen Krallen ans Bein gesprungen war. Mrs. Fisher fluchte und blickte der Katze wütend hinterher, die fauchend das Weite suchte. Dann lenkte sie den Blick wieder ins Wohnzimmer und erstarrte. Durch die Scheibe blickten sie die verweinten Augen der jungen Frau an.                                             *

Mrs. Fisher fing sich rasch wieder. Sie produzierte ihr professionelles Verkäuferlächeln, griff in ihre Jackentasche und zog den blauen Brief hervor. „Post für Sie“, rief sie durch die Scheibe und schwenkte den Umschlag. Die junge Frau wandte sich ab und stand kurze Zeit später auf der Veranda.  „Was haben Sie vor meinem Fenster gemacht?“ Mrs. Fisher hatte diese Frage erwartet, doch die forschenden schwarzen Augen der jungen Frau machten das Lügen schwieriger als gedacht. „Kommen Sie nicht auf falsche Gedanken, meine Liebe. Ich bin zu alt um zu fensterln“, lachte sie gezwungen. „Ich habe geklopft, aber Sie haben mich wohl nicht gehört und da wollte ich sehen, ob überhaupt jemand zuhause ist.“ –„Ich habe kein Klopfen gehört. Warum haben Sie den Umschlag nicht einfach in den Briefkasten geworfen?“ – „Ich hatte gehofft, Sie persönlich anzutreffen, um ein kleines Problem aus der Welt zu schaffen.“ Sie erwartete, dass die junge Frau sie ins Haus bitten würde, doch nichts geschah. Mrs. Fisher ließ einige Augenblicke vergehen, dann sagte sie: „Was für ein kalter Tag. Könnten wir uns vielleicht drinnen unterhalten? Ihr Kaminfeuer sieht sehr einladend aus.“ Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Nein, das geht nicht, ich habe zu tun.“ – „Das muss ja ein wichtiger Brief sein, den Sie gerade lesen. Ich hoffe, es ist nichts Unangenehmes?“ Mrs. Fisher hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Die junge Frau erstarrte und Tränen traten ihr erneut in die Augen. „Warum fragen Sie mich immer aus? Warum stehen Sie an meinem Fenster und spionieren? Ich möchte doch nichts als meine Ruhe. Bitte, gehen Sie jetzt.“ Sie nahm den Brief aus Mrs. Fishers’ Hand, trat in das Haus zurück und schloss die Tür. Mrs. Fisher stand fassungslos davor. Dann drehte sie sich um und marschierte zurück ins Dorf. Der Katze, die nun am Rand der Wiese saß und sich ausgiebig putzte, verpasste sie einen derartigen Tritt, dass das Tier entsetzt in die Büsche floh.

*

Die Geschichte von Mrs. Fishers’ Besuch in Rose Cottage war am nächsten Morgen im ganzen Dorf bekannt. Die Bewohner waren entrüstet und strömten in „Fishers Lebensmittelladen“, um ihre Anteilnahme auszudrücken. Verzückt beobachtete Mrs. Fisher, wie sich die Kasse bis zum Mittag ansehnlich füllte. Gerade standen Gladys Smith, Max Stevens und Clayton, der Barmann, an der Kasse und diskutierten das Ereignis. „Da nimmst du die Mühe auf dich den Brief persönlich vorbeizubringen und wirst zum Dank derartig behandelt, “ meinte Gladys. „Ich möchte wissen, was in diesem Brief stand. Der Umschlag trug weder Namen noch Absender, sagst du?“ Mrs. Fisher nickte. „Sehr mysteriös!“ – „Das stinkt nach faulen Geschäften, wenn Sie mich fragen“, sagte Max Stevens. „Sie kommt aus dem Nichts in unser Dorf. Bis jetzt wissen wir weder ihren Namen, noch was sie beruflich macht oder wo ihr Ehemann ist.“ Russell Miller betrat den Laden, grüßte und ging in die Gemüseabteilung. „Irgendetwas stimmt nicht in Rose Cottage, ich stimme dir zu, Max“, nahm Mrs. Fisher das Gespräch wieder auf. „Nicht, dass ich etwas gesehen hätte, aber ich könnte schwören, sie roch nach Pfeifentabak, als ich mit ihr geredet habe. Sie trug eine dicke braune Männerstrickjacke und roch nach Pfeife, es war grotesk.“ Mrs. Fisher hatte wohlweislich verschwiegen, dass sie am Fenster spioniert hatte. Clayton schüttelte den Kopf. Die Stimme von Gladys überschlug sich. „Da stimmt doch was nicht! Frauen rauchen keine Pfeife oder tragen Männerhemden! Wer weiß, wen wir hier in unserem Dorf beherbergen. Vielleicht ist sie eine Verbrecherin auf der Flucht?“ Max Stevens stimmte ihr zu. „Sie haben völlig Recht, Mrs. Smith. Ich denke, dass wir uns einen Überblick verschaffen müssen, sonst machen wir uns mitschuldig.“ Gladys blickte ihn aufgeregt an. „Was meinst du damit? Du willst doch nicht…?“ Max Stevens nickte entschlossen. „Sobald sich die Gelegenheit bietet, werde ich mich in Rose Cottage umsehen. Zu unserer eigenen Sicherheit.“ Russell Miller trat an den Tresen und sagte: „Da stehen deine Chancen gut. Sie hat vor einer Stunde mit einem Koffer in der Hand das Haus verlassen.“

*

Am nächsten Tag fand ein inoffizielles Dorftreffen in „Will’s Bar“ statt, bei dem der Rest der Gemeinde, bis auf den Pfarrer, der aus gutem Grund nicht eingeladen worden war, dem Besuch von Rose Cottage zustimmte. Gladys Smith bestand auf dem Begriff „Besuch“. Der „Besuch“ wurde abgesegnet und Max Stevens die Organisation übertragen. Niemand rechnete damit, dass die junge Frau überraschend zurück ins Dorf kommen würde, schließlich war morgen Weihnachten. Vorsichtshalber wurden aber Mrs. Fisher, Mrs. Smith und ihre Tochter Helen als Wachposten benannt. Max Stevens bestimmte drei Männer, die ihn begleiten sollten und sie verabredeten sich für den späten Abend vor der Bar. Im Dunkeln bestehe keine Gefahr auf den Pfarrer zu treffen, meinte Max Stevens.

Am Abend fiel der erste Schnee und die Männer waren froh, Schal und Handschuhe dabei zu haben, als sie sich auf den Weg zu Rose Cottage machten. Max Stevens ging als erster, danach Clayton, der Barmann. Weiter hinten folgten Russell Miller und sein jüngster Sohn, Luke. Auf der kleinen Terrasse des Cottages angekommen, traten sie sich ihre schneebedeckten Stiefel ab. Max Stevens wusste, dass das Schloss an der Kellertür von Rose Cottage kaputt war. Bei einem seiner Besuche war es ihm aufgefallen und er hatte sich vorgenommen, es sofort zu reparieren, falls er das Cottage kaufen würde. Er trat an die Tür und drückte die Klinke. Die Tür gab nach. Die Männer putzten sich sorgfältig ihre Stiefel ab und bald standen alle vier im dunklen Wohnbereich des Hauses. In der Luft hing noch der Geruch nach Pfeifentabak. In der Mitte des Zimmers stand das alte Sofa. Der kleine Beistelltisch links daneben war leer. Die Wände trugen keine Bilder und auch der Kaminsims war bis auf eine Packung Streichhölzer und einen Kerzenhalter mit einer abgebrannten Kerze darin nackt. Über den kleinen Flur gelangten sie zu den Schlafzimmern. Max entschied sich für die rechte Tür. Sie öffnete sich knarrend. Ein schwarzes Metallbett füllte den Raum fast vollständig aus. In der hinteren Ecke des Zimmers stand eine alte Kommode, auf der ein kleiner, runder Spiegel lag. Max Stevens ging darauf zu und zögerte kurz, doch dann öffnete er die oberste Schublade. Sein Blick fiel auf säuberlich zusammengelegte Damenunterwäsche. Er grinste und zog einen schwarzen Büstenhalter hervor. „Unter all den Männerklamotten scheint tatsächlich eine Frau zu stecken.“ Die Männer lachten. Russell Miller hielt seinem Sohn eine schwarze Spitze entgegen. „Hier, Sohn, es ist bestimmt das erste Mal, dass du so etwas aus der Nähe siehst.“ Luke wurde verlegen, überspielte es aber, indem er scheinbar uninteressiert danach griff. Max kam ihm zuvor. „Nein, junger Mann, hier wird nichts mitgenommen. Wir sind keine Diebe! – Obwohl, verlockend ist der Gedanke schon.“ Die Männer lachten wieder. Max begann, den Rest der Kommode zu untersuchen. Er fand nichts Ungewöhnliches, also verließen die Männer das Schlafzimmer und standen vor der nächsten Tür. „Hoffentlich hat sie hier eine Leiche versteckt, sonst hätten wir uns den ganzen Zauber schenken können“, sagte Clayton. Die anderen Männer schwiegen und Max öffnete die Tür. Intensiver Pfeifengeruch auch hier. Clayton betätigte den Lichtschalter, doch nichts passierte. „Mach mal Licht!“, forderte Max und Luke schaltete seine Taschenlampe an. Der helle Strahl fiel auf einen Tisch, der bedeckt war mit Büchern. Auf der Fensterbank daneben befanden sich, ordentlich aufgereiht, zahlreiche Pfeifen und Tabakdosen sowie ein silbernes Feuerzeug auf einem kleinen roten Samtkissen. Der Lichtstrahl tastete sich weiter durch das Zimmer und erleuchtete einen metallenen Kleiderständer. Auf Bügeln hingen dort weiße Männerhemden, wollene Strickjacken in verschiedenen Mustern und der schwarze Lodenmantel. Das Licht wanderte erneut und erleuchtete plötzlich – Luke ließ die Taschenlampe fast fallen vor Schreck – ein fremdes Gesicht. Das vergrößerte Foto eines jungen Mannes stand auf einer Kommode. Davor befanden sich zahlreiche Bilderrahmen mit Fotos desselben Mannes. Weiße abgebrannte Kerzen waren kreisförmig aufgestellt worden. Ein handgeschriebener Brief steckte zwischen den Kerzen und Bildern. Unsicher blickten die Männer sich in dieser seltsamen Atmosphäre an. Zum ersten Mal kamen sie sich wirklich wie Eindringlinge in Rose Cottage vor. Max Stevens riss sich zusammen. Er griff nach dem Brief und begann ihn zu lesen. Die Sprache war ihm unbekannt. Er gab ihn ratlos weiter, doch auch die anderen Männer konnten den Text nicht entziffern.  „Ist Spanisch oder Italienisch, glaube ich“, meinte Luke schließlich, nachdem er einige Augenblicke auf das Blatt Papier in seiner Hand gestarrt hatte. Plötzlich trat Clayton, der Barmann, nach vorne und ergriff eines der Fotos. „Das Gesicht kommt mir so bekannt vor.“ Er reichte das Bild herum, aber die anderen Männer schüttelten den Kopf. Clayton nahm das Bild wieder zur Hand. „Ich könnte schwören, ich kenne diesen Mann, aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, woher.“ Behutsam stellte er das Foto zurück auf seinen Platz. Dabei fiel sein Blick auf einen schwarzen Stoffbeutel. Clayton griff danach und war überrascht, wie schwer der Inhalt wog. Eine Ahnung ließ ihn schaudern. Er öffnete den Beutel und zog einen kleinen silbernen Revolver hervor. Fassungslos blickten die Männer sich an. „Leg ihn sofort zurück“, befahl Max Stevens. Schweigend verließen die Männer das Zimmer und waren kurze Zeit später auf dem Weg zurück ins Dorf.

*

Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr, die sich sonst endlos hinzogen, waren nun ausgefüllt mit Spekulationen über die Neuigkeiten aus dem Cottage. Wie ein Lauffeuer hatte sich noch in derselben Nacht die Nachricht verbreitet, dass die Männer einen Revolver in einem Zimmer voller Fotos, Pfeifen und Männerkleidung gefunden hatten. Wem gehörten die Pfeifen und Hemden? Wer war der Mann auf den Fotos? Wer war die junge Frau? Warum war sie in ihrem Dorf? Und die wichtigste Frage von allen: Was wollte sie mit dem Revolver? Die Spekulationen überschlugen sich, wurden immer wilder und beängstigender und schließlich stand im ganzen Dorf fest: Die junge Frau stellte ein Problem dar, das schnell gelöst werden musste.

*

Carissima, sono davvero dispiaciuto di arrecarti tanto dolore. Sei coraggiosa, amore mio, ma posso vedere quanto hai pianto. Il pensiero di lasciarti mi spezza il cuore… Luke las die Worte immer und immer wieder, hoffend, darin einen Sinn finden zu können, doch ohne Erfolg. Die Melodie der Sprache faszinierte ihn und er war sich sicher, dass diese Worte an die junge Frau gerichtet waren. Keinem der anderen Männer war aufgefallen, dass er den Brief an sich genommen hatte. Er faltete das Blatt Papier vorsichtig zusammen und legte es unter einen Stapel Papiere in seiner Schreibtischschublade. So sollte es auch bleiben.

*

Die Wellen schlugen hoch in „Will’s Bar“. Max Stevens und der Pfarrer stritten über Rose Cottage und seine Bewohnerin. Im Dorf mache sich Unmut breit, verkündete Max Stevens und es wäre an der Zeit, drastische Maßnahmen zu ergreifen. Der Pfarrer pochte darauf, dass jeder Mensch ein Recht auf Privatsphäre hätte und dass die junge Frau niemandem etwas zuleide tue. Max Stevens wurde laut: „Pfarrer, wir werden nicht hier sitzen und abwarten, bis sich das ändert. Wir wissen aus verlässlicher Quelle, dass diese Frau eine Gefahr darstellt. Das Dorf will Antworten von der Frau und zwar schnell.“ Die anderen nickten zustimmend und der Pfarrer lenkte ein. „Ihr sollt eure Antworten bekommen. Sobald sie wieder zurück ist, werde ich mit ihr reden.“ Clayton, der Barmann, der hinter dem Tresen stand und die Eingangstür im Blick hatte, sagte: „Das wäre jetzt.“ Er zeigte zur Tür. Dort stand die junge Frau und zitterte am ganzen Leib.

*

Sie hatte sofort bemerkt, dass der Brief nicht da war. Hektisch hatte sie begonnen, alle Räume zu durchsuchen und war schließlich verzweifelt auf die Terrasse gelaufen. Die kalte Abendluft war beruhigend gewesen. Erst nach einigen Minuten hatte sie die Fußspuren entdeckt, die aus dem Garten über die Terrasse in das Haus führten. Fassungslos hatte die junge Frau auf die Beweise eines Einbruchs gestarrt, dann hatte sie ihre Jacke gegriffen und war aus dem Haus gerannt.

*

Für ein paar Augenblicke sagte niemand ein Wort. Die Augen der jungen Frau funkelten und ihr Atem ging stoßweise. Entschlossen trat sie in die Bar und fragte: „Wo ist mein Brief?“ Die Bewohner blickten sich an. „Kommen Sie doch bitte herein und setzen Sie sich. Sie zittern ja.“ Der Pfarrer schob ihr einen Stuhl entgegen. „Ich weiß, dass jemand in meinem Haus war und einen Brief gestohlen hat!“ Tränen traten ihr in die Augen. Max Stevens erhob sich von seinem Barhocker. „Wollen Sie sagen, dass wir Diebe sind?“ Der Pfarrer blickte erschrocken. „Max, beruhige dich. Wir können doch über alles reden. Was ist geschehen, meine Liebe?“ –„Hören Sie nicht? Jemand ist in mein Haus eingebrochen und hat einen Brief gestohlen. - War die Neugier so groß? War es nicht genug, dauernd an meinem Haus zu klopfen oder durch das Fenster zu spionieren?“ Mrs. Fisher wurde rot.  „Musstet Ihr jetzt einbrechen und alles durchsuchen? Doch das ist egal. Nur bitte, ich will meinen Brief wieder zurück.“ Tränen liefen ihr über das Gesicht. Max Stevens trat auf sie zu. „Wenn hier einer Fragen stellt, dann sind wir es? Wer bist du? Warum bist du hier? Warum, um Himmels Willen, hast du einen Revolver in deinem Haus?“ Die junge Frau wurde bleich, blieb aber stumm. Max Stevens fuhr wütend fort. „Du kommst in dieses Dorf und verkriechst dich in deinem Haus. Du stößt alle vor den Kopf, die nur nett sein wollen, und als wäre das noch nicht unhöflich genug, wirfst du uns jetzt vor, aus deinem Haus etwas gestohlen zu haben? Sei vorsichtig, was du sagst. Du hast hier sowieso keine Freunde, aber du willst uns bestimmt auch nicht zu deinen Feinden haben.“ Andere Männer erhoben sich von ihren Stühlen. Der Pfarrer stellte sich schützend vor die junge Frau und sagte: „Vielleicht ist es besser, wenn Sie jetzt gehen.“ Die junge Frau blickte in die Menge und sagte: „Ich hätte niemals hierher kommen sollen. Aber das ist jetzt egal. Es hat doch alles keinen Sinn mehr.“ Sie drehte sich um und verließ die Bar. Ein Tumult brach los. Niemand konnte glauben, was gerade geschehen war. Sie wurden des Diebstahls verdächtigt. Was bildete diese Frau sich ein? Über dem Wirrwarr der Stimmen war plötzlich die Frage des Pfarrers zu hören: „Woher weißt du, dass sie einen Revolver besitzt?“ Betreten blickten die Bewohner zu Boden, zum Bierhahn oder zur Decke. Nur Max Stevens blickte dem Pfarrer ins Gesicht. „Weil wir uns einen kleinen Überblick verschafft haben in Rose Cottage. Nur gestohlen haben wir nichts.“ Stöhnend ließ sich der Pfarrer auf den nächsten Stuhl fallen.

*

Die Predigt an diesem Silvesterabend dröhnte wie ein Gewitter mit Blitz und Donner durch die kleine Dorfkirche. Seine Schäfchen saßen mit gesenkten Köpfen in den Bänken, doch niemand bereute, was sie getan hatten. Im Gegenteil: Die Geschehnisse in „Will’s Bar“ hatten sie in ihrem Hass auf die junge Frau noch bestärkt. Bei der anschließenden Silvesterfeier war aber erstmal alles vergessen und gemeinsam feierten sie das Ende eines ereignisreichen Jahres. Mrs. Fisher tanzte ausgelassen mit dem Pfarrer, Max Stevens hielt seine Rita im Arm und Clayton, der Barmann, zapfte Bier im Akkord. Der Ruf nach einer Rede wurde laut. Max Stevens erhob sich und wurde mit frenetischem Beifall empfangen. „Freunde, was hatten wir für ein aufregendes Jahr.“ Beifälliges Nicken. „Erinnert euch an den Schneesturm im Februar! Wie haben wir gefroren! Aber anstatt zu jammern, sind wir enger zusammengerückt und haben uns gegenseitig ausgeholfen, als der Strom ausfiel und die Wasserleitungen zugefroren sind. Wir haben uns an der erstklassigen heißen Schokolade der Kirchendamen aufgewärmt und gewusst, dass es irgendwann vorübergehen wird. Einen Applaus für die Kirchendamen!“ Die Menge begann zu klatschen und drei ältere Damen, die sich im Hintergrund des Raumes befanden, strahlten mit der Festbeleuchtung um die Wette. Max verschaffte sich Ruhe. Alle Augen waren wieder bei ihm als er fort fuhr: „Das nächste Ereignis war erfreulicher. Zu Ostern veranstaltete der Fußballclub ein Wohltätigkeitsspiel, um Geld zu sammeln für unsere Bücherei. Ein Riesenerfolg, bei dem wir nicht nur die Nieten des Nachbardorfes geschlagen haben, sondern auch soviel Geld eingenommen, dass…“ Er blickte fragend in die Runde. „Herb, wie viel neue Bücher konnten gekauft werden?“ -  „75 neue Bücher!“ rief ihm Herb Marshall, Vorsitzender des Clubs, entgegen. „75!“ rief Max. „Applaus für die Fußballer!“ Es wurde geklatscht und auf Schultern geschlagen. Max fuhr fort. „Im Sommer konnten wir zwei Hochzeiten feiern!“ Er richtete das Wort an zwei junge Paare, die am Tresen standen: „Gut, dass wir euch davon abhalten konnten, gemeinsam zu feiern. Das wäre uns ja fast eine Party entgangen. Ein Hoch auf unsere beiden neuen Ehepaare!“ Alle klatschen in Richtung der vier jungen Leute, die sich lachend verbeugten. „Ich habe gehört, dass Russell Miller seinen Kater für eine Woche herumgeschleppt hat“, rief einer der beiden jungen Männer und der andere entgegnete: „Kein Wunder, dass er nicht gemerkt hat, dass ihm seine Kuh ausgerissen ist und Rose Cottage angefressen hat.“ Ein grölendes Gelächter folgte. Russell Miller stimmte mit säuerlichem Gesicht ein. Max Stevens sprach weiter: „Wir hatten wieder ein Jahr, in dem wir Großartiges erreicht und erlebt haben. Darauf können wir stolz sein. Ich kann mir keinen besseren Platz zum Leben vorstellen als dieses Dorf und keine bessere Familie als euch. Ich bin in diesem Dorf geboren und werde es niemals verlassen! Auf uns alle!“ Zu begeisterten Rufen und Applaus hob er sein Glas. Die anderen taten es ihm gleich. „Es gibt nur eine Frage, die mich seit einigen Tagen beschäftigt“, sagte Max plötzlich. – „Wann du Rita endlich ins Bett bekommst?“ schrie es ihm aus der Menge entgegen. Rita lächelte breit und rief: „Glaube mir, das beschäftigt ihn nicht erst seit ein paar Tagen!“ Max Stevens stoppte das Gelächter. „Was machen wir, wenn jemand den Frieden und das Glück unserer Gemeinschaft stört?“ Urplötzlich kippte die Stimmung. Die Gesichter wurden ernst. Niemand sagte ein Wort. Nach einer Weile ertönte Mrs. Fishers Stimme im Raum. „Wer unseren Frieden stört, muss gehen.“ Die anderen stimmten murmelnd und nickend zu. „Wer hier nicht glücklich ist, soll eben verschwinden!“ – „Wir halten niemanden auf!“ – „Bei manchen tragen wir sogar die Koffer aus dem Haus!“ – Applaus begann von neuem. Da erhob sich der Pfarrer und sagte in das Getöse: „Wir sollten niemanden ausstoßen, sondern versuchen, ihn in die Gemeinschaft aufzunehmen.“ Ruhe kehrte ein, doch niemand blickte den Pfarrer an. Er sah sich fragend in der Menge um. Als er bemerkte, dass er mit seiner Meinung allein da stand, griff er wütend nach seinem Mantel und verließ die Bar. Betreten blickten die Bewohner sich für einen Augenblick an, doch die Stimmung war zu aufgeheizt, um den moralischen Ansichten eines Geistlichen zuzustimmen. Max Stevens ergriff wieder das Wort. „Vergesst den Pfarrer! Wir müssen die Sache selber in die Hand nehmen! Ihr wollt, dass wieder im Dorf wieder Frieden herrscht, richtig?“ Die Bewohner nickten entschlossen. „Ihr habt keine Lust mehr euch Gedanken über eine Fremde zu machen? Ihr wollt keine Angst mehr haben, dass sie eines Tages völlig den Verstand verliert und den Revolver im Dorf abfeuert?“ Seine Augen begannen gefährlich zu blitzen. „Dann müssen wir zusammenarbeiten, genauso wie bei dem schweren Schnee-sturm.“ Clayton blickte Max fragend an. „Was sollen wir tun, Max?“ – „Wir machen ein Feuerwerk.“ Irritierte Blicke folgten dieser Ankündigung. „Holt alle eure Fackeln und Raketen. Auf zu Rose Cottage! Lasst uns ein Feuerwerk veranstalten, wie es dieses Dorf noch nie gesehen hat! Los geht’s!“ Die Menge johlte und verstreute sich schnell im Dorf. Kurze Zeit später machten sich alle, mit Fackeln und Raketen bewaffnet, auf den Weg zu Rose Cottage. Der Wind, der schon den ganzen Abend wehte, nahm zu.

Die junge Frau sah die schwankenden Gestalten im Feuerschein auf das Cottage zukommen. An der Spitze der Gruppe erkannte sie Mrs. Fisher und Max Stevens. Langsam stand die junge Frau auf, griff nach dem Revolver, der auf dem Tisch neben ihr lag und trat an das Fenster. Eine tiefe Ruhe überkam sie plötzlich. Ich komme bald, mein Geliebter, dachte sie.

*

Carrissima,… du bist so tapfer, doch ich kann sehen, wie sehr du geweint hast. Der Gedanke, dich allein zu lassen, bricht mir das Herz. Ich habe gehört, wie du zu der Schwester gesagt hast, dass du mir folgen willst. Sag so etwas nie wieder! Das Leben ist ein Geschenk, vergiss das nie, und es ist wertvoll, sehr wertvoll. Ich weiß, dass du eines Tages wieder glücklich sein wirst. Auch ohne mich. Glaube mir.

Die Menge blieb in der Nähe des Cottages stehen. Die Männer steckten Raketen in den Boden und begannen, die Lunten zu entzünden. Bald jubelte die Menge den roten und blauen Lichtern zu, die sich über dem nächtlichen Himmel ausbreiteten. Sie bemerkten die junge Frau am Fenster. Die Menschen grölten. „Freunde, wir gehen näher heran. Damit sie es noch besser sehen kann.“ Max Stevens öffnete die Tür zum Cottagegarten und steckte eine Rakete in das Blumenbeet. Die anderen folgten ihm. Die Raketen zischten in leuchtenden Farben über das Cottage. Funken fielen auf das marode Reetdach.

Ich kenne einen wunderbaren Platz und käme heute eine Fee, um mir einen letzten Wunsch zu gewähren, würde ich dich zu dem Haus bringen, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Rose Cottage liegt in einem friedlichen kleinen Dorf, das von Bergen umgeben ist. Das Cottage besitzt einen wunderschönen Garten, der im Sommer ein reines Blumenmeer ist. Es war der traurigste aller Tage, als ich dem Haus Lebewohl sagen musste. Ich habe nie erfahren, warum meine Eltern das Dorf verlassen haben. Wie sehr ich wünschte, dir diesen Ort zeigen zu können. Wir würden über die Wiesen wandern, unsere Füße im Bach baden und abends säßen wir auf der Veranda und würden den Sonnenuntergang über den Bergen bewundern. Wie gern wäre ich noch einmal dort. Mit dir, meine Geliebte.

Die trockene untere Schicht des Daches fing Feuer. Die Menschen johlten. Ein Arm schoss plötzlich aus der Menge und mit unglaublicher Kraft wurde eine Fackel durch die Scheibe der Haustür geworfen. Andere Fackeln folgten, eine durchschlug das Fenster und traf die junge Frau am Kopf. Für einen Moment blickte sie die Menschen lächelnd an, dann sank sie zu Boden. Rose Cottage stand in Flammen.

Ich bin schrecklich müde, mein Schatz.

Ich liebe dich für immer.

Eines Tages werden wir uns wieder sehen.

Elias

Die meisten Bewohner hatten sich auf den Rückweg gemacht, bevor das Cottage völlig abgebrannt war. Max Stevens blieb, bis die Flammen verendet waren, dann drehte er sich um und ging nach Hause.

*

Mrs. Fisher konnte ihr Glück kaum fassen. Eine Wandergruppe war an diesem Märzmorgen ins Dorf gekommen, um sich mit Lebensmitteln einzudecken. Die Regale leerten sich und Melissa kam mit dem Auffüllen kaum nach. „Wurde auch Zeit, dass du mal richtig arbeitest“, bemerkte Mrs. Fisher trocken. An der Kasse bildete sich gerade eine Schlange, und Mrs. Fisher eilte hinter den Verkaufstresen. „Was ist das für ein wunderhübsches Dorf!“, bemerkte einer der Wanderer und lächelte Mrs. Fisher an. „Sie müssen hier sehr glücklich sein.“ Sie nickte und tippte begeistert Preis um Preis in die Kasse ein. „Auf unserem Weg in Ihr Dorf sind wir an einer Wiese vorbeigekommen, die verbrannt aussah. Was ist denn da passiert?“ Mrs. Fisher hörte auf zu tippen und blickte irritiert auf den langen Bon. Der Wanderer fuhr fort: „Entschuldigen Sie, dass ich so neugierig frage, aber dieses verbrannte Stück Erde passt so gar nicht in dieses idyllische Bild.“ Mrs. Fisher zuckte nicht mit der Wimper, als sie sich zu dem Mann drehte. „Das muss die Wiese von Rose Cottage sein, die Sie gesehen haben. Eine tragische Geschichte! Die junge Frau, die  dort lebte, hat in der Neujahrsnacht das Haus in Brand gesteckt und ist in den Flammen umgekommen. Wir waren alle schockiert, das können Sie sich vorstellen. Niemand konnte sich erklären, wie es dazu kommen konnte. Es war eine so nette junge Frau, die sehr beliebt war im Dorf. Nach dem Brand wurde das Cottage abgerissen. Ein schrecklicher Tag für uns alle. Ich bezweifle, dass unser Dorf sich davon jemals erholen wird.“ Mrs. Fisher schniefte in ihr Taschentuch. Die Touristen blickten einander betreten an. „Wie“, meinte Mrs. Fisher dann, „wäre es mit etwas Obst für den langen Weg?“

Kurz danach verließ die Gruppe schwer beladen das Dorf. Mrs. Fisher blickte ihnen noch lange hinterher, dann kehrte sie in den Laden zurück und zählte das Geld in der Kasse. Eine Stunde später schloss sie zufrieden ab und winkte Max Stevens und seiner Frau Rita zu, die bald in ihr eigenes Haus ziehen würden. Mrs. Fisher wusste aus verlässlicher Quelle, dass der bewilligte Kredit für den Hausbau nicht ausgereicht hatte und spekulierte seitdem darüber, ob Max mit Herb Marshalls’ Schwiegersohn unter einer Decke steckte. Sie würde es noch herausfinden. Morgen war schließlich ein neuer Tag in ihrem friedlichen kleinen Dorf.

*

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Ulrike Niemann).
Der Beitrag wurde von Ulrike Niemann auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.04.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Ulrike Niemann als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Kleiner Spatz was nun von Karin Rokahr



Ein Gedichtsband über Träume, Sehnsüchte und Hoffnungen einer Verliebten, angereichert mit Momentaufnahmen des alltäglichen Lebens, geschrieben von einer ganz normalen Frau.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Krimi" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Ulrike Niemann

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Wie gut, dass Oma in Kairo war von Ulrike Niemann (Kinder- und Jugendliteratur)
Der Türsteher von Goren Albahari (Krimi)
Abschiedsbrief einer fünfzehnjährigen von Rüdiger Nazar (Drama)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen