Ingrid Grote

Keine 50...

 

Was zum Teufel war da los? Normalerweise war SIE die Frühaufsteherin im Haus, und ihre Schwester schlief bis in den späten Morgen hinein. 
 
Jedenfalls war an diesem frühen Samstagmorgen irgend etwas los. Sie hörte, wie jemand hastig in der Wohnung über ihr herumlief, kurze Zeit später polterte jemand die Treppe hinunter, sie hörte ein Auto wegfahren, und dann herrschte Ruhe. 
 
Ihr Haus war sehr hellhörig, das lag wahrscheinlich an den vorsintflutlichen Spalierdecken, die nur aus Müll und Lehm bestanden und die jeden Laut von oben gnadenlos verstärkten. Wenn jemand eine Flasche oben auf die Küchenarbeitsplatte stellte, hörte es sich eine Etage tiefer an, als würde jemand kegeln. Das fand sie ziemlich unangenehm und lästig... 
 
Sie machte sich keine großen Gedanken über den unerwarteten frühen Lärm. Ihre Schwester führte ein unorthodoxes Leben, sie ging oft aus, hatte viel Besuch, ging viel zu Besuch und war eigentlich immer beschäftigt. Wenn sie einmal nicht ausging, keinen Besuch hatte und auch nicht auf Besuch gehen konnte, dann geriet sie fast in Panik. Ihre Schwester musste halt immer etwas machen, und das lag bestimmt an ihrer unermesslichen Lebensgier. Und in zwei Wochen würde sie fünfzig Jahre alt werden. 
 
Eigentlich hatte sie Angst vor dem Geburtstag ihrer Schwester, denn das Mädel hatte noch nie eine Feier ausgelassen hatte, und wahrscheinlich würde die Feier zu ihrem fünfzigsten Geburtstag alles andere in den Schatten stellen. 
 
Und wie schon gesagt, sie wohnten im gleichen Haus. Also konnte sie sich darauf einstellen, dass die Festlichkeiten zu Ehren des 50sten Geburtstages ihrer Schwester früh am Nachmittag beginnen und bis spät in den nächsten Tag hinein andauern würden. 
 
In letzter Zeit hatten sie nicht viel Kontakt zueinander gehabt. Es handelte sich natürlich nicht um größere Differenzen. Sie hatte nur keine Lust gehabt, mit ihrer Schwester zu reden, weil ihr vieles von dem, was sie trieb, nicht passte.
 
Sie verbrachte den Samstagvormittag mit Einkaufen und vor dem Computersitzen, bis um elf Uhr das Telefon ging. Es war ihre Mutter. Ihre Eltern lebten nicht mehr im Ruhrgebiet, sondern waren vor vielen Jahren wieder in die Heimat ihres Vater gezogen. 
 
„Was ist denn los bei euch?“, wurde sie von ihrer Mutter gefragt. 
 
„Wieso, was meinst du?“ Sie hatte absolut keine Ahnung, worauf ihre Mutter hinauswollte. 
 
„Deine Schwester hatte einen Herzinfarkt...“ 
 
„WASSSS?“ Das war... nein, sie konnte es nicht glauben! 
 
„Und du hast nichts davon gemerkt?“
 
„Sie hatte so Schweißausbrüche.“  Das stimmte, das hatte sie ihr erzählt, „aber die Ärzte meinten, es wären die Wechseljahre...“ 
 
„Ihr wohnt doch im gleichen Haus.“ Die Stimme ihrer Mutter klang vorwurfsvoll. 
 
„Himmel, wir sehen uns nicht jeden Tag. Also, was ist mit ihr?“ Wieso hatte sie das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen. 
 
„Sie kriegt drei Bypasse!“ 
 
„Oh Gott!“ Das durfte nicht wahr sein! Herzinfarkt mit neunundvierzig Jahren und dann direkt drei Bypasse. Dann war es wirklich schlimm!
 
Irgendwie hatte sie das Gefühl, abzustürzen, dieses Gefühl, das man manchmal im Traum hat, wenn man von einer Bordsteinkante abrutscht und kurzzeitig ins Bodenlose stürzt. Was für ein grauenhafter Gedanke! Ihre kleine Schwester, todkrank im Krankenhaus, die Rippen durchsägt, das Bein aufgeschnitten, Venen herausoperiert, ins Herz... Nein es war entsetzlich! Und sie würde ihr Leben ändern müssen. Nicht mehr rauchen, nicht mehr trinken, nicht mehr richtig gehaltvoll essen, sondern gesunde Ernährung und so weiter. Und wer weiß, wie lange... Nein, sie wollte nicht daran denken. 
 
Im Laufe des Tages erfuhr sie mehr. Ihre Nichte besuchte sie und erzählte ihr alles:
Wie sie ihre Mutter nach der Operation in der Intensivstation gesehen hatte. Sie war schon wach, aber sie würde nie die Panik in ihren Augen vergessen können... 
 
Wieder hatte sie das Gefühl, ins Bodenlose abzustürzen. So früh kann es gehen. Und so schnell kann es gehen. 
 
Sie hatte doch tatsächlich Angst. 
 
Sollte sie vielleicht etwas daraus lernen? Vielleicht diese unnötigen Differenzen vergessen? Wieder mehr zusammenrücken? 
 
Keine Ahnung. 
 
Oder doch?

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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