Jessica Idczak

Erinnerungen

Kerzenlicht erhellt das Zimmer. Im Hintergrund läuft leise traurige Musik. Es ist nicht auszumachen, welches Lied gerade gespielt wird, doch es ist ganz klar zu hören, dass es traurig ist. Es ist kalt in diesem Zimmer, die brennenden Kerzen spenden keinerlei Wärme. Niemand würde sich wohl freiwillig in diesem kalten Zimmer aufhalten. Doch da sitzt ein Mädchen. In einer schwarze Hose und einem graues T-Shirt sitzt sie dort zusammen gekauert auf einer Matratze, an eine schwarze Wand gelehnt. Sie sagt nichts, sie reagiert nicht einmal, sondern starrt nur wie gebannt in die Flamme der Kerze, die sie in ihrer Hand hält. Die langen roten Haare fallen ihr ins Gesicht und drohen an der Kerzenflamme zu versengen. Das Mädchen aber scheint das nicht zu interessieren, fasziniert schaut sie dem Flammenspiel zu, welches durch den Luftzug zwischen der offenen Tür und dem offenen Fenster gespielt wird. Sie scheint in einer völlig anderen Welt zu sein, sie nimmt nichts um sich herum war.
Vor ihren Füßen steht ein großer geöffneter Karton, der die Aufschrift „Vorsicht, schmerzhafte Erinnerungen!“ trägt. Mittlerweile hat sich die Musik verändert. Sie ist nicht mehr traurig, sondern aggressiv. Das Mädchen greift nach der Fernbedienung, die zu ihrer Linken liegt, und erhöht die Lautstärke per Knopfdruck. Der Boden beginnt zu beben, so laut dröhnt die Musik jetzt aus den Lautsprecherboxen. Im Takt der Musik beginnt das Mädchen, mit dem Kopf zu nicken. Erst ganz sacht, dann immer heftiger, bis sie schließlich immer und immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand stößt. Ihre Haare fliegen wild durcheinander und geben von Zeit zu Zeit einen Blick auf ihr Gesicht frei.
Sie muss ein hübsches Mädchen sein, mit ihren tiefblauen Augen, ihren sinnlichen Lippen, den rosigen Wangen, wenn es ihr gut geht. Doch von dieser Schönheit ist in diesem Moment nicht viel zu sehen. Ihre Augen sind leer, ihre Lippen sind aufgeplatzt und blutig gebissen. Lange schwarze Wege zieren ihre Wangen. Wege, die ihre Tränen geflossen sind. Aber das Mädchen weint nicht, nicht mehr. Sie ist leer, sie hat keine Tränen mehr.
Das Lied ist zu Ende, das Mädchen hält den Kopf wieder still, greift erneut nach der Fernbedienung und drosselt die Lautstärke der Musik wieder. Vorsichtig stellt sie die Kerze auf den Boden neben den Karton. Man kann ihr ansehen, wie sie innerlich mit sich kämpft. Sie streckt ihre Hand aus, um den Karton zu öffnen, besinnt sich dann aber doch eines anderen und zieht die Hand schnell wieder zurück. Einige Sekunden verharrt sie, beide Hände vor der Brust haltend, und atmet ruhig. Dann schließt sie die Augen, holt einmal tief Luft und streckt wieder ihre Hand aus. Diesmal zögert sie nicht, schnell ist der Pappdeckel des Kartons gehoben und beiseite gelegt. Das Mädchen rückt näher an den Karton und wirft einen Blick hinein. Ihre Augen bekommen einen seltsamen Glanz, als sie schließlich hinein greift und einen Stapel Briefumschläge heraus holt. Manche sind dicker, andere sehr schmal; einige sehen aus, als wären sie oft angefasst worden, wieder andere wirken wie neu. Diesen Stapel legt das Mädchen jedoch zur Seite, ohne ihn näher zu betrachten. Es scheint, als würde sie sich diese Briefe für später aufbewahren wollen, für einen besonderen Moment. Wieder greift sie in den Karton. Diesmal befördert sie ein Fotoalbum heraus. Es ist aus hellem Leder gebunden und auf der Vorderseite mit einer Rose bedruckt. Für einige Sekunden fesselt diese Rose den Blick des Mädchens, dann schlägt sie das Album auf und verharrt auf der ersten Seite. Das Foto auf dieser ersten Seite zeigt einen jungen Mann, vielleicht um die neunzehn oder zwanzig Jahre alt, der ein junges Mädchen im Arm hält. Dieses Bild treibt dem Mädchen wieder die Tränen in die Augen, doch sie lässt ihnen keinen freien Lauf. „Es ist noch nicht an der Zeit zu weinen“, murmelt sie kaum hörbar. Sie blättert um, wieder das gleiche Pärchen, diesmal wie sie sich küssen. Das Mädchen seufzt, es klingt fast wie ein Schluchzen, doch wieder erlaubt sie sich nicht, zu weinen. In dem Wissen, was die weiteren Seiten zeigen werden, klappt sie das Album zu und legt es auf die Seite. Beim nächsten Griff in den Karton holt sie ein T-Shirt hervor, in welches ein Bilderrahmen eingewickelt ist. Als sie diesen vorsichtig auswickelt, beginnt sie zu zittern. Es ist ein Gedicht, welches der junge Mann auf den Fotos einmal für sie geschrieben hatte. Sie weiß noch jede Zeile auswendig, weswegen sie auch den Rahmen schnell zur Seite legt. Dann nimmt sie das T-Shirt in beide Hände und schnuppert daran. „Es riecht immer noch nach ihm. Nach all der Zeit in diesem Karton haftet noch immer sein Duft an diesem T-Shirt“, sagt sie wieder ganz leise zu sich selbst. Sie schlüpft aus ihrem eigenen T-Shirt und zieht jenes an, welches sie eben aus dem Karton befreit hat. „Du sollst mir nah sein in diesen Minuten der Einsamkeit“, flüstert sie heiser und greift erneut in den Karton. Ein kleiner grauer Plüschhund und ein blauer Briefumschlag kommen zum Vorschein. Sie küsst den Plüschhund sanft auf die Nasenspitze und setzt ihn dann neben sich auf die Matratze. Dann steht sie auf, geht hinüber zum Schreibtisch, greift nach dem Brieföffner und geht zurück zur Matratze. Dort setzt sie sich und lehnt sich wieder an die schwarze Wand. Ihren Kopf an die Wand gelehnt schließt sie die Augen und seufzt leise. „Warum tu ich mir das alles nur an?“, fragt sie leise, wissend, dass niemand ihr diese Frage beantworten kann und wird. Sie ist alleine in diesem Raum, niemand hört sie, niemand sieht sie. Erneut seufzt sie, öffnet die Augen und greift schließlich nach dem Briefumschlag. Vorsichtig, fast zärtlich öffnet sie ihn mit dem Brieföffner. Als sie zwei Zettel herausholt, fallen ihr eine Kette mit einem Herzanhänger und ein Ring in den Schoß. Wieder mit den Tränen kämpfend nimmt sie beides, streift den Ring auf ihren Ringfinger der rechten Hand, wo sie ihn früher auch immer getragen hatte. Auch die Kette findet ihren Platz wieder um ihren Hals, der Anhänger befindet sich wieder auf der Höhe ihres Herzens, welches nun nicht mehr aufhören will zu schlagen. Das Mädchen zittert, als es wieder nach den Zetteln greift, diese auseinander faltet und zu lesen beginnt.
Es ist ein Abschiedsbrief, den sie vor genau einem Jahr geschrieben hatte. Ein Abschiedsbrief an jenen jungen Mann auf den Fotos, der sie in jungen Jahren im Arm hielt und sie küsste. Jener junge Mann, den sie aufgrund einer vorschnellen Entscheidung verloren hatte, verloren an seine beste Freundin. Jener junge Mann, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte. Jener junge Mann, in dessen Armen sie liegen wollte, wenn sie einmal sterben würde.
Er konnte nicht wissen, dass sie genau jetzt an ihn dachte, dass sich ihre Gedanken immerzu nur um ihn gedreht hatten. Er konnte nicht wissen, dass sie ihn noch immer liebte, dass sie ihn all die Zeit geliebt hatte. Er konnte nicht wissen, dass sie jeden Mann, der ihr näher kommen wollte, mit ihm verglichen hatte. Mit ihm, ihrer ersten und letzten großen Liebe. Er hatte ihr nicht geglaubt, als sie ihm sagte, dass er die Liebe ihres Lebens sei, dass sie ihn bis an ihr Lebensende lieben würde. Er hatte ihr nicht glauben wollen, dass er ihr alles bedeutete.
Als sie diese Gedanken, die ihr beim Lesen dieses Abschiedsbriefes kommen, treiben ihr wieder die Tränen in die Augen. Und diesmal lässt das Mädchen sie gewähren, gebietet ihnen keinen Einhalt, sondern lässt ihren Tränen freien Lauf.
Sie kennt diesen Brief, sie weiß, was darin steht, als hätte sie ihn erst gestern geschrieben. Immer und immer wieder liest sie ihn, denkt darüber nach, was sie aufgegeben hatte. Denkt daran, was hätte anders laufen können und laufen sollen. Doch letztendlich kommt sie wieder zum selben Ende wie sie es immer tat, wenn ihre Gedanken diesen Weg spannen. Es musste so kommen, wie es gekommen war. Es wäre so gekommen, selbst wenn sie sich zu jenem Zeitpunkt anders entschieden hätte. „Ich hätte ihn verloren, egal, was ich getan hätte“, flüstert sie wieder. „Ich habe ihn verloren, weil das Schicksal es nicht anders für mich vorher bestimmt hatte. Und das Schicksal hat auch diesen Weg für mich bestimmt.“ Den letzten Satz spricht sie mit fester klarer Stimme. Ihre Hand greift wie von selbst zu ihrem Nachttisch, zieht dessen Schublade auf und holt einen kleinen Dolch hervor. Er ist silberfarben, leicht gebogen und hat einen mit roten Edelsteinen verzierten Griff. Zärtlich streicht sie mit einem Finger über die kleinen Steine. Dann hebt sie den Dolch an ihr Gesicht und fährt mit dem kühlen Metall über ihre heiße Haut. Die Kälte fühlt sich gut an und plötzlich wird das Mädchen ganz ruhig. Mit beiden Händen umfasst sie den Griff des Dolches, umklammert ihn so sehr, dass ihre Fingerknochen weiße Stellen auf ihrer Hand hinterlassen. Die Zeit scheint still zu stehen, selbst die Luft scheint den Atem angehalten zu haben. Sekunden vergehen, die dem Mädchen wie endlos vorkommen. Dann atmet sie ein letztes Mal tief ein und sticht zu. Tief bohrt sie den Dolch in ihre Bauchdecke und zieht ihn dann mit einem Ruck wieder hervor. Es ist ihr egal, ob die blaue Bettwäsche auf ihrer Matratze beschmutzt wird. Es ist ihr egal, ob der Heizkörper hundertmal neu gestrichen werden muss, damit man die Blutspritzer nicht mehr sieht. Wieder und wieder sticht sie zu, ihre Hände fest um den Dolch geklammert. Sie spürt keinen Schmerz, sie weint nicht, sie sitzt einfach da und schaut ihrem eigenen Blut zu, wie es aus ihrem Körper rinnt.
Schließlich sackt sie in sich zusammen, die Verkrampfung ihrer Hände löst sich und sie lässt den Dolch fallen. Sie greift nach dem Plüschhund und drückt ihn an ihre Brust, genau an die Stelle, an der ihr Herz bald aufhören wird zu schlagen. Sie schließt die Augen, sie möchte nicht länger ihr eigenes Blut sehen, dessen Lache sich im Schein des Kerzenlichtes immer weiter vergrößert. Sie weiß, sie wird bald das Bewusstsein verlieren. Mit geschlossenen Augen liegt sie da, presst den kleinen Plüschhund noch fester an ihren Körper.
„Ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt und ich werde dich immer lieben. Irgendwann werden wir wieder vereint sein und bis dahin werde ich auf dich warten.“ Als diese Worte leise ihre Lippen verlassen, wird die Tür zu ihrem Zimmer mit einem lauten Knall zugeschlagen. Der dadurch entstehende Luftzug lässt die Flammen der Kerzen erlöschen. Und das Mädchen weiß, dass es gleich vorbei ist. Ein letzter Atemzug verlässt ihre Lunge, eine letzte Träne findet ihren Weg, ein letzter Kuss auf den Plüschhund, der im nächsten Moment von ihren Händen losgelassen wird und in einer Pfütze ihres Blutes landet. Es ist vorbei...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.11.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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