Igor Tyumenev

Im Schatten der Lüge


1. In seltsamer Mission
 
 
 
“Ich hätte diesen Job nie annehmen sollen...”
Die Schneeflocken fielen im seltsamen Tanze auf die Windschutzscheibe meines Firmenwagens. Aufgrund der miserablen Sicht war ich gezwungen, mich im Schneckentempo zu bewegen. Was hatte mich nur geritten? Schließlich trennten mich nur wenige Minuten von dem wohlverdientem Wochenende: Ich hätte nach hause fahren, mich im warmen Sessel einkuscheln und mir im Fernsehen das Abendprogramm ansehen können...
...Stattdessen war ich am Freitagabend unterwegs, dabei hundemüde, und anstatt dem Schneesturm aus meinem Wohnzimmer zuzusehen, war ich genau mittendrin. Und das alles nur wegen meines Chefs. Ach ja, mein Chef. Der wertgeschätzte Rupert Downing, der Leiter der Downing & Myers Corporation, der auch ich zu meinem Leidwesen unterworfen bin. Dabei genießt Downing wesentlich mehr Wertschätzung, als er verdient. Seine herausragendste Eigenschaft ist seine fast schon unheimliche Fähigkeit, seine Arbeit auf andere abzuwälzen. Ich habe ihn persönlich noch nie beim Arbeiten gesehen. Und seinen Geschäftspartner Myers nicht einmal zu Gesicht bekommen, in den drei Jahren, in denen ich für die Firma tätig bin. Offensichtlich sehr beschäftigt, was auch nicht verwunderlich ist, bei einem Partner wie Downing. Wie der Mann es heute wieder schaffte, mir diesen Auftrag anzudrehen: käme der Anruf zwei Minuten später, wäre ich gar nicht im Büro gewesen: Am Freitag gehen alle schon um gut 13:00 Uhr nach hause. So aber, hatte ich eine weitere Gelegenheit, mir meinen Vorgesetzten in Farbe vorzustellen, mit seiner hochgepflegten Halbglatze, seiner leicht nach unten verrutschten, eckigen Brille und dem feinen Anzug, einschließlich die obligatorische dunkle Krawatte, wie er mir in den Telefonhörer kommandierte: “Stanley, leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich vergessen habe, einige notwendige Details mit einem wichtigen Klienten zu klären. Genaugenommen ist bereits alles beschlossen, die Papiere müssen nur noch unterzeichnet werden. Da ich aber unglücklicherweise ein unaufschiebbares Meeting in Manchester habe, habe ich überhaupt keine Zeit dafür. Außerdem weiß nicht mal ansatzweise, wo dieses Hotel liegt. Ich werde voraussichtlich auch Montagabend nicht zurück sein, darum möchte ich, dass Sie das übernehmen. Die Papiere, sowie den Zettel mit dem Namen des Klienten und der Adresse des Hotels habe ich bereits in Ihrem Fach deponiert. Also dann, Stanley, ich wünsche ein schönes Wochenende!”
Was für ein Egoist... Aber um ehrlich zu sein, bin ich eher selber schuld. Ich hätte mir die Mühe machen können, diesen Job auf jemand anderen zu schieben, zu dumm nur, dass die meisten Kollegen schon nach hause gegangen waren. Aber ich entschloss mich spontan dazu, es selbst zu machen. Im nachhinein, zugegeben, eine eher schlechte Entscheidung.
 
Ich blickte nochmals auf den Zettel: “Zacharias P. Reynolds, Hotel “Hill Fort”, Zimmer 25” stand da. Ich hatte mir meinen Weg mit dem Routenplaner aufgezeichnet. Es war nicht allzu weit weg, allerdings an einem ziemlich abgelegenen Ort. Warum dieser Typ einen Vertrag in einem Hotel mitten im nirgendwo unterzeichnen wollte, war mir ein Rätsel. Sei es drum, Hauptsache, wir würden es schnell hinter uns bringen, und ich könnte mich auf dem Weg Richtung heimwärts machen. Plötzlich sah ich vorne rechts ein Gebäude und bremste. Gleich nach dem Aussteigen begriff ich, wie extrem stark der Blizzard wirklich war; ich schaffte es kaum mich auf den Beinen zu halten. Als ich langsam an das Gebäude herantrat, wurde meine vage Vermutung bestätigt: um das besagte Hotel konnte es sich hier unmöglich handeln. Das Häuschen sah eher aus wie ein großer Geräteschuppen. Daneben stand ein großer Wagen, fast komplett mit Schnee eingedeckt. Nirgendwo war auch nur eine Menschenseele zu finden. Trotzdem fühlte ich mich irgendwie beobachtet. “Nur Hirngespinste”, dachte ich mir, während ich in mein Fahrzeug einstieg, um weiterzufahren.
 
Mit zunehmender Weiterfahrt wurde der Sturm ein bisschen schwächer und das Fahren leichter. Auch wenn das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht verschwand, besserte sich meine Laune. “Vielleicht schaffe ich es noch vor Sonnenuntergang von dort wegzukommen” dachte ich mir, beschäftigt mit den krampfhaften Versuchen, die Kontrolle über den Wagen zu behalten. Laut meiner Autoradiouhr war 15:57 Uhr. “Es wäre wirklich besser, vor Einbruch der Dunkelheit, die Rückfahrt anzutreten.” überlegte ich mir. “Schließlich habe ich keine Lust auf dieser verschneiten Straße im Dunkeln herumzuschleudern.” Noch blieb ja Zeit. Aber wenn dieses elende Hotel nicht bald am Horizont auftaucht...
 
Wenn man vom Teufel spricht... Weit vorne ließen sich Konturen eines Gebäudes durch das Schneegestöber erkennen. Es konnte nur dieses Hotel sein. Als ich immer näher heranfuhr, bemerkte ich, dass es noch kleiner war, als es vom Weitem aussah. Nur etwa doppelt so groß, wie der Geräteschuppen, an dem ich vorhin vorbeifuhr. Beim parken meines Autos wurde deutlich, dass sich offenbar nur wenige hierhin verirren, zumindest mit normalen Fortbewegungsmitteln. Außer mir gab es nur noch einen Wagen am Parkplatz und sonst nichts; keine Zeichen dafür, dass es hier viele zahlende Kunden gäbe. Sobald ich durch das Gittertor hindurchgegangen war, konnte ich das Hotel näher betrachten: Ein ziemlich altertümliches Gebäude aus Ziegelstein, mit massiven Fensterläden und einer großem hölzernen Eingangstür. “Zumindest zieht es hier wahrscheinlich nicht” dachte ich mir, während ich die Fassade und die abgestorbenen Blumenbeete betrachtete. Der Schneesturm hatte inzwischen fast gänzlich aufgehört, aber dadurch wurde das allgemeine Weltbild auch nicht gerade viel besser. Der leise rieselnde Schnee, das große, stille Haus, und die Einsamkeit rundherum gaben ein wahrlich tristes Bild ab. “Irgendwie unheimlich” dachte ich mir plötzlich, als ich den zugeschneiten Weg zum Eingang einschlug. Das mulmige Gefühl, das mich seit dem Anfang dieser Odyssee beschlich, verschwand nicht etwa. Im Gegenteil, es wurde nur noch schlimmer...
 
 
 
 
 
2. Das Ende des Auftrags
 
Vom Inneren her wirkte das Hotel aber gemütlich. Zumindest, was das Vorzimmer anging. Leicht gedämpfte Beleuchtung, antike Möbel und natürlich der fast schon klischeehafte Holztresen. Die Person, aber, die hinter dem Tresen war, passte als einziges nicht in das Gesamtbild, auch wenn Sie die zugehörige Uniform eines Portiers trug. Als der junge Mann mich sah, sprang er sofort von seinem Stuhl auf und sagte: “Willkommen im Hotel “Hill Fort! Kann ich Ihnen behilflich sein?” Ich musterte den Mann, der vor mir stand. Das ganz normale sommersprossige Gesicht eines gut 20-jährigen, die wirren, roten Haare und die kindlichen Segelohren passten gar nicht überein mit der vornehmen Kleidung und der übertriebenen Bereitschaft, zu helfen. “Ja, Sie können,” meinte ich und behalf mir mit dem Zettel: “Ich habe ein Treffen mit Mr. Zacharias P. Reynolds, in Zimmer Nr. 25.” “Einen Moment, bitte.” Der Portier schnappte sich das Gästebuch und fing an, darin herumzublättern. “Ich bin mir nicht sicher, ob sich ein solcher Herr in unserem Hotel befindet, aber wenn, dann steht sein Name ganz sicher hier drin. Notfalls können wir ja nach oben gehen und in Zimmer 25 nachfragen.” Als er daraufhin meinen Gesichtsausdruck sah, fing er an, schneller zu blättern. Schließlich brachte die Suche erfolg. “Gefunden,” verkündete er stolz. “Aber Mr. Reynolds quartiert nicht in Zimmer 25, sondern nebenan, in Zimmer 26. Nr. 25 war besetzt. Soll ich dahin begleiten, oder möchten Sie, dass ich Mr. Reynolds zuerst telefonisch Bescheid sage?” Ich überlegte kurz. Dann entschied ich mich: “Ja, rufen Sie ihn an und teilen Sie ihm mit, dass ein Mitarbeiter der Downing & Myers Corporation hier ist. Vielleicht ist er auch gar nicht da.” “In Ordnung,” meinte der Portier, “sehen wir, ob wir ihn erreichen können. Die Telefonverbindung in diesem Gebiet ist bei solchem Wetter selbst intern nicht besonders gut. Manchmal gibt es überhaupt keinen Signal” Welche von unseren beiden düsteren Vermutungen sich bestätigt hatte, war unklar, aber Fakt war: eine wurd! e wahr; Reynolds haben wir jedenfalls nicht per Telefon erreichen können. “Es gibt zwar Freizeichen, aber das muss nicht heißen, dass das Telefon im Zimmer auch klingelt. Es ist äußerst kompliziert mit dieser Verbindung” teilte mir der etwas geknickte Portier mit. “Gut, dann müssen Sie mich wohl zum Zimmer hinführen.” Der junge Mann blickte überrascht auf: “Wer? Ich?” “Natürlich, wer sonst? Ich kenne mich hier doch nicht aus” erinnerte ich ihn. “Okay, dann folgen Sie mir bitte. Hier geht es lang.” Der Portier steuerte auf die Treppe zu, die sich am gegenüber der Eingangstür liegenden Teil des Raumes befand. Mir blieb keine andere Wahl, als ihm zu folgen.
 
Zimmer Nr. 25 befand sich im zweiten Stockwerk. Der Portier klopfte und wartete ein wenig. Keine Antwort. “Er ist also doch nicht da,” sagte ich, “oder er ist eingeschlafen.” “Seltsam,” sagte er, “ Ich hole schnell den Ersatzschlüssel.” Innerhalb von einer Minute war er wieder da. Ich sah ihm an, dass er plötzlich nervös wirkte. ”Entspannen Sie sich,” versuchte ich ihn zu beruhigen, “wahrscheinlich ist er wirklich eingeschlafen”. “Hoffen wir es” meinte der Portier und schloss die Tür auf. Wir gingen gemeinsam in das Zimmer hinein. Das erste, was uns auffiel, war der Mann, der auf dem Bett lag, dabei seltsamerweise voll bekleidet. “Er schläft also wirklich,” seufzte der Portier erleichtert. Doch mir erschien das Ganze immer noch seltsam. Ich ging auf das Bett zu, und schüttelte Reynolds leicht, mit dem Versuch, ihn aufzuwecken. Keine Reaktion. Ein ganz schlechtes Gefühl befiel mich. Langsam fühlte ich seinen Puls. Tatsächlich: Zacharias P. Reynolds gab es nicht mehr.
Um mich von dem Erlebnis zu erholen, benötigte ich einige Sekunden. Dann drehte ich mich blitzschnell um. Der junge Portier hatte offensichtlich noch nicht begriffen, wie ernst die Situation war. “Was ist passiert?” fragte er, “Geht es ihm nicht gut? Soll ich einen Arzt rufen?” “Nein” meinte ich, “ein Arzt wird ihm nicht mehr helfen können. Rufen Sie besser die Polizei an.” Der Mann stand eine Weile regungslos da, bis er dann stammelte: “Nicht mehr helfen? Polizei? Sie meinen, er ist tot? Wirklich tot?” “Nein Sie Depp, er tut nur so! Rufen Sie endlich die Polizei an!” Daraufhin stürzte der Portier zum Telefon im Zimmer und wählte die Nummer. Er wartete eine Weile und legte dann den Hörer auf. “Es macht keinen Sinn,” sagte er, “Die nächste Stadt ist zu weit entfernt und die Verbindung ist nach wie vor sehr schlecht. Die Chancen, sie zu erreichen sind gering. Woran ist er denn gestorben? Sollte ich nicht doch einen Arzt rufen?” “Sie sind nicht in der Lage, die Polizei zu rufen, aber Sie können einen Arzt herbestellen? Wie das?” “Ganz einfach. Dr. Montague quartiert in Zimmer 14. Ich kann ihn gleich herbestellen.” “Gut, machen Sie das.” Der Bursche drehte sich um und verschwand. Ich hatte währenddessen Gelegenheit, mich im Zimmer umzusehen. Es war ein sehr schlichtes, dunkelgrün gestrichenes Zimmer mit wenig Inventar. Außer dem Bett mit dem Toten gab es nur einen Stuhl, einen kleinen Schreibtisch mit Telefon und ein kleines Nachttischchen mit einer Lampe und einem leeren Glas darauf. Zudem stand neben dem Bett ein Aktenkoffer. “Ist es seiner?” hörte ich die Frage; “ja,” antwortete ich automatisch und drehte mich erst darauf erstaunt um. Vor mir stand nicht, wie ich angenommen hatte, der Portier, sondern ein Mann mittleren Alters, gekleidet in einen feinen Anzug, mit vorsorglich gekämmten Haaren und einem Drei-Tage-Bart. Er wirkte nicht einmal ansatzweise überrascht, sondern tat so, als ob ein sperrangelweit offenes Hotelzimmer mit zwei Männern darin, einer davon tot, das Normalste auf der Welt wäre. Aus irg! endeinem Grund gefiel er mir nicht, dieser seltsame Neuankömmling.
 
“Wer sind Sie?” fragte ich ihn streng. “Was wollen Sie hier?” In diesem Moment war einem nicht gerade nach Spaß zumute. Trotzdem lächelte der Mann freundlich. “Entschuldigung, wo sind nur meine Manieren. Wenn ich mich vorstellen darf, Dr. Charles Montague, ich bin vom jungen Mr. Simmons hierher geschickt worden, um mir den Verstorbenen anzusehen. Und Sie sind...” “Ich hatte etwas geschäftliches mit ihm zu erledigen,” antwortete ich mit finsterer Miene, “Wir wollten uns hier treffen, um einige Papiere zu unterschreiben.” “Aha, ich verstehe,” erwiderte Dr. Montague weiterhin freundlich, “Aber wie es aussieht, ist er nicht mehr dazu in der Lage.” Ich blickte den Kerl ungläubig an. Macht er Witze, oder was? Dann fiel mir noch etwas ein. “Sagten Sie ein Mr. Simmons hätte Sie hierhin geschickt? Wer ist Mr. Simmons?” “Na der hiesige Portier natürlich,” antwortete der Mann verwundert, “seien Sie nicht so überrascht mein Freund. Auch Bedienstete haben Namen.” Es war mir zwar völlig neu, dass dieser Typ mein Freund sein sollte und sein Kommentar wirkte auch ziemlich abfällig, aber ich schluckte diese Frechheit erst einmal herunter. Viel mehr interessierte mich, was er zu dem Tod von Reynolds zu sagen hatte. Schließlich war es nicht normal, dass ein Mann einfach so in einem Hotelzimmer auf dem Bett sterben konnte. Vor allem nicht, wenn er eigentlich am selbigen Tag einen Vertrag unterzeichnen sollte. Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, machte sich Montague endlich ans Werk.
 
 
 
3. Seltsame Personen
 
 
“So, was ist nun Ihre Meinung?” fragte ich ihn, als ich mich vor Ungeduld gar nicht mehr halten konnte, “Woran ist er gestorben?” “Das kann man nach einer derart oberflächlichen Untersuchung gar nicht sagen.” Montague drehte sich zu mir um. “Sein Körper weist keinerlei Gewalteinwirkung oder Verletzungen auf. Zudem sieht auch ansonsten alles so aus, als ob er eines ganz natürlichen Todes gestorben wäre.” Mein Blick fiel plötzlich auf das leere Glas auf dem Nachttischchen. Montague folgte meinem Blick und hob das Glas, schnupperte anschließend daran und verzog das Gesicht. “Riecht wie... Herztropfen,” sagte er schließlich und blickte sich im Zimmer um. Ich folgte seinem Beispiel. Nirgendwo waren Herztropfen oder andere Medikamente zu sehen. Nach etwa einer Minute hatte Montague einen Geistesblitz und inspizierte die Innentasche von Reynolds´ Anzug. “Aha,” hörte ich ihn erfreut sagen, als er eine kleine Metalldose aus der Tasche beförderte. Ich blickte ihm über die Schulter, als er die Dose öffnete. Darin befand sich eine kleine Ampulle. Zudem waren zwei weitere, extra für solche Ampullen vorgesehene Vertiefungen angebracht, welche allerdings leer waren. “Sehr praktisch,” sagte Montague, “bei chronischen Herzkrankheiten oder einem schwachen Herzen kann man sich bei einem Anfall sofort selbst behelfen.” Er studierte die Ampulle ein paar Sekunden und verkündete schließlich: Diese Tropfen sind eine äußerst starke Arznei, die Leuten mit Herzproblemen streng nur nach ärztlichem Rezept verschrieben wird. Die Einnahme verläuft relativ simpel: Den Inhalt der Ampulle in ein Glas kippen und ein wenig Wasser hinzufügen. Vor allem für Unterwegs eine sehr bequeme Methode. Aber da die Arznei, wie erwähnt, sehr stark ist, sollte man auf keinen Fall mehr als eine Ampulle auf einmal einnehmen. Zwei oder mehr hintereinander könnten zu enorm niedrigen Blutdruck und sogar zum Herzstillstand führen.” Denken Sie, er hat dennoch diesen Fehler gemacht?” fragte ich. “Wohl kaum,” meinte Montague daraufhin, “diese Arznei wirkt schnel! l und ef fektiv, deswegen ist sie ja auch verdammt teuer. Er wird sie seit längerem benutzt haben und gewusst haben, dass er die Einnahmebedingungen strengstens einhalten muss. Jetzt stelle ich mir aber eine interessante Frage: Wo sind diese beiden Ampullen hin?” “Keine Ahnung”, zuckte ich mit den Schultern, “er wird sie wahrscheinlich weggeworfen haben.” Montague umkurvte das Bett und ich tat es ihm gleich. Auf der anderen Seite befand sich ein kleiner Mülleimer. Als Montague ihn öffnete, stellte wir fest: Er war leer. Daraufhin durchsuchten wir das gesamte Zimmer, fanden aber keine Spur von den Ampullen. “Sie sind nicht hier”, verkündete Montague seinen Schluss, “jemand muss sie mitgenommen haben.” “Der Portier vielleicht?” “Das glaube ich weniger. Als er mich hierher rief, fragte ich ihn, wann er Reynolds das letzte Mal lebend gesehen hat. Er sagte, dass er ihn etwa mittags auf das Zimmer begleitete und ihn nicht mehr lebend zu Gesicht bekam. Die einzige Möglichkeit für ihn, etwas aus dem Zimmer mitzunehmen, ergab sich, als er mit Ihnen das Zimmer betrat. Haben Sie gesehen, wie er etwas an sich nahm?” “Nein”, antwortete ich bestimmt, “er griff zum Telefonhörer, um die Polizei zu rufen, legte dann auf, als es keine Verbindung gab und ging hinaus, um Sie zu holen. Mitgenommen hat er bestimmt nichts.”
Plötzlich erschien das Thema unseres Gesprächs auf der Türschwelle. “Es ist mir endlich gelungen, die Polizeistation zu verständigen. Aber sie haben gesagt, es wird etwa eine Stunde dauern, bis sie da sind, wegen dem vielen Schnee.”
Ich blickte aus dem Fenster. Tatsächlich, die weiße Schneedecke, die das Hotel umgab, wurde immer größer, da der Schneefall immer stärker wurde. Mittlerweile war es erneut ein richtiger Sturm. Währenddessen wandte sich Montague an Simmons: “Sagen Sie, haben Sie etwas aus diesem Zimmer mitgenommen, als Sie den Toten entdeckten?”
Simmons blickte Montague verwundert an und antwortete etwas verdutzt:
- ”Nein.”
- “Ganz sicher nicht?”, hakte Montague nach.
- “Ganz bestimmt! Ich habe das Zimmer doch nur ganz kurz betreten, um das Telefon zu benutzen. Dann bin ich Sie holen gegangen. Der einzige, der im Zimmer blieb, war dieser Mann hier.” Er deutete mit dem Finger auf mich.
Zum ersten Mal sah ich einen ernsthaft-grimmigen Ausdruck auf dem bisher stets so heiteren und unbeschwerten Gesicht Montagues. Der Arzt drehte sich langsam zu mir um.
- “Ich denke, ich werde Ihnen dieselbe Frage stellen müssen”, sagte er hart; “und einige weitere Fragen ebenso. Allen voran die Frage, die ich schon von Anfang an hätte stellen sollen: Was machen Sie eigentlich hier? Und wer sind Sie?”
Ich seufzte. Gerade noch hatte ich geglaubt, meine Laune könnte nicht noch schlechter werden, da wurde diese Vermutung eindrucksvoll widerlegt. Frage Nummer zwei stellte kein Problem dar. Die erste jedoch, die darüber, was ich hier eigentlich zu suchen hatte, stellte ich mir mittlerweile auch. Letztendlich hatte ich aber auch nichts zu verbergen.
- “Ich bin beauftragt worden, hierher zu kommen, damit Mr. Reynolds einen mit unserer Firma abgemachten Versicherungsvertrag unterzeichnet. Aber bevor die Unterzeichnung zustande kommen konnte...”, ohne den Satz zu beenden, nickte ich in die Richtung des Toten. Simmons´ Miene hellte sich auf, Montague aber blieb ernst.
- “Wieso musste das Ganze hier stattfinden?”
Ich explodierte: “Jetzt hören Sie mal! Ich habe keinen blassen Schimmer, warum er mich ausgerechnet hierher bestellt hat. Und ich sehe keinen Grund, warum ich hier Ihre Fragen beantworten sollte!”
- “Jetzt beruhigen Sie sich doch. Wir wollen das Ganze doch nur ein wenig aufklären. Sonst nichts.” Montague blickte sich um.
- “Wir können jetzt wohl nichts anderes mehr tun, als auf die Polizei zu warten.”
 
 
Schlecht gelaunt verließen wir das Zimmer und Simmons schloss die Tür ab. Als wir die Treppe hinunter gingen, hörten wir urplötzlich Geräusche aus der Empfangshalle. Bei unserer Ankunft unten, zeigte sich uns ein seltsames Bild: Fast die komplette Empfangshalle war mit Koffern eingedeckt, wohin das Auge reichte. Sie standen und lagen herum, was den gesamten Raum wie ein Schlachtfeld aussehen ließ. Mittendrin im “Gefecht” stand eine junge Frau, die mit einem überraschten Gesichtsausdruck in Richtung der Rezeption blickte. Dort erblickten wir eine am Boden liegende Gestalt. Für etwa eine Sekunde lief es mir kalt den Rücken herunter, aber sofort sprang der “Tote” auf und fuhr die Frau an:
- “Sagen Sie, können Sie verdammt noch Mal, nicht aufpassen, wo Sie Ihr Zeug abstellen!? Man könnte sich beim Sturz irgendetwas brechen! Das ist gefährlich!”
Die Angegriffene sah zunächst etwas geistesabwesend in seine Richtung, drehte sich dann aber anschließend, ohne dem Mann zu antworten, zu uns und fragte:
- “Entschuldigen Sie bitte”, sagte sie mit angenehmer Stimme, “ich habe hier ein Zimmer reserviert. Können Sie mir weiterhelfen?”
Wir näherten uns etwas und ich konnte das Äußere der beiden genauer betrachten. Der neue Gast des Hotels war, von relativ kleiner Größe. Was zunächst über die Größe hinweg täuschte, war der dicke Mantel, in den sie eingepackt war. Sie hatte schulterlanges, kastanienfarbenes Haar und hellgrüne Augen. Unbeeindruckt von dem Zwischenfall und der Brandrede des “Opfers” ihres Gepäcks, schaute sie uns mit bestimmten Gesichtsausdruck direkt in die Augen.
Die unglücksselige Person, die ich zunächst für eine weitere Leiche hielt, entpuppte sich als ein etwas beleibter Mann Mitte fünfzig. Er trug einen Mantel über seinen Anzug und hatte einen wirr in alle Seiten sprießenden Schnurrbart. Hinzu kamen ein runder Kopf mit Halbglatze und ein hochrotes Gesicht, welches aber vielleicht nur in Einzelfällen, wie diesen, so aussah. Der Kerl ignorierte uns völlig und wandte sich erneut an die Frau:
- “Hey, hören Sie mir überhaupt zu? Jetzt tun Sie doch nicht so, als wäre nichts passiert! Wenn...”
Die junge Frau drehte sich endlich zu ihm und unterbrach ich kühl:
- “Jetzt hören Sie doch auf, hier herum zu plärren. Sie sind ja noch am Leben und alle Knochen scheinen heil zu sein. Also gibt es keinen Grund, hier einen Aufstand zu machen”.
Mit diesen Worten drehte sie sich erneut von ihm weg und wandte sich an Simmons:
- “Also, was ist jetzt? Können Sie mir nun weiterhelfen oder nicht?”
Der Portier zuckte zusammen.
- “Aber natürlich”, stammelte er, “nennen Sie bitte Ihren Namen und ich sehe nach, ob er hier drin steht.” Er fing an, eifrig in seinen Einträgen zu blättern.
- “Ich heiße Alexandra Bailey. Ich habe die Reservierung heute Morgen gemacht.”
Nach einer kleinen Weile wurde Simmons fündig: “Hier ist es. Mrs. Alexandra Bailey, Zimmer Nr. 9. Hier ist Ihr Schlüssel. Brauchen Sie... äh... Hilfe mit Ihrem Gepäck?” Simmons blickte etwas besorgt auf die Sachen von Mrs. Bailey, die Empfangshalle wie ein Schlachtfeld aussehen ließen.
- “Es wäre nett”, antwortete Sie. “Der Taxifahrer hat sich leider geweigert, sie weiter als in die Empfangshalle zu schleppen.”
- “Haben Sie immer so viel Gepäck bei sich, wenn Sie irgendwohin verreisen?”
Montague mischte sich urplötzlich in das Gespräch ein.
- “Selbstverständlich”, nickte Mrs. Bailey, “man weiß nie, was man unterwegs gebrauchen könnte. Darum nehme ich alles notwendige immer mit.”
Während des Gesprächs hatte ich Zeit, den anderen Neuankömmling zu betrachten, dem Mrs. Bailey so forsch das Wort abgeschnitten hatte. Dieser war seitdem wie gelähmt. Das freche und unbekümmerte Unterbrechen seiner Wutpredigt hatte ihn offensichtlich noch mehr überrascht, als der Sturz über die Koffer vorhin. Doch gerade in diesem Moment fing er sich und machte sich daran, sein ursprüngliches Vorhaben wahr zu machen:
- “Ich will dieses Hotel sofort verlassen!” Er stürmte zur Rezeption und starrte Simmons wütend an. Der Portier sah sein Gegenüber an, als würde er ihn zum ersten Mal im Leben sehen, erinnerte sich aber dann wieder:
- “Mr. Chapman, Sie wollen uns schon wieder verlassen? Sie sind doch erst diesen Morgen gekommen. Gibt es etwa Probleme?”
Mr. Chapman schnaubte: “Und ob es Probleme gibt! Ich habe keinerlei Lust, in einem Hotel zu bleiben, wo Leute einfach so, mir nichts, dir nichts, sterben! Dieser Typ in Zimmer 25 ist doch gestorben, oder nicht?”
- “Es ist wahr, Mr. Reynolds ist wirklich verstorben”, nickte Simmons traurig, “aber woher wissen Sie das denn so schnell?”
Chapman stockte etwas, fuhr dann aber unbeirrt fort: “Ich habe gehört, wie Sie den Arzt in dieses Zimmer gerufen haben und sagten, dass da ein Toter drin ist.”
- “Ich verstehe”, Simmons nickte erneut, “aber Dr. Montague hat bereits festgestellt, dass Mr. Reynolds an einem Herzstillstand gestorben ist. Das ist natürlich äußerst tragisch, hat aber doch nichts mit dem Hotel zu tun. Es hätte auch irgendwo anders passieren können.”
- “Unabhängig davon, verschwinde ich sofort!” Chapman schielte mit einem Auge auf Alexandra Bailey. Dieser schien die Nachricht bezüglich des Toten wesentlich weniger zugesetzt haben, als ihm. Sie war eifrig damit beschäftigt, in Ihrer Handtasche herumzuwühlen.
Chapman reichte Simmons den Zimmerschlüssel. “Hier”, knurrte er, “und bedanken Sie sich, dass ich keine Klage gegen Sie einreiche! In dieses Haus setzte ich jedenfalls keinen Fuß mehr. Adieu.”
Wutentbrannt drehte er sich um, schnappte aus der Kofferschar am Boden den seinen, zog sich seinen Hut über und verschwand durch die Eingangstür.
 
 
Für ein Paar Sekunden herrschte Stille in der Empfangshalle. Mann konnte hören, wie draußen der Schneesturm tobte. Schließlich meldete sich Simmons zu Wort:
- “Ich bringe dann Ihr Gepäck in das Zimmer, Mrs. Bailey. Es ist übrigens im ersten Obergeschoss.”
- “Danke schön. Ich bin Ihnen sehr verbunden”, entgegnete sie und marschierte die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf.
Plötzlich ertönten von draußen laute Stimmen. Gleich darauf öffnete sich die Eingangstür und Mr. Chapman stolperte herein. Eine Sekunde lang überlegte ich, was ihn dazu bewegt haben könnte, sein Wort derartig schnell zu brechen. Doch sofort erhielt ich die Antwort. Chapmans früher hochrotes und jetzt aschfahles Gesicht, sowie die Männer in Polizeiuniform, die hinter ihm in das Gebäude traten, lieferten die Erklärung: Chapman befand sich im Klammergriff des Gesetztes.
 
 
4. Fragen und Lügen
 
 
- “Inspektor Whittaker!”, rief Simmons überrascht. “Was machen Sie denn hier?”
Einer der Polizisten trat aus der Gruppe hervor und ging auf uns zu. Er war gut einen Meter neunzig groß, hatte breite Schultern, kurzgeschnittenes schwarzes Haar mit einigen grauen Strähnen und ein grobes, fast hölzernes Gesicht
Der Polizeiinspektor zeigte sich weniger überrascht als der Portier:
- “Ich bin dort, wo ich gebraucht werde, Simmons. Das ist schließlich mein Beruf. Mir wurde gemeldet, dass es hier einen Todesfall gegeben hat. Sie können mir also gerne erklären, was hier genau passiert ist, und bei Gelegenheit auch, wer dieser Bursche hier ist.”, er deutete mit dem Finger auf Chapman.
Dieser fand sich endlich wieder:
- “Was fällt Ihnen eigentlich ein!? Sie tauchen ganz plötzlich aus dem Nichts auf und nehmen mich ohne jeden Grund fest!”
Whittaker drehte sich um und versuchte den vor Wut schäumenden Chapman zu besänftigen.
- “Niemand nimmt Sie hier fest. Es ist lediglich so, dass hier ein unangenehmer Zwischenfall passiert ist, und aus diesem Grunde ist es notwendig, dass alle da bleiben, wo sie sind, um uns die Arbeit zu erleichtern.
- “Sie meinen den Zwischenfall mit dem Toten? Damit habe ich doch nichts zu tun!”
- “Weshalb wollten Sie dann so schnell weg?”
- “Ganz einfach! Ich hatte keine Lust, an einem Ort zu bleiben, wo Leute einfach so den Löffel abgeben!”
Der Inspektor schaute zunächst nachdenklich, gab aber dann den Befehl an seine Leute, Chapman loszulassen.
- “Sie hätten trotzdem nicht gleich weglaufen müssen”, meinte Whittaker und drehte sich anschließend zu Simmons.
- “Nun Simmons, raus damit! Was ist genau passiert?”
Simmons runzelte die Stirn: “Um ehrlich zu sein, so viel kann ich Ihnen auch nicht sagen”, gestand er. “Das Einzige, was ich weiß, ist, dass dieser Mann in Zimmer 25, Mr. Reynolds, urplötzlich verstorben ist. Vielleicht kann Ihnen Dr. Montague mehr helfen. Er hat ihn bereits untersucht.”
Der Betreffende machte einen Schritt nach Vorn:
- “Gestatten, Dr. Charles Montague zu Ihrem Diensten.”
Inspektor Whittaker schüttelte Montague die Hand und wies mit einer einladenden Geste auf einen der antiken Sessel im Empfangszimmer hin und setzte sich anschließend selbst.
- “Also dann, erzählen Sie mal.”
- “Nun, der Tod ist etwa zwischen 10 und 16 Uhr eingetreten. Ich beziehe mich dabei auf die Tatsachen, dass Simmons ihn um etwa 10 Uhr zuletzt lebend gesehen hat und dass Reynolds ungefähr kurz nach 16 Uhr tot aufgefunden wurde.”
- “Haben Sie das gerade ernst gemeint?”
- “Natürlich nicht. Sie können sich doch denken, dass ich keine genaue Untersuchung anstellen konnte. Zudem war das Fenster geöffnet und der eisige Wind blies herein. Auf der anderen Seite war der Heizkörper auf “Maximum” gestellt. Alles Faktoren, die die Feststellung des Todeszeitpunktes noch mehr erschwert haben. Ich denke aber, er ist mindestens zwei Stunden lang tot gewesen, als man ihn fand.”
- “Gut. Und die Todesursache?”
- “Offenbar Herzstillstand. Wie das zustande gekommen ist, kann ich nicht sagen. Sein Arzt könnte wissen, ob er Herzprobleme hatte.”
Ich war ziemlich überrascht. Montague verlor kein Wort über die Ampullen. Warum? Was wollte er damit bezwecken?
 
- “Nun gut”, sagte der Inspektor, “wer ist alles in diesem Hotel anwesend?”
Diese Frage ging an Simmons. Der Portier schluckte.
- “Nun,... Dr. Montague und Mr. Chapman haben Sie bereits kennen gelernt. Mrs. Alexandra Bailey, unseren neuen Gast, ist gerade auf ihr Zimmer gegangen. Zudem gastiert Mr. Eagle in Zimmer 8.”
- “Und ansonsten?”
- “Sonst ist niemand da. Da das Wetter über die letzten Tage nicht besonders gut war, kamen nicht allzu viele Gäste und dementsprechend ist auch ein Großteil des Personals abwesend. Alle krankgeschrieben oder im Urlaub. Ich bin ganz allein hier.”
Die Stimme des Portiers klang nun bitter.
- “Na ja, ich bin mir sicher, Sie kommen prima zurecht”, meinte der Inspektor beschwichtigend, “bis auf die, die Sie genannt haben, ist also niemand mehr hier?”
- “Doch”, fiel Simmons plötzlich ein, “Mike war heute Morgen hier, aber er ist schon seit Stunden weg.”
- “Mike? Welcher Mike? Wer ist das?”
- “Mike Ferrara, unser Mechaniker. Er wohnt in der nächsten Stadt und kommt ab und zu vorbei, um etwas zu reparieren oder die Telefonverbindung zu richten. Meistens gelingt es ihm, aber heute war das irgendwie verflixt. Er fuhr dann später wieder in die Stadt, weil er von einem anderen Kunden gerufen wurde. Seine Dienste sind in der Stadt sehr gefragt, wissen Sie.”
- “Gut, dann sind hier also Dr. Montague, Simmons, die Gäste Mrs. Bailey, Mr. Chapman und Mr. Eagle, dieser Mr. Ferrara...”
Urplötzlich drehte sich Simmons zu mir um. Montague und Whittaker taten es ihm gleich.
- “Ich vermute, ich habe nicht die Ehre, mit Mr. Eagle oder Mr. Ferrara zu sprechen?”, fragte der Inspektor übertrieben freundlich.
- “Nein”, antwortete ich zähneknirschend.
- “Dann können Sie sich doch ganz bestimmt vorstellen und sagen, was Sie hier zu suchen haben, oder?”
Ich nannte meinen Namen und erzählte Inspektor Whittaker, mit welchem Ziel ich hierher gekommen war.
- “Sie sagen, Mr. Reynolds wollte die Konditionen seines Lebensversicherungsvertrages abändern? Wieso hier?”
- “Ich habe keine Ahnung. Vermutlich ist ihm die Idee spontan gekommen, als er hier war und er hatte es eilig. Ich hatte jedenfalls einen Auftrag erhalten und habe mich daran gemacht, ihn auszuführen. Der Kunde ist bekanntlich König, wissen Sie.”
- “Und wer hat Ihnen den Auftrag erteilt?”, bohrte Whittaker nach.
- “Mr. Downing, mein Vorgesetzter. Er befindet sich im Moment in Manchester, wo er ein wichtiges Meeting hat. Montag wird er zurück sein und Sie können ihn zu den Einzelheiten befragen, wenn Sie möchten.”
- “Das werde ich tun.”, sagte der Inspektor lächelnd, “Bevor ich jetzt mit den Hotelgästen spreche, würde ich mir gerne den Toten und sein Zimmer ansehen.”
Simmons bot sich gleich an: “Ich führe Sie hin.”
Die beiden gingen die Treppe hoch. Zurück blieben, außer Montague und mir, zwei Polizisten und Mr. Chapman, der sich inzwischen etwas beruhigt hatte.
 
Plötzlich stand Montague auf und gab mir das Zeichen, ihm zu folgen. Als wir die Empfangshalle verließen, versuchte einer der beiden Polizisten, uns aufzuhalten. Doch Montague beruhigte ihn:
- “Keine Sorge, wir haben nicht vor, wegzulaufen. Wir gehen lediglich auf die Terrasse, um ein wenig frische Luft zu schnappen.”
Tatsächlich, auf der anderen Seite des Hotels befand sich eine kleine Holzterrasse. Der Schneefall wurde erneut schwächer und so sah das Gesamtbild wesentlich gemütlicher aus. Von der Terrasse ergab sich ein schöner Ausblick auf den vom Schnee bedeckten Weg, der zu einem Gittertor hinführte, welches offensichtlich den Hintereingang darstellte. Rund um den Hinterhof zog sich eine kleine Ziegelsteinmauer. Im Gegensatz zu der Vorderseite wirkte diese Seite des Hauses lebendig. Seitlich des Weges wuchsen Tannenbäume mit großen Tannenzapfen an den Zweigen.
Montague und ich setzten uns in zwei alte Schaukelstühle. Der Arzt schloss die Augen und lauschte dem Zwitschern der Vögel zu.
Nach nicht einmal einer Minute verlor ich die Geduld:
- “Nun reden Sie schon, was gibt es?”
Montague öffnete die Augen.
- “Ich denke, Sie möchten wissen, warum ich Inspektor Whittaker die Sache mit der Arznei verschwiegen habe”, sagte er sanft.
- “Ja, um ehrlich zu sein, schon.”
- “Ich wollte nichts derart wichtiges preisgeben, mit Leuten in der Nähe, die mich derart dreist anlügen.”
- “Meinen Sie etwa mich damit?”
- “Eher weniger. Ich bekomme immer mehr das Gefühl, dass Sie die Wahrheit sagen.”
- “Vielen Dank, das freut mich. Aber wer hat dann bitte alles gelogen?”
- “Simmons, zum Beispiel.”
- “Simmons? Wann denn?”
- “Als er Chapman sagte, dass Reynolds an einem Herzstillstand gestorben wäre.”
- “Aber das stimmte doch!”
- “Eben. Er ist kein Arzt. Über die Todesursache hätte er nur von mir erfahren können. Und ich habe ihm nichts gesagt.
- “Na gut.”, meinte ich zerknirscht. “Und wer noch hat sich der Lüge schuldig gemacht? Chapman?”
Montague nickte.
- “Ja. Seine Worte, er hätte Simmons und mich reden gehört und so vom Tod Reynolds´ erfahren, waren frei erfunden.”
- “Wie das?”
- “Sehr simpel. Als Simmons mich ansprach, sah ich aus den Augenwinkeln, wie Chapman am Ende des Flures die Treppe hinunterlief. Er hatte seinen Koffer in der Hand. Offensichtlich war er schon lange vorher in Reynolds´ Zimmer und hatte die Leiche gesehen. Daraufhin wollte er fliehen. Die Frage ist: Wieso? Hatte er einfach übernervös reagiert oder steckte mehr dahinter? Und außerdem: Wieso hat er so lange gebraucht, um wegzukommen? Während ich den Toten untersuchte und wir danach mit Simmons sprachen, hatte Chapman die Gelegenheit, das Hotel gut eintausend mal zu verlassen. Aber als wir in die Empfangshalle kamen, war er gerade eben dabei, zu fliehen.”
- “Das ist echt seltsam”, sagte ich verwundert, “da ist ein Toter, und zwei Leute, die unmittelbar am Ort des Geschehens waren, lügen das Blaue vom Himmel herunter.”
- “Drei.”
- “Wie bitte?”
- “Drei”, wiederholte Montague. “Das Traurigste ist, dass manchmal auch die lügen, die eigentlich Wahrheit und Gesetz Geltung verschaffen sollten.”
- “Sie meinen Inspektor Whittaker?”
- “Wen denn sonst?”
- “Wo hat er denn bitte gelogen?”
Montague musterte mich scharf. “Kommen Sie mit”, sagte er.
Wir durchquerten das Hotel und betraten die Eingangshalle. Mr. Chapman war damit beschäftigt, auf und ab zu gehen. Die beiden Polizisten schritten ohne Eile durch das Zimmer und sahen sich interessiert um. Mir fiel allerdings auf, dass beide immer wieder ein Auge auf Chapman warfen, wohl um sicher zu gehen, dass er sich nicht erneut aus dem Staub machte. Auch wir beide wurden mit einem dieser Blicke gewürdigt. Montague und ich schritten an das Fenster.
- “Sehen Sie”, flüsterte Montague, “was ist da auf dem Parkplatz?”
Ich blickte nach draußen. Auf dem Parkplatz des Hotels stand zum einen das selbe Auto, welches ich bei meiner Ankunft sah, sowie mein Wagen. Allerdings stand jetzt ein weiteres Gefährt dort.
- “Es ist ein ganz normaler Streifenwagen”, sagte ich.
- “Ganz genau. Ein normaler Streifenwagen für zwei Polizisten. Wissen Sie, als Simmons Inspektor Whittaker fragte, was er denn hier mache, sah in den Gesichtern der beiden Polizisten dieselbe Frage. Und außerdem war da noch der Schnee.”
- “Der Schnee?”
- “Ja. Zu diesem Zeitpunkt tobte ein Schneesturm draußen. Die beiden Streifenpolizisten waren aber logischerweise kaum mit Schnee bedeckt, da sie ja mit dem Polizeiwagen hierher kamen. Doch die Kleidung des Inspektors war ziemlich eingeschneit. Er wird also seit einer ganzen Weile draußen unterwegs gewesen sein und die Nachricht von dem Todesfall erst von seinen Kollegen erfahren haben.”
- “Und was hat er Ihrer Meinung nach draußen gemacht?”, fragte ich.
- “Keine Ahnung”, sagte Montague trocken, “aber genau das werde ich ihn fragen!”
 
 
 
5. Das Eingeständnis
 
 
Im Flur des zweiten Stockwerkes trafen wir Whittaker. Er schloss gerade die Tür zu Reynolds´ Zimmer ab. Als er uns sah, hob er erstaunt die Augenbrauen:
- “Kann ich Ihnen helfen?”
Montague nickte. “Ja, durchaus”, sagte er. “Ich würde gerne wissen, weswegen Sie hergekommen sind. Ihre beiden Leute sind erst vor kurzen hierher gekommen, als sie unseren Anruf erhielten. Aber Sie sind schon länger hier unterwegs. Warum?”
Whittaker seufzte.
- “Nicht schlecht. Ich bin erstaunt. Ich denke, ich werde Ihnen das nicht vorenthalten. Ich habe Sie wirklich angelogen. Wissen Sie, seit neuestem hat sich der Drogenhandel in unserer Stadt sehr stark ausgeweitet. Wir vermuten, dass die Drogen aus südlicher Richtung kommen, und da dieses Hotel direkt auf dem Weg liegt, ist es letztendlich auch in unser Blickfeld gefallen. Wir haben bei unseren Überprüfungen von Hotel und Gästen aber nichts verdächtiges gefunden. Heute, allerdings, erhielt ich einen anonymen Anruf. Der Unbekannte am anderen Ende sagte mir, es würden heute Drogen transportiert und im Hotel gelagert werden. Ich fuhr sofort hierher, fand aber nichts und niemanden verdächtiges. Zumindest bis jetzt.”
 
Mitten in seiner Ausführung wurde der Inspektor unterbrochen. Eine Person erschien, wie aus dem Nichts, vor ihm. Es war Alexandra Bailey.
- “Sagen Sie, ist es wahr? Liegt da in dem Zimmer wirklich ein Toter?”, fragte sie aufgeregt.
- “Beruhigen Sie sich”, sagte Whittaker, “es ist tatsächlich ein Mann in diesem Hotel verstorben, aber es besteht keinerlei Grund zur Beunruhigung. Es ist alles...”
- “Ich reise sofort ab!”, unterbrach sie ihn erneut, “Das ist ja unerhört!”
Mit diesen Worten schritt sie davon.
“Halt!”, kommandierte Inspektor Whittaker, “Sie bleiben schön hier!”
Widerwillig hielt Mrs. Bailey an. Der Inspektor näherte sich ihr.
- “Es tut mir sehr leid, aber ich muss diese Angelegenheit hier aufklären. Dazu müssen Sie ein paar Fragen beantworten.”
- “Na schön”, willigte sie ein, “was wollen Sie wissen?”
- “Nennen Sie bitte Ihren vollen Namen, die Adresse und den Grund, warum Sie hier sind.”
- “Alexandra Elizabeth Bailey, wohnhaft in der Lord Avenue 10 in London. Ich fahre nach Thetford, um ein paar Freunde zu besuchen. Ich wusste, dass das Wetter mies werden würde, also habe ich mir hier ein Zimmer reserviert, um bei Unwetter notfalls hier bleiben zu können.”
- “Okay, danke.” Whittaker steckte seinen Block weg. “Bitte verlassen Sie dieses Hotel nicht, bevor ich es Ihnen erlaube, in Ordnung?”
Mrs. Bailey rümpfte die Nase, drehte sich aber schließlich um und begab sich in Richtung ihres Zimmers.
Inspektor Whitteker seufzte. “Eine energische junge Frau”, sagte er schließlich, “ich schätze mal, jetzt besuchen wir Mr. Eagle. Vielleicht hat er etwas interessantes zu sagen.”
Plötzlich kam Montague eine Idee:
- “Sagen Sie, Herr Inspektor: Sie haben doch um das gesamte Hotel herum gegangen und alles abgesucht, dabei aber nichts gefunden. Wirklich überhaupt gar nichts?”
Whittaker drehte sich überrascht um. “Ja”, gestand er, “Sie haben recht, ich habe tatsächlich etwas gefunden, nämlich die hier.”
Anschließend steckte er seine Hand in die Tasche und holte etwas heraus. Nach nur dem Bruchteil einer Sekunde realisierten sowohl Montague, als auch ich, worum es sich handelte: Die beiden leeren Ampullen.
- “Wo haben Sie die denn genau gefunden?”, fragte der Arzt ungeduldig.
- “Unter einem der Wagen auf dem Parkplatz. Woanders wären sie wahrscheinlich eingeschneit worden. Ich erinnere mich, dass dieser dunkelblaue Ford war.”
- “Ach wirklich?”, fragte Montague mit einem freundlichen Lächeln, “ich verstehe.”
Mir war währenddessen überhaupt nicht nach Lachen zumute. Verdammt noch mal...
Mein Wagen...
 
 
 
6. Der Schriftsteller
 
 
Inspektor Whittaker klopfte an die Tür von Zimmer 8. Nach einigen Sekunden öffnete sie sich und vor uns erschien ein großgewachsener Mann mit grauem Haar und einem dennoch jung wirkendem Gesicht, obwohl dieses mit einigen Falten versehen war. Er trug einen grauen Anzug und dazu eine Krawatte. Das Gesamtbild störten lediglich die warmen Winterstiefel an seinen Füßen. Mr. Eagle folgte meinem überraschten Blick und lächelte freundlich: “Tja, was soll man sonst machen, wenn man ständig friert? Mein Alter holt mich wohl langsam ein. Wie kann ich Ihnen helfen, Gentlemen?”
Der Mann bat uns herein.
- “Mein Name ist Whittaker, Ely Polizeikommissariat. Es gab einen rätselhaften Todesfall in Zimmer 25. Ein gewisser Mr. Reynolds ist verstorben. Können Sie sagen, ob Sie irgendetwas seltsames mitbekommen haben?”
- “Das ist höchst bedauerlich”, äußerte sich Mr. Eagle. Wenn die Nachricht ihn überrascht hatte, so hatte er es jedenfalls nicht gezeigt. “Bedauerlich ist auch, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Ich war den ganzen Tag auf meinem Zimmer und habe nichts mitbekommen. Um ehrlich zu sein, über den Todesfall habe ich gerade eben, von Ihnen erfahren.”
- “Ich verstehe. Da kann man wohl nichts machen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihre Personalien aufnehme?”
- “Aber keineswegs. Brian Eagle, 62 Jahre alt, wohne in der Orchard Street 7, in Cambridge, wohne aber schon seit drei Tagen hier.”
- “Kann ich, wenn es nicht zu persönlich ist, fragen, warum?”
Der alte Mann lächelte: “Wissen Sie, ich bin Schriftsteller von Beruf. Ich schreibe schon seit Jahren Abenteuerromane, die sich, wie ich mit Freude bemerken kann, gut verkaufen. Aber, um meine Bücher schreiben zu können, suche ich mir stets abgeschiedene Orte. Neuerdings hatte ich eine neue Wohnung bezogen, die meinen Ansprüchen bestens gerecht wurde, aber da bekam ich gleich Besuch von meiner Tochter mit ihren zwei Enkeln. Sie können es sich möglicherweise gut vorstellen, wie schwierig es ist, sich zu konzentrieren, wenn einem zwei kleine Wirbelwinde durch das Haus fegen. Deswegen bin ich für eine Weile hierher gezogen, um meinen Roman in Ruhe fertig zu stellen.”
Wir blickten auf den Schreibtisch. Tatsächlich, dort lagen Schreibutensilien, sowie einige vollgeschriebene und leere Blätter.
- “Na gut”, sagte Inspektor Whittaker, “ich wünsche produktives Arbeiten. Vielen Dank für Ihre Hilfe und entschuldigen Sie bitte die Störung.”
- “Das macht doch nichts”, versicherte uns Mr. Eagle, “es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte.”
Wir verabschiedeten uns von Mr. Eagle und traten den Gang nach unten an.
 
In der Empfangshalle trafen wir dieselben Leute an. Chapman hatte sich offensichtlich beruhigt und blätterte in einem Magazin herum. Einer der beiden Polizeibeamten studierte die Sachen auf dem Rezeptionstisch, während der andere langsam im Zimmer auf- und abschritt. Chapman sah düster auf.
- “Na, was ist jetzt? Haben Sie Ihre Erkundungstour beendet? Können Sie mich jetzt gehen lassen?”
- “Noch nicht. Geben Sie mir bitte erst mal Ihre Personaldaten.”
- “Meinetwegen. Ich heiße Timothy Chapman und bin 49 Jahre alt. Sonst noch was?”
- “Wo wohnen Sie und wie kommen Sie hierher?”
- “Ich wohne eigentlich in Royston, aber ich habe gerade eben meinen einwöchigen Spanienurlaub beendet und war auf dem Weg nach hause. Direkt an der Haustür dieses Hotels hat mein Auto dann leider den Geist aufgegeben. Also blieb mir keine andere Wahl, als hier zu übernachten. Blöder geht es wohl kaum.”
- “Und wie hatten Sie vor, hier weg zu kommen?”
- “Ich habe gehofft, mein Auto würde vielleicht wieder anspringen. Die Möglichkeit, es zu versuchen, haben Sie mir ja leider nicht gegeben.”
Der herumschleichende Polizist fing Whittakers Blick und schlich sofort unbemerkt für Chapman nach draußen.
Dieser war nach wie vor dabei, seine “Festnahme” zu verdauen.
 
Inspektor Whittaker hatte währenddessen mit dem Machen von Notizen abgeschlossen und stand auf.
- “Danke schön”, sagte er, “bitte bleiben Sie noch eine Weile hier, bis ich das Okay dazu gebe.”
- “Hmpf!” Mehr hatte Chapman nicht zu sagen.
Er machte es sich wieder in seinem Sessel bequem und nahm erneut die Zeitschrift in die Hände.
Die Eingangstür öffnete sich und der Polizist kam herein. Er trat auf den Inspektor zu und teilte ihm etwas ganz leise mit. Whittaker nickte zufrieden. Anschließend drehte er sich zu uns um und lockte uns in einen anderen Raum. Noch bevor einer von uns etwas fragen konnte, legte Inspektor Whittaker los:
- “Was Sie beide betrifft, habe ich noch genau drei Fragen: Was sind das für Ampullen? Was haben sie mit dem Todesfall zu tun? Und wem gehört der Wagen, unter dem sie lagen?”
 
 
7. Armer Stanley!
 
 
Ich war völlig perplex. Vor Überraschung fiel mir die Kinnlade hinunter. Montague, dagegen, schien eher weniger schockiert zu sein.
- “Deswegen haben Sie das alles so gründlich angegangen. Sie haben sich gedacht, dass hier irgendetwas nicht stimmt.”
Whittaker nickte.
- “Das Ganze erschien mir schon merkwürdig”, sagte er, “diese Ampullen sind also der Grund für seinen Tod?”
Montague schilderte dem Inspektor die ganze Geschichte. Währenddessen überlegte ich nicht zum ersten Mal, wie diese Dinger in die Nähe meines Wagen gekommen waren. Und genau auf diesen kam der Inspektor nun zu sprechen:
- “Wissen Sei eventuell, wessen Gefährt das war?”, fragte er gerade uns beide.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Doch Montague kam mir zuvor:
- “Es ist Ihr Wagen, habe ich recht, Stanley?”
- “Ja”, gestand ich und seufzte, “aber ich habe nichts damit zu tun. Sie werden es mir aber wohl nicht glauben, wie?”
Die Antwort der beiden überraschte mich gehörig.
- “Ich glaube Ihnen”, meinte Montague. “Schließlich haben Sie bisher auch die Wahrheit gesagt. Ich sehe nicht ein, warum Sie jetzt plötzlich lügen sollten.”
- “Es steht nun fest, dass es wohl ein Mord war”, antwortete Inspektor Whittaker, “Die Ampullen können ja unmöglich ohne fremde Hilfe dahin gekommen sein. Jemand wollte das Ganze vertuschen. Andererseits könnte es auch sein, dass jemand Sie anschwärzen wollte. Sie, jedenfalls, wären nicht so dumm, die Beweise für die Tat direkt neben Ihrem eigenen Wagen zu deponieren. Zudem scheinen Sie ja auch keinen offensichtlichen Grund zu haben, Reynolds umzubringen.”
- “Das ist wahr, ich bin ihm nie begegnet”, sagte ich.
- “Aber jemand in diesem Hotel wird ihn umgebracht haben”, entgegnete der Inspektor, “an diesem Punkt würde ich gerne einige nähere Details über Sie erfahren.”
Er wandte sich an Montague. Der Arzt lächelte und zuckte die Schultern.
- “Ich fürchte, ich bin ebenfalls nicht der Richtige. Genauso wie unser Freund hier,” - er deutete mit dem Daumen auf mich, - “habe ich Mr. Reynolds vorher nicht gekannt. Ich hatte dementsprechend auch keinen Grund, ihn um sein Leben zu bringen.”
- “Was können Sie mir denn über sich erzählen?”
- “Na ja, meinen Namen kennen Sie ja schon. Mein Alter habe ich leider selber nicht im Kopf. Und was meine Adresse betrifft: Ich habe in diesem Land keine. Zumindest noch nicht. Ich bin erst vor etwa einer Woche aus den Vereinigten Staaten hierher gekommen und bin hier nur auf Durchreise. Sollten Sie Zweifel hegen, kann ich Ihnen gerne die Nummern einiger Kollegen geben, die Ihnen bestätigen werden, wer ich bin.”
- “Machen Sie sich nicht die Mühe. Ich werde auch so herausfinden, wer Sie sind. Zunächst aber, glaube ich Ihnen aufs Wort.”
 
Es entstand eine kleine Pause. Dann wandte sich Montague an den Inspektor:
- “Sagen Sie, was hat Ihr Kollege herausgefunden? Ist Mr. Chapmans Auto wirklich fahruntauglich?”
Der Inspektor lachte: “Sie sind wirklich ein ganz gescheiter, Herr Doktor. Ja, mein Kollege hat wirklich dieses Auto überprüft und es ist wirklich kaputt. Womöglich ist der Motor im Eimer.”
Er drehte sich um und ging zurück in die Empfangshalle.
- “Ich werde noch ein paar Worte mit Simmons wechseln”, sagte er uns über die Schulter, “Sie sind erst mal erlöst.”
Wir begaben uns ebenfalls in die Empfangshalle und setzten uns. Ich dachte noch einmal über die Situation nach, in der ich mich befand, und seufzte. Montague sah zu mir hinüber und lächelte:
- “Armer Stanley! Noch vor ein paar Stunden haben Sie sich über den Feierabend gefreut, und jetzt stecken Sie mitten in einem Mordfall drin. Man kann Sie wirklich bemitleiden.”
- “Was passiert ist, ist passiert, man kann es nicht mehr ändern”, knurrte ich.
- “Wissen Sie was? Ich helfe Ihnen! Wir werden diese mysteriöse Geschichte gemeinsam aufklären, was halten Sie davon?”
Ich hatte zwar keine Vorstellung davon, wie ein Arzt und ein Versicherungsagent ein Verbrechen aufklären sollten, aber einfach herum zu sitzen und nichts zu tun war auch keine Lösung. Mir blieb nichts anderes übrig, als bereitwillig zu nicken.
- “Prima!”, freute sich Montague und drehte sich um, “Sehen Sie mal, die Telefonverbindung scheint wieder in Ordnung zu sein”, sagte er.
Tatsächlich, das Telefon funktionierte, wo doch der Inspektor gerade ein Gespräch am Apparat an der Rezeption führte. Gerade nickte er einige Male, sah mit überraschtem Gesichtsausdruck in unsere Richtung, fragte: “Ach, wirklich?” und nickte erneut.
Ich blickte mich um. Die Polizeibeamten hielten jetzt an der Eingangstür Wache, von Simmons gab es keine Spur und auch Chapman war irgendwohin verschwunden.
Whittaker beendete sein Gespräch und schritt direkt auf uns zu.
- “Da Sie beide momentan ohnehin nichts besseres zu tun haben, können Sie mir dann zumindest bei den Ermittlungen helfen”, sagte er höflich.
Ich wusste nicht, warum er plötzlich so unverhofft nett war, aber bevor ich irgendetwas antworten konnte, übernahm wieder Montague:
- “Aber gerne. Ich bin mir sicher, Sie können unsere Hilfe gebrauchen.”
Der Inspektor nickte. Wir zogen unsere Mäntel und Mützen über und marschierten zu Dritt, an den Polizisten vorbei, nach Draußen. In den Schnee.
 
 
8. Die Fahndung beginnt
 
 
Der Schneesturm, der erst vor kurzem gewütet hatte, hatte sich nun wieder gelegt. Nur noch phasenweise rieselten die Schneeflocken zu Boden. Wir gingen um das Gebäude herum. Schließlich hielt Whittaker an und blickte nach oben. Wir taten das Selbe und sahen, dass wir direkt unter einem Fenster des ersten Stockwerks standen. Ich mutmaßte in Gedanken, dass das Fenster darüber Reynolds´ Zimmer angehören musste, und behielt Recht.
- “Es dürfte verdammt schwierig sein, von da oben herunterzukommen”, meinte der Inspektor, “höchstens, wenn man aus dem Fenster springt. Aber das würde Spuren hinterlassen. Und da hochzukommen ist wohl erst recht kaum möglich.”
- “Dann wäre der einzige Weg, wie der Täter in das Zimmer gelangt sein kann, der durch die Tür.” entgegnete Montague.
- “Dann muss er irgendwie an Simmons vorbeigekommen sein. Es gibt im Hotel nur eine Treppe zum zweiten Stock, und die befindet sich in der Empfangshalle, wie Sie sehen konnten. Und Simmons hat geschworen, dass heute niemand außer Mr. Chapman und Mrs. Bailey neu im Hotel ankam.”
- “Aber er konnte unmöglich die ganze Zeit vor Ort gewesen sein”, warf ich ein.
- “Die meiste Zeit schon. Er hat die Pflicht, dort zu sitzen, falls Gäste kommen. Allerdings hat er sich für etwa fünfzehn Minuten entfernt, um diesen Mechaniker, Ferrara, zu zeigen, wo die Telefonleitung ist, damit der diese überprüfen konnte.”
- “Und wann waren diese fünfzehn Minuten?” fragte Montague.
- “Etwa zwischen Mittag und 12:15 Uhr. Die Eingangstür blieb unverschlossen. Jeder konnte hereinspazieren und unbemerkt wieder gehen.”
- “In diesem Zeitraum wird es wohl passiert sein”, seufzte Montague.
Inspektor Whittaker drehte sich währenddessen um, gab uns das Zeichen, da zu bleiben, wo wir waren, und marschierte um die Hausecke herum. Nach etwa einer Minute kam er mit einer großen Leiter zurück. Die Leiter an die Hauswand gelehnt kletterte der Inspektor hoch, bis er das Fenster von Reynolds´ Zimmer erreichte. Dort hantierte er eine Weile herum und kletterte schließlich wieder herunter.
- “Ich habe es vorher zugemacht, um zu überprüfen, ob man es von außen öffnen kann.”, teilte er uns mit.
- “Und?”, Montague hob die Augenbrauen. “Geht das?”
Der Inspektor seufzte.
- “Höchstens wenn man es aufbricht oder einschlägt.”, sagte er schließlich. “Es ist aber in einer prima Verfassung.”
Montague lächelte.
- “Daraus dürfen wir schließen, dass der Mörder das Zimmer durch die Tür betreten hat. Und da Reynolds wahrscheinlich den ganzen Tag in seinem Zimmer war, ist ihm diese Person offensichtlich bekannt gewesen. Er hätte sicherlich nicht weiß Gott wen in sein Zimmer hereingelassen. Und als Reynolds für eine Sekunde nicht achtsam war, kippte dieser jemand eine übermäßige Dosis in sein Glas.”
- “Und wie hat dieser jemand Reynolds dann dazu gebracht, das Ganze zu trinken? Das will mir nicht in den Kopf.”, sagte ich.
- “Ganz einfach. Wenn das ein bekannter von ihm war, wusste er womöglich von seinen Herzproblemen. Er brauchte ihn nur ein wenig aufzuregen und zu warten, bis Reynolds die Ampullen rausholte und sich umdrehte um Wasser für die Arznei zu nehmen. Während diesen paar Sekunden har der Täter den Inhalt einer weiteren Ampulle hinzugefügt. Als Reynolds dann austrank, hat der Unbekannte kurz gewartet, sich vergewissert, dass sein Opfer tot war und den Ort unbemerkt verlassen. Das Ganze dauerte, wie wir wissen, nicht einmal eine Viertelstunde.”
- “Verdammt schlau gemacht.”, bemerkte Whittaker.
- “Allerdings”, stimmte Montague zu. “Doch da machen mich zwei Sachen stutzig, die nicht in das Gesamtbild eines gut geplanten und geschickt ausgeführten Mordes passen. Zuerst ist da dieser plumpe Versuch, Stanley die Schuld in die Schuhe zu schieben. Allein daher, dass ihm ein klares Motiv fehlt, ist seine Kandidatur nicht passend für die Rolle des Mörders. Und zudem: Der Täter hat einen überaus passablen Zeitpunkt für sein Vorhaben erwischt. Geplant oder nicht: Woher hätte er wissen können, dass Simmons ausgerechnet heute seinen Posten verlässt, um sich die defekte Telefonleitung anzuschauen?”
- “Nun, er musste wissen, dass die Telefonleitung defekt war.”, entgegnete Whittaker.
- “Und woher?”
- “Er könnte sie selbst außer Betrieb gesetzt haben”, wagte ich einen Vorschlag.
- “Sehr gut!”, lobte mich Montague. “Genauso habe ich mir das auch gedacht. Aber wie hat er das gemacht, ohne, dass Simmons irgendetwas auffiel?”
Plötzlich hörten wir das Hupen eines Wagens. Wir machten uns auf dem Weg zur Vordertür und sahen, wie ein kleiner Pick Up vor dem Hotel parkte. Ein junger Mann mit zerzaustem, kastanienbraunem Haar und in einer für das Wetter viel zu leichten Jacke sprang aus dem Wagen und rief aus vollem Hals:
- “Pete! Wo zu Geier bist du!?”
Die Tür öffnete sich und Simmons erschien.
- “Hey, Mike! Was machst du denn wieder hier?”
Montague hob etwas überrascht die Augenbrauen. Plötzlich hörte ich Inspektor Whittaker hinter meinem Rücken murmeln:
- “Eine Telefonleitung zu kappen, ohne dass es auffällt? Für einen vertrauten Mechaniker ein eher einfaches Unterfangen...”
 
 
9. Mike Ferrara
 
 
- “Es funktioniert also wieder.” Ferrara legte den Telefonhörer auf. Simmons nickte.
- “Es scheint, dass die Verbindung macht, was sie will.” meinte er.
Der Inspektor entschloss sich, in die Konversation einzuschreiten.
- “Entschuldigen Sie bitte, sind Sie Mr. Ferrara?”
Der junge Mann drehte sich zu uns.
- “Ja, der bin ich. Und wer sind Sie?”
- “Mein Name ist Whittaker. Ich bin Polizeiinspektor in Ely. Wissen Sie, dass heute ein Todesfall in diesem Hotel stattfand?”
- “Wie bitte? Ein Todesfall? Und Sie sind hier, um zu ermitteln oder wie?”
Whittaker seufzte.
- “Ja”, antwortete er leicht gereizt. “Wir haben mittlerweile festgestellt, dass der Tod von einer beziehungsweise mehreren dritten Personen herbeigeführt wurde. Sagt Ihnen der Name Zacharias Reynolds irgendetwas?”
Ferrara dachte einige Augenblicke nach. Dann schüttelte er den Kopf.
- “Nein. Vielleicht hatte ich diesen Mann mal als einmaligen Kunden, aber gekannt habe ich ihn definitiv nicht. Was ist denn genau mit ihm passiert?”
Whittaker ignorierte die Frage.
- “Ich hätte gerne Ihre Personalien und den Grund, warum Sie heute hier waren.”, sagte und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: “Jetzt schon zum zweiten Mal.”
Ferrara stand ein paar Sekunden regungslos da und verdaute den Satz des Inspektors. Dann schien er etwas aufgefangen zu haben.
- “Sagen Sie mal, warum muss ich solche Fragen beantworten? Meinen Sie, ich hätte was damit zu tun? Beschuldigen Sie mich gerade?”
- “Niemand beschuldigt Sie hier. Ich brauche lediglich Ihre Personaldaten und den Grund Ihres Aufenthaltes hier. Diese Frage hat bislang jeder hier problemlos beantworten können.”
Ferrara schaute zuerst Simmons, dann Montague und mich an. Wir nickten alle. Der Mechaniker zuckte die Schultern, nannte Name und Adresse.
- “Mr. Simmons hier, hat mir gesagt, Sie wurden herbestellt, um die Telefonleitung zu checken, ist das richtig?”
- “Jawohl, das stimmt. Pete hat mich angerufen und gemeint, die Telefone hätten mal wieder den Geist aufgegeben. Also bin ich hergefahren.”
- “Und was war dann die Ursache?”
Ferrara grinste:
- “Ganz einfach! Der Telefonkabel hatte sich ein wenig von dem Stecker gelöst. Der gute Pete” - er deutete mit dem Kopf in Simmons´ Richtung - “ist ein Supertyp, aber in Sachen Technik und Elektronik ist er eine Vollpfeife!”
Simmons schaute leicht bedrückt zu Boden. Mike Ferrara hatte mit seiner gerade eben getätigten Aussage offensichtlich recht.
- “Und was war dann? Sie haben den Stecker und das Kabel wieder in Ordnung gebracht und die Leitung funktionierte wieder?”
- “Eben nicht.” Ferraras Gesicht wurde düster. “Das ist eine sehr eigenwillige Verbindung hier. Auch wegen dem Wetter. Wenn sich der Stecker mal löst, passiert es durchaus mal, dass auch dem Begradigen nichts funktioniert. Da hilft nur noch Warten und ein Gebet.” Ferrara lachte wieder.
Montague drehte sich zu Simmons.
- “Sagen Sie mal, wie haben Sie festgestellt, dass die Telefone nicht mehr funktionieren?”
Simmons zuckte leicht zusammen.
- “Wissen Sie”, begann er, “ich hätte es gar nicht gewusst, hätte Mr. Chapman es mir nicht gesagt. Er hatte versucht, seinen Sohn zu erreichen und hatte es gerade geschafft, da war die Verbindung mitten im Gespräch plötzlich auf Eis gelegt. Das war so gegen 11:30 Uhr. Ich habe dann sofort Mike angerufen.”
Montague verzog das Gesicht. “Interessant”, murmelte er.
- “Sie sind dann also zurückgefahren, oder?”, fragte Inspektor Whittaker.
- “Genau. Ich habe einen Anruf von einem meiner Kunden erhalten und bin dann weg. Machen konnte man schließlich nichts mehr. Aber es funktioniert ja endlich wieder.”
- “Und weswegen sind Sie jetzt hergekommen?”
- “Ich habe meine Geschäfte in der Stadt erledigt und wollte noch mal sehen, ob wieder alles funktioniert. Ich war mir sicher, dass sich alles einrichten würde. So ist es schließlich auch gekommen.”
Inspektor Whittaker kritzelte erneut irgendetwas in seinen Block und überflog nochmals alle Notizen. Dann blickte er auf.
- “Na dann, ich denke, mit meinen Ermittlungen hier bin ich fertig. Die Frage ist nur, was wir jetzt machen.”
Mike Ferrara zuckte die Schultern.
- “Ist nicht mein Problem. Es tut mir natürlich leid für den Alten, aber wenn wir hier drin hocken, können wir ihm auch nicht mehr helfen und ich habe schließlich noch Aufträge zu erledigen.”
Der Inspektor wollte Ferrara antworten, doch da holte ihn Montague zur Seite. Ich kam ein bisschen näher und konnte hören, wie Montague leise sagte:
- “Hören Sie, solange wir keine Anhaltspunkte über die Identität des Verbrechers haben, macht es wirklich keinen Sinn, alle Leute hier festzuhalten. Viel sinnvoller ist es, sie gehen zu lassen, wenn sie wirklich wollen und sie dann unter Beobachtung zu setzen.”
Inspektor Whittaker dachte eine Weile lang nach. Man sah, dass ihm diese Idee einerseits nicht gefiel, aber andererseits musste auch er einsehen, dass sie durchaus sinnvoll war. Schließlich nickte er.
- “Okay. Simmons, gehen Sie und sagen Sie allen Gästen, dass sie nach hause fahren können, wenn sie wollen. Das betrifft auch Sie.” Er sah in Ferraras Richtung.
Letztendlich drehte er sich zu uns.
- “Und was Sie beide betrifft, Sie kommen mit mir mit!”
 
 
10. Downings Rückkehr
 
 
Montag... Der “schönste” Tag der Woche. Seit meiner Ankunft zu hause am späten Freitagabend habe ich gefühlte 48 Stunden durchgeschlafen. Dennoch war ich am frühen Montagmorgen aus unerklärlichen Gründen hundemüde. Doch um mich im Bett herumzuwälzen blieb leider keine Zeit. Bevor wir uns am Freitag verabschiedeten, vereinbarten Montague und ich, dass wir uns zusammen mit einem Londoner Polizeiinspektor, den Whittaker über den Stand der Dinge informiert hatte, zum Flughafen aufmachen würden. Dort hatten wir die zweifelhafte Ehre, meinen heißgeliebten Chef zu begrüßen.
Inspektor Fowler blickte ungeduldig auf die Uhr. Es war 11:23 Uhr. Das ganze Wochenende lang hatten wir versucht, Downing zu erreichen. Erst Sonntagnachmittag schafften wir es. Inspektor Fowler schilderte ihm den Stand der Dinge und Downing versprach, so schnell wie möglich zurückzukommen. Viele Maschinen hatten an diesem Morgen Verspätung und der seiner erging es nicht anders.
Endlich erblickte ich eine große, dürre Gestalt im Anzug und mit Aktenkoffer in einer Hand.
- “Er ist es”, sagte ich den beiden.
Inspektor Fowler schritt vorwärts und näherte sich Downing.
- “Guten Tag. Mein Name ist Fowler, Londoner Polizei. Sind Sie Mr. Downing?”
Mein Chef nickte grimmig und reichte Fowler und Montague die Hand. Dann erspähte er mich.
- “Stanley!” rief überrascht. “Was machen Sie denn hier?”
Fowler hustete diskret.
- “Wenn Sie erlauben, Mr. Downing, ich bitte erst mal darum, dass Sie mir meine Fragen beantworten.”
Downing verzog sein Gesicht.
- “Muss ich mit Ihnen mitkommen?” fragte er.
- “Das wäre sehr zuvorkommend von Ihnen.” antwortete Fowler.
Wir setzten uns gemeinsam in Fowlers Dienstwagen und fuhren Richtung Polizeistation.
 
Nachdem Fowler die Personaldaten aufnahm, fing er an mit der Befragung:
- “Also dann, Mr. Downing, ich habe Sie ja bereits am Telefon unterrichtet, was geschehen war, oder?”
- “Oh ja. Unser Klient Mr. Reynolds ist urplötzlich verstorben. Das ist wahrlich ein sehr tragisches Ereignis.” Downing versuchte erfolglos, seinem Gesicht einen Hauch von Anteilnahme zu verleihen. “Und Sie sagen, es steht nun fest, dass er ermordet wurde? Wer könnte denn so etwas schreckliches getan haben?”
- “Das versuchen wir gerade herauszufinden.” antwortete der Inspektor. Können Sie uns eventuell Details über Ihre Unterredung mit Mr. Reynolds berichten?”
Downing seufzte. “Ich habe mir schon gedacht, dass Sie mit dieser Frage anfangen werden.” sagte er traurig. “Ich fürchte, das kann ich eben nicht.”
Inspektor Fowler und Montague hoben beide überrascht die Augenbrauen und der Inspektor fragte dann:
- “Wie denn das?”
- “Sehen Sie, ich habe Mr. Reynolds nie zu Gesicht bekommen und gesprochen habe ich auch nie mit ihm.”
Ich wäre vor Überraschung fast vom Stuhl gefallen. Was redete der Mann da?
- “Erklären Sie das bitte.” forderte Fowler ihn auf.
Downing seufzte erneut. “Aber gerne. Wissen Sie, Mr. Reynolds Auftrag wurde mir nicht von ihm persönlich auf den Tisch gelegt.”
- “Von wem dann?”
- “Könnten Sie mich bitte ausreden lassen? Nun, mein Partner, Mr. Myers war derjenige, der das Gespräch mit Mr. Reynolds geführt hatte. Und er war auch derjenige, der mir dann die Papiere zuschickte, mit der Bitte, dies möglichst schnell zu erledigen, das sei so im Sinne des Klienten.”
Inspektor Fowler notierte alles und dachte ein paar Sekunden nach. Schließlich hob er den Kopf und fragte:
- “Sagen Sie mal, wo ist Ihr Partner, dieser Mr. Myers jetzt?”
Downing zuckte die Schultern. “Keine Ahnung.” sagte er.
Fowler blickte eine Sekunde verdutzt herein. Dann hatte er sich wieder.
- “Ist das ein Scherz? Wo lebt er? Sie können mir nicht ernsthaft erzählen, Sie hätten kein Kontakt zu ihm!”
- “Nein, natürlich nicht, so habe ich das nicht gemeint!” Downing fing an, mit den Armen zu wedeln. “Seine Adresse habe ich hier. Was den Kontakt zu ihm angeht, so haben Sie eigentlich gar nicht so unrecht. Ich sehe ihn durchschnittlich nur ein paar mal im Jahr. Er lebt sehr zurückgezogen und beteiligt sich immer weniger an den Geschäften der Firma. Allerdings ist er offiziell immer noch einer der beiden Präsidenten und ab und zu liefert er Aufträge, meist betreffen diese seine eigenen, recht wohlhabenden Freunde und Bekannten.” Downings Gesicht machte den Eindruck, als würde er nicht verstehen, woher einer wie Myers überhaupt Bekannte, geschweige denn Freunde haben könnte.
- “Und Sie haben kein Problem damit, die Geschäfte ganz alleine führen zu müssen? Oder hat seine Attitüde irgendetwas mit seinem Alter oder seinem Gesundheitszustand zu tun?”
Downing räusperte sich.
- “Soweit ich weiß, nein. Er ist nicht besonders alt und einen kranken Eindruck hat er auch nicht auf mich gemacht. Ich denke, er möchte sich nach den vielen Jahren harter Arbeit einfach gerne zurückziehen. Wissen Sie, er hat diese Firma gegründet und sie hat ihm viel zu verdanken, unter anderem eben auch ihre Existenz. Darum ist es nur normal, dass er als Schöpfer und Gönner sich nach so viel Zeit auch die Erholung gönnt. Aber ich komme zurecht, ich habe viele kompetente Mitarbeiter, die mir helfen, nicht wahr, Stanley? Wir sind ein gutes Team, oder?”
Downing lächelte überraschend freundlich. Mir blieb vor Überraschung nicht anderes übrig, als zu nicken.
Mein Vorgesetzter holte seine Tasche her, kramte eine Weile in Ihr herum und holte schließlich ein Stück Papier heraus, auf dem eine Adresse gekritzelt war.
- “Das ist seine Adresse. Ich bin mir sicher, er wird Ihnen gerne alle Ihre Fragen zu seinem Gespräch mit Mr. Reynolds beantworten.”
- “Vielen Dank.” antwortete Fowler.
- “Nun, wenn Sie keine anderen Fragen mehr, haben, würde ich gerne an meinen Arbeitsplatz zurückkehren.” sagte Downing nach wie vor freundlich. Plötzlich fiel ihm etwas ein. “Sagen Sie, was ist mit Stanley? Kann er jetzt nicht auch seine üblichen Tätigkeiten ausüben?”
Bevor Fowler etwas sagen konnte, mischte sich Montague ein:
- “Wir benötigen seine Hilfe, da er Augenzeuge vor Ort war. Ich versichere Ihnen, sobald wir mit den primären Ermittlungen abgeschlossen haben, wird er Ihnen wieder zu Verfügung stehen.”
Downings Gesicht verfinsterte sich.
- “Na gut” meinte er schließlich. “Wenn es nicht anders geht, überlasse ich Ihnen Stanley für solange. Aber ich hätte ihn gerne schnellstmöglich zurück.”
Er schaute den Inspektor und dann mich an. Wir nickten beide bereitwillig.
Downing war schon auf dem Weg nach draußen, aber Fowler bremste ihn aus:
- “Noch eine Frage bevor Sie gehen: Wissen Sie eventuell, warum Mr. Reynolds nicht zu Ihrer Firma fuhr, sondern einen Vertreter in dieses Hotel bestellte?”
Mein Chef zuckte die Schultern.
- “Ich habe nicht den blassesten Schimmer. Da müssen Sie Mr. Myers fragen. Womöglich kam ihm die Idee spontan, wo er gerade dort war und er dachte sich, dass so ein abgelegener Ort genau das Richtige wäre, um in Ruhe alle Schritte zu erwägen und dann die Unterschrift zu setzten. Lebensversicherungsverträge sind ja schließlich keine Sache mit der man schlampig umgehen sollte. Es geht da um große Geldsummen. Wenn Sie mich entschuldigen, ich muss jetzt gehen. Ich habe heute wirklich sehr viel zu tun.”
Mit diesen Worten verschwand Downing aus dem Zimmer.
 
Der Inspektor grinste schelmisch.
- “Nicht schlecht gemacht, Dr. Montague. Sie haben unserem Freund hier einen unbefristeten Urlaub herausgeholt.”
- “Es ist doch im Sinne der Ermittlungen.” Montague lächelte milde. “Ich bin mir sicher, er wird uns helfen können. Jetzt werden wir nämlich Mr. Myers besuchen.”
Ich nickte. Ich freute mich schon ein bisschen darauf, diesen Typen endlich kennen zu lernen. Nach Downings Erzählung erschien mir mein zweiter Vorgesetzter noch merkwürdiger als zuvor. Es war an der Zeit, ihm auf den Zahn zu fühlen...
 
 
11. Die Geschichte des Geoffrey Myers
 
 
 
Die Gegend, in der der Firmengründer wohnte, stellte sich als durchaus edel heraus. Viele moderne Villen reihten sich in den Straßen auf. Montague ließ seinen Blick interessiert über das Viertel schweifen. Inspektor Fowler fuhr langsam durch die Straßen und blickte immer wieder auf das Stück Papier mit der Adresse, um das Haus nicht zu übersehen. Es erinnerte mich irgendwie an meine Odyssee, mit der alles begonnen hatte.
Schließlich wurden wir fündig. Myers´ Haus war ebenfalls ein nobles Gebäude, wirkte allerdings etwas vernachlässigt. Der Garten war ein wenig überwuchert und das Haus sah von außen so aus, als sei es seit einer Weile nicht mehr sauber gemacht worden. Wir hielten an und begaben uns Richtung Vordertür. Fowler klopfte und wartete ein wenig. Dann klopfte er erneut. Nach etwa ein paar Minuten kam immer noch keine Antwort. Fowler versuchte, die Tür aufzumachen, doch die war verschlossen.
- “Es scheint wohl keiner da zu sein”, meinte Montague.
Plötzlich ertönte ein Ruf vom Nachbarhaus: “Hey!” schrie jemand.
Wir drehten uns alle gemeinsam um und sahen, wie eine Frau Mitte Sechzig schnell auf uns zukam. Sie trug Hauskleidung und darüber eine Schürze. Ihre grauen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengekämmt. Sie hielt direkt vor uns an und schaute uns streng an.
- “Sagen Sie mal, wer sind Sie und was wollen Sie in Mr. Myers´ Haus? Wenn Sie nicht sofort verschwinden, rufe ich die Polizei!”
Fowler seufzte und holte seine Dienstmarke heraus. “Die Polizei ist bereits hier.”
- “Ach du meine Güte”, kreischte die Frau. “Die Polizei? Hier? Was wollen Sie denn von Mr. Myers?”
- “Es gab einen unerfreulichen Vorfall, in dem auch Mr. Myers leicht verwickelt ist. Wir würden ihn gerne befragen, aber wie es aussieht, ist er nicht da. Wissen Sie, wo er sein könnte?”
- “Einen Vorfall? Mr. Myers darin verwickelt? Und mir kam er immer so nett vor. Na ja, Sie haben jedenfalls recht, er ist nicht da. Er ist fast nie hier.”
- “Wie bitte? Wo ist er dann? Und wer sind Sie?”
- “Ich erkläre Ihnen alles. Mein Name ist Claridge. Brenda Claridge. Ich bin die Nachbarin von Mr. Myers. Mein Sohn hat mir hier dieses Häuschen gekauft, wo ich meine restlichen Tage verbringen kann. Das war wirklich nett von ihm. Wenn man sieht, wie wenig sich Kinder heutzutage um ihre Eltern scheren, dann... Moment, wo war ich? Ach ja! Mr. Myers hat dieses Haus vor ein paar Jahren gekauft, aber kommt fast nie hierher. Er hat mich darum gebeten, auf das Haus aufzupassen, solange er nicht da ist. Dass da nicht irgendwelche Kinder oder Verbrecher hereinklettern. Ich habe Sie ja anfangs tatsächlich für welche gehalten. Entschuldigen Sie bitte.”
Sie hielt an, um Luft zu holen. Währenddessen hatten wir unsere liebe Mühe, das Monolog von Mrs. Claridge zu verdauen. Schließlich fasste sich Inspektor Fowler:
- “Sie sagen also, er ist nicht da. Wo wohnt er dann?”
- “Ich habe nicht die leiseste Ahnung.” Mrs. Claridge presste ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. “Meiner Ansicht nach fragt man andere Leute solche Sachen nicht.”
- “Okay, meinetwegen.” Der Inspektor winkte ab. “Können Sie dann zumindest sagen, wie er aussieht und wann er das letzte mal hier war?”
Mrs. Claridge runzelte die Stirn.
- “Das letzte Mal, dass er hier war, ist etwa vier oder fünf Monate her. Er kam, um die Rechnungen zu bezahlen. Sie würden ihn leicht wiedererkennen. Er ist groß, trägt immer einen grauen Mantel, einen Filzhut und eine Sonnenbrille. Sieht zwar etwas beängstigend aus, aber er erklärte mir, dass er empfindliche Augen hätte und diese unbedingt vor Sonnenstrahlen schützen müsste. Zudem hatte er da einen großen, schwarzen Vollbart, aber den könnte er ja mittlerweile abrasiert haben.”
Die Gesichter von Montague und Fowler verfinsterten sich mit jedem Wort. Fowler seufzte und bedankte sich bei Mrs. Claridge und sie versicherte ihm, Bescheid zu sagen, wenn sie Mr. Myers noch einmal sehen würde.
Wir stiegen in den Wagen und fuhren davon.
 
- “Nicht schlecht, Mr. Myers.” Inspektor Fowler knirschte mit den Zähnen. “Dieser Kerl hat sämtliche Spuren geschickt verwischt.”
Montague nickte nachdenklich.
- “Er kauft sich ein Haus, in dem er gar nicht lebt, um Leute auf die falsche Fährte zu locken, die daran denken, ihn zu suchen, aus welchen Gründen auch immer. Offiziell hat er eine feste Adresse, aber in Wirklichkeit ist er unauffindbar.”
- “Und damit er Zeugen für den Hauskauf hat, aber sein Gesicht nicht zeigen muss, kam er mit einem falschen Bart und Sonnenbrille und bat die Nachbarin, auf das Haus aufzupassen.” mischte ich mich ein. “Und die naive Mrs. Claridge hat diese lächerliche Ausrede bezüglich der Sonnenbrille geglaubt.”
- “Also Doktor, was machen wir jetzt? Wir können Myers nicht finden. Verwandte, bei denen er unterkommen könnte hat er keine, ich habe da Nachforschungen angestellt. Nahe Freunde gibt es eigentlich auch nicht. Er lebte die letzten Jahre scheinbar völlig zurückgezogen. Einige meiner Leute habe ich zudem in seiner Vergangenheit graben lassen. Vielleicht finden die etwas heraus.”
Fowlers Rede drückte genau das aus, was wir alle dachten: Im Moment kam uns die Situation ziemlich aussichtslos vor. Doch dann schüttelte sich Montague:
- “Nicht verzweifeln, Freunde.” sagte er. “Wir werden einen Weg finden, Myers ausfindig zu machen. Noch ist nicht aller Tage Abend.”
 
Auf der Polizeistation erwarteten uns hingegen interessante Neuigkeiten. Einer von Fowlers Leuten reichte ihm wortlos eine kleine Mappe mit Unterlagen und ließ uns allein. Fowler schlug die Mappe auf und begann damit, das Ganze durchzulesen. Montague und ich warteten geduldig. Fowlers Gesicht zeigte während des Lesens kaum eine Reaktion. Schließlich legte er das Ding weg und wandte sich an uns:
- “Eine ganz interessante Geschichte. Anscheinend hat Mr. Myers ein ganz normales Leben geführt, bis auf eine ziemlich auffallende Ausnahme: Im Alter von 12 Jahren geriet er mit einigen Freunden in einen ziemlich unglücklichen Vorfall. Er und zwei weitere gleichaltrige Jungs haben während ihrer Sommerferien im Lande eine Scheune in Brand gesetzt. Sie haben dort gespielt und offensichtlich eine Kerosinlampe umgestoßen. Auf dem Boden lag viel herumverstreutes Heu, welches natürlich sofort Feuer fing. Die Scheune war abgesperrt und die Jungs mussten durch ein Fenster herausklettern. Myers und einer seiner Freunde schafften es nach Draußen, aber der dritte Junge verlor vermutlich im Rauch die Orientierung und dann auch das Bewusstsein und verbrannte schließlich in der Scheune.”
- “Ein sehr tragischer Vorfall”, bemerkte Montague, “aber wie hilft uns diese Information weiter?”
- “Wie wäre es damit? Herbert Carragher, der Name des armen Jungen, der in der Scheune zu Tode kam, sagt Ihnen vielleicht noch gar nichts. Aber der andere Bursche, der sich mit Myers zusammen retten konnte, dürfte Ihnen zumindest namentlich nicht fremd sein. Es handelte sich um den jungen Zach Reynolds.”
Wir verschluckten uns an unserem Kaffee.
- “Wie bitte!?”
Der Inspektor nickte zufrieden.
- “Ja, so ist es. Der Auftraggeber und der Kunde sind Freunde seit Kindesjahren. Und was für welche. Sie teilen sich immerhin eine derart schlimme Erfahrung.”
Montague runzelte die Stirn.
- “Ich begreife noch nicht ganz, wie das Ganze zusammenhängt und ob dieser Vorfall von damals etwas mit Reynolds´ Tod zu tun hat, aber wir sind immerhin ein Stück weiter gekommen.”
- “Aber wir haben immer noch keine Ahnung, wo er ist.”, mischte ich mich ein. “Das heißt, wir können erst einmal nichts genaues darüber erfahren.”
Montague nickte.
- “Das mag sein. Trotzdem ist diese Information wichtig. Und solange wir Myers suchen und uns gleichzeitig überlegen, welche Rolle dieses Unglück in der Sache spielen könnte, können wir auch in die andere Richtung ermitteln. Die andere verwickelte Person ist schließlich alles andere als ein Phantom.”
Inspektor Fowler nickte seinerseits auch.
- “In Ordnung. Was Myers angeht, werden meine Leute die Suche nach ihm fortsetzen. Zudem werde ich versuchen, Zeugen aufzutreiben, die irgendetwas genaueres über diese Geschichte mit dem Brand wissen. Und währenddessen kümmern wir uns in aller Ruhe um die trauernden Angehörigen des Mr. Zacharias P. Reynolds.”
Ich blickte auf die Papiere auf dem Tisch des Inspektors. Darunter waren sowohl der neue Vertrag, den Reynolds unterschreiben wollte, als auch, soweit ich sehen konnte, die alte Version des Dokuments.
- “Wer sind denn diese Angehörigen?” fragte ich. “Sie werden vermutlich nicht allzu traurig sein, oder?”
Fowler nahm die Papiere in die Hand, sah sie sich nochmals an, sah zu uns hinüber und grinste:
- “Dank einer Kombination aus diesen Papieren und den jüngsten Vorfällen, haben diese Leute allen Grund zum weinen!”
 
 
 
12. Mutter und Tochter
 
 
Das Anwesen der Familie Reynolds sah schick aus. Als eine Art Repräsentant von Reynolds´ Vermögen ragte es in die Höhe. Ein modernes, zweistöckiges Haus, um den sich ein prachtvoller Garten herumbefand. Wir gingen den mit Marmorstein gepflasterten Weg entlang und Inspektor Fowler klingelte. Es dauerte nicht allzu lange, schon öffnete sich die Tür. Wir traten vor Überraschung einen Schritt zurück und blieben regungslos stehen. Im Türrahmen stand eine Frau. Ihr Äußeres konnte gar keine andere Reaktion bewirken, als die unsere. Zwar war Sie schon offensichtlich um die vierzig Jahre alt, aber dennoch wirkte ihr Auftreten majestätisch und schön. Sie hatte eine Figur, wie die eines jungen Mädchens, langes dunkles Haar, ein junges, leicht gebräuntes Gesicht ohne jede Falten und leuchtende, hellgrüne Augen. Dazu kam geschickt und effektiv aufgetragene Schminke, ein gar nicht zur Jahreszeit passendes Seidenkleid, ein lässig über die Schultern geworfener Pelz und eine kleine, elegante Perlenkette. All das in Verbindung schlug wie ein Blitz ein: Drei Männer standen wie belämmert und brachten kein Wort heraus. Ich hätte wetten können, Montague und Fowler hatten, genau wie ich auch, völlig vergessen, warum wir eigentlich hergekommen waren.
Die Dame lächelte freundlich, wodurch Sie noch bezaubernder wurde, und sagte mit einer Stimme, sanft, wie ihr Auftreten:
- “Guten Tag, meine Herren. Kann ich Ihnen helfen?”
Der Beruf hat offensichtlich Einfluss auf die Persönlichkeit des Menschen. Fowler, der Polizist unter uns, kam als erster zu sich.
- “Inspektor Fowler, Londoner Polizeikommissariat.”, sagte er mit übertrieben strenger Stimme. “Meine Kollegen und ich, wir würden uns gerne über Ihren Mann unterhalten. Sie wissen ja wohl bereits, was mit ihm passiert ist?”
Mrs. Reynolds nickte und sagte: “Ja, natürlich. Kommen Sie bitte herein.”
 
Wir betraten das Haus und staunten nicht schlecht. Es sah schon von außen großartig aus, aber die Gesamteinrichtung des Hausinneres blendete einen innerhalb einer Sekunde. Teure Möbel standen in jedem Zimmer. Statuen und andere Kunstobjekte waren an jeder Ecke zu sehen und an den Wänden blieb kaum noch ein freier Platz vor lauter Gemälden. Alles wirkte schick und edel. Mit Sparen war man hier offensichtlich nicht allzu oft beschäftigt. Die Herrin des Hauses führte uns in das Wohnzimmer und bot uns mit einer einladenden Geste an, uns zu setzen.
Fowler legte gleich los:
- “Es tut mir leid, dass ich Sie nun nach diesem schrecklichen Vorfall mit Fragen belästigen muss. Es ist nur so, dass...”
Mrs. Reynolds unterbrach ihn mit einer erneuten leichten Handbewegung.
- “Ach, ist schon in Ordnung, Inspektor. Die Aufgaben der Polizei sind nun einmal so, wie sie sind. Was wollen Sie drei denn genau von mir hören?”
Fowler seufzte. Dann holte er den Versicherungsvertrag hervor.
- “Sehen Sie, Ihr Ehemann wurde ohne jeden Zweifel gewaltsam um sein Leben gebracht. Und das gesamte Geld, das von der Versicherung ausgezahlt wird, und ich sehe hier, das ist nicht allzu wenig”, - der Inspektor warf Mrs. Reynolds einen kurzen Blick zu, - “hinterlässt er laut diesem Vertrag Ihnen.”
- “Das ist richtig”, sagte Mrs. Reynolds und lächelte. “Das ist doch eine richtig großzügige Geste von ihm, oder?”
Inspektor Fowler blieb vor Überraschung der Mund offen. Montague hob erstaunt die Augenbrauen. Und ich fing an, zu überlegen, ob wir im richtigen Haus waren. Ich konnte hier jedenfalls, so sehr ich es auch versuchte, keine trauernde Witwe finden.
Fowler nahm sich zusammen und wollte etwas sagen, da unterbrach sie ihn erneut:
- “Lassen Sie es gut sein. Ich weiß, was Sie mich als nächstes fragen werden. Also, um Ihre und meine kostbare Zeit zu sparen: Ob mich der Tod meines Mannes traurig macht? Eher weniger. Ob ich ihn geliebt oder gehasst hatte? Nicht wirklich. Wir hatten eine Ehe, die ihn und mich befriedigte. Er hatte das positive Image eines Geschäftsmannes mit Familie, ich hatte ein sorgenfreies Leben. Er gab mir genug Geld, um so zu leben, wie ich es immer wollte. Jeder von uns beschäftigte sich mit seinen eigenen Angelegenheiten. Es war eine besondere Art Harmonie in unserer Ehe, obwohl wir nie wirklich Freunde wurden, geschweige denn Liebende. Aber ich hatte keinen Grund ihn umzubringen, denn ich hatte wirklich nie etwas gegen ihn. Ich hatte schließlich genügend Geld, auch zu seinen Lebzeiten. Ich bin nicht gierig und weiß, wo die Grenzen sind. Wissen Sie, zeitweise tat er mir sogar leid. Um ehrlich zu sein, sogar mehr als jetzt, wo er tot ist. Ständig so versunken in seine Arbeit; ich glaube, er hatte wahrscheinlich keine Ahnung, wie man Spaß hat, nicht einmal als Kind.”
Montague und ich tauschten Blicke aus. Offensichtlich hatte Reynolds seiner Frau nicht erzählt, wozu einer dieser “Späße” in seiner Kindheit geführt hatte.
Inspektor Fowler räusperte sich und nahm ein zweites Blatt Papier in die Hand.
- “Ist Ihnen bekannt, dass Ihr Mann die Details bezüglich seines Lebensversicherungsvertrags grundlegend geändert hat?”
Die Dame hob die Augenbrauen.
- “Nein, das ist mir neu. Davon weiß ich nichts. Wie lauten denn jetzt die Einzelheiten?”
- “Die vereinbarte Summe, die im Falle eines Ablebens von Mr. Reynolds ausgezahlt wird, bleibt die gleiche, geht jetzt aber nicht mehr an Sie, sondern voll und ganz an seinen Bruder, Mr. Ray Reynolds.”
Ihr hübsches Gesicht verzog sich zu einer Grimasse.
- “Das ist vielleicht eine interessante Neuigkeit.”, sagte sie leicht angesäuert. “Er hat mir nie irgendetwas von einem Bruder erzählt.”
- “Was er Ihnen alles über sich und sein Leben nicht erzählt hat, meine Liebe, Sie würden staunen...”, hörte ich Montague so leise flüstern, dass nur ich seine Stimme vernahm. Sein Gesicht spiegelte Verwunderung wieder und ich würde wetten, meines sah auch nicht anders aus. Die ganze Zeit lang, als ich die Dokumente hatte, hatte ich nicht einmal genau hinein geschaut. Und als Reynolds umgebracht wurde und sie interessant wurden, nahmen sie zunächst Inspektor Whittaker und dann Inspektor Fowler an sich. Und dieser schockte jetzt nicht nur Reynolds´ Frau, sondern auch seine eigenen Mitstreiter. Er hatte uns schließlich nichts über die Details des neuen Vertrags gesagt, deswegen nahmen wir an, sie seien nicht entscheidend gewesen. Jetzt aber, stellte sich die Sache in einem ganz neuen Licht dar. Schließlich hatte Fowler recht: Ich kannte zumindest die Summe, die die Firma auszahlen würde und sie war wirklich alles andere als klein.
- “Wir haben die Sache bereits überprüft, Mrs. Reynolds. Ihr Mann hatte tatsächlich einen älteren Bruder namens Ray. Momentan suchen ihn meine Leute. Aber ich habe auch eine gute Nachricht für Sie.”
Der Inspektor schob ihr das Schriftstück zu.
- “Wie Sie sehen können, ist es nicht unterschrieben. Mr. Reynolds starb, bevor er seine Unterschrift setzten konnte, deswegen ist es unwirksam und ungültig.” Hier erlaubte sich Fowler ein Lächeln.
Mrs. Reynolds, wieder völlig sie selbst, lächelte zurück.
- “Und ich vermute mal, da der Mord an meinem Mann es gerade noch verhinderte, dass ich eine große Summe Geld verliere, bin ich jetzt wohl im Augenmerk der Polizei als Hauptverdächtige, richtig?”
Fowler runzelte die Stirn. Es gefiel ihm sichtlich nicht, wie schnell diese Frau den Sinn seiner Aussagen erfasst hatte.
Mrs. Reynolds dagegen, wurde noch freundlicher.
- “Ich muss sagen, ich bin begeistert über derart kompetente Polizeiarbeit, Inspektor. Und es tut mir unendlich leid, Ihnen offenbaren zu müssen, dass ich nichts mit dieser abscheulichen Tat zu tun haben kann. Den gesamten Freitag, von früh am Morgen bis spät in den Abend verbrachte ich zu Gast bei Freunden. Sie werden es Ihnen sicher mit Freude bestätigen.”
Inspektor Fowlers Gesicht verfinsterte sich endgültig. Schließlich seufzte er und stand auf.
- “Na gut. Danke sehr, für Ihre Offenheit. Im Moment habe ich keine Fragen mehr. Halten Sie sich aber bitte für den Fall der Fälle zur Verfügung. Ich werde Ihre Aussagen bezüglich des Freitagsabends werde ich überprüfen.”
- “Selbstverständlich,” sagte sie. “Das ist schließlich Ihr Job.”
- “Sagen Sie, was ist eigentlich mit Ihrer Tochter?” fragte Montague plötzlich. “Wo ist sie zurzeit?”
- “Sie ist noch bei der Arbeit, aber sie müsste jeden Moment nach hause kommen. Wollen Sie auch mit ihr reden?”
- “Wir rufen sie zu uns auf die Polizeistation kommen, wenn sich die Notwendigkeit ergibt.”, winkte der Inspektor ab. Es war leicht zu sehen, dass er keine besondere Lust hatte, sich auch noch mit der jüngeren Dame des Hauses zu unterhalten.
Genau in diesem Moment ertönte eine Stimme aus dem hinteren Teil des Hauses:
- “Mama! Ich bin wieder da!”
Offensichtlich war das Mädchen durch die Hintertür in das Haus hinein gekommen. Fowler murmelte ein paar Abschiedsworte und beeilte sich damit, sich zu verziehen. Montague folgte ihm. Als ich mich von Mrs. Reynolds verabschiedete und mich umdrehte, um ebenfalls zu gehen, stieß ich versehentlich einen Stuhl um. Während ich ihn aufhob, hörte ich, wie die junge Mrs. Reynolds in das Zimmer trat:
- “Hey, hallo Mama! Bin ich vielleicht erschöpft! Bei der Arbeit... Oh, du hast Besuch?”
Jetzt, wo ich die Stimme aus nächster Nähe vernahm, kam sie mir bekannt vor.
- “Ja, ein paar Herren von der Polizei kamen vorbei, um sich mit mir über den Tod deines Stiefvaters zu unterhalten. Sie gehen aber gerade.”
- “Ach so.” sagte das Mädchen. Der Tod ihres Stiefvaters schien sie, wenn überhaupt, nicht besonders stark bedrückt zu haben. Ich erinnerte mich dunkel daran, dass Inspektor Fowler uns bei der Hinfahrt gesagt hatte, sie hätte ihn nicht leiden können.
Ich stand auf und drehte mich um, um mich zu verabschieden, da blieben mir die Worte im Halse stecken.
 
Vor mir stand Alexandra Bailey!
 
 
13. In der Anwaltskanzlei
 
 
- “Es ist unglaublich, einfach nicht zu fassen!” Fowler explodierte vor Wut. “Wie konnten wir es verschlafen, dass Reynolds´ Tochter und das Mädchen im Hotel eine und die selbe Person sind?”
- “Ganz ruhig, Inspektor. Wir konnten schließlich nicht wissen, dass es sich bei Alexandra Bailey in Wirklichkeit um Alexandra Reynolds handelte. Schließlich gab sie im “Hill Fort” den Namen Bailey an.” entgegnete Montague, der die Nachricht sichtlich entspannter hinnahm, als Fowler.
- “Und das ist ihr Geburtsname, verdammt noch mal! Er steht sogar hier, in den Unterlagen! Wie konnte ich nur so dämlich sein!?”
Ich entschloss mich endlich dazu, in das Gespräch einzugreifen:
- “Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, warum Mrs. Reynolds ihren Mädchennamen nicht beibehalten hat und warum sie auch ihre Tochter dazu brachte, ihren zu ändern. Und weshalb stellte Alexandra Reynolds sich im Hotel dann mit dem falschen Namen vor?”
- “Das kann ich erklären.” Montague drehte sich zu mir um. “Sie wissen doch noch, wie Mrs. Reynolds uns erzählte, sie und ihr Mann hätten eine Art inoffizielles Abkommen? Sie bekam von ihm genügend Geld, er hatte das Image eines Geschäftsmannes mit Familie. Und zu einer harmonischen Familie gehört nach Ansicht einiger Leute in unserer Gesellschaft auch, dass die ganze Familie einen Namen trägt. Ich denke, Reynolds hat darauf bestanden, dass seine Frau und ihre Tochter den seinen Nachnamen übernehmen, um das Bild einer gesunden, normalen Familie zu schaffen. Nur wissen wir jetzt, was sich hinter den Kulissen abspielte: Seiner Frau war nur das Geld wichtig und die junge Alexandra hasste ihn, wie die Pest. Womöglich ist das der Grund, warum sie sich mit dem Namen Bailey vorstellte. Sie mochte ihren Stiefvater nicht und genauso wenig mochte sie den Namen, den sie seinetwegen tragen musste. In solchem Alter will man unabhängig sein und sich von niemandem etwas sagen lassen. Also nannte sie aus simpler Sturheit den Namen, den sie vorher hatte.”
- “Aber vielleicht wollte sie in Wirklichkeit ihren Namen verschleiern, um die Ermittlungen behindern?” merkte der Inspektor an. Er schien sich ein bisschen entspannt zu haben. “Schließlich würde es auffallen, wenn im Gästebuch zweimal der Name Reynolds auftauchen würde. Jetzt, wo wir wissen, dass sie ihren mit ihrem Stiefvater nicht zurecht kam und auch noch vor Ort war, ist sie wohl die Hauptverdächtige.”
Montague nickte.
- “Dagegen kann ich nichts einwenden.”
- “Sie haben schon recht.” meinte ich. “Aber, um Himmels Willen, Inspektor: Hätte sie sich denn wirklich nicht besseres einfallen lassen können, um die Polizei in die Irre zu führen, als ihren Geburtsnamen zu nennen und zu hoffen, dass man so doof ist und niemand das merkt?”
- “Bis Sie praktisch Nase an Nase mit ihr zusammengestoßen sind, hat ihr Plan eigentlich auch ganz gut funktioniert.” Fowlers Gesicht wurde wieder finster. Montague schmunzelte.
- “Ist jetzt wieder gut, Inspektor. Jeder macht Fehler. Wir beide haben uns ja auch nicht allzu toll angestellt, denn wir durften die Papiere schließlich auch durchlesen, schnappten aber den Namen Bailey ebenso wenig auf, wie Sie. Ich schätze, Sie werden einfach Ihre Drohung wahrmachen und Alexandra Reynolds auf die Polizeistation bestellen müssen .”
- “Das werde ich tun, wenn die Zeit reif ist.” entgegnete Fowler. “Es ist jetzt unnötig, die Sache zu überstürzen, wo wir nichts haben, außer einen Verdacht und ihre Anwesenheit am Ort des Geschehens. Sie ahnt schließlich auch nichts böses und wird sich deswegen vermutlich in Sicherheit wiegen. Glücklicherweise wurden Sie nicht erkannt.” sagte er mir über die Schulter.
Ich seufzte. Tatsächlich, wir hatten ganz schön Glück gehabt, das konnte Fowler laut sagen. Sowohl damals, im Hotel, als auch im Haus der Reynolds war das Licht leicht gedämpft. Dies war wahrscheinlich der Grund, warum Alexandra mich nicht erkannte.
- “Wo fahren wir denn jetzt hin?” fragte Montague.
Fowler richtete den Rückspiegel.
- “Wir statten Mr. Reynolds´ Anwalt einen Besuch ab. Ich bin echt gespannt, was er uns alles zu erzählen hat.”
 
 
Die Kanzlei von Steven Arnold, Reynolds´ Anwalt, befand sich im Stadtzentrum. Es war ein dreistöckiges, graues Gebäude, das sich von den meisten Häusern in London nicht unterschied. Wir wanderten zu dritt in das oberste Stockwerk. Dort sahen wir direkt vor unserer Nase ein Schild, auf dem stand: “Arnold & Hawkins, Notardienste und Rechtsbeistand.”
- “Da wären wir.” meinte Fowler und klingelte. Es dauerte eine gefühlte halbe Ewigkeit bis der Summer ertönte. Wir traten herein. Eine junge Dame, offensichtlich die Sekretärin, nahm gerade ihre Hand von dem Knopf. Als sie uns sah, lächelte sie freundlich:
- “Grüß Gott! Wollen zu Mr. Arnold oder zu Mr. Hawkins? Mr. Hawkins ist nämlich leider nicht da.”
“Das macht nichts. Wir würden gerne Mr. Arnold sprechen, wenn es geht.” sagte Fowler höflich. Von seinem Wutanfall im Auto schien keine Spur übrig geblieben zu sein.
- “Mr. Arnold ist gerade in seinem Büro. Haben Sie einen Termin bei ihm? Wie ist Ihr Name?”
- “Fowler. Mr. Arnold und ich, wir haben vereinbart, dass ich um fünf vorbei komme. Ich bin wohl etwas früh dran.”
- “Moment, ich sehe nach... Ah ja, Mr. Fowler! Richtig, fünf Uhr am Nachmittag. Ich denke, Sie können schon zu ihm herein. Bitte einfach nach links den Gang entlang gehen und am Ende durch die Tür hinein.”
Wir bedankten uns und schritten gemeinsam Richtung Arnolds Büro. Als die Sekretärin einen fragenden Blick in die Richtung von Montague und mir warf, nickte Fowler:
- “Die beiden Herrschaften und ich sind gemeinsam hier.”
Wir gingen den Flur bis zum Ende entlang. Vom inneren waren die Räumlichkeiten zwar weiß gestrichen und nicht grau, das machte sie aber kaum weniger langweilig. Ganz am Ende des Ganges standen wir tatsächlich vor einer Tür, genauso weiß wie die Wände. Darauf stand: “Steven Arnold, Rechtsberatung und Rechtsbeistand. Bitte vor dem Eintreten anklopfen.”
Fowler klopfte an die Tür. Sofort ertönte eine angenehme, tiefe Männerstimme:
- “Herein, bitte.”
Wir traten in den Raum und wurden von einem Mann Mitte vierzig begrüßt. Er hatte dichtes, schwarzes Haar, ruhig blickende, braune Augen und einen Vollbart mit einigen grauen Haaren darin. Als er aufstand, um uns die Hand zu geben, merkte ich, dass er eine stattliche Figur hatte: Vielleicht 5 cm fehlten Steven Arnold bis zur 2-Meter-Marke. Er ragte über uns allen dreien heraus; selbst der alles andere als kleine Fowler wirkte neben ihm wie ein Wicht.
- “Schön, Sie kennen zu lernen, Herrschaften.” Arnold setzte sich in seinen Ledersessel und wirkte dadurch zumindest ein bisschen kleiner. Wir setzten uns ebenfalls.
- “Sie haben mir am Telefon mitgeteilt, dass Sie den Inhalt von Mr. Reynolds´ Testament wissen wollen. Eigentlich war seine Verlesung erst nach der Bestattung geplant. Aber da die Polizei so scharf darauf ist, kann ich daraus schließen, dass mit seinem Ableben irgendetwas nicht in Ordnung ist.”
- “Wie kommen Sie denn darauf?” fragte Fowler unberührt.
In Arnolds Gesicht zuckte ebenfalls nicht ein Muskel.
- “Ich bin lange genug Anwalt, Herr Inspektor. Mr. Reynolds hatte viel Geld, seine sterblichen Überreste wurden noch immer nicht der Familie zur Beerdigung übergeben und die Polizei macht ein großes Geheimnis um seinen Tod. Nachdem ich die Nachricht gehört habe, rief bei der Polizeistation an. Keiner Ihrer Leute wollte mir Einzelheiten darüber berichten. Jetzt kommen auch noch Sie und wollen sofort sein Testament lesen. Zwei und zwei zusammenzuzählen ist eine der simpleren Tätigkeiten, die ich beherrsche, sonst hätte ich in diesem Berufszweig überhaupt nichts verloren.”
- “Ist schon gut, Mr. Arnold.” Inspektor Fowler lächelte friedlich. “Sie haben nicht Unrecht. Es ist erwiesen, dass Mr. Reynolds ermordet wurde. Aus diesem Grund ist es für uns eminent wichtig, zu wissen, wer von seinem Tod profitieren würde.”
Erneut präsentierte sich Arnolds Gesicht undurchlässig.
- “Das ist sehr tragisch.” sagte er nach einer kurzen Pause. “Aber solche Dinge passieren leider öfter, als man denkt.”
Er öffnete eine Schublade und holte eine kleine Mappe heraus. Dann reichte er sie zu uns über.
- “Sie werden dort wenig überraschendes finden.” sagte er. “Aber nichtsdestotrotz, nehmen Sie sich Zeit. Ich kann Ihnen später sogar eine Kopie davon machen, wenn Sie wollen.”
Fowler öffnete die Mappe und fing an, die Papiere zu studieren. Wir blickten ihm gespannt über die Schulter.
Der Anwalt behielt recht. Wir entdeckten so ziemlich genau das, was wir erwartet hatten, zu sehen. Den Großteil seines Vermögens, einige Millionen Pfund, hinterließ Reynolds seiner Frau und Tochter, aufgeteilt in zwei gleich große Teile. Sein ominöser Bruder wurde mit keinem Wort erwähnt. Kleinere Geldsummen gingen an Freunde und Bedienstete. Interessanterweise war unser Gegenüber auch erwähnt.
- “Alles intelligent und geschickt zusammengestellt.” lobte Fowler. “Wie ich sehe, hat er auch Sie sehr großzügig beschenkt. Zehn Tausend Pfund sind ein gerechter Lohn für viele Jahre treuer Dienste, denken Sie nicht?” Er lächelte in Arnolds Richtung.
Eines musste man dem Rechtsanwalt lassen: Er ließ sich von Fowler weder provozieren, noch sonst irgendwie beeindrucken.
- “Ich muss sagen, es ist wirklich sehr großzügig von Mr. Reynolds, mir so eine große Menge Geld zu hinterlassen. Zwar stimmt es, dass ich ihm jahrelang mit Rat und Tat zur Seite gestanden bin und daher gehofft hatte, er würde mir eine kleine Summe seines Geldes hinterlassen, um sozusagen, meine Leistungen zu honorieren, aber das...
Es hätten nicht wirklich Zehn Tausend Pfund werden müssen. Aber das beweist nochmals, dass er im trotz seines scheinbar strengen und unfreundlichen Wesen ein guter und großzügiger Mensch war. Es tut mir wirklich leid, dass ihm so etwas passiert ist.”
- “Mr. Reynolds hatte also keine Feinde?” fragte Montague.
- “Keine, die mir bekannt waren. Er gab sich zwar nach außen hin als unangenehmer Mensch, das ist wahr. Dennoch gab es wohl kaum jemanden, der ihn wirklich so sehr hasste, dass er ihn umbringen wollen würde. Mr. Reynolds hat in seinem Leben kaum jemanden wirklich verletzt, wissen Sie.”
- “Und wie war Ihr Verhältnis zu ihm?”
- “Wie ich bereits gesagt habe, ich arbeitete mehrere Jahre für ihn. Er war ein sehr umgänglicher Mensch, zumindest was unsere professionellen Beziehungen betraf. Auf der anderen Seite war ich, wie bereits erwähnt, sehr loyal ihm gegenüber. Wir waren gut aufeinander zu sprechen, nicht mehr und nicht weniger.”
Fowler beugte sich vor.
- “Das dürfte dann wohl heißen, der scheinbar einzige triftige Grund, ihn zu töten, war das Geld, das er besaß?”
- “Sie werden sich wahrscheinlich denken können, dass ich dazu kein Statement abgebe.” antwortete Arnold trocken.
- “Das ist Ihr gutes Recht.” nickte der Inspektor. “Aber Sie waren wirklich überrascht, als Sie im Testament über die Größe Ihres Anteils erfuhren, oder?”
- “Oh ja. Ich hätte nie gedacht, dass er mir eine derartige Unsumme hinterlässt. Er hat nie etwas darüber erwähnt, ob mein Name in seinem Testament vorkommt. Eigentlich hat er überhaupt nie groß über dieses Thema gesprochen.”
Fowler blinzelte.
- “Aber Sie hatten doch das Testament in Ihren Händen! Haben es denn gar nicht gelesen? Hat Mr. Reynolds es nicht bei Ihnen zusammengestellt?”
- “Nein und nein, auf beide Fragen. Mr. Reynolds hat sein Testament eigens zusammengestellt und einen Freund sowie einen Bediensteten seines Hauses als Zeugen unterschreiben lassen. Dann hat er es in einen Kuvert gelegt und es mir gebracht, mit der strengen Anweisung, es erst nach seinem Tod zu öffnen. Der Wunsch des Klienten ist Gesetz. Ich habe das Kuvert unter Verschluss gehalten und Mr. Reynolds hat nie wieder darüber gesprochen. Das Ganze ist etwa zwei Jahre her. Als ich am Samstag die Nachricht erhalten habe, er sei verstorben, habe ich das Kuvert gleich darauf geöffnet, damit ich wusste, wen ich zu der offiziellen Verlesung rufen sollte. Sehen Sie: Vor ein paar Tagen war ich genauso schlau, wie jeder andere, was seinen letzten Willen betrifft.”
Fowler starrte in die Luft und dachte nach. Montague runzelte ebenfalls nachdenklich die Stirn. Ich wusste nicht, was ich mir denken sollte. Zacharias Reynolds musste eine durchaus eigenwillige Persönlichkeit gewesen sein.
Es entstand eine Pause und in dem Raum wurde es leise. Man konnte hören, wie irgendwo am Fenster eine Fliege summte. Durch die Wolken am Londoner Himmel ragte plötzlich ein zaghafter Sonnenstrahl durch und fiel auf Arnolds Schreibtisch.
- “Na gut.” Fowler brach endlich das Schweigen. “Vielen Dank, dass Sie sich für uns Zeit genommen haben. Momentan ist das alles.”
Arnold nickte.
- “Ich freue mich, dass ich helfen konnte. Wenn Sie noch Fragen haben, kommen Sie einfach jederzeit vorbei. Soll ich Sie zum Ausgang begleiten?”
Fowler schüttelte den Kopf.
- “Nein, danke. Wir finden uns zurecht.”
Wir waren schon auf dem Weg nach draußen, da drehte sich Montague um:
- “Sagen Sie, wann ist eigentlich die offizielle Verlesung des Testaments?”
- “Ich habe meinen Terminkalender durchgeblättert und festgestellt, dass ich erst diesen Donnerstag Zeit habe. Das habe ich am Wochenende auch bekannt gegeben. Die Verlesung findet um 15 Uhr in dem Anwesen der Reynolds´ statt. Wenn Sie mit dabei sein möchten, ich bin mir sicher, dass Mrs. Reynolds nichts dagegen hat.”
Montague nickte zufrieden.
- “Aber gerne. Diese Gelegenheit lassen wir uns ganz sicher nicht entgehen.”
Wir verabschiedeten uns und gingen zum Auto.
 
Ich schloss die Tür meiner Wohnung und marschierte schnurstracks in die Küche. Im Kühlschrank fand sich nur wenig essbares. Ich machte mir ein paar Sandwiches, um zumindest die Kraftreserven für morgen aufzufüllen. Ich stellte den Teller auf den Tisch und sah mich um. Meine Wohnung war seit Wochen nicht mehr aufgeräumt worden. Auf dem Boden und sonst überall lagen Sachen, die da eigentlich nicht hingehörten. Zum Aufräumen hatte ich zuletzt weder Kraft noch Lust. Heute verhielt es sich natürlich nicht anders.
Ich schritt über die Unordnung und setzte mich an den Tisch. Um die das “Abendessen” wenigstens ein bisschen unterhaltsamer zu machen, schaltete ich den Fernseher ein. Es lief nur dummerweise nichts interessantes. In den Nachrichten wurde der Fall Reynolds mit keinem Wort erwähnt. Offensichtlich hatten sie die Sache bereits am Wochenende komplett durchgekaut. Ich beendete das Mahl, schaltete den Fernseher aus und machte mich schon bereit, schlafen zu gehen, als plötzlich das Telefon klingelte.
Ich seufzte. Montague. Natürlich. Wer sonst könnte einen eher flüchtig bekannten Menschen um halb eins in der Nacht anrufen?
Wir hatten uns noch bis spät in den Abend darüber unterhalten, was uns Arnold erzählt hatte und was wir jetzt unternehmen sollten. Schließlich schaffte ich es nach hause. Aber jetzt schien Montague noch nicht genug zu haben. Ich seufzte erneut und griff zum Hörer:
- “Hallo? Sprechen Sie!”
- “Hallo? Hören Sie mich?” Die Stimme am anderen Ende klang heiser. Das war definitiv nicht Montague. Trotzdem kam mir die Stimme bekannt vor. Es war die Stimme eines junges Mannes. Ich rief in den Hörer:
- “Wer spricht da?”
Am anderen Ende knisterte es kurz, dann redete der Mann weiter. Seine Stimme war diesmal so leise, dass ich riesige Mühe hatte, etwas zu verstehen.
- “Ihre Firma hat mir die Nummer gegeben. Leider habe ich Dr. Montague nicht ausfindig machen können. Ich bin es, Simmons, der Portier aus dem “Hill Fort”, wissen Sie noch?”
Natürlich wusste ich.
- “Simmons! Sagen Sie mal, was fällt Ihnen eigentlich ein, mich um diese Zeit anzurufen! Haben Sie eigentlich auf die Uhr geschaut!?”
- “Es tut mir wirklich leid, aber es ist sehr wichtig.” Simmons flüsterte fast schon. “Inspektor Whittaker hat mir gesagt, dass Sie und der Doktor der Polizei bei diesem Fall helfen. Stimmt das?”
- “Ja. Wieso fragen Sie?”
- “Es gibt etwas, was mir keine Ruhe gibt. Einige Details, die ich absichtlich verschwiegen habe. Aber sie sind wahrscheinlich sehr wichtig für die Ermittlungen.”
- “Und warum zum Teufel haben Sie der Polizei nicht gesagt?” Ich verlor endgültig die Selbstbeherrschung. Der Tag war eben sehr kräfteraubend gewesen. “Warum sagen Sie das jetzt mir, mitten in der Nacht?”
- “Ich habe geschwiegen, weil diese Informationen ein ganz neues Licht auf die Sache werfen würden! Dann wäre ich der Hauptverdächtige Nummer eins und Inspektor Whittaker hätte mich ins Gefängnis gesteckt!” Die Stimme des Mannes am Telefon zitterte. “Ich weiß, dass nur Sie und Dr. Montague mir glauben werden. Die Polizei wird das nicht. Sie haben keinen Grund dazu, denn für sie wäre der Fall mit diesen Informationen erledigt und das wäre ja zuallererst in deren Interesse. Wer dafür am Ende büßen muss, ist ihnen egal. Mir aber nicht. Ich bin schließlich derjenige, der darunter leiden muss!”
- “In Ordnung, dann sagen Sie, was Sie wissen und wir versuchen, Ihnen zu helfen.” wagte ich den Versuch, Simmons die Details zu entlocken.
- “Das kann ich nicht am Telefon sagen. Sie müssen zusammen mit dem Doktor in das Hotel kommen. Es gibt einige Dinge, die ich Ihnen zeigen muss.”
- “Gut. Ich sage ihm bescheid und wir kommen morgen im Laufe des Tages vorbei.”
- “Vielen Dank. Ich wüsste sonst nicht an wen ich mich wenden sollte.”
- “Schon gut, Simmons. Wissen Sie was? Es waren zuletzt anstrengende Tage für uns alle. Ich denke, das beste wäre jetzt, ein wenig zu schlafen, finden Sie nicht?”
- “Ja, Sie haben recht. Danke nochmals. Ich werde dann morgen auf Sie beide warten. Auf Wiedersehen.”
- “Auf Wiedersehen” sagte ich und legte den Hörer auf. Schließlich blickte ich auf das Telefon und dachte mir, dass ich Montague auch morgen früh anrufen könnte. Er war wahrscheinlich auch schon längst am Schlafen. Und ich war unglaublich müde und wollte nur noch ins Bett.
Umso seltsamer war die Tatsache, dass ich mich trotzdem bis in die Morgenstunden im Bett wälzte und nicht einschlafen konnte. Mich quälte nur ein Gedanke: Was hatte Simmons für derart schockierende Informationen, die das Ganze komplett umkrempeln und ihn sogar gleich ins Gefängnis bringen würden?
 
 
 
 
14. Der nette Portier
 
 
Am nächsten Morgen setzten wir uns in Montagues Auto und fuhren in die Richtung des “Hill Fort”. Montague war gut gelaunt und hatte offensichtlich ziemlich gut geschlafen. Zudem hat ihn Simmons´ Anruf eher erheitert. Wir stellten also ziemlich genau zwei komplette Gegensätze an diesem kalten Dienstagmorgen. Denn ich war wegen dieses Anrufes unausgeschlafen und stocksauer. Der leicht rieselnde Schnee machte mich auch nicht glücklicher. Zu sehr wurde ich dabei an meine schicksalhafte Fahrt vom letzten Freitag erinnert. Nach etwa einer halben Stunde Fahrt hielt ich es nicht mehr aus:
- “Warum freuen Sie sich so? Ich habe keine Ahnung, was Simmons uns zu sagen hat, aber ich habe das Gefühl, dass es nichts gutes ist. Wir geraten immer mehr in diese Sache hinein, sehen Sie das nicht?”
- “Und ob ich das sehe. Umso besser. Wir wollten diesen Fall doch gemeinsam lösen, richtig? Und ich habe auch einen guten Grund zur Freude: Ich habe durchaus eine Ahnung, was unser junger Freund uns verraten will. Und das bringt die Sache ein gutes Stück nach vorne.”
Ich wusste nicht, was ich da noch sagen sollte. Aber schließlich war ich zu müde, um zu streiten. Also winkte ich einfach ab und versuchte bis zur Ankunft ein wenig zu schlafen.
Ich wachte auf, als der Wagen anhielt. Ich schüttelte kurz den Kopf und blickte mich um. Montague blickte aus dem Fenster des Autos. Ich folgte seinem Blick und sah diesen Geräteschuppen, auf den ich schon bei meiner Fahrt hierher gestoßen war. Nichts schien sich verändert zu haben; lediglich der Wagen, den ich damals gesehen hatte, war verschwunden.
- “Das ist nicht das Hotel”, sagte ich zu Montague.
- “Ich weiß.” antwortete der Arzt. “Aber was ist das für ein Gebäude?”
- “Keine Ahnung. So ein Schuppen für Geräte und sonstiges Zeug.”
- “Hm. Interessant. Ob es zum Hotel gehört?”
Mich interessierte das ziemlich wenig. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Montague hatte endlich ein Einsehen und drückte auf das Gaspedal.
Kurze Zeit später erschien logischerweise das Hotel “Hill Fort” am Horizont.
 
- “Na Simmons, wie geht es Ihnen so?”, fragte Montague, als er sich in einen der bequemen Sessel fallen ließ.
Die Frage war eindeutig überflüssig. Jeder Blinde konnte sehen, dass es dem Portier miserabel ging. Seine Hände zitterten, unter seinen Augen waren Augenringe, so groß, als ob er seit unserer Abfahrt nicht eine Sekunde geschlafen hätte. Überhaupt machte Simmons einen übermüdeten Eindruck. Und so wirkten auch seine Worte:
- “Es ist nett von Ihnen, dass Sie sich die Mühe machen, herzukommen. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll.”
- “Wie wäre es damit?: Sie erzählen uns alles, was Sie uns zuvor verschwiegen haben und dann sehen wir weiter.” giftete ich.
Simmons sah mich mit einem verstohlenen Blick an und ich fühlte mich sofort unbehaglich und beschämt, als hätte ich einen Welpen getreten. Den Spruch hätte ich mir besser verkneifen sollen.
- “Ich denke, wir können hier Zeit sparen” mischte sich Montague ein. “Was Sie alles wissen, weiß ich mittlerweile auch.”
Simmons starrte ihn an.
- “Aber woher?”
- “Unwichtig. Wenn Sie mir nicht glauben, bitte: Als Sie Stanley das Zimmer öffneten, wussten Sie bereits, dass Mr. Reynolds tot war. Und Sie wussten auch, woran er gestorben war. Deswegen warfen Sie die Ampullen weg, richtig?”
Simmons war völlig perplex. Mit offenem Mund starrte er Montague an und brachte keinen Laut heraus. Es war offensichtlich, dass der Arzt mit seiner neuesten Vermutung ins Schwarze getroffen hatte.
- “Verflucht noch mal, wollten Sie mir den Mord in die Schuhe schieben!? Warum!?”
Ich war kurz davor, Simmons zu packen und die ganze Wahrheit aus ihm herauszuprügeln.
- “Das ist ein Irrtum! Ich wollte Ihnen gar nichts in die Schuhe schieben!” Der Portier versuchte sich zu verteidigen. Und bekam Unterstützung:
- “Setzten Sie sich, Stanley.”, befahl Montague. “Die Ampullen sind dort gelandet, wo sie waren, noch bevor Sie mit dem Auto anfuhren. Niemand wollte Sie als Mörder hinstellen. Sie haben einfach nur unglücklich geparkt.”
- “Wollen Sie etwa sagen, das war reiner Zufall? Die Dinger wurden einfach auf gut Glück weggeworfen und ich bin genau über ihnen zum stehen gekommen?”
- “Ganz genau.”
Ich konnte es nicht fassen. Da tat sich ein Schatten auf, jemand, der mir einen Mord anhängen wollte, und am Ende war alles nur Zufall? Blöder ging es wirklich nicht.
- “Es tut mir wirklich leid, dass es so gekommen ist”, jammerte Simmons. “Ich stand wirklich stark unter Druck und wusste nicht, was zu tun...”
- “Erzählen Sie doch alles von Anfang an”, schlug Montague vor.
- “Also gut. Wie Sie wahrscheinlich wissen, kam um etwa zwölf Mike vorbei, um die Leitungen zu checken. Ich ließ ihn machen und versuchte währenddessen Mr. Chapman zu beruhigen. Wissen Sie, er war sehr aufgeregt, dass er nicht mit seinem Sohn telefonieren konnte. Ich begleitete ihn zurück auf sein Zimmer...”
- “Welches Zimmer?”
- “Zimmer 22, glaube ich. In der Nähe zum Zimmer von Mr. Reynolds. Genau deswegen musste ich auf dem Rückweg an diesem Zimmer vorbei. Und da bemerkte ich, dass etwas unter der Tür von Zimmer 25 war. Anfangs hielt ich es für ein Stück Papier. Ich hob es auf und klopfte an die Tür. Wie Sie sich denken können, öffnete mir niemand. Ich holte also den Ersatzschlüssel und ging hinein. Ich bemerkte sofort den Körper auf dem Bett und mir schwante nichts gutes. Als ich näher kam, begriff ich, dass der Mann tot war. Dann sah ich die Ampullen auf dem Tisch. Sie müssen wissen, meine Eltern sind beide Ärzte. Obwohl ich letztendlich nicht in ihre Fußstapfen getreten bin, kenne ich mich mit Medikamenten aus. Ich wusste sofort, was das für eine Arznei war und dass Mr. Reynolds niemals gleich zwei Ampullen zu sich nehmen würde. Ich denke, der Doktor weiß, warum Patienten, die dieses Medikament verschrieben bekommen, gewarnt sind.”
Montague nickte und Simmons fuhr fort.
- “Natürlich könnte man eine Ausnahme annehmen, aber nach dem was ich von Inspektor Whittaker über ihn gehört hatte, erschien Mr. Reynolds wie ein intelligenter Mensch. Und diese Ampullen waren nicht das einzige, was mir Sorgen bereitete. Als ich mich im Zimmer umsah, bemerkte ich Spuren von Wasser auf dem Boden.”
- “Und das heißt, es ist jemand hereingekommen, der Schnee an seinen oder ihren Schuhen hatte. Dieser Schnee schmolz und hinterließ diese Spuren.”, sagte Montague.
- “Es könnten Spuren von Reynolds gewesen sein”, entgegnete ich.
- “Nein. Seine Spuren wären zu dem Zeitpunkt schon getrocknet. Er kam ja früh am Morgen und ging nicht mehr aus seinem Zimmer heraus. Also haben wir die Bestätigung, dass jemand ca. um zwölf bei ihm war und dass Reynolds um diese Zeit gestorben ist. Was ist danach passiert, Simmons?”
- “Ich habe Panik bekommen. Ich habe gedacht, man würde mich deswegen beschuldigen. Also habe ich alles mit meinem Taschentuch abgewischt, was ich angefasst hatte, nahm die Ampullen und ging nach unten, nachdem ich das Zimmer abgesperrt hatte. Dort war ich gerade am Überlegen, wo ich die Ampullen hin tun sollte, da hörte ich Mike hereinkommen. Vor Schreck reagierte ich spontan und warf die Dinger ganz weit aus dem Fenster.”
- “Woher kam Mike Ferrara?”, fragte Montague.
- “Wenn Sie mich fragen, weiß ich das gar nicht so genau. Aber ich hörte seine Stimme hinter mir, also müsste er irgendwo aus dem hinteren Teil des Hotels gekommen sein.”
- “Eventuell also auch von den oberen Stockwerken?”
- “Ich... weiß nicht. Vielleicht.”
Montague nickte erneut.
- “Ich denke jedenfalls, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen. Genau wie Stanley fehlt Ihnen ein klares Motiv. Sie haben sich zwar nicht allzu klug verhalten, aber ich denke, die Polizei wird Verständnis dafür haben. Es dürfte somit also alles in Ordnung sein.”
- “Ist es aber eben nicht!”, schrie Simmons plötzlich. Mir war schleierhaft, warum er sich immer noch so aufgebracht verhielt. Doch plötzlich kam die Rückblende: Wir sitzen in Arnolds Büro und lesen das Testament durch. Unter den begünstigten Personen steht aufgeführt: “...meinem Leibarzt, Mrs. Adele Simmons hinterlasse ich für treue Dienste die Summe von 5.000 Pfund...”
Montague blickte immer noch verwirrt drein, während Simmons mich ansah und fragte:
- “Sein Anwalt hat Ihnen wohl schon das Testament gezeigt, oder?”
Ich nickte und erklärte dem verdutzten Montague, was wir dachten.
- “Ich verstehe. Damit sieht die Sache ein bisschen weniger erfreulich aus. Sagen Sie, woher wissen Sie überhaupt vom Inhalt des Testaments? Es wurde doch noch gar nicht verlesen.”
- “Gleich nachdem sie von Mr. Reynolds´ Tod erfahren hat, rief meine Mutter Mr. Arnold an und fragte, was es genau mit seinem Tod auf sich hatte. Er entgegnete ihr, dass Reynolds ihnen beiden größere Summen Geld hinterlassen hatte; also sollte man derartige Fragen lieber nicht stellen. Aber klar ist jetzt: Ich hatte nicht nur eine Gelegenheit, sondern auch ein Motiv. Meine Mutter würde nach seinem Tod eine schöne Summe Geld erben.”
- “Es ist schon dämlich, dass er ausgerechnet in ein Hotel kommt, wo der Sohn seiner Ärztin als Portier arbeitet und dann auch noch stirbt.” meinte Montague. “Aber das ist nun mal ein unglücklicher Zufall. Warum sollte die Polizei Sie deswegen gleich festnehmen? Zumal Sie ja vorher nichts von dem Geld, das Ihre Mutter bekommt, wussten.”
- “Meinen Sie ernsthaft, die interessiert das!? Ich hatte ein Motiv. Ich hatte die Gelegenheit. Und ich habe kein Alibi. Das reicht ihnen, um mich einzusperren.” Simmons brach fast schon in Tränen aus. “Dabei sollte ich eigentlich an dem Tag frei haben. Nur weil sich alle krankgemeldet haben, musste ich am Ende meinen Hals herhalten! Und jetzt muss ich hinter Gitter! Wissen Sie eigentlich, wie sehr ich die Schnauze voll davon habe!? Dauernd spiele ich hier den netten Portier, der immer hilfsbereit ist und sich nie beklagt. Aber wenn irgendwas schief läuft, bin immer ich schuld! Von einer kaputten Telefonleitung bis zur Verantwortung für einen Mord. Immer bin ich es, der leiden muss! Das ist nicht fair!”
Die Kräfte verließen ihn. Er sank in den Stuhl und schlug die Hände vor das Gesicht.
- “Beruhigen Sie sich.” Montague wurde sichtlich sauer. “Wir sind an der Sache dran und um voranzukommen, brauchen wir volle und unverfälschte Informationen. Wir werden alles tun, um diese Angelegenheit aufzuklären. Wenn Sie Inspektor Whittaker und der Polizei nichts sagen wollen: bitte schön, ich habe kein Problem damit, denn ich glaube Ihnen. Sie müssen mir nur noch eines sagen, und zwar ganz ehrlich: Haben Sie irgendetwas mit dem Mord zu tun oder wissen Sie, wer seine Finger im Spiel hatte?”
Simmons runzelte die Stirn und überlegte einige Sekunden.
- “Nein”, sagte er schließlich mit fester Stimme. “Ich habe ihm nichts angetan. Genauso wenig meine Mutter. Und wir haben niemandem dabei geholfen oder beobachtet. Wer ihn umgebracht hat? Das weiß ich nicht.”
 
 
 
15. Wiedersehen mit Inspektor Whittaker.
 
 
 
Als wir die Polizeistation betraten, war es schon dunkel. Nach etwa einer halben Stunde Herumschleichen in den Gängen fanden wir endlich den, den wir suchten.
- “Hallo, die Herren.” Whittaker schien ziemlich überrascht zu sein, uns zu sehen. “Sie haben es wohl nicht allzu lange in London ausgehalten. Was führt Sie ausgerechnet zu mir?”
- “Nichts besonderes”, sagte Montague. “Wir wollten uns nur erkundigen, ob es irgendwelche Fortschritte gibt.”
Der Inspektor seufzte.
- “Kaum. Der Täter hat keinerlei Spuren hinterlassen, die auf seine Identität hindeuten könnten. Alles was wir haben, ist nach wie vor der recht genaue Todeszeitpunkt. Und natürlich einige Verdächtige.”
- “Zum Beispiel?”
- “Na zum Beispiel dieser Mechaniker, oder Elektriker, oder was er auch immer ist, dieser Ferrara. Oder auch dieser nette Mr. Chapman. Oder auch die charmante junge Dame. Zu guter letzt haben wir noch Simmons und diesen freundlichen Buchautor. Aber all das ist nicht ernst zu nehmen, wenn keiner von denen ein klares Motiv hat.”
- “Wir haben gemeinsam mit Inspektor Fowler etwas interessantes herausgefunden. Wussten Sie, dass Alexandra Bailey Reynolds´ Tochter ist?”
- “Wie bitte!? Das wäre mir nie in den Kopf gekommen. Haben Sie das Mädchen schon gefragt, warum es das verschwiegen hat?”
- “Noch nicht. Inspektor Fowler hebt sich das für den ganz besonderen Moment auf. Sie ist sozusagen seine Hauptverdächtige Nummer eins. Aber da wäre noch ihre Mutter.”
Montague unterließ es, zu verdeutlichen, wer noch alles laut Testament von Reynolds´ Tod profitieren würde.
- “Da muss ich Sie enttäuschen. Ein gemeinsamer Freund von Fowler und mir hat mir das geschickt.” Whittaker holte ein Blatt Papier aus der Schublade seines Schreibtisches heraus. “Hier haben Sie es schriftlich. Fast ein Dutzend Leute bestätigen, Mrs. Jessica Reynolds bei der von ihr angegebenen Party durchgehend gesehen zu haben. Laut den Aussagen war sie fast immer irgendwo mitten im Gespräch. Der größte Zeitraum, wo sie nicht gesehen wurde belief sich auf etwa eine Stunde. Wir haben ihre Möglichkeiten überprüft. Selbst bei den besten Bedingungen hätte sie schon für die Hinfahrt zum “Hill Fort” fast eine Stunde gebraucht. Das heißt, wir können sie wohl ausschließen.”
- “Immerhin. Eine Verdächtige weniger.”
- “Sie sagen es. Ich werde mich bemühen, irgendwelche Motive für die anderen Beteiligten auszugraben, während Sie und Fowler sich um Reynolds´ Tochter kümmern können.”
- “Gut. Vielen Dank, Herr Inspektor.”
- “Ach, lassen Sie es gut sein. Hauptsache, wir kriegen ihn.”
- “Oder sie.”
- “Oder sie, genau.” Whittaker lachte herzlich. Mir war eher nicht nach lachen zumute. Alexandra Bailey erschien mir mehr als eine leichtsinnige und etwas sture Person. Viel weniger als eine sorgfältig planende und kaltblütige Mörderin. Natürlich war da noch Simmons. Aber auch die Variante wollte mir einfach nicht in den Kopf. Doch letztendlich waren diese beiden die einzigen, die zumindest ein klares Motiv hatten, da Reynolds´ Frau nun mit Sicherheit als Verdächtige ausgeschlossen werden konnte. Wer käme sonst noch in Frage? Wohl niemand.
 
 
Es sei denn...
 
 
 
... Der Anruf erreichte mich am nächsten Tag. Ich sprang auf und sah auf die Uhr. Es war 6 Uhr morgens. Zuerst dachte ich, Simmons würde erneut durchdrehen, aber als ich den Hörer in die Hand nahm, hörte ich Montagues aufgeregte Stimme:
- “Stanley, stehen Sie auf. Ich hole Sie in einer halben Stunde ab. Inspektor Whittaker hat sein Versprechen gehalten und offensichtlich ganze Arbeit geleistet.”
- “Was ist geschehen? Hat er etwas herausgefunden?” meine Schläfrigkeit war wie weggeblasen.
- “Offensichtlich schon. Ich wurde auch gerade eben von einem seiner Kollegen angerufen.”
- “Was ist denn jetzt passiert, verdammt noch mal!?”
Im Telefon knackte es, dann hörte ich Montague sagen:
- “Mike Ferrara wurde vor einer Stunde festgenommen.”
 
 
 
16. Die Verhaftung
 
 
 
Es war kurz vor sieben, als wir die Polizeistation stürmten. Diesmal fanden wir Whittaker schnell. Er saß in seinem Büro und wirkte zufriedener, als ich ihn je zuvor gesehen hatte. Als er uns sah, wurde sein Grinsen noch breiter:
- “Ah, willkommen! Jones hat Sie schon benachrichtigt, wie? Ich hätte nie gedacht, dass es so schnell geht. Aber wir haben ein bisschen herumgegraben und...”
- “Was haben Sie denn nun gegen den Jungen in der Hand?” fragte Montague, als wir Platz nahmen.
Whittaker warf uns einen Zeitungsausschnitt zu. Wir blickten zunächst auf die fette Überschrift: “Gehaltsausgleich auf die besondere Art - Entlassung und Gefängnis als Folge”. Dann fingen wir an, den Artikel zu lesen:
“ Skandal in der Hypertech Corp. - an diesem Freitag gab die Firma durch ihren Sprecher Gordon Black an, dass der Leiter der Abteilung Buchhaltung, James Ferrara, wegen Unterschlagens finanzieller Gewinne des Unternehmens fristlos gefeuert worden ist. Der Betroffene erklärte seinerseits, er habe nur das Geld zurückgeholt, das ihm unrechtmäßig genommen wurde. Tatsächlich wurde Ferrara, wie auch einigen anderen Mitarbeitern, das Gehalt ohne klare Angabe von Gründen stark gekürzt. Die eingereichte Klage Ferraras blieb wirkungslos. Kurioserweise behielt er nur einen kleineren Teil der Gewinne für sich, der auch noch exakt der Summe entsprach, die ihm durch die Gehaltskürzung verloren ging. Nichtsdestotrotz wurde Ferrara natürlich nicht nur entlassen, sondern auch verhaftet. Das Verfahren zieht sich noch hin, aber Experten rechnen mit einer Bestrafung zwischen drei und fünf Jahren Freiheitsstrafe, die vermutlich zur Bewährung ausgesetzt wird. Grund dafür seien die doch verhältnismäßig kleine Summe, um die es in dem Fall geht, sowie die Tatsache, dass sein Mandant Reue zeige, teilte sein Anwalt der Presse mit. Das Unternehmen...”
- “Sie brauchen nicht weiterzulesen.” Whittaker beugte sich vor. “Wir haben uns ein wenig mit Reynolds´ Arbeitsstelle befasst, mit dem Gedanken, dass vielleicht dort der Grund für den Mord zu finden ist: Und siehe da: Wir haben ihn gefunden! Und zwar schneller als gedacht.”
- “Ich verstehe ehrlich gesagt gar nichts.” Ich rieb mir die Augen. “Ich denke mal, dieser James Ferrara ist Mike Ferraras Vater, richtig?”
Whittaker nickte.
- “Es ist eine unschöne Geschichte, aber was hat Reynolds damit zu tun? Außer, dass er in derselben Firma arbeitete?”
- “Oh, er arbeitete nicht nur in derselben Firma, sondern sogar in derselben Abteilung. Sein Tisch war quasi gegenüber dem von Ferrara. Denken Sie wirklich, die Angelegenheit kam einfach so heraus? Solche Sachen haben immer einen Maulwurf. Und wer war das hier?”
Die Antwort war leicht zu finden.
- “Reynolds.” sagten Montague und ich gleichzeitig. Der Inspektor nickte abermals.
- “Ganz genau. Er sagte der Presse, er würde es keineswegs bereuen, dass er Ferrara der Polizei ausgeliefert hat. Ihm gehe es darum, die Interessen der Firma zu schützen. Übrigens: im Gegensatz zum Großteil der Mitarbeiter der Abteilung wurde sein Gehalt nicht gekürzt.”
- “Mich wundert etwas anderes.” Montague sah wirklich sehr nachdenklich aus. “Reynolds und Ferrara arbeiteten in der gleichen Abteilung. Grundsätzlich war Reynolds Ferrara sogar unterworfen. Dennoch musste sich Ferrara sein Geld nicht nur hart verdienen, sondern später einklagen und sogar stehlen. Auf der anderen Seite haben wir Reynolds, der in einem schönen Haus wohnt und dessen Frau sich ein Leben voller Partys und Freizeit gestattet. Die Frage ist: Woher kommt so ein gravierender Unterschied?”
Whittaker nickte womöglich zum hundertsten Mal.
- “Gut, Doktor. Sehr gut. Ich erkläre gerne, wie es dazu gekommen ist. Laut Firmenangaben erhielt Reynolds mehrfach Prämien und Zuschüsse von der Firmenleitung. Er galt als ein sehr fleißiger Angestellter. Aber die Summen, die er erhielt, waren selbst für den fleißigsten Mitarbeiter zu groß. Allerdings haben wir etwas interessantes herausgefunden: In den letzten Jahren hatten mehrere Mitarbeiter versucht, Firmengelder zu unterschlagen. Und bei allen flog es auf. Ferrara war also kein Einzelfall. Und damit erledigt sich eigentlich schon die Frage, wofür Reynolds immer so viel Geld bekam.”
Bei mir schlug der Gedankenblitz ein.
- “Er wurde von der Firmenleitung dafür engagiert, seine Kollegen zu beobachten und sofort zu melden, wenn jemand den Versuch machen würde, sich am Geld des Unternehmens illegal zu bereichen!” schrie ich. “Er war so eine Art bezahlte Petze.”
- “Bravo!” Whittaker beklatschte meine Antwort frenetisch. “Voll ins Schwarze getroffen. Wir gehen stark davon aus, dass die Firmenchefs Reynolds den Befehl gaben, ein Auge auf die Kollegen zu werfen und bei eventuellen Veruntreuungen sofort Bericht zu erstatten. Natürlich wurde er entsprechend dafür bezahlt und gefördert. Seine Worte, dass er die Interessen der Firma schützen wollte, waren letztendlich gar nicht weit von der Wahrheit entfernt, wenn auch in einem etwas anderem Sinne, als es nach außen dargestellt wurde. Ob das nun moralisch vertretbar ist oder nicht, damit können wir uns in unserer Freizeit befassen. Jetzt müssen wir erst einmal feststellen, dass Mike Ferrara durchaus ein Motiv für diese Tat hatte. Dazu wissen wir, dass er sich im Hotel frei herumbewegen konnte und an diesem Tag auch genau um die Todeszeit im “Hill Fort” angekommen ist. Womöglich sogar mit dem geplanten Ziel, Reynolds zu töten. Für eine Festnahme hat das jedenfalls gereicht.”
- “Wann fängt die Vernehmung an?” fragte Montague.
- “Wir wollten nicht ohne Sie anfangen.” Whittaker lächelte. “Da Sie aber nun hier sind, können wir loslegen. Folgen Sie mir.”
 
Beim Vernehmungsraum angekommen hielt uns Whittaker mit einer Geste auf.
- “Ich werde mich unter vier Augen mit ihm unterhalten. Vielleicht ist er dadurch ein bisschen offener. Sie werden alles sehen und hören können, keine Sorge.”
Wir nickten und der Polizeiinspektor ging hinein.
- “Guten Morgen.” begrüßte er sein Gegenüber. Ferrara antwortete nicht. Wir konnten sein Gesicht sehen, das so verändert war, seitdem wir ihn das letzte Mal gesehen hatten. Nun war es düster und entschlossen. Offensichtlich hatte er nicht vor, zu reden.
- “Sie wissen, weswegen Sie hier sind, oder?” fragte Whittaker.
Ferrara schaute den Inspektor angefressen an und machte endlich den Mund auf:
- “Ich soll diesen Typen im Hotel umgebracht haben, dabei habe ich nichts damit zu tun.”
- “Eine schlechte Idee, der Polizei Tatsachen zu verheimlichen. Wir wissen inzwischen, dass Sie das obere Stockwerk betreten haben. Wir wissen auch, dass Sie mehr als genug Zeit hatten, sich im Hotel herum zu bewegen. Sie hätten locker die Telefonleitung außer Betrieb setzten können, um sich eine Ausrede zu verschaffen, warum Sie dort waren. Und schließlich... Wir wissen mittlerweile auch, dass Sie ein durchaus triftiges Motiv haben. Ihr Vater spielt da eine große Rolle.”
Ferrara zuckte zusammen. Dann hob er den Kopf.
- “Ist das alles?”
- “Ja. Wenn Ihnen das zu wenig ist, seien Sie beruhigt: Es reicht allemal, um Sie einzusperren. Wenn Sie unschuldig sind, sollten Sie mit Erklärungen anfangen.”
- “Erklärungen? Bitte! Ich habe die Telefonleitung nicht außer Betrieb gesetzt. Ich bin nur gekommen, weil Pete Simmons mich angerufen hat. Ich habe mich wirklich im oberen Stockwerk aufgehalten, ich habe die anderen Telefone überprüft. Und was meinen Vater betrifft... Ich wusste alle Details von der Geschichte. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass diese Ratte in einem der Zimmer war. Sonst...”
- “Sonst was?” fragte Whittaker.
- “Sonst hätte ich mir den Typen zur Brust genommen und ihm ein paar Hiebe verpasst, wie er sie in seinem ganzen Leben noch nicht erlebt hatte! Dann hätte ich ein ernstes Gespräch mit ihm geführt. Das hätte ihm ein für alle mal den Verrat an anderen Menschen abgewöhnt. Das Ganze hätte man auch intern regeln können! Mein Vater hat sich nur das zurückgeholt, was ihm zu Unrecht genommen wurde!” Ferrara stoppte seine Tirade, um Luft zu holen. Offensichtlich hatte er keine Ahnung, dass Reynolds gerade für solchen Verrat angeheuert worden war.
- “Andere Menschen zu verraten, das wird Reynolds nie wieder machen können.” bemerkte der Inspektor. “Dank Ihnen.”
- “Ich habe ihn nicht umgebracht!” schrie Ferrara. “Und ohne meinen Anwalt sage ich gar nichts mehr!”
Whittaker schielte in unsere Richtung. Es war klar, dass es an der Zeit war, dieses fruchtlose Gespräch zu beenden.
 
- “Seine Chancen stehen nicht sehr gut”. Whittaker schenkte uns allen Tee ein. “Er gab zu, sich im oberen Stockwerk aufgehalten zu haben und zeigte deutlich, was für eine Abneigung er gegenüber Reynolds hegt. Seine Worte, er habe nichts mit der kaputten Leitung zu tun und habe nicht gewusst, dass Reynolds sich im Hotel befindet sind vermutlich einfach Lügen.”
- “Woher wollen Sie das wissen? Er wurde schließlich angerufen, weil die Leitung nicht funktionierte. Sie haben doch Chapmans Aussage, oder?”
- “Schon. Aber wir haben mittlerweile neue Informationen. Unser Kollege Fowler hat gestern die reizende Mrs. Bailey befragt. Sie wissen schon, die jüngere. Sie stand auch eine Weile unter Verdacht, aber das ist nicht mehr aktuell.”
- “Wieso das?”
- “Sie gab an, um etwa 12:30 Uhr mit dem Hotel telefoniert zu haben, um ein Zimmer zu reservieren.”
Daran erinnerten wir uns. Bei ihrer Ankunft sagte sie, sie hätte reserviert.
Wir haben festgestellt, dass der Anruf vom Festnetz kam und zwar aus ihrem Haus in London. Reynolds wurde zwischen 12 Uhr und 12:15 Uhr getötet. Selbst wenn sie ihn punktgenau um zwölf getötet hat, hätte sie es höchstens mit einem Privatjet rechtzeitig nach London geschafft. Die Variante mit den Familienmitgliedern als Mördern fällt somit flach.”
- “Gut, das spricht sie frei, aber inwiefern belastet das Mike Ferrara?”
- “Sie sagte, sie hätte schon um kurz vor zwölf mit dem Hotel telefoniert, aber niemand sei rangegangen, obwohl die Freizeichen ganz normal kamen. Da sie unschuldig ist, hat sie eigentlich keinen Grund zum Lügen. Nehmen wir also an, sie sagt die Wahrheit. Simmons ging zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich gerade nach draußen, um Ferrara zu empfangen. Was haben wir also als Resultat? Die Verbindung funktionierte um 11:30 Uhr, als Chapman mit seinem Sohn telefonierte, sie funktionierte kurz vor zwölf, als Ferrara gerade ankam und sie funktionierte um 12:30 Uhr, als er eben weggefahren war. Das lässt einen doch staunen. Vermutlich ist Ferrara um halb zwölf heimlich zum Hotel gekommen, fand aber keinen Weg, um unbemerkt an Simmons vorbeizukommen. Dann sah er Chapman telefonieren und ihm kam die Idee. Er lief zum allgemeinen Telefonanschluss und sabotierte ihn. Schließlich wartete er, bis Chapman sich beschwerte und der Anruf von Simmons auf sein Handy ankam. Er versteckte sich eine halbe Stunde und kam dann mit seinem Wagen aus dem Nichts, als hätte er die halbe Stunde für den Weg gebraucht, um keinen Verdacht zu erregen. Kurz zuvor brachte er die Verbindung in Ordnung. Dann befahl er Simmons, dort zu bleiben, wo er war und ging selbst nach oben. Die Zimmernummer dürfte er dem Gästebuch entnommen haben. Er schritt ins Zimmer, hatte eine Auseinandersetzung mit Reynolds und tötete ihn, als er die Gelegenheit dazu sah. Schließlich, als er begriff, was er getan hatte, lief er nach unten, sagte Simmons, die Verbindung sei in Ordnung und fuhr schnellstmöglich weg.”
- “Und warum kam er am Nachmittag noch einmal vorbei?” fragte ich.
- “Er wollte vermutlich Spuren verwischen oder sichergehen, dass niemand die Tat bemerkte. Er konnte ja nicht wissen, dass mit Ihrer Hilfe alles so schnell auffliegen würde. Auf jeden Fall wird er lange Zeit haben, darüber nachzudenken, dass sich Mord nicht lohnt.”
Whittaker schlürfte seinen Tee und sah hochzufrieden aus. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Lediglich Montague sah noch leicht unzufrieden aus.
- “Es ist schon seltsam. Mike Ferrara ist ein sehr emotionaler Typ. Ist es ihm wirklich so leicht gefallen, das alles so sorgfältig zu planen und so kühl auszuführen?”
- “Kommen Sie schon, Doktor, hören Sie auf. Ferrara ist der Mörder, das ist klar. Es tut mir auch leid für ihn und auch für seinen Vater. Sie werden beide verdammt hart für ihre Fehler bestraft. Mir wäre es auch lieber, wenn er unschuldig wäre, aber vieles deutet gegen ihn und er hat kein Alibi. Sonst hatte keiner einen wirklich plausiblen Grund, Reynolds zu töten, außer seinen Familienmitgliedern vielleicht. Und ausgerechnet sie haben wasserdichte Alibis. Sonst hatte er ja keine nahestehenden Leute.”
- “Abwarten”, meinte Montague. “Seinen Bruder haben wir noch nicht gefunden. Genauso wenig, wie Geoffrey Myers. Wir wissen noch nicht, was er mit der Tat zu tun hat. Außerdem findet heute die Verlesung seines Testaments statt. Mal sehen, ob sein Bruder, sein Anwalt oder auch sein Leibarzt aufkreuzen werden. Dann wissen wir weiter.”
Whittaker zuckte nur mit den Schultern. Es war zu sehen, dass er nicht an eine Wendung in diesem Fall glaubte.
 
Bei der Verlesung verlor Montague auf der ganzen Linie. Mrs. Reynolds stellte ihm alle Leute vor. Keiner von ihnen kam als Geoffrey Myers oder Ray Reynolds in Frage. Adele Simmons war vor Ort und verzog keine Miene, als ihr Name bei der Verlesung erwähnt wurde. Montague dagegen, wirkte noch hilfloser. Vor nicht einmal zwei Stunden teilte Inspektor Fowler ihm mit, dass Mrs. Simmons während des Mordes bei einer Ärztekonferenz war und somit ebenfalls als Mörderin entfiel. Die Ermittlungen waren endgültig in der Sackgasse. Es gab keine andere Wahl, als Mike Ferrara als den Mörder anzuerkennen.
 
Die Sonne schien auf die Häuser und Parks Londons. Montague und ich setzten uns auf die Bank und grübelten. Schließlich brach Montague das Schweigen:
- Es ist wohl vorbei. Auch wenn mir diese Art von Finale nicht besonders gefällt, muss man eingestehen, dass Inspektor Whittaker eine logisch nachvollziehbare Theorie aufgebaut hat, während wir keine anderen Verdächtigen ausmachen konnten, die ohne Alibi dastehen würden.”
- “Was machen wir jetzt?”
- “Ich werde nicht aufgeben.” Montague stand auf. “Ich suche weiter nach einem Weg. Was Sie angeht Stanley, es ist wohl das beste, wenn Sie jetzt an Ihren Arbeitsplatz zurückkehren.”
Ich seufzte.
- “Meinetwegen.”
 
 
 
 
 
17. Sie sind freigestellt...
 
 
 
Ich war bis auf das Innerste genervt, dabei schlug die Uhr gerade Mittag. Im Vergleich zu den letzten, zwar nervenaufreibenden, aber letztlich doch immens spannenden Tagen, kam mir nun die Erleuchtung, wie langweilig mein Job doch eigentlich war. Zum Glück war heute Freitag und in einer Stunde würde ich Feierabend haben, bis Montag. Genau, es war Freitag... Genau eine Woche war es her, seit das Telefon geklingelt hatte und Downing mich mitten in dieses Abenteuer geschickt hatte.
Das Telefon klingelte. Ich zuckte zusammen und nahm den Hörer ab.
- “Hallo?”
- “Hey, mein Freund, wie geht es? Fowler am Telefon. Ich dachte, Sie und den Doktor würde es interessieren, dass der junge Peter Simmons eine Kleinigkeit vergessen hat. Er hat mir gesagt, dass es um ein Stück Papier geht, welches er außer Acht gelassen hat. Er meinte, Sie beide würden verstehen worum es geht.”
Ich verstand gar nichts, versicherte aber, dass wir wüssten, was er meinte.
- “Na prima.” freute sich Fowler. “Der Fall ist zwar gelöst, dafür habe ich Joe Whittaker schon meine Dankbarkeit ausgedrückt, aber am besten ist es, wenn man jede Kleinigkeit bearbeitet, oder? Rufen Sie Simmons an, wenn Sie Zeit haben.”
Ich verabschiedete mich und legte den Hörer auf. Was für ein Stück Papier könnte Simmons gemeint haben? Moment! Als er uns im Hotel seine Tragödie schilderte, sagte er, er sei durch ein Stück Papier, das unter der Tür eingeklemmt war, auf Reynolds´ Zimmer aufmerksam geworden und habe so die Leiche entdeckt. Meinte er dieses Stück Papier? Was sollte damit sein? Aber unabhängig davon, Fowler hatte Recht. Der Fall war abgeschlossen und man könnte sich ruhig Zeit nehmen, vorausgesetzt, diese Kleinigkeit war überhaupt noch interessant.

Ich stand auf und blickte auf die Uhr. Es war halb eins. Da es sowieso nichts mehr zu tun gab, konnte ich ja auch anfangen, langsam meine Sachen zu packen. Ich wusste gar nicht, dass ich diese Gelegenheit sehr bald in einem ganz besonderen Maßstab bekommen würde. Als ich an das Fenster herantrat, sah ich Downing das Gebäude verlassen. Er winkte ein Taxi zu sich und fuhr davon. “Leistet sich mal wieder eine kleine Verschnaufpause, wie?” dachte ich hämisch. “Wo ist eigentlich sein schicker Wagen hin? Den habe ich seit letzten Donnerstag nicht gesehen. Obwohl doch, er kam ja am Freitag mit diesem Luxusschlitten zur Arbeit.” Nur, als ich zum “Hill Fort” fuhr, war das Ding schon wieder weg. Außer meinem Wagen waren ja überhaupt keine Autos mehr auf dem Betriebsgelände.
Freitag... “Hill Fort”... Ein Wagen... Mein Wagen... Die Ampullen... Die Telefonleitung... Ein Telefonanruf...
Irgendetwas pochte in meinem Kopf, irgendein Gedanke. Aber dann erlosch es wieder. Ich schüttelte den Kopf und wandte mich wieder meinem Schreibtisch zu. Es klopfte an der Tür. Unsere Sekretärin Lisa kam herein.
- “Oh, Stanley, du bist noch da.” Sie sah nicht besonders fröhlich aus.
- “Eben. Noch. Was gibt es denn?”
Sie murmelte irgendetwas unverständliches und gab mir plötzlich ein Dokument in die Hände.
- “Downing hat gesagt, ich soll dir das hier geben.”
Ich nahm das Dokument und las es mir durch.
- “Mit tiefsten Bedauern... Die Entscheidung getroffen... Zu beurlauben!?”
Ich konnte es nicht fassen. Downing hatte mich gefeuert. Ohne Wenn und Aber. Einfach so. Ich stand da, mit dem Stück Papier in der Hand und wusste nicht, was ich jetzt tun sollte.
- “Er sagte, es müssen Stellen gestrichen werden, weil die Firma gerade Schwierigkeiten hat.”, sagte Lisa. “Weißt du, er hat dich sogar indirekt gelobt, meinte, dass du keine Schwierigkeiten haben würdest, einen neuen Job zu finden. Sogar einen besseren als hier, hat er gemeint.”
- “Wie nett von ihm.”, sagte ich mit leiser Stimme.
Meine Sachen waren binnen einer Minute gepackt, mein Schreibtisch war geräumt und ich machte mich auf dem Weg zum Ausgang.
- “Stanley, es... Es tut mir wirklich leid.”
Ich drehte mich um und sah ihr in das Gesicht.
- “Wirklich? Mir nicht.”
Mit diesen Worten schritt ich davon und verließ das Gelände der Downing & Myers Corporation. Für immer.
 
- “Ich freue mich, dass Sie Zeit gefunden haben, mich zu besuchen.”
Wir saßen in Montagues Wohnzimmer und aßen zu Mittag.
Mir blieb nichts anderes, als zu schmunzeln. Zeit hatte ich jetzt mehr als genug.
- “Gleich nach Ihrem Anruf habe ich Simmons kontaktiert. Die Angelegenheit ist wirklich interessant. Das Stück Papier, das er aufgehoben hat, ist in Wirklichkeit ein Geldschein über 100 Pfund.”
Ich hob die Augenbrauen.
- “100 Pfund? Wer lässt eine derartige Summe Geld einfach liegen?”
- “Ich weiß nicht, wer in Frage käme, aber ich weiß, wen wir ausschließen können. Ich hege begründete Zweifel, dass Mike Ferrara mit solchen Sachen um sich herumschmeißen würde. Und genau das macht mir Hoffnung. Es muss noch jemand anderes dort gewesen sein und den Schein verloren haben.”
- “Simmons könnte ihn absichtlich dorthin gelegt haben und uns davon erzählt haben, um den Verdacht von sich abzulenken.”
Montague schüttelte mit dem Kopf.
- “Nein. Zum Ersten bezweifle ich, dass er solche Geldsummen für einen derartigen Vorfall in der Hosentasche vorrätig hat, zum Zweiten hat er es nicht mehr nötig, uns derartige Lügen aufzutischen, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.. Mike Ferrara sitzt schließlich schon im Gefängnis. Ich glaube, dass er uns wirklich helfen will.”
- “Na gut.” seufzte ich. “Aber wie gehen wir die Sache jetzt an?”
- “Zuallererst könnte ich Ihre Hilfe gebrauchen. Das Wochenende haben Sie ja frei, oder täusche ich mich?”
- “Nicht nur das Wochenende.” korrigierte ich ihn. “Downing hat mich gefeuert.”
- “Wirklich? Das tut mir leid, Stanley. Aber ich bin sicher, Sie finden einen neuen Job. Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen sogar dabei. Ich habe einige Verbindungen hier. Wissen Sie, ich kann mich auch irren, aber ich hatte sowieso nie den Eindruck, dass Sie Ihren Job oder Ihren Boss besonders mochten. Oder irre ich mich da?”
Ich schüttelte mit dem Kopf und lachte.
- “Nein, Doktor. Sie liegen richtig. Wie so oft.”
- “Nennen Sie mich doch Charles. Doktor klingt zu sehr nach einem Arztbesuch.”
- “Das passt. Ich hasse es, zum Arzt zu gehen.”
- “Dann ist es abgemacht. Nun, wo wir beide jede Menge Zeit zur Verfügung haben, können wir ganz methodisch unseren Plan verfolgen.”
- “Sie haben jetzt schon einen Plan!?”
- “Natürlich. Was glauben Sie, womit ich mich die ganze Zeit beschäftigt hatte? Sagen Sie, wissen Sie, bei welcher Bank Ihre Chefs... äh, Entschuldigung, Ex-Chefs, ihr Geld aufbewahren?”
- “Downing hat einst erwähnt, er und Myers würden ihr Geld derselben Bank anvertrauen, mit welcher auch die Firma zusammenarbeitet. Wieso fragen Sie?”
- “Ich habe mich gefragt, ob Mr. Myers in letzter Zeit möglicherweise eine größere Summe Geld von seinem Konto abgehoben hat. Es ist an der Zeit, das zu überprüfen.”
- “Meinen Sie, Myers hat Reynolds für irgendetwas Geld bezahlt? Aber für was?”
- “Das liegt eigentlich auf der Hand. Überlegen Sie, dann kommen Sie auch darauf. Zuerst aber, habe ich einen Auftrag für Sie.”
- “Und zwar?”
- “Seien Sie so nett und rufen Sie Ihren Ex-Chef an. Fragen Sie ihn, ob Mr. Myers jemals den Namen Reynolds oder das Hotel “Hill Fort” erwähnt hat.”
- “Um ehrlich zu sein, ich habe da so meine Zweifel, dass Myers so viel darüber reden würde. Und selbst wenn er Downing irgendwas vom “Hill Fort” erzählt hat; das sagt Downing nichts. Er weiß nicht, wo das Hotel liegt, das hat er mir gesagt.”
- “Rufen Sie ihn trotzdem an, bitte. Schaden kann es ja nicht. Wir müssen alles versuchen.”
Ich zuckte mit den Schultern und fing an, die Nummer zu wählen.
Plötzlich blickte ich mich um und sah, wie Montague völlig erstarrt da stand, vor sich hin schaute und irgendetwas leise murmelte.
- “Ist alles in Ordnung?” fragte ich.
Montague drehte sich um.
- “Ja, mir geht es gut. Sagen Sie, Stanley, als Sie am Tag des Geschehens in Ihr Auto stiegen, haben Sie da einen anderen Wagen bemerkt?”
- “Nein. Um genau zu sein, der Parkplatz war völlig leer.”
- “Und was ist mit dem Parkplatz vom “Hill Fort”? Als Sie ankamen, sahen Sie da irgendein anderes Fahrzeug außer Chapmans Auto?”
- “Nein. Da waren keine anderen Fahrzeuge.”
- “Weder Ferraras Wagen, noch ein anderer?”
- “Gar keiner. Wieso fragen Sie?”
- “Und unterwegs?”
- “Nein. Obwohl... Bei diesem großen Geräteschuppen, wissen Sie noch? Wo Sie angehalten haben. Da stand an dem Tag ein Wagen.”
- “Was für ein Wagen?”
- “Das konnte ich nicht sehen. Er war fast komplett eingeschneit.”
- “Ich verstehe.” Montague nickte zufrieden.
- “Was ist denn los? Haben Sie irgendetwas verstanden?”
Er winkte nur ab und versank ins Grübeln.
Mir blieb nichts anderes übrig, als die Nummer zu ende zu wählen.
Es dauerte kurz, dann hörte ich Downings trockene Stimme am anderen Ende:
- “Ich höre.”
- “Mr. Downing? Hallo, ich bin es.
- “Oh, Stanley. Ich nehme an, Lisa hat Sie schon informiert. Es tut mir wirklich sehr leid, auch die Art, wie das zustande gekommen ist. Die Leute in der Firma sind beunruhigt, unsere Klienten meiden uns und ich habe beide Hände voll zu tun. Ich wollte wirklich nicht, dass es so unpersönlich kommt.”
- “Ach, lassen Sie es gut sein, Mr. Downing. Eigentlich rufe ich an im Namen der Polizei.”
- “Tatsächlich? Wie kann ich denn behilflich sein?”
- “Sagen Sie, hat Mr. Myers in seinen Gesprächen mit Ihnen jemals den Namen von Mr. Reynolds oder das Hotel “Hill Fort” oder sonst irgendetwas in der Art erwähnt?”
- “Er erwähnte mal nebenbei, er hätte einen guten Freund, der Reynolds heißt, glaube ich. Das Hotel hat er nie erwähnt. Ich habe zum ersten Mal davon gehört, als diese grausame Geschichte passiert ist. Ist das alles? Es tut mir leid, wenn ich nicht mehr helfen kann.”
Jemand tippte mich von hinten an die Schulter. Ich drehte mich um und sah Montague.
- “Fragen Sie ihn, ob er Ihnen eine schriftliche Empfehlung ausstellen kann.” flüsterte er mir zu.
Ich nickte und drehte mich wieder zum Telefon.
- “Mr. Downing?”
- “Ja?”
- “Es ist mir sehr unangenehm das zu fragen, aber: könnten Sie mir vielleicht eine Art schriftliche Empfehlung ausstellen? Das würde mir die Suche nach einem neuen Job wirklich enorm erleichtern.”
- “Aber natürlich, Stanley, keine Frage. Das ist doch das mindeste, was ich für Sie tun kann. Ich werde sie in anständiger Form verfassen und Ihnen per Post zuschicken.”
- “Vielen Dank, Mr. Downing.”
- “Stanley?”
- “Ja, bitte?”
- “Hören Sie... Es tut mir wirklich leid. Ich weiß, dass es nicht Ihre Schuld ist. Aber ich musste eine Entscheidung treffen. Ich traf sie zum Wohle der Firma. Mr. Myers ist weiß Gott wohin verschwunden. Ich trage hier ganz alleine die Verantwortung für mehrere hundert Mitarbeiter. Viele von Ihnen haben Familien. Sie alle werden darunter leiden, dass unsere Firma mit dieser Geschichte in Verbindung gebracht wird. Sie sind ein gesunder, verantwortungsbewusster und intelligenter Mann. Bitte versuchen Sie zu verstehen, warum ich Sie vor dieses Problem gestellt habe. Es war keine Entscheidung gegen Sie. Es war eine Entscheidung für das Überleben des Unternehmens. Und dabei geht es bei weitem nicht nur um mich oder meine Launen. Es geht dabei darum, dass ich als Firmenleiter meine Mitarbeiter schützen muss. Können Sie das Verstehen?”
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Schließlich brachte ich endlich die richtigen Worte heraus:
- “Natürlich verstehe ich. Ich hege keine Wut auf Sie, Mr. Downing. Und machen Sie sich keine Sorgen, ich finde einen Job. Das wird schnell gehen.”
- “Danke Stanley. Wenn Sie Schwierigkeiten haben sollten, kommen Sie zu mir. Ich kenne viele Firmenbesitzer, die einige Stellen frei haben.”
- “Ich denke, ich komme klar. Auf Wiedersehen, Mr. Downing.”
- “Auf Wiedersehen. Und nochmals, vielen Dank. Für alles.”
 
Ich legte den Hörer auf und überlegte mir zum ersten Mal in meinem Leben, ob ich mich eventuell in dem Menschen Rupert Downing getäuscht habe. Mir tat es auch leid, dass es so gekommen war. Vielleicht wären wir unter anderen Umständen sogar Freunde geworden.
 
 
18. Der falsche Koffer
 
 
- “Mal ehrlich, Montague, warum brauche ich eine schriftliche Empfehlung? Glauben Sie ernsthaft, ich finde sonst keine Stelle?”
- “Aber Stanley, ich habe viel mehr Vertrauen in Sie, als Sie sich überhaupt denken können.”
- “Warum brauche ich dann ein Empfehlungsschreiben?”
Darauf antwortete Montague nur mit einem Lächeln. Wir waren am Tag darauf in seinem Auto unterwegs.
- “Wo fahren wir jetzt eigentlich hin?”
- “Zunächst einmal suchen wir Inspektor Fowler auf.”
- “Und dann?”
- “Mit ihm gemeinsam brechen wir auf und besuchen einen Bekannten.”
- “Wen?”
- “Mr. Timothy Chapman.”
 
- “Was wollen Sie eigentlich noch von mir?”
Chapman ließ sich in einen großen Ledersessel fallen. Er wirkte müde.
- “Lediglich ein paar weitere Fragen, Mr. Chapman.”
- “Was für Fragen denn, bitte?”
Fowler blickte Montague fragend an. Offensichtlich wusste hier nur einer, welche Fragen gestellt werden mussten.
- “Genaugenommen habe ich nur eine Frage.” Montague setzte sich genüsslich hin. “Können Sie uns bitte Ihren Koffer zeigen?”
- “Meinen Koffer? Den, mit dem ich gereist bin?”
- “Genau den. Haben Sie ihn schon ausgepackt?”
- “Nein. Ich hasse Auspacken. Wenn Sie ihn unbedingt sehen wollen, er steht da drüben, in der Ecke. Inspizieren Sie ihn gründlich und lassen Sie mich dann ein für alle mal in Ruhe!”
Fowler holte den Koffer her. Es war derselbe, mit dem Chapman aus dem Hotel gestürmt war.
- “Ich bin mir sicher, Sie haben nichts zu verbergen.” Montague kniete neben dem Koffer nieder. Er öffnete ihn und holte Chapmans Sachen heraus. Er schien wenig an ihnen interessiert zu sein. Fowler und mir, jedoch, fiel fast sofort etwas auf:
- “Es sind Frauenkleider!”, sagten wir beide gleichzeitig.
- “Natürlich.” Montague wirkte sehr zufrieden. “Meine Vermutungen haben sich bereits zu einem großen Teil bestätigt.”
- “Was soll das?” Chapman war völlig perplex. “Das sind nicht meine Sachen!”
- “Natürlich nicht. Es ist ja auch nicht Ihr Koffer.”
- “Wie bitte!?”
Vor meinen Augen erschien plötzlich ein Bild: Montague, Simmons und ich stehen vor dem Chaos in der Empfangshalle. Alexandra Bailey redet mit Simmons wegen der Zimmerreservierung und Chapman nimmt letztendlich wutentbrannt seinen Koffer aus den vielen, die am Boden liegen und rennt aus dem Hotel. Mir kam damals noch der schwache Gedanke: “Hoffentlich hat er den richtigen erwischt.” Wenn ich nur gewusst hätte, wie richtig dieser Gedanke war!
- “Ich habe einen Koffer von diesem Mädel mitgenommen?!” Chapman war völlig erledigt. “Das kann doch wohl nicht wahr sein!”
Mir kam erneut ein Gedanke. Der Gedanke daran, wie lange Chapman brauchte, um das Hotel zu verlassen, nachdem er Reynolds´ Leichnam entdeckt hatte. Ich fragte ihn, wie es dazu kam.
- “Ich war schockiert, als ich die Leiche sah. Zunächst dachte ich sogar, ich wäre als nächstes dran. Dann habe ich aber gesunde Zweifel bekommen. Es sah nicht wie ein Mord aus. Aber ich wollte dennoch ganz schnell weg. Als ich die Treppe herunterging und sah, wie der Portier, anstatt die Polizei zu rufen, mit diesem Mann redet, habe ich dann selber versucht, die Polizei zu erreichen, aber die Telefone gingen immer noch nicht richtig. Ich wollte schon gehen, als dieses Mädchen im Hotel auftauchte, mit ihren ganzen Sachen! Und noch diese Verwechslung!” Chapman schnaubte vor Wut.
- “Zurück zum Koffer.” Montague versuchte die Gemüter zu beruhigen.
- “Ja.” Fowler warf ihm einen fragenden Blick zu. “Was interessiert Sie so sehr daran? Doch nicht etwa ihre Klamotten?”
- “Nein.” Montague war endlich damit fertig, den Koffer auszupacken. Er nahm ein Skalpell, das er wohl für diesen Fall mitbrachte, und schnitt den Innenraum des Koffers vorsichtig auf. Schließlich langte er hinein in das entstandene Loch. Und dann nickte er.
- “Da ist wirklich etwas. Moment... Ich hab´ s!”
Er beförderte ein kleines Päckchen ans Licht. Das Päckchen war ungeöffnet und enthielt weißes Pulver, das äußerlich an Mehl oder Puderzucker erinnerte.
- “Es gibt da noch mindestens drei davon.” Montague stand auf. “Inspektor Whittaker hat sicherlich schon deswegen mit Ihnen gesprochen. Das Problem mit den geheimnisvoll auftauchenden und verschwindenden Drogen dürfte weitgehend gelöst sein.”
Fowler schüttelte den Kopf.
- “Ich werde wohl ein ernstes Wörtchen mit der Dame reden müssen.”
 
Wir schritten erneut zum Anwesen der Reynolds. Unmittelbar nach dem Klingeln hörten wir, wie Alexandra Bailey rief: “Einen Moment, bitte!” Wir überlegten uns schon, was wir sagten würden, doch als die Tür geöffnet wurde, hatten wir wieder das Vergnügen, Mrs. Reynolds an der Türschwelle zu sehen. Sie schien sich zu freuen:
- “Oh, alte Bekannte! Marschieren Sie doch herein.”
Wir richteten uns im Gästezimmer ein und Mrs. Reynolds brachte Tee und Gebäck.
- “Ich habe gehört, der Mörder meines Mannes wurde gefasst. Stimmt das?”
- “Teilweise.” antwortete Montague. “Er wird verdächtigt, den Mord begangen zu haben. Aber wir haben einige Informationen gesammelt, die eventuell in eine andere Richtung führen könnten.”
- “Was sind das denn für Informationen?”
- “Wir sind leider nicht befugt, das an Sie preiszugeben.” antwortete Fowler. “Aber wir haben einige andere Nachrichten für Sie. Leider schlechte.”
- “Was sind das denn für Nachrichten?”
- “Haben Sie Ihr Sachen von der Reise am Wochenende schon ausgepackt, Mrs. Bailey?”
- “Ja, das habe ich. Warum interessiert Sie das?” fragte das Mädchen angespannt.
- “Dann sind Ihre Koffer frei zu unserer Verfügung gestellt?”
Alexandra Bailey wurde bleich.
- “Wissen Sie, Mrs. Bailey, wir haben unterschiedlichste Methoden, um Drogen ausfindig zu machen. Außerdem haben wir das hier entdeckt.” Fowler reckte das Päckchen in die Höhe.
- “Wo haben Sie das her!?”
- “Mr. Chapman hat bei seinem Abflug aus dem Hotel versehentlich statt den seinen einen Ihrer Koffer mitgenommen und ihn uns dann freundlicherweise zur Verfügung gestellt.”
- “Dieser elende Fettsack!” Alexandra war den Tränen nahe. “Hat er denn keine Augen im Kopf!?”
- “Was hat meine Tochter wieder getan!?” Mrs. Reynolds verlor die Beherrschung. “Sie ist vom Verdacht des Mordes an meinem Mann freigesprochen worden, oder!?”
- “Mag sein, aber es geht hier nicht darum.” Fowler erklärte ihr den Sachverhalt.
Mrs. Reynolds blickte auf ihre Tochter nieder und seufzte:
- “Das darf doch wohl nicht wahr sein. Mein Kind, was hat dich nur geritten?”
- “Du willst wissen, was mich geritten hat!? Du! Deine Heirat mit diesem Typen, der genau so reich, wie knauserig war, der mir keinen Cent gab und ständig davon laberte, ich müsse erst mal erwachsen werden und lernen, mit Geld umzugehen! Ich habe dann das Angebot bekommen. Es war recht spannend und ich konnte jede Menge Geld verdienen. Also habe ich angenommen. Das Geld dieses Mistkerls konnte mir gestohlen bleiben!”
- “Warum waren Sie dann im Hotel, als er getötet wurde?” fragte Montague.
Sie schüttelte den Kopf.
- “Ich war zu dem Zeitpunkt nicht im Hotel. Sie wissen doch, ich habe ein Alibi.”
- “Nein, Sie haben keins. Sie sind Ihrem Stiefvater an diesem Tag gefolgt. Es war eigentlich wieder eine Ihrer “Touren” geplant, aber unterwegs trafen Sie ihn. Das Hotel “Hill Fort” lag auf dem Weg. Also sind Sie ihm mit Ihrem Wagen schon früh am Morgen hinterhergefahren. Ich weiß nicht, warum Sie ihn verfolgten, aber um ca. 12:15 Uhr gingen Sie in sein Zimmer hinein. Dann verließen Sie es schlagartig, denn Ihr Stiefvater war tot. Sie konnten es sich nicht denken, dass es ein Mord war, aber Sie begriffen, dass Sie als Verdächtige Nummer eins gelten würden, wenn man wüsste, dass Sie am Ort des Geschehens waren. Also beschafften Sie sich ein Alibi.”
- “Und wie soll ich mir ein Alibi beschafft haben? Ich rief an und reservierte um 12:30. Wenn ich um 12:15 Uhr im Hotel war, konnte ich unmöglich von meinem Haus aus telefoniert haben.”
- “Das haben Sie auch nicht. Sondern Ihre Mutter.”
- “Wie bitte!?”
Fowler und ich starrten Montague schockiert an. Der fuhr unentwegt fort:
- “Sie persönlich haben durchaus einen Telefonanruf gemacht und zwar in das Haus, in dem Ihre Mutter zu Gast war. Sie haben ihr am Mobiltelefon die Lage geschildert und sie begriff sofort, was zu tun war. Sie fuhr schnellstens nach hause und rief von dort aus das Hotel an. Dabei imitierte sie natürlich Ihre Stimme, Mrs. Bailey. Diese Idee ist mir gekommen, als wir gerade eben, bevor die Tür geöffnet wurde, dachten, Sie würden sprechen, dabei war es Ihre Mutter, die uns aufmachte. Ich bin mir sicher, zur Not werden wir Leute finden, die gesehen haben, wie Mrs. Reynolds um die besagte Zeit ihr eigenes Haus betreten hat.”
Während Montague anhielt, um Luft zu holen, schauten Fowler und ich einander mit dämlichem Gesichtsausdruck an. Die beiden Frauen wirkten sehr betroffen. Schließlich riss Mrs. Reynolds sich zusammen:
- “Das, was Sie behaupten, ist eine Ungeheuerlichkeit! Ich werde...”
- “Mama, lass es gut sein. Er hat recht. Es tut mir leid, dass ich dich da mit hinein gezogen habe.”
Alexandra Bailey stand gerade da. Sie blickte Montague stur ins Gesicht und sagte:
- “Sie haben in allen Punkten Ihrer Ausführung recht, Doktor. Ich war wirklich im Hotel um diese Zeit. Und ich bin wirklich in seinem Zimmer gewesen, weil ich dachte, dass er in diesem Hotel eine Affäre hat oder irgendwelche kriminellen Machenschaften treibt. Ich brauche wahrscheinlich nicht weiter zu erzählen. Es wird mir sowieso keiner glauben.”
Montague reagierte zunächst gar nicht. Sein angespanntes Gesicht zeigte, dass er am Überlegen war. Schließlich fing er an, zu sprechen:
- “Beantworten Sie mir noch drei Fragen. Haben Sie oder Ihre Mutter um kurz vor Zwölf mit dem Hotel telefoniert?”
- “Nein. Das war gelogen. Ich wusste, dass mein Stiefvater noch nicht sehr lange tot war, also wollte ich mein Alibi ein wenig ausweiten, weil ich nicht wusste, wann der Tod genau eingetreten war.”
- “Gut. Genau diese Antwort hatte ich erwartet. Die zweite Frage: Haben Sie unter der Zimmertür ein Stück Papier bemerkt?”
- “Jetzt, wo Sie fragen... Ja, es war ein Stück Papier unter der Tür eingeklemmt. Ich bemerkte ihn aus den Augenwinkeln, als ich in das Zimmer hinein ging, um ihn zur Rede zu stellen. Aber ich habe ihm keine besondere Bedeutung beigemessen.”
Montague nickte.
- “Sehr gut. Die dritte und letzte Frage: Ich erwarte, dass Sie diese einfach nur ehrlich beantworten: War Ihr Stiefvater schon tot, als Sie das Zimmer betraten?”
Sie presste die Lippen zusammen und blickte ihn mit einer Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung in ihrem Gesicht an. Dann kam die Antwort:
- “Ja.”
 
 
19. Montagues Überlegungen
 
 
- “Machen Sie doch, was Sie wollen. Ich gebe auf.”
Fowler lehnte sich zurück seufzte. Dieser Fall schien ihn mehr und mehr zu schaffen. Das einzige, was ihn scheinbar noch bedrückter machte als Alexandra Baileys geplatztes Alibi, war die Tatsache, dass Montague sie einfach so gehen ließ.
- “Sie meinen, sie hat ihren Stiefvater nicht umgebracht?”
- “Ich meine gar nichts.” Montague erhöhte die Geschwindigkeit. “Meine Aufgabe ist es, zu wissen. Und solange ich nichts genau weiß, sage ich auch nichts.”
- “Meinetwegen. Wo wollen Sie jetzt eigentlich hin?”
- “Ich möchte ein gründliches Gespräch mit Mr. Arnold führen. Er hat in den letzten Tage verdammt viel Grund zur Freude, nicht wahr?”
Wenn Mr. Arnold Gründe zur Freude hatte, zeigte er es nicht. Die Person, die uns gegenüber saß, sah eher aus, wie eine dunkle Gewitterwolke.
- “Was gibt es denn noch!?” Er schien wirklich keine gute Laune zu haben. Womöglich wurde sie durch einige Gespräche mit Mrs. Simmons weggeblasen.
- “Freuen Sie sich denn gar nicht über unseren Besuch? Was ist das überhaupt für ein Gemüt? Sie haben eine Menge Geld bekommen, da sollte man besser drauf sein.”
- “Ha! Von wegen! Kaum ist es in die Öffentlichkeit gedrungen, dass ich zehn Tausend Pfund geerbt habe, kommt ein jeder und bettelt darum, ihm etwas davon zu leihen. Wie viele Freunde man doch hat, wenn die Taschen voll mit Geld sind.”
- “Das ist natürlich sehr bedauerlich. Dabei brauchen Sie das Geld doch dringend selber, nicht?”
- “Wie bitte!? Sehe ich aus, als ob ich in Geldnot bin?”
- “Auf den ersten Blick nicht, aber ich denke, Ihre Gläubiger sagen da bestimmt etwas anderes.”
Arnold starrte Montague an.
- “Gläubiger?”
Dieser verlor die Geduld:
- “Mr. Arnold, ich habe jetzt wirklich weder Zeit noch Lust für Spielchen! Laut meinen Informationen haben Sie mindestens dreißig Tausend Pfund Schulden bei Pferderennen gemacht. Und ich denke, einige Leute wollen dieses Geld wiederhaben. Da kommen Ihnen die Zehn Tausend Pfund sehr gelegen, oder?”
- “Wovon reden Sie da!? Meinen Sie, ich habe Reynolds wegen dieser Lachsumme umgebracht? Ich wusste nicht einmal, dass er mir sie hinterlässt!”
- “Sie hatten sein Testament die ganze Zeit in den Händen. Damit ergab sich Ihnen die Gelegenheit, Ihren Wissensstand aufzupolieren. Ich kann mir nicht vorstellen, das Sie sich diese Gelegenheit einfach so entgehen lassen wollten.”
- “Was für eine Frechheit! Das ist Rufmord, schon mal davon gehört!?”
Wir standen auf, drehten uns um und begaben uns zum Ausgang. Montague drehte sich nochmals um und sagte kühl:
- “Ob es sich hier um Rufmord oder um ganz normalen Mord handelt, werden wir in kürze herauskriegen. Ihnen kann ich nur noch eine Visite zu einem Spezialisten empfehlen, der Sie von Ihrer Spielsucht heilen würde. Auf Wiedersehen.”
Arnold blieb glatt der Mund offen stehen. Wir verließen das Zimmer, marschierten an der verwundert blickenden Sekretärin vorbei und setzten uns in Montagues Auto. Erst als wir wegfuhren, hörten wir die Rufe:
- “Träumen Sie weiter! Spielsucht? Mord? Ha! Mir können Sie gar nichts andrehen! Hören Sie mich?! Nichts!”
 
- “Es tun sich immer wieder neue Abgründe auf.” sagte Fowler, als wir aus der Stadt herausfuhren. “Ich bin gespannt, was wir heute noch so alles entdecken.”
- “Vermutlich noch eine ganze Menge.” Montague blickte wieder etwas entspannter drein. “Wenn wir uns ein wenig beeilen, schaffen wir es noch heute, den wahren Mörder zu überführen.”
- “Sie meinen also, dieser Ferrara ist wirklich unschuldig?”
- “Ich denke, schon. Alexandra Baileys Aussage entlastet ihn. Und ich glaube ihr.”
- “Dann müssen wir weiter suchen.” Fowler lehnte sich zurück und schloss die Augen.
- “Wenn besuchen wir denn jetzt?” wagte ich zu fragen.
- “Einen, der hoffentlich nicht so einen Skandal macht.”
 
- “Sie sind mit Ihren Ermittlungen vorangekommen?”
Mr. Eagle schenkte uns allen Tee ein. Wir hatten uns gerade von seinem neuen Buch auf das neue Gesprächsthema verlagert.
- “Ich freue mich für Sie. Daraus darf ich schließen, dass der junge Mann, von dessen Verhaftung in den Zeitungen zuletzt die Rede war, unschuldig ist, richtig?”
- “Ja.” Montague nippte an seiner Tasse. “Wir gehen davon aus, dass Mike Ferrara zu Unrecht im Gefängnis sitzt. Und wir planen, den Täter heute noch zu schnappen.”
- “Ein sehr optimistischer und mutiger Plan.” Mr. Eagle sah Montague voller Achtung an. “Aber Sie nehmen da eine Menge auf sich. Kann ich vielleicht irgendwie helfen?”
- “Ja, das könnten Sie.” gestand Montague plötzlich. “Indem Sie mir eine kleine Vermutung von mir bestätigen.”
- “Und zwar? Ich bin ganz Ohr.”
- “Wissen Sie, jeder der Leute im Hotel an diesem Tag hat eine gewisse Verbindung zu Zacharias Reynolds. Bei manchen ist es Zufall bei manchen nicht. Sie sind die einzige Person, die scheinbar nichts mit ihm zu tun hat. Das erschien mir von der Logik irgendwie nicht richtig. Also wage ich einfach mal den blinden Versuch: Da er bis heute nicht erschienen ist, könnte es dann sein?: Sind Sie Zacharias Reynolds´ älterer Bruder Ray Reynolds?”
 
 
20. Das Licht der Wahrheit
 
 
 
Es herrschte eine Weile Stille in dem Raum. Dann lachte Fowler:
- “Wirklich, Doktor, das ist nun echt lächerlich! Wenn Sie schon so herumraten, wissen Sie wahrscheinlich einfach nicht weiter!”
- “Er hat Recht, Charles.” stimmte ich zu. “Die Chance, dass ausgerechnet er Ray Reynolds ist, liegt bei nicht einmal einem Prozent!”
- “Raten kann man doch immer, oder?” entgegnete Montague lachend. “Ich würde nicht behaupten, dass es mir oder Mr. Eagle geschadet hätte.”
Nur der eben genannte Mr. Eagle sagte nichts. Er stand da, mit gesenktem Kopf und regte sich zunächst gar nicht. Dann hob er den Kopf. Sein Gesicht wirkte bitter, aber bestimmt.
- “Sie haben Recht. Ich bin Ray Reynolds.”
Fowler und mir fiel die Kinnlade herunter. Wir blickten in Montagues triumphierendes Gesicht.
- “Wie kamen Sie in das Hotel an diesem Tag? Und was wissen Sie über den Tod Ihres Bruders?”
Mr. Eagle alias Mr. Reynolds hob die Hand.
- “Ganz ruhig.” sagte er. “Ich erzähle Ihnen alles. Dafür muss ich aber erst einmal in die Vergangenheit zurückkehren...”´
 
Ray Reynolds war einige Jahre älter als sein Bruder Zach. Folglich war er schon ein fast erwachsener Mann, als sein kleiner Bruder seine Freunde Jeff Myers und Herb Carragher kennerlernte. Ray merkte gleich, dass von der Freundschaft mit den beiden nichts gutes kommen würde: Zu waghalsig und abenteuerlich gesinnt erschienen die beiden, selbst für ihr Alter. Und während Carragher einfach nur das Abbild des typischen 12-jährigen war, hitzköpfig und nicht allzu oft mit Nachdenken oder Zuhören beschäftigt, verursachte Myers immer wieder Magenschmerzen bei Zachs Bruder. Er war anders, als die anderen Kinder, stets verschlossen, schweigsam und mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. Und das schlimmste war: Er hatte seine Nerven nicht im Griff. Auf einen albernen Spaß reagierte er zunächst gar nicht, bis dann später die heimliche Rache kam. Die führte Jeff Myers methodisch und kühl durch. Ray hatte keine Beweise, aber die Anzeichen waren zu deutlich, um Zufall zu sein: Jeder, mit dem Jeff Myers Streit hatte, musste kurz darauf leiden. Einigen fehlten plötzlich kleinere Summen Geld, andere wurden während eines Spiels “versehentlich” von einem Stein oder einem Ball ins Gesicht getroffen. Manchmal starben bei einigen seiner Feinde Haustiere. Alle schienen irgendwo vergiftetes Fleisch gefressen zu haben, dabei war weit und breit kein solches da. Und immer, wenn seine Angreifer litten, schlich sich ein Grinsen in Myers´ Gesicht.
Nach einiger Zeit fing Ray an, die drei Freunde zu beschatten: Er machte sich Sorgen um seinen Bruder, war aber vernünftig genug, um zu wissen, dass ein Gespräch mit Zach wenig Sinn haben würde. Zunächst passierte gar nichts. Aber dann kam der Vorfall mit der Scheune...
Ray war vor Ort, als es passierte. Als er auf das brennende Gebäude zustürmte, sah er seinen Bruder. Dieser lief auf ihn zu und schrie etwas unverständliches. Ray vergewisserte sich, dass sein Bruder in Ordnung war und lief zur Scheune. Sie war bereits komplett vom Feuer eingefangen. Plötzlich hörte er Schreie und sie hörten sich weniger nach Hilfeschreien an, sondern viel mehr nach einem Streit. Genauso plötzlich erloschen die Stimmen wieder. Ray lief um das Gebäude herum, fand aber keine Möglichkeit hinein zu gelangen. Aus einem der Fenster sprang überraschenderweise einer der beiden Jungen hinaus. Es war Geoffrey Myers. Er landete direkt neben Ray.
- “Wo ist Herbert?” Ray packte Geoffrey an den Schultern. “Ist er noch da drin?”
Der Junge nickte.
- “Warum ist er dir nicht gefolgt?”
- “Er hat sich wahrscheinlich im Rauch verirrt.” antwortete Geoffrey, aber Ray glaubte ihm nicht. Die Augen des Burschen leuchteten seltsam.
 
- “Ich habe schon damals begriffen, das irgendetwas nicht stimmt. Obwohl Herberts Leiche stark verbrannt war, bestätigte der Polizeiarzt, dass er eine Wunde am Kopf hatte. Doch die Polizei ging davon aus, dass sich diese Wunde beim Fallen zugezogen hatte. Und ich hatte keinerlei Beweise für eine derart feste Anschuldigung. Ich kann mir den Streit ja auch nur eingebildet haben.”
- “Also haben Sie sich einfach entschlossen, zu schweigen.” warf Montague ein.
- “Ja. Aber mir war trotzdem nicht behaglich bei der Sache. Zum Glück stand Zach damals unter großem Schock und seine Freundschaft zu Myers hatte erst einmal ein Ende. Laut seiner Erzählung spielten Sie in der Scheune, als einer von ihnen versehentlich die Kerosinlampe umkippte. Zach floh sofort, was die beiden anderen machten, wusste er nicht. Somit konnte er nichts zur Sache erzählen. Über all die Jahre hinweg haben wir nichts von Myers gehört. Vor ein paar Wochen erschien er wieder auf der Bildfläche. Behauptete, er hätte eine Firma, die er leiten würde und würde in Geld schwimmen. Als ich sah, dass Zach wieder Kontakt zu ihm aufnehmen will, habe ich ihm von meinen Vermutungen erzählt. Zuerst schien er mir nicht geglaubt zu haben, aber dann wurde er nachdenklich. Am Donnerstag, wo ich bereits im “Hill Fort” war, hat er mich angerufen und gefragt, ob ich ein abgeschiedenes Plätzchen in der Nähe wüsste, wo er mit Myers ein kleines Treffen haben würde. Ich wusste nicht, was das sollte, aber dann hatte ich die Idee: Ich schlug ihm dieses Hotel vor! Natürlich habe ich ihm nicht gesagt, dass ich auch dort bin. In Hotels stelle ich mich immer mit meinem Pseudonym Brian Eagle vor.”
Uns allen kam sofort Alexandra Reynolds in den Kopf, die ja für eine ähnliche Art von “Späßen” stand. Währenddessen fuhr Reynolds fort:
- “Ich habe gehofft, meinen Bruder überwachen zu können und Myers abzufangen. Aber leider habe ich es nicht geschafft. Ich hatte zwar nie viel übrig für ihn, dafür waren wir zu verschieden. Aber selbst er hat so etwas nicht verdient. Ich bin mir sicher, Geoffrey Myers hat ihn umgebracht und ich hoffe, er wird zu seiner gerechten Strafe kommen!”
- “Wissen Sie vielleicht, wo er sich aufhalten könnte?” fragte Fowler.
- “Woher denn!? Wenn ich das wüsste, hätte ich es schon längst der Polizei gesagt. Es überrascht mich übrigens, dass er nicht versucht hat, mich umzubringen. Ich war doch auch dabei.”
Montagues Gesicht leuchtete auf.
- “Das ist es! Ich habe eine großartige Idee!”
 
- “Das war´ s. Ich erkläre Sie amtlich für wahnsinnig.” knurrte Fowler vom Rücksitz.
- “Wieso? Die Idee ist vielleicht riskant, aber es ist eine Riesenchance.”
- “Ihnen ist es nicht genug, dass ein Reynolds gestorben ist, Sie wollen auch den zweiten ausrotten.”
- “Ich bin mir sicher, es wird alles glatt gehen.”
- “Da habe ich meine Zweifel.” meinte Fowler.
Die hatte ich auch. Ich sah noch einmal auf die Nachricht. Sie lautete:
 
 
“Jeff, ich lade dich herzlich zu einer Party ein. Wir plaudern über alte Zeiten, über Herbert und so weiter. Hoffentlich kannst du kommen. Viele Grüße, dein Ray.
 
P.S. : Vergiss Zachs Geld nicht. Ein Hunderter mehr oder weniger, es ist immer noch eine Heidensumme.”
 
Darunter stand die Adresse von Ray Reynolds und die Zeit: Morgen, um 22:00 Uhr. Es war jetzt klar, dass Zacharias Reynolds verstanden hatte, was in der Scheune passiert war und versucht hatte, Myers zu erpressen. Für ihn hatte das alles sehr schlecht geendet. Uns allerdings, hatte ein kleiner Teil dieses Geldes erst auf die richtige Spur gebracht. Nichtsdestotrotz war das eine gefährliche Idee. Aber das schien Montague wenig zu kümmern. Er schickte die Nachricht leichten Herzens an die E-Mail-Adresse von Myers, die wir von Lisa bekommen hatten. Wie sie die herausfand, war mir dennoch ein Rätsel. Ebenso unklar was es mir, wo meine Empfehlungsschreiben waren, die Downing mir versprochen hatte. Vermutlich hatte er sie völlig vergessen, aber ich würde definitiv nicht noch einmal deswegen anrufen.
 
- “Das war ja klar.”
- “Was denn?”
Wir befanden uns erneut auf der Polizeistation.
- “Der Geldschein gehört zu einer Summe von einer halben Million Pfund, die von Geoffrey Myers´ Konto abgehoben wurde. Von ihm persönlich.”
- “Das weiß ich schon längst.” Montague gähnte. “Ich habe die Leute befragt und sie haben ihn mir perfekt beschrieben.”
- “Wie sah er aus!?”
- “Was denken Sie? Große Sonnenbrille, dichter Bart... Dasselbe Schema. Ich habe mir zudem mithilfe der polizeilichen Erlaubnis die schriftliche Erklärung geholt, die er ausfüllen musste, weil er so eine große Summe abhob.”
- “Ich habe keine Ahnung, wie die uns helfen soll.”
- “Ich schon. Ich habe auch schon die nötigen Schritte unternommen.”
Fowler sah Montague aus den Augenwinkeln an.
- “Okay, Sie sind wohl viel klüger als ich, der Dummkopf. Dann erklären Sie mal das hier.”
Er reichte Montague triumphierend eine Nachricht über. Ich beugte mich über seine Schulter und wir begannen zu lesen.
Die Nachricht war kurz, aber dennoch sehr richtungsweisend: Im Norden Englands wurde nahe einer Gebirgsstraße der Wrack eines Wagens gefunden. Es wurde schnell festgestellt, dass es ein Mietwagen war, der erst einen Tag zuvor gemietet worden war und zwar von einem gewissen Alan Sanders. Doch nahe des Wagens fand man einen halbverbrannten Ausweis, ausgestellt auf den Namen Geoffrey Myers. Im Innenraum des Wagens fand man eine völlig verbrannte Leiche; es wurde davon ausgegangen, dass es Myers´ Leiche war. Als Ursache der Tragödie wurde vermutet, dass der Fahrer auf der gefährlichen Strecke in der Kurve die Kontrolle über den Wagen verloren hatte und in die Schlucht gestürzt war. Das Auto habe daraufhin Feuer gefangen und der Insasse sei verbrannt worden. Weitere Details würden in den nächsten Tagen geklärt werden, aber Experten gingen davon aus, dass der Unfall sich an diesem Morgen ereignet hatte, etwa zwischen 6 und 8 Uhr morgens. Es hieß, die Ermittlungen würden weiter fortgeführt werden.
 
Montague presste die Lippen zusammen. Mir stockte der Atem. Das war´ s. Geoffrey Myers, der, den wir als Mörder überführen wollten war... tot.
 
- “Was machen wir jetzt?” fragte ich Montague. Er antwortete nicht.
- “Na Doktor, haben Sie das vorausgeahnt?” fragte Fowler mit einem grimmigen Grinsen. Der Arzt nickte.
- “Um ehrlich zu sein, ja. Aber es war leider nicht zu verhindern.”
- “Was tun wir jetzt?” fragte ich erneut. Und erneut reagiert Montague nicht.
Er blickte auf die Uhr, die genau 19 Uhr zeigte und murmelte schließlich:
- “Noch 27 Stunden.”
 
- “Was wollen wir noch dort? Es kommt doch niemand.” Ich versuchte, Montague zur Vernunft zu bringen.
- “Das wissen wir erst, wenn wir da sind.” entgegnete er.
Es war halb zehn Uhr abends und wir fuhren fast schon an das Haus von Ray Reynolds heran.
- “Hören Sie, wir haben die Nachricht doch gelesen. Es ist vorbei. Der Mörder ist tot, oder?”
Montague drehte sich zu mir.
- “Vorher dachten wir auch, der Mörder sitze im Gefängnis und haben uns geirrt. Wir hätten fast aufgegeben. Und nun das. Glauben Sie mir Stanley: Der Mörder ist am Leben und heute ist diese Person unterwegs, um noch einen Menschen zu töten. Aber wir werden das verhindern!”
- “Wenn Sie sich so sicher sind, dass der Mörder am Leben ist, wissen Sie wahrscheinlich auch, wer es ist, oder?”
Montague deutete auf den großen Umschlag, der ihm vor einigen Stunden von einem von Fowlers Leuten vorbeigebracht wurde:
- “Jetzt schon. Und wenn Sie Ihr schlaues Köpfchen anstrengen, Stanley, dann werden Sie auch alles begreifen.”
Ich nahm mir den Umschlag her und sah die Dokumente an, die dort drin waren. Ich begriff gar nichts außer dem Satz: “Die Wahrscheinlichkeit, dass die Schrift auf den beiden Dokumenten identisch ist, liegt bei 99,97 Prozent.”, den ich auf eine andere Art und Weise auch nicht begriff. Für mich machte immer noch nichts einen Sinn. Andererseits war es die ganze Zeit auch nicht anders gewesen. Ich lehnte mich einfach zurück und schloss die Augen.
Kurz darauf hielten wir an. Ich öffnete die Augen und sah, dass wir gegenüber von Reynolds´ Haus standen. Die Uhr zeigte zehn vor zehn an.
- “Inspektor Fowler und seine Leute sind hier in der Nähe.” flüsterte Montague. “Jetzt bleibt uns nur noch warten.”
 
Jede dieser zehn Minuten erschien mir quälend lang. Obwohl ich mir sicher war, dass nichts passieren würde, konnte ich nicht still sitzen. Montague dagegen, war die Ruhe selbst. Nicht zum ersten mal fragte ich mich, wie er das schaffte.
Es war genau zehn, als ein Wagen leise in die Auffahrt des Hauses einbog. Durch das Fenster konnten wir Ray Reynolds sehen, der beim biederen Licht der Nachttischlampe scheinbar eingenickt war. Eine Gestalt stieg aus dem Wagen aus und ging auf die Haustür zu. In einer Hand trug sie einen Koffer, die andere hatte sie in der Manteltasche. Im Auto war es warm, aber mich überfiel ein eisiger Schauer. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was in dieser Hand sein könnte. Die Gestalt blickte in das Fenster und nickte zufrieden. Sie machte die Tür auf und schlich in das Wohnzimmer, wo Reynolds war.
- “Kommen Sie.” Montague öffnete die Autotür. “Aber leise.”
Wir stiegen aus und schlichen auf das Gebäude zu. Als wir fast schon bei der Haustür waren, ging im Wohnzimmer das Licht an. Wir hörten Fowlers feste Stimme:
- “Im Namen des Gesetzes, bleiben Sie, wo Sie sind!”
Wir stürmten in das Haus. Dort sahen wir Reynolds, Fowler und mindestens fünf Männer in Uniform. Die Person, die uns gegenüber stand, hatte scheinbar gar nicht vor, wegzulaufen. Sie war zu schockiert und dazu geblendet vom gleißenden Licht. Dem Licht der Wahrheit, der die wahre Identität des Mörders enthüllte. Dabei bekam ich den Schock meines bisherigen Lebens: So viele Leute, so viele unterschiedliche Verdächtige, aber das...
- “Aber das... Aber das...” stammelte ich und deutete mit dem Zeigefinger auf die Person vor mir.
- “Ganz genau.” frohlockte Montague. “Sie sehen den Mörder von Zacharias Reynolds vor sich. Das ist das Phantom, das wir die ganze Zeit gejagt haben.”
- “Aber das ist...”
- “Genau. Rupert Downing, Ihr Ex-Chef. Haben Sie etwa jemand anderes erwartet?”
 
 
 
21. Erklärungen
 
 
- “Also das müssen Sie mir erklären, Charles.”
- “Gerne. Wenn Sie denken, das war eine Art Scherz, dann irren Sie sich. Rupert Downing hat Zacharias Reynolds ermordet.”
- “Aber wie? Wann? Und warum? Ich verstehe das nicht.”
- “In Ordnung. Dann legen ich mit der Geschichte los, von Anfang an...”
 
Als er zwölf Jahre alt war, lernte Zach Reynolds zwei Jungs namens Herbert Carragher und Geoffrey Myers kennen. Die drei wurden schnell zu Freunden und unternahmen alles mögliche miteinander. So entstand der Brand in der Scheune. Beim Spielen stieß Myers die Kerosinlampe um. Als der Brand außer Kontrolle geriet, stürmte Reynolds davon. Carragher, mit dem Myers noch an diesem Tag einen Streit hatte schrie ihn wegen der Sache an. Myers kochte vor Wut und dann kam es dazu: Er nahm einen in der Nähe liegenden großen Stein und schlug damit seinem Freund auf den Kopf. Carragher fiel zu Boden und Myers begriff, dass es an der Zeit war, zu verschwinden. Der Rest trug sich genauso zu, wie Ray Reynolds es erzählt hatte. Viele Jahre später wurde Myers Leiter einer eigenen Firma und plötzlich nahm sein Freund Kontakt zu ihm auf. Reynolds wusste mittlerweile aus den Worten seines Bruders, was in der Scheune passiert war. Und nun ergab sich die günstige Gelegenheit: Myers hatte viel Geld, es gab also die Möglichkeit, einiges aus ihm herauszuquetschen. Und Reynolds nutzte die Chance. Er sagte seinem Jugendfreund, er wisse über das Geheimnis Bescheid und würde zur Polizei gehen, wenn er kein Geld bekommen würde. Myers blieb keine andere Wahl. Er hob die geforderte Summe von seiner Bank ab und fuhr zum vereinbarten Ort. Am Ende lief es viel besser, als er es erhofft hatte. Das Blöde war nur: Er vergaß einen Geldschein im Hotelzimmer...
 
- “Moment mal! Es ergibt alles Sinn, aber das wussten wir sowieso alles! Was hat Downing damit zu tun? Wenn der Mord passiert ist, um dieses Verbrechen von damals zu vertuschen, wieso sollte dann Downing der Täter sein? Welches Interesse hatte er daran, Myers zu decken?”
- “Das kann ich Ihnen sagen. Aber zuerst verfolgen wir seinen Weg: Erinnern Sie sich noch daran, dass er eigentlich ein Alibi hatte?”
Ich blinzelte. Tatsächlich, Downing rief mich aus seinem Büro an und schickte mich zum “Hill Fort”. Dann flog er sofort zu einem Meeting, von dem er erst am Montag zurückkehrte. Es war unmöglich, dass er Reynolds ermordet haben könnte. Wie kam Montague auf diese Schnapsidee?
- “Sein Alibi war nicht der einzige Grund, warum ich ihn lange nicht auf der Liste der Verdächtigen hatte.” sagte Montague. “Er hatte kein Motiv. Aber dann sind mir gewisse Ungereimtheiten aufgefallen und sein Alibi zerfiel wie eine Sandburg. Und wenn einer sein Alibi fälschen muss, obwohl er gar keinen Bezug zu der Tat hat, ist das ein wenig verdächtig, finden Sie nicht?”
- “Wovon reden Sie? Wie soll er sein Alibi gefälscht haben?”
- “Er wollte ganz sicher gehen. Was ihn verriet, war sein spontaner Anruf.”
- “Spontaner Anruf? An wen?”
- “An Sie, natürlich.”
- “An mich!?”
- “Aber ja. Lassen Sie mich erklären: Downing fährt um etwa 10 Uhr los und kommt um kurz vor halb zwölf beim Hotel an. Er versucht in das Hotel hineinzugelangen, will aber natürlich nicht gesehen werden. Er geht um das Hotel herum und wird plötzlich leise gerufen. Von Reynolds. Dieser sagt, dass es ihm egal sei, wie Downing unbemerkt kommen und gehen könnte, aber er solle sich gefälligst beeilen. Downing weiß zuerst nicht, was er tun soll, blickt aber dann durch eines der Fenster im Erdgeschoss und sieht Mr. Chapman telefonieren. Ihm kommt sofort eine Idee. Er schleicht durch den Hintereingang hinein und löst das Telefonkabel etwas. Die Reaktion Chapmans ist zu erwarten. Er beschwert sich bei Simmons, dieser ruft Mike Ferrara an. Downing sieht das durch die Fenster und muss nur noch ein wenig warten. Ferrara kommt an, die beiden gehen zu dem Telefonanschluss. Downing schleicht die Treppe hoch und klopft an. Reynolds öffnet ihm. Downing will ihm das Geld übergeben, aber Reynolds hat noch lange nicht genug. Er fängt an, Downing um noch mehr Geld zu erpressen. Downing wird wütend und fängt einen Streit an. Im Streit fühlt sich Reynolds nicht wohl und greift zu seinen Medikamenten. Downing erkennt die Medizin sofort. Bevor er zum Leiter seiner Firma wurde, hat er einige Jahre als Apotheker gearbeitet. Reynolds kippt den Inhalt einer Ampulle in das Glas und will Wasser aus seinem Gepäck holen. Downing kommt der Geistesblitz: So wird er den nervigen Erpresser los. Er schnappt sich die Arznei, die Reynolds auf dem Tischchen liegen lässt und kippt eine weitere Ampulle in das Glas. Als er die dritte auch hinein tun will, sieht er, dass Reynolds sich mit der Wasserflasche in der Hand umdreht. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sie schleunigst zurückzulegen. Aber das reicht aus: Reynolds bemerkt nichts und nimmt die Arznei zu sich. Nur eine Minute später fühlt er sich schlecht und muss sich hinlegen. Downing wartet kurz, versichert sich, dass sein Opfer tot ist, packt sich den Koffer mit dem Geld und verschwindet! . Er mus s sich beeilen, da Simmons und Ferrara bereits unterwegs sind. Er sieht sie unten bei der Treppe stehen und fasst einen Entschluss: Er springt aus dem Fenster des ersten Stockwerks in die Schneemassen. Seine Gestalt sieht nur kurze Zeit später Ray Reynolds. Bei der Flucht aus dem Zimmer vergisst er einen Geldschein, der ihm letztlich zum Verhängnis wird. Erst vor der Flucht aus dem Hotel begreift er, was er angerichtet hat. Er muss sich ein Alibi überlegen. Das Meeting, das er am Telefon erwähnte, findet tatsächlich statt, doch erst am Samstag. Deswegen wollte er erst am Samstag in das Flugzeug steigen. Aber nun ändern sich die Pläne. Er ruft die Fluggesellschaft an und bucht ein Hin- und Rückflugticket. Der Hinflug ist zu dem Zeitpunkt zwei Stunden entfernt. Downing hat keine Chance, den Flug zu erwischen, aber das ist ihm egal. Er beeilt sich zu dem großen Schuppen, wo er seinen Wagen gelassen hatte...”
Ich verschluckte mich glatt an meinem Kaffee.
- “Dann war der Wagen, den ich da gesehen hatte,...”
- “Seiner. Überhaupt, Stanley, erinnern Sie sich, was Sie getan haben, nachdem Downing Ihnen den Auftrag erteilt hatte?”
- “Ich packte meine Sachen und fuhr gleich zum “Hill Fort”. Wieso?”
- “Und Sie sagten mir auch, Ihr Wagen sei der einzige auf dem Parkplatz gewesen, stimmt das?”
- “Ja. Ich weiß noch, als ich den Hörer aufgelegt hatte, blickte ich aus dem Fenster und da war nur noch mein Wagen auf dem Firmengelände. Ich war echt sauer und... Moment! Wenn Downing mich aus dem Büro anrief, wo war dann sein Wagen hin!? Er war doch an dem Tag mit dem Ding zur Arbeit gekommen. Warum verschwand es, wo er noch im Gebäude war!?”
Montague nickte zufrieden.
- “Sehr gut, Stanley. Daraus können wir schließen: Downing rief Sie nicht aus dem Firmengebäude, sondern von woanders an. Er erinnerte sich daran, dass sein Alibi ihm nichts nützen würde, wenn die Leiche nicht vor Montag entdeckt werden würde. Also arbeitete er einen weiteren Teil seines teuflischen Plans aus. Er schickte Sie in das Gefecht. Zu seinem Glück hatte er noch eine Kopie des Vertrags, den Reynolds mit seiner Firma abgeschlossen hatte. Nebenbei erwähnt: Das machte Reynolds noch bevor er wusste, wer der Leiter des Unternehmens ist. Er beorderte Sie also per Telefon zum “Hill Fort”. Dort sollten Sie gemeinsam mit Simmons den Leichnam entdecken. Das hatte ja auch prima funktioniert. Währenddessen machte Downing sich auf nach Manchester, um bei dem Meeting dabei zu sein, damit alle ihn auch schön sehen konnten. Das verschaffte ihm ein simples, aber tolles Alibi. Wenn man es genau ansah, war der einzige verdächtige Punkt an ihm die Tatsache, dass er derjenige war, der Sie zu Reynolds hinschickte, aber das konnte er locker auf den schier unauffindbaren Myers schieben. Ansonsten war alles perfekt: Als Reynolds getötet wurde, saß Downing im Flieger. Warum das so war und nicht anders? Er hatte ein Hin- und Rückflugticket, kam mit dem entsprechenden Flieger zurück, wir waren schließlich Zeugen. Beim Meeting war er auch dabei. Also ist alles ganz normal: Er flog hin, wurde dort gesehen und flog zurück. Niemandem kam auch nur eine Minute in den Kopf, die Tatsache anzuzweifeln, ob er tatsächlich hingeflogen ist. Schließlich hatte er kein Motiv und ein Alibi, das zwar vielleicht anfechtbar sein mochte, aber nicht wirklich anfechtwürdig war. Die Sache mit ihm als Verdächtigen war schnell erledigt. Genau das, was er wollte.”
- “Aber Sie sagen doch, er wurde dort gesehen, beim Meeting, meine ich. Wie soll er dort gewesen sein, wenn er sich gar nicht dorthin begab!?”
- “Sie haben schlecht zugehört, Stanley. Ich habe nur gesagt, er wäre nicht dorthin geflogen.”
- “Ich verstehe gar nichts. Wie kam er dann nach Manchester?”
- “Überlegen Sie doch. Er beendet das Gespräch mit Ihnen, legt den Hörer auf und dann... Was tut er?”
- “Er verschwindet schnellstens.”
- “Wie?”
- “Was heißt bitte, wie!? Er steigt in seinen Wagen und...”
Mir blieb der Mund offen stehen.
- “Sie vergessen immer wieder, dass er ein Fahrzeug zur Verfügung hatte. Ein schnelles Fahrzeug. Er fährt zwar bis spät in die Nacht hinein, kommt aber rechtzeitig in Manchester an. Außer den Augenringen am nächsten Morgen gibt es keine Spuren.”
Ich schüttelte den Kopf.
- “Ganz schön schlau.”
- “Durchaus. Wenn man auch noch bedenkt, dass er spontan handelte... Sehen Sie, wir haben uns am Ende doch ein wenig geirrt. Es war kein von Anfang an geplanter Mord, sondern ein spontaner, der erst danach zu Ende geplant wurde. Übringens, der Wagen verriet ihn am Ende: durch sein Fehlen auf dem Firmengelände konnten wir die Wahrheit über den Telefonanruf herausfinden. Und sein anschließendes Fehlen im Laufe der Woche nach dem Mord machte die Sache noch klarer.”
Ich verzog das Gesicht.
- “Mir ist es auch aufgefallen. Ich wusste nur nicht, wo der Wagen war und warum er fehlte. Wo war er eigentlich?”
- “Na was glauben Sie? In Manchester, natürlich.”
- “Warum dort?”
- “Überlegen Sie doch! Wann hätte er den Wagen denn zurückfahren können? Der Rückweg musste mit dem Flugzeug erfolgen. Sonst wäre sein Alibi in Gefahr. Und in der anschließenden Woche war er einfach zu beschäftigt, um ihn zurückzuholen. Außerdem wäre eine Reise nach Manchester zu riskant. Also verzichtete er einfach darauf, mit der Hoffnung, niemand würde dies merken. Aber da hoffte er vergeblich.”
- “Ja. Letztendlich war sein schickes Auto sein Untergang.”
- “Nicht nur das Auto. Für eine derart komfortable Situation hat er einige äußerst ungeschickte Lügen erzählt.”
- “Zum Beispiel?”
- “Er sagte sowohl Ihnen, als auch bei der polizeilichen Befragung und dann später auch bei Ihrem Anruf, er hätte keine Ahnung, wo das Hotel “Hill Fort” liegt. Als Inspektor Fowler ihn fragte, warum es Reynolds ausgerechnet in dieses Hotel verschlagen hatte, sagte Downing gleich etwas von einem “abgelegenem Ort”. Er war entgegen seinen früheren Aussagen also doch etwas besser informiert. Womöglich weil er selbst vor Ort war. Dazu gab es denn dummen Fehler, sich immer wieder als Geoffrey Myers auszugeben.”
- “Es war also er?”
- “Ja. Wo der Mann mit Vollbart und Sonnenbrille auch auftauchte, überall war es Downing. Das war übrigens sein Ende. Er füllte beim Abheben des Geldes von Myers´ Konto die Erklärung aus und lieferte uns somit den Beweis auf dem Silbertablett.”
- “Tatsächlich? Wie?”
- “Als ich anfing, ihn zu verdächtigen, dachte ich mir, er könnte sich als Geoffrey Myers ausgegeben haben. In diesem Fall hätten wir jemanden, mit dessen Schrift wir die Schrift auf dem Erklärungsschreiben vergleich könnten. Wissen Sie noch: der Umschlag?”
Ich erinnerte mich an den Umschlag von letzter Nacht und nickte. Aber dann fiel mir etwas ein:
- “Sagen Sie, wo haben Sie so schnell ein von ihm verfasstes Schreiben gefunden? Das war bestimmt nicht einfach, es zu bekommen.”
- “Doch Stanley, es war kinderleicht. Dank Ihnen.”
- “Dank mir?”
- “Aber ja. Sie haben ihn doch um ein Empfehlungsschreiben gebeten, oder nicht?”
Ich war endgültig erledigt. Und ich dachte mir schon, Downing hätte es vergessen. Dabei hatte Montague nur eines im Kopf: Das Schreiben so schnell wie möglich an sich zu bringen, um den Mörder endgültig zu überführen.
- “Als ich die Bestätigung bekam, dass die beiden Dokument eine identische Schrift tragen, wusste ich: Ich habe den richtigen Mann an der Angel.”
- “Meinetwegen. Sie haben wahrscheinlich in allen Punkten Recht. Erklären Sie mir nur noch ein unwesentliches Detail: Warum? Warum hat Downing das alles getan? Es gab viele Leute, die Reynolds an den Kragen wollten, aber wenn er ihn umgebracht hat, kann es nur ein Motiv geben: Die Erpressung an Geoffrey Myers. Ist es das? Wollte Downing Myers schützen? Wegen der Firma?”
- “Nein, Stanley. Als Sie Ihren Chef zum ersten Mal erwähnten, konnte ich mir bereits vorstellen, wie Sie ihn sahen: Als egoistischen, selbstverliebten und skrupellosen Menschen. Sie hatten damit übrigens völlig Recht. Downing interessiert nichts, außer seiner eigenen Situation. Um sich abzusichern, war er zu allem fähig. Sogar zu einem zweiten Mord.”
- “Zu einem zweiten Mord?”
- “Ja. Sie haben die Nachricht doch gelesen. Die verbrannte Leiche im Wagen.”
- “Das ist Downings Werk!?”
- “Ja. Er hielt vor nichts, um sich einen Vorteil zu verschaffen.”
Ich seufzte.
- “Armer Myers.”
- “Sie haben Mitleid mit ihm? Nicht notwendig. Er verdient es nicht.”
- “Gut, es mag sein, dass er als Kind seinen Freund aus Wut umgebracht, aber er hat dadurch doch nicht gleich den Tod verdient.”
- “Zum ersten, ich bin davon überzeugt, dass dieser Mord viel eher geplant war, als der von Zacharias Reynolds, zum zweiten, wissen Sie nicht wovon Sie reden. Welcher Tod? Myers ist quicklebendig. Ich fürchte nur, das wird ihm im Gefängnis wenig helfen.”
- “Myers lebt!? Seit wann!?”
- “Seit er geboren ist, schätze ich.”
- “Aber wenn er überlebt hat, wer ist dann... Und warum kommt er ins Gefängnis?”
- “Wegen dem Mord an Zacharias Reynolds.”
Ich dachte an dem Moment, ich würde zusammenbrechen.
- “Montague, Sie verwirren mich völlig! Ich dachte, Downing hätte Reynolds umgebracht!”
- “Hat er auch.”
- “Und Myers?”
- “Ebenso.”
- “Haben die beiden etwa zusammengearbeitet?”
- “Jein. Überlegen Sie doch: Zach Reynolds war eine Gefahr für Geoffrey Myers. Downing hat ihn umgebracht, obwohl er sich um niemanden schert, außer sich selbst. Ihre Schlussfolgerung?”
- “Reynolds war auch Downing ein Dorn im Auge!”
- “Nicht auch. Ausschließlich.”
- “Ausschließlich?”
- “Wenn wir ganz streng vorgehen, wann haben wir Geoffrey Myers wirklich gesehen?”
- “Nie.”
- “Ist es nicht seltsam, dass ein Mensch es derart einfach schafft, der Gesellschaft zu entkommen?”
- “Ray Reynolds hat es auch geschafft.”
- “Das meine ich nicht. Wenn man genau hinschaut, könnte man meinen, die Firma hätte nur einen Leiter...”
Nur einen...
- “Geoffrey Myers hat es nie gegeben.” flüsterte ich.
- “Fast richtig.” Montague lächelte milde. “Eigentlich ist Rupert Downing die Person, die nie wirklich existiert hat. Als Geoffrey Myers in Geschäftswelt einstieg, wusste er, dass er eine Art Repräsentanten brauchte, um selbst im Schatten bleiben zu können. Also erfand er sein Alter Ego, Rupert Downing, der die Firma quasi alleine leiten sollte.”
- “Diese beiden waren ein- und dieselbe Person.” Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln.
- “Genau. Deswegen konnte Myers immer untertauchen, wenn Gefahr drohte. Downing wusste angeblich von nichts und alle tappten im Dunkeln. Nur hat das gegen die Reynolds-Brüder wenig geholfen. Da blieb nur ein Mittel. Zum Glück hat sein Treiben endlich ein Ende. Es half auch nichts, dass er unter falschem Namen einen Wagen mietete, diesen von der Klippe fuhr und daneben den halbversengten Personalausweis von Geoffrey Myers hinwarf. Ich konnte das nicht verhindern, obwohl ich mir schon dachte, dass Myers nach Mike Ferraras Verhaftung versuchen würde, die Variante mit sich selbst als Mörder, endgültig auszuschließen.”
Montague stand auf und schritt auf den Balkon seiner Wohnung. Es war bereits Zehn, die Straßen Londons waren wach und voller Menschen. Die Stadt erwachte zum Leben. Er blickte eine Weile hinunter und drehte sich dann zu mir um.
- “Wollen wir nicht ins Gefängnis fahren?”
- “Wozu? Doch nicht etwa, um Downing alias Myers einen Besuch abzustatten und ihn auszuquetschen, oder?”
- “Nein, nein, er hat fast sofort alles gestanden. Die Beweislast gegen ihn war erdrückend. Aber heute kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Unschuldiger aus dem Gefängnis heraus. Und sein Vater wird ausgerechnet heute wegen guter Führung früher entlassen. So habe ich das zumindest mitgeteilt bekommen. Es wäre unschön, wenn niemand die beiden empfangen würde, oder?”
Ich nickte eifrig. Zum ersten Mal seit vielen Tagen, nein, seit vielen Monaten hatte ich wirklich gute Laune. Das Detektivspiel mit gutem Ausgang hatte sie heraufbeschworen. Oder lag es an meinen neugewonnenen Freunden? Jedenfalls fühlte ich mich endlich wieder lebendig. Dann aber, als wir schon zum Auto gingen, fiel mir etwas ein, was meine Laune trübte:
- “Charles?”
- “Ja?”
- “Ich habe es überhaupt nicht bedacht: Wenn Myers nicht im Auto umgekommen ist, wessen Leiche war dann dort gefunden worden?”
- “Genau nachweisen kann man das nicht, aber ich denke, das einfachste für ihn war, einen Landstreicher zu betrinken und ihn hinter das Lenkrad zu setzen. Den Toten würde niemand vermissen.”
Ich presste die Lippen zusammen.
- “Ich weiß nicht wieso, aber das überrascht mich wenig.” sagte ich schließlich. “Er war schon immer großartig darin, andere auszunutzen, damit sie die Drecksarbeit für ihn erledigen, und das in allen Sinnen. Hätte ich einige Zeit länger für ihn gearbeitet, weiß der Himmel, was aus mir geworden wäre.”
- “Aber Sie sind davon verschont geblieben. Was denken Sie, warum?”
Ich sah Montague eine Weile ernst an und zuckte schließlich mit den Schultern:
- “Keine Ahnung. Die Gnade Gottes?”
 
Epilog
 
Wieder fielen Schneeflocken auf mein Auto hinunter, dabei war es fast schon März. Der Winter wollte wohl nicht aufgeben. Ich hatte aber keine Lust, mich darüber zu ärgern: Zu sehr war ich mit den Ereignissen der letzten Wochen beschäftigt.
Das Gericht beschloss, dass Geoffrey Myers alias Rupert Downing den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen wird. Man erzählte mir, er wäre nach der Urteilsverkündung beinahe zusammengebrochen. Ich selbst war nicht im Gerichtssaal und wurde auch nicht als Zeuge vernommen. Fowler konnte das engagieren, da der Fall ja relativ klar war und Myers gar nichts anderes übrig blieb, als zu gestehen. Ich, meinerseits, hatte keinerlei Lust, den Mann jemals wieder zu sehen.
Ray Reynolds war uns unglaublich dankbar und schenkte Fowler, Whittaker, Montague und mir die Erstausgaben seinen gerade fertiggestellten Abenteuerromans. Mir ist, ehrlich gesagt, unklar, weshalb seine Romane sich so gut verkaufen: Ich fand das Buch grausig und die beiden Polizeiinspektoren teilten meine Meinung. Natürlich sagten wir ihm das nicht. Montague brauchte währenddessen gar nicht zu lügen: Man konnte sehen, das ihm das Buch gefiel. Einen wie ihn findet man eben selten.
Auf Alexandra Bailey und ihre Mutter kommen einige Strafverfahren wegen Drogenschmuggel und Falschaussage zu. Die gescheite Mrs. Reynolds hat mit dem geerbten Geld die besten Anwälte finanziert. Vermutlich kommen beide glimpflich davon. Übrigens: Der anonyme Anruf, den Inspektor Whittaker erhielt, war von einem Mitglied der Bande, der Angst bekam und die Sache auffliegen lassen wollte, ohne seine eigene Haut zu gefährden. Mrs. Reynolds bewies nebenbei Größe und überließ das Geld von der Lebensversicherung ihres Mannes seinem Bruder. Der letzte Wille von Zacharias Reynolds, der sich zum Schluss doch noch Gedanken um seinen eigenen Bruder machte, wurde also erfüllt.
Simmons hat die Stelle im “Hill Fort” gekündigt. Ich hörte kürzlich, er wolle Reporter werden. Ich konnte mir das zwar schlecht vorstellen, aber wenn ich etwas aus der Geschichte gelernt hatte, dann das, dass absolut alles passieren kann. Ich wünsche ihm jedenfalls viel Glück dabei.
Was aus Timothy Chapman und Steven Arnold geworden ist, weiß ich nicht. Der eine achtet womöglich etwas genauer auf sein Gepäck, der andere hat sein Geld hoffentlich für den Psychiater ausgegeben. Mike Ferrara und sein Vater haben England verlassen. Angeblich sind sie in die USA aufgebrochen, um dort einen Neuanfang zu machen. Es bleibt nur zu hoffen, dass sie es schaffen.
Eine gute Nachricht gab es für mich: Nachdem meine frühere Firma keinen Leiter mehr hatte, war der Weg für mich frei. Ich durfte wieder zurückkehren. Es mag einige überraschen, aber ich habe diese Möglichkeit ausgeschlagen. Mir ist meine neue Tätigkeit viel lieber. Es hat sich herausgestellt, dass Montague schon länger seinem eigentlichen Beruf als Arzt nicht mehr nachgeht. Vielmehr ist er damit beschäftigt, der Polizei bei kniffligen Fällen zu helfen. In den Vereinigten Staaten hat er sich damit bereits einen Namen bei der Polizei gemacht. Inspektor Whittaker rief noch im Hotel einen Kollegen in New York an und fragte, ob er einen Charles Montague kenne. Glücklicherweise war dieser Kollege bestens mit Montague vertraut. Genau deswegen hat sich Whittaker sofort dazu entschlossen mit uns zusammenzuarbeiten. Der Punkt ist nun: Montague hat mir vorgeschlagen, mit ihm zusammenzuarbeiten.
- “Es hat ja schon prima geklappt.” sagte er mir neulich. “Dank unserem Teamwork hatten wir am Ende Erfolg.”
- “Mag sein. Aber wer garantiert, dass es auf Dauer funktioniert?” fragte ich.
Er sah mich eine Sekunde lang an und sagte schließlich bestimmt:
- “Ich.”
Warum ich das sofort glaubte, obwohl es ein bisschen lächerlich klang? Gerade deswegen. Weil er es war.
 
ende

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Igor Tyumenev).
Der Beitrag wurde von Igor Tyumenev auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.05.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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