Germaine Adelt

Der Samariter

    Gemächlich radelte Wittek mit seinem Fahrrad die Feldwege entlang. Vorbei an den verstreuten Höfen, den Roggenfeldern und Wiesen. Sichtlich genoss er die noch wärmenden Strahlen der Nachmittagssonne und die Stille die ihn umgab. Er liebte es, Fahrrad zu fahren, noch viel mehr als joggen. Sein alter, schlecht gefederter Drahtesel holperte über die Schottersteine. Aber genau das war es, was für ihn den Reiz ausmachte.

Ein Jeep überholte ihn. Die junge Frau am Steuer sah ihn mitleidig an, als wolle sie sich schon jetzt für die Staubwolke entschuldigen, in die sie ihn zwangsläufig hüllen würde. Betont langsam lenkte sie das Auto an ihm vorbei und hielt dann auf dem Hof, der knapp fünfzig Meter vor ihm lag. Nachdem sie ausgestiegen war, lief sie um das Auto herum und öffnete die hintere Beifahrertür. Erst jetzt sah Wittek, dass ein Kind auf der Rückbank saß. Die junge Frau wollte das Kind herausnehmen, aber es hatte noch keine Lust auszusteigen und fing laut an zu quengeln. So ging die Frau unverrichteter Dinge los um das Garagentor zu öffnen.

Wittek beschloss umzukehren. Er war an der Zeit, den Rückweg anzutreten. Auf seinem Schreibtisch wartete noch reichlich Arbeit auf ihn, die er noch heute erledigen musste.

Plötzlich hörte er einen entsetzlichen Schrei. Erschrocken sah er sich um. Es war die junge Frau, die nun wie versteinert vor der noch immer geöffneten Autotür stand. Hastig sprang er vom Fahrrad und lief quer über das Feld zu ihr. Er lief so schnell er konnte, dennoch glaubte er auf der Stelle zu treten. Sie schrie noch immer. Mit ihren Händen zog sie wild an ihren Haaren, als wolle sie sich selbst verletzen, selbst Schaden zufügen.

Als er keuchend neben ihr stand, sah er mit Entsetzen das Kind leblos im Gurt hängen. Es hatte versucht allein auszusteigen. Nun lag es quer über dem Kindersitz auf dem Bauch. Die kleinen Füße berührten fast den Boden des Weges und die Arme hingen leblos herab. Um Hals und Schulter der verhedderte Gurt, straff wie ein gespanntes Drahtseil.

Die Frau schrie noch immer. Außer sich vor Entsetzen, war sie nicht mehr sie selbst. Hilflos sah Wittek sich um. Nur Felder und Wiesen und niemand war zu sehen. Verzweifelt packte er sie an ihren Schultern und schüttelte sie, dennoch bemerkte sie ihn gar nicht. Mit großer Geste holte er aus. Es tat ihm schon jetzt leid, aber er wusste sich keinen anderen Rat und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Vermutlich zu stark, seine Handinnenfläche begann sofort zu schmerzen. Teilnahmslos sah sie ihn an.

„Gehen Sie“, sagte er betont langsam und deutlich, „und rufen Sie sofort einen Notarzt.“

Sie nickte nur mit glasigem Blick und stolperte hastig ins Haus.

Vorsichtig versuchte Wittek den Gurt zu entwirren. Seine Hände zitterten vor Aufregung. Er wollte diesem kleinen Geschöpf nicht noch größeren Schaden zufügen. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis er endlich den kleinen Körper befreit hatte. Die Frau war noch nicht wieder aus dem Haus zurückgekehrt und er betete, dass sie inzwischen seinen Befehl befolgt hatte.

Behutsam legte er das Kind auf den staubigen Boden und drehte es auf den Rücken. Das Gesicht war blau, die Augen halbgeöffnet und am Hals zeichneten sich tiefe Strangfurchen ab. Es war ein Mädchen. Sie trug ein rotes Kleidchen und war vielleicht gerade zwei Jahre alt. Das Mädchen war tot, davon war er fest überzeugt. Er konnte nicht fassen was geschehen war. Irgendetwas musste er tun, egal was. Behutsam kniete er sich neben den kleinen Kopf und pustetet zaghaft ein wenig Luft in ihren Mund. Ihm war klar, dass dies nicht ausreichte. Er musste sie wieder anfassen, auch wenn es schwer fiel. Den Tod zu sehen war schlimm genug. Aber ihn auch noch in seinen Händen zu spüren, kostete ihn Überwindung. Entschlossen fixierte er ihren Kopf, der wie ein Ball über seine Handfläche rollte, um gezielt seine Atemluft in sie hineinzublasen. Dann legte er seine Hand auf ihren Brustkorb und drückte mit zwei Fingern auf das Brustbein, wie man es ihm vor Ewigkeiten für die Fahrprüfung gezeigt hatte.

In welchem zeitlichen Wechsel die Herzmassage und das Beatmen zu vollziehen war, hatte er vergessen. Aber das war ihm jetzt egal. Ihn interessierte auch nicht, dass der kleine Körper keinerlei Reaktion auf seine Rettungsversuche zeigte. Monoton doch konzentriert machte er immer weiter. Dieses Kind war verloren aber er konnte einfach nicht aufhören. Atemlos hielt er inne und versuchte angestrengt mit ein paar Atemzügen seine Lunge wieder zu mobilisieren. Seine Energie ließ immer mehr nach. Aber eine innere Kraft trieb ihn an.

Jemand schluchzte leise. Es war die Frau, die wohl schon eine Weile neben ihm stand, ohne dass er es bemerkt hatte. Am liebsten hätte er sie in seine Arme genommen um sie zu trösten. Aber für sie hatte er keine Zeit. Unermüdlich machte er weiter. Dann fiel ihm plötzlich ein, was er einst gelernt hatte. Das Verhältnis von Atemspende und Herzmassage war fünf zu eins. Was aber für fünf stand und was für eins, daran konnte er sich jetzt nicht erinnern. So beschloss er, sich von seinem Gefühl leiten lassen und nicht weiter mit der Frage zu quälen.

Er zitterte am ganzen Körper vor Erschöpfung. Verzweiflung breitete sich aus. Nichts hatte er vollbracht. Dieses Kind war nicht mehr am Leben und er hatte es nicht verhindern können. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als dass dieses kleine Mädchen, wie Schneewittchen, einfach die Augen aufschlug um ihn anzulächeln.

Verzweifelt legte er seinen Handballen auf das Brustbein um mit beiden Händen die Druckmassage noch intensiver auszuführen. Mit Erschaudern sah er, wie der kleine Körper widerstandslos unter seinen Stößen bebte. Er konnte diesen Anblick nicht ertragen und starrte nur noch auf seine Hände. Ohnmächtige Wut kam hoch. Wut darauf, dass er nicht schneller gelaufen war. Seine Hände glitten automatisch vom Brustkorb zurück zum Kopf und umgekehrt. Sie arbeiteten wie allein, er konnte nicht mehr denken.

Plötzlich war der Widerstand weg, gegen den er bisher geblasen hatte und mühelos strömte seine Luft in den zarten Körper. Erschrocken hielt er inne. Der Luftstoß muss zu kräftig gewesen sein und ihre kleine Lunge verletzt haben. Eine andere Erklärung gab es nicht. Dennoch machte er weiter, er konnte und wollte nicht aufhören.

Die Sirenen der Rettungswagen nahm er nicht mehr wahr. Auch bemerkte er nicht, wie ein Arzt sich über ihn beugte. Wie besessen machte er immer weiter.

„Hören Sie bitte auf!“ sagte der Mediziner.

„Ich kann nicht“, flüsterte Wittek „es ist doch noch ein Kind!“

„Hören Sie mir zu“, forderte der Arzt. Diesmal war er es der betont langsam und deutlich sprach. „Sie können aufhören, wir übernehmen das jetzt.“

„Übernehmen?“, fragte Wittek ungläubig. Staunend betrachtete er das Kind. Es war noch immer leblos, aber die Haut sah wieder rosig aus und es schien, als sei ein Hauch von Leben zurückgekehrt. Mühsam erhob er sich, um den Helfern Platz zu machen. Ihm war schwindlig und in seinen Ohren summte es leise. Erschöpft setzte er sich vor den Jeep und lehnte sich müde an die Stoßstange. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und das Letzte was er sah, waren die erschrockenen, weit aufgerissen Augen der Frau.

 

Als er wieder zu sich kam, glaubte er, auch tot zu sein. Er war gebettet auf dem weichem Schoß einer wunderbar duftenden Frau, die ihm sanft die Stirn küsste. Genießerisch schloss er wieder die Augen. Entschlossen in diesem seinen Himmel zu verweilen, bis der stechende Schmerz in seiner Brust nachließ und das Lachen des Kindes zu hören war.

 

 

Diese Geschichte wurde in der Zeitschrift „Kurzgeschichten“ veröffentlicht (Lindow-Verlag) und alles begann hier bei e-Stories. Also Leute, nur Mut. Denn wer hier nicht wagt, der nicht gewinnt.Germaine Adelt, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.06.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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