Patrick Rabe

Stevan Stobi

Luis rannte in die Nacht. Ein sanfter Wind bewegte die Palmen und der weiße Sand unter seinen Füßen war weich und geschmeidig. Der Ozean tönte seinen niemals schweigenden Wellentakt und die Sterne sahen ruhig und gelassen auf diesen Flüchtling seiner selbst hinab. „Nein!“, dachte Luis, „Sie brennen! Sie brennen wie wütende und doch tote Hassaugen in diesem dunklen, gottlosen Himmel!“
 
Luis hielt in seinem Lauf inne. Er warf die Arme in die Luft, reckte den Kopf empor und schrie wie ein verletztes Tier. Schrie sich seinen ganzen Schmerz aus dem Leib. Schrie um sein Leben.  Wo war Gott? Wo war die Liebe? Er wurde fortwährend nur gequält in diesem Dasein. Gequält von Menschen, die nichts wussten von der Liebe und vom wahren Gefühl, die gekränkt waren von ihrem eigenen Leben und deshalb mit giftigen Pfeilen auf gesunde Seelen schossen. Gequält von Krankheiten und körperlichen Schmerzen, gequält vom inneren Wahnsinn eines traurigen Lebens und gequält  von bösen Dämonen, die ihn beschimpften und beleidigten. Er wollte nicht mehr! Er wollte nach Hause!
 
Aber… zu Hause… Wo war das?
 
Luis ließ sich in den Sand sinken und spürte hin auf die Dinge, die ihn umgaben. Eigentlich war alles friedlich und in Harmonie. Ja, so war es immer. Alles war gut. Nur nicht in ihm. Nur nicht in seinem zerrissenen, gequälten Inneren. Müde gab er sich der äußeren Harmonie hin. Wie oft hatte er nicht darüber nachgedacht, einfach aufzugeben, sich fallenzulassen, Abschied zu nehmen. Doch irgend etwas hatte ihn stets weiterkämpfen lassen. Diese trotzige Resistenz in ihm. Sein Ego. Sein Wille zum Überleben. Sein Hass. Sein Stolz. Nein. Er würde nicht sterben. Er würde es allen zeigen. Er würde überleben und alle seine Peiniger in den Dreck treten.
 
Er sah auf. Vor ihm stand jemand. Luis erschrak. Er war sich doch sicher gewesen, allein hier am Strand zu sein! Es war ein großer Mann, der ein beiges Cordjackett  trug. Seine strähnigen, rotbraunen Haare fielen in seine Stirn und seine Hände umspielten ein grünes Amulett, das er um den Hals trug.
 
„Wer sind sie?“, fragte Luis unwirsch, „Wie lange sind sie schon hier?“ Der Mann stand unbeweglich. Dann tönte seine Stimme warm und freundlich, mit einem Hauch glucksender Ironie: „Die erste  Frage lässt sich leicht beantworten. Die zweite schwerer. Darum doch, naja, die erste zuerst als erstes.“
 
Luis stöhnte. Jetzt auch noch ein Witzkeks. So etwas konnte er ja überhaupt nicht gebrauchen. „Kommen sie zur Sache!“ presste er hervor. Der Fremde lachte. „Welche Sache denn? Die Sache, die sie so zwingt mit ihren Sachzwängen? Aber, naja, zu ihrer Frage: Ich bin – Stevan Stobi, ein imaginärer Freund aus ihrer Kindheit. Und ich bin so lange da, wie es sie gibt, also praktisch schon immer!“
 
„Sie sind Stevan Stobi?“ Luis traute seinen Ohren nicht. Wurde er jetzt endgültig verrückt? Stevan Stobi, das war ein merkwürdiger Außerirdischer, den er sich als Kind ausgedacht hatte. Einer, der immer alles konnte und verstand.
 
„Wenn sie Stefan Stobi sind, woraus besteht dann ihr grünes Amulett?“, fragte er argwöhnisch. Wieder ließ der Fremde sein ironisches Glucksen hören. „Aus Dundiola!“, antwortete er. „Ein Gestein, welches auf meinem Planeten vorkommt!“ „Und… was essen sie am liebsten?“ Luis klopfte das Herz bis zum Hals. „Wyllententyne!“, entgegnete der Fremde freundlich. „Eine Suppe, gekocht aus Grunkelwurzeln und Bomiwasser.“
 
„Stevan! Du hier!?“ Luis ließ seine Reserviertheit fallen, sprang auf und umarmte den großen Mann. „Naja!“, rief Stevan Stobi mit dem vertrauten Glucksen, „So, wie du momentan am Arsch bist, musste ich einfach kommen. Lass mal alles fallen und freu dich wieder!“
 
„Aber mein verkorkstes Leben! Die vielen Verletzungen!“ „Ach was, jetzt suchen wir erstmal Fuffelfrüchte und kochen ein Kompott!“
 
Luis seufzte und ließ die Verzweiflung los, die von ihm floh, wie ein ängstlicher Windhauch. Und die Nacht verschwand mitsamt den Sternen und dem Meeresrauschen. Stattdessen wölbte sich über dem Strand nun ein schlumpfblauer Himmel und alles war in bonbonbunte Farben gehüllt. Stevan und Luis suchten nach Fuffelfrüchten, die auf einer Lolipalme wuchsen. Stevan kletterte hinauf und warf Luis sieben von den schmackhaften Früchten zu. Dann schnipste er mit den Fingern und ein großer Kochkessel erschien. Die Früchte schälten sich nun von selbst und hüpften hinein. Im Kessel, der kein Feuer brauchte, drehten sie sich schnell um die eigene Achse, bis sie heiß waren und zu schmackhafem Dullukompott verschmolzen. Dabei sangen sie unaufhörlich Beatlesmelodien. Luis und Stevan tanzten unterdessen um den Kessel und grölten mit: „Kennt bei mi Lahaff, kennt bei mi Lahaff! Bebi dohnt niet noh Deiment Ring!“ Um sie herum flatterten Nallischmetterlinge und von dem Duft des Kompotts wurden Gurkentiere angelockt, die auch gerne einmal davon probieren wollten. Luis, Stevan und die Gurkentiere setzten sich nun in den Sand und aßen das Dullukompott, das ihnen ausgezeichnet mundete.
 
Luis machte eine Rolle rückwärts und… es war wieder Nacht, still und sternenklar. Wie einen fernen Boten spürte Luis seinen Schmerz  wieder. Aber die Erinnerung an ihre verrückte Strandpartie schütze ihn davor, wieder abzugleiten in die Verzweiflung. Stevan stand vor ihm. „Das hat doch Spaß gemacht, oder?“ fragte er. „Ja, sicher…“, sagte Luis, „Aber das kann man doch nicht immer machen. Man muss sich der Welt doch auch stellen.“ „Aber das tust du doch!“, lachte Stevan, „Die Welt mit den Fuffelfrüchten und den Nallischmetterlingen ist genau so wichtig wie deine sogenannte ‚reale Welt‘. Und sie hat dir doch echt gut getan, oder?“ „Ja!“ seufzte Luis aus vollem Herzen. „Wie gerne würde ich immer in dieser Welt leben! Aber ich… ich muss kämpfen!“ Luis spürte wieder jene trotzige Resistenz in sich, jenen Hass, jenes sich behaupten müssen, jenes um jeden Preis leben wollen.
 
Stevan legte die Hand auf Luis Schulter. „Und was hat er dir gebracht, dein Kampf? Wunden, Verletzungen und Narben. Du willst doch lieber in der guten Welt der Fuffelfrüchte leben, du willst doch heimkehren?“ „Ja, schon… Aber ich muss doch, ich will doch… mich behaupten….“ „Luis.“ sagte Stevan freundlich. „Wer ist dein Feind?“ „Ich, ich weiß es nicht. Die ganze Welt ist feindlich!“ „Nein, Luis, du bist dein eigener Feind. Weil du auf diese trotzige Resistenz in deiner Brust nicht verzichten willst.“ Luis lachte bitter. „Hätte ich die nicht, wär ich schon längst draufgegangen. So aber habe ich mir immer wieder gesagt ‚Denen zeig ich‘s! Jetzt erst recht‘. Ohne diesen Trotz wär ich krepiert!“ „Ja.“, sagte Stevan, „er war dir ein guter Diener. Und er hatte seinen Sinn. Aber jetzt, glaube ich, möchtest du etwas anderes lernen.“ Luis sah Stevan fragend an: „Ja? Und was?“ Stevan setzte sich zu Luis in den Sand. „Die wahre Lebenskunst, die dich befreit vom Überlebenskampf. Denn es ist doch so: Du glaubst nur kämpfen zu müssen, weil du nicht sterben willst. Einerseits willst du dein Ego mit aller Macht am Leben erhalten, anderseits wünschst du dir schon lange , heimzukehren ins Land deiner Träume.“ „Ja, jeder hat doch diesen Wunsch!“, seufzte Luis, „Aber man darf diesem Wunsch nicht nachgeben!“ „Warum nicht?“, fragte Stevan. „Weil… weil man sonst stirbt!“, stieß Luis hervor. „Ja und wenn??? Was willst du lieber? Weiter ein eiserner Krieger sein, der Wunden schlägt und Wunden einfährt oder heimkehren!?“ „Na, heimkehren!“, rief Luis leidenschaftlich, „Aber es geht doch nicht!“ „Natürlich geht es. Du musst nur deine Angst vorm Tod verlieren. Einer von den Beatles, John Lennon, hat mal gesagt: ‚War is over, if you want it. Der Krieg ist vorüber, wenn du willst!‘ Du, Luis, du schaffst dir den Krieg und die Hölle, in der du lebst, weil du nicht sterben willst. Weil du Angst hast vor diesem Wort ‚Sterben‘. Aber du wirst nur wirklich leben, wenn du das zulässt.“ „Aber dieser Kampf ist doch alles, was ich kenne!“ „Und doch willst du eigentlich etwas anderes kennenlernen. Du willst eine Welt kennenlernen, in der sich die Mensch helfen, in der die Liebe regiert.“ „Ja, das möchte ich so gerne!“ „Das kannst du! Denn die Welt, die du suchst, ist die Welt, in der du lebst. Du musst nur loslassen von deiner trotzigen Resistenz und heimkehren zur Liebe. Dann wirst du merken, dass alles, wogegen du immer gekämpft hast, Seiten von dir sind. Hör auf zu kämpfen, Luis, kehr heim. Werde ein Liebender!“
 
„Ja“, seufzte Luis, „Das möchte ich!“ Und er ließ die trotzige Resistenz in seiner Brust los und der Krieger Luis starb. Er sah auf. Bei Stevan Stobi standen jetzt auch sein Vater und seine Freundin Mox, die beide schon auf der anderen Seite des Daseins waren. „Willkommen, Luis!“, sagte sein Vater, „Jetzt bist du wieder zu Hause. Jetzt bist du wieder ein Kind.“ „Ein Kind der Liebe!“, ergänzte Mox und ergriff zärtlich Luis Hand. Da spürte Luis einen Schauer durch seine Glieder gehen und er fühlte, wie alle Verletzungen, aller Hass und alle Bitterkeit weggespült wurden von Mox‘ Liebe, von seines Vaters Liebe, von der Liebe des Kindes in ihm. Der alte Krieger war tot. Luis lebte. Und er ging zurück über den Strand zu den anderen Menschen und erkannte: Der Krieg war vorüber. Die Liebe hatte gesiegt. Und aus dem Meer stieg hell und wärmend die Sonne auf.
 
 
© by Patrick Rabe
 
Mo, 24. 3. 2014, 3.oo Uhr, Hamburg Langenhorn.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.03.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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