Andreas Roller
Wie ich einen Witz mißverstehe
Valerie, wie du dich für mich schämen mußt!!!
Vorhang
auf, alle Augen auf mir! So wird es passieren: Ich lächle, dann grinse
ich, schließlich lache ich. Ich kann das gut, es passiert ja nicht das
ersten Mal. Ein Witz wird erzählt, Valeries Freundinnen kennen ihn
schon, Valerie kennt ihn schon, Mark, der ihn erzählt, kennt ihn
selbstverständlich (jedoch stockt er kurz vorm Ende, ehe er sich doch
noch daran erinnert).
Der Witz ist vermutlich interessant. Ich versuche ihn gedanklich zu
erfassen. Da geht es um einen Rabbi oder einen Priester. Nein, eine
Blondine. Ach Unsinn, Valerie ist selbst blond. Und schnell gekränkt.
Doch jetzt lächelt sie, das Ende fröhlich erwartend. Es ist kein
versauter Witz. Wenn Mark ihn mir unter vier Augen erzählen würde, dann
wäre es einer, soviel ist sicher. Valerie kratzt sich am Kopf, kratzt
sich die Kopfhaut wund und später beschwert sie sich wieder bei mir,
daß ihr Kopf juckt. Sie macht das, ohne daß es jemand bemerkt, außer
mir. Die anderen lauschen und mustern meine Gesichtszüge. Für sie ist
diese Situation so entspannend. Sie kennen diesen Witz, der ein guter
Witz sein muß. Sie beobachten mich und ziehen Freude aus meiner
Reaktion, lachen, wenn ich lache und erinnern sich vielleicht an jenes
erste Mal, bei dem sie selbst darüber lachen mußten.
Ich schweife ab, verflucht.
Mark hat eine so imposante Körperhaltung, er erzählt so galant, mit so
viel Ausdruck, so lebhaft. Die Figuren, die in dem Witz vorkommen,
haben einen eigenen Sprachstil, er verwendet sogar Gestiken, um sie
überzeugender darzustellen. Warum ist er bloß Beamter geworden? Er
hätte es so weit bringen können.
In dem Witz geht es vermutlich um einen Polen, so viel weiß ich jetzt.
Autos sind involviert, daher liegt es auf der Hand, daß es um einen
Polen geht. Oder einen Sachverhalt, der einen Polen miteinbezieht.
Sagte er Auto? Oder Haut? Die Worte klingen ansich nicht sehr ähnlich,
doch es fällt mir schwer aufzupassen, während ich mich auf den dünnen
Spucke-Film konzentriere, der jetzt auf Marks Lippen liegt. Valerie
sollte mit ihm zusammen sein, nicht mit mir. Sie wären so ein schönes
Paar. Sie könnten sich stundenlang Witze erzählen, was für ein Traum.
Oh nein, es geht in die Endphase. Die Pointe läßt auf sich warten.
Nein, war sie das? Ein kurze Pause, alle sehen mich an. Ich lache
nicht, vorsichtig, ganz vorsichtig (es könnte eine Falle sein).
Verflucht! Valerie, du bist so hübsch, ich liebe deine blonden Stränen
und deine süßen Backen, deine spitze Nase und diese ewig treuen Augen.
Ich will dich nicht verlieren. Ich bin dumm, ich hätte es dir sagen
sollen. Morgen, wenn wir aufgestanden sind, sage ich es dir: „Ich bin
so dumm, Valerie“. Aber vermutlich würdest du gar nicht verstehen, was
ich damit meine. Ich will dich streicheln, dich fernab deiner zickigen
Freundinnen umarmen und nie wieder loslassen. Wie ich mich davor
fürchte, dich zu verlieren. Halt, es geht noch weiter!
Dieser Witz drängt mich in die Ecke. Bald ist es vorbei. Ein letztes
Aufatmen. Ich versuche mich zu konzentrieren. Was hat er erzählt? Worum
geht es? Ein Priester, ja. Und Haut, oder ein Auto. Und vermutlich ein
Ort, an dem das Ganze spielt. Es war kein sehr langer Witz, daher kann
ich ihn wahrscheinlich rekonstruieren, wenn ich nur die Pointe
mitbekomme. Aber was, wenn nicht? Wie soll ich lachen? Die Art des
Lachens verrät mich. Ein trockener Witz verlangt ein amüsiertes, nicht
hellauf begeistertes Lachen, vielleicht auch nur ein munteres Verziehen
der Mundwinkel oder ein hämisches Glucksen. Aber wenns ein richtiger
Schenkelklopfer wäre und ich angestrengt den Briten dazu spiele?
Ich hasse mein Leben. Ich bin so dumm. Es gibt nur einen Witz, den ich
mir merken kann: Fliegt ein Kuckuck übers Meer. Er trifft einen Hai.
Sagt der Hai: „Kuckuck!“, sagt der Kuckuck: „Hai!“. Warum erzählt ihr
mir Witze? Ich kann dabei nicht lachen, lache nur über mich selbst.
Wenn Valerie mich jetzt beobachtet, jetzt wo der Witz fast vorbei ist,
wenn sie mich jetzt ertappt, könnte dieser Moment das Ende für uns
bedeuten? Das endgültige Aus?
Hier! Jetzt! Schlimm! Die Pointe ist da. Ein Moment der Wahrheit. Die
Situation erfordert eine Reaktion von mir. Was hat er gesagt? Alle
starren mich an. Valerie, sieh doch nicht hierher, ich bitte dich, sieh
weg. Schau, die schönen Fotos an der Wand! Oder sieh aus dem Fenster.
Puh, ist es kalt draußen, was? Wie du dich für mich schämen mußt! Ich
wage einen letzten Versuch. Was war die Pointe? Was waren seine letzten
Worte? Ich rekapituliere, ja, ich weiß es noch! Es war:
Am nächsten Tag kommt der Blinde zurück und sagt zu ihm „Nicht so schlimm, ich hab den Parkplatz auch so gefunden“.
Es wird schwarz vor meinen Augen, mir wird speiübel. Welcher Blinde?
Was ist aus dem Polen geworden und seinem Auto? Sind die beiden schon
über die Grenze? Und wo ist der Priester abgeblieben? Hat er uns im
ersten Akt verlassen? Valerie, ich entäusche dich, ich weiß. Und dann
passiert es, daß ich einfach abschließe. Das wars dann mit meinem
Leben. Wenn ich dich nicht haben kann, will ich nichts. Valeries
Freundinnen glucksen dumm, das könnte ich ihnen natürlich nachmachen -
etwas stärker vielleicht, schließlich hörten sie den Witz nicht zum
ersten Mal. Valerie hat den Mund leicht geöffnet, ihre Zähne blitzen,
sie sieht mir eindringend in die Augen. Eine Unendlichkeit in ihr.
Unser letzter Moment. Mark wartet auf mich. Jetzt muß es geschehen. Ich
schließe mit allem ab. Valerie, ich liebe dich. Für dich tue ich es:
Ich lache, meine Stimme schallt durch den Raum, alle hören es, alle
beurteilen es, alle verurteilen mich, weil sich ihnen meine Dummheit
entlarvt. Oder sie bemerken gar nichts. Sie denken gar nicht über mich
nach. Sie interessieren sich einen Scheiß für mich, denken nur ans
Fressen und Vögeln und daran, wie sie möglichst viel Kohle scheffeln
können. Wäre das schön, wäre das eine schöne Welt! Schließlich höre ich
auf, kratze mich am Kopf. Und nutze die eben entstandene Ruhe, um Mark
etwas zu entgegnen:
„Ja, der war nicht schlecht. Aber kennst du schon den mit dem Kuckuck und dem Hai?“
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.11.2005.
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