Julius: „Lass mich ausreden: Auf dem Bett liegend las ich
den Zettel und hätte im gleichen Moment vor Lust an die Decke springen können,
all meine schlechte Laune war wie weggeblasen – das versichere ich euch! – vor
den hereingeflogenen Gedanken einigermassen guten. Sie erfüllten mich. Ich war
wieder in einer guten Verfassung und hatte meinen Tiefpunkt überwunden , bereit
zu segeln - hurra! Ich konnte wieder segeln mit vollen Segeln unter dem
Wind!
Mark und Jonathan: „Du machst uns neugierig“.
Julius: „Als ich das
bedruckte Blatt zu Ende las, spürte ich ein Kribbeln im Bauch. Ich nahm die
Gedanken wie Weizenkörner in mir auf, damit sie Früchte bringen. Das war eine
wahre Wohltat.
Wie ganz selbstverständlich akzeptierte ich die
Schöpferkraft als etwas in mir, in Form von Problemen, in Form von Freude, in
Form von immerwiederkehrenden Stimmungs-schwankungen, im Vorhandensein meines
brodelnden Innern, aus dem heraus unaufhörlich Schaffenskraft fliesst. Mit
dieser Erkenntnis konnte ich wieder mit stiller Freude sagen: Hallo, ich bin
wieder zurück! Das bedruckte Blatt ist mir seither niemals mehr aus dem Kopf
gegangen. Ich will es euch beim nächsten Treffen zeigen.
Es schlägt zehn, der Mond rückt auf das Brandenburger Tor
zu, das hell erleuchtet sich gegen den nächtlichen Himmel abhebt. Die
Dunkelheit ist vollständig angebrochen. Ein
gemeinsamer Treffpunkt wird abgesprochen, dann auseinander.
Jonathan, ein scheuer, belesener und geistreicher Knabe, der
sich selbst als Hobby-Schriftsteller und Hausphilosoph bezeichnet, Mark nennt
ihn oft der Herkules an Geist, fand erst gegen halb drei in der Nacht den Weg
ins Bett. Er sann dem heutigen Erlebnis noch lange hinterher und schrieb eine
Menge guter Gedanken nieder, die an diesem Tag aufflogen.
Julius, ein hübscher, kluger und sympathischer Junge, durch
dessen Leben immer wieder die ungeheuerlichsten Stimmungsschwankungen ziehen,
denen er beinahe ganz ausgeliefert ist, der Angst hat vor einem unreflektierten
In-den-Tag-hinein-Leben und aus diesem Grund Bewunderung hegt für das Solide,
der Menschen liebt, die jeden Tag gleich aussehen, denken, fühlen, wenn sie
dabei zielstrebig und reif sind, alles Unausgegorene, Halbe, Träge verachtet,
und weiss, dass er fundamental abhängig ist von Dingen, die andere kaum
berühren: wie vom Wetter, von der Jahreszeit, von Geräuschen, Gerüchen, vom
Schlag der Menschen, die ihn umgeben. All solches prägt und formt ihn, solange
er damit in Berührung steht. Er macht
die erstaunlichsten Verwandlungen durch, nicht nur an Haltung, Stimmungen und
Gefühlen, sein Chamäleon-Wesen zeigt sich sogar an seinem äusseren Bild. Er
macht keine Versuche, die Wandlungen zu verbergen, könnte wahrscheinlich auch
nie die Lüge einer gleichmässigen Persönlichkeit aufrechterhalten. Was soll er
auch? Er bemerkt natürlich, dass er anders ist als die Anderen, aber seine
eigene Art hat neben allen Problemen auch ihren Segen, und er will nicht anders
zur Welt gekommen sein. Sein Selbstwertgefühl ist stark entwickelt, sein
Selbstbewusstsein noch schwach. Er weiss, er muss mehr unter die Menschen!
Julius war glücklich,
Freunde gefunden zu haben, mit denen er sich prächtig verständigen kann
und obwohl er in einer Woche eigentlich was anderes vor hatte, konnte er sich
innerlich schnell dazu durchringen, den geplanten Donnerstag Abend sausen zu
lassen und stattdessen Mark und Jonathan für das nächste Treffen zu sich
einzuladen.
Kaum zu Hause angekommen beendet Julis noch einen langen
Brief an SU, ein junges Mädchen einer Südseeinsel. SU schickte ihm per Post ein
Foto von ihr und von ihm. Der Schluss ist viel kürzer als er erwartet hatte.
Sehr konzentriert. Er ist damit relativ zufrieden.
Mark, ein grosser und hagerer Bursche, der ein gewisses
forsches und unbekümmertes Auftreten hat, rauscht auf seinem Fahrrad auf dem
Weg nach Hause die Strassen entlang und nimmt sich während der Fahrt für die
nächsten Tage vor, alles niederzuschreiben, was ihm gerade durch den Sinn geht,
wissend, dass er sich zum Schreiben zwingen muss. Wie oft hat er schon
versucht, stilvollendet seine
Gedanken aufs Papier zu bringen, aber
am Stil oder so oder sowieso naja scheiterte und das Papier am Ende ganz geruhig
in den Papierkorb zu knüllen.
Das Treffen bei Julius
abends.
In einer freundschaftlichen Atmosphäre sitzen Jonathan, Mark
und Julius bei einer Tasse Kaffee am braunen runden Küchentisch. Drei
greifbare, angreifbare, angriffige und unter die Haut greifende
Persönlichkeiten, die viel über Religion nachdenken, aber furchtbare Mühe
haben, mit einem dogmatisch festgelegten Christentum, das zudem noch in einen
Haufen sogenannter Konfessionen gespalten ist, zu identifizieren. Vor allem
Jonathan ist auf beglückende Weise herausfordernd. Er fordert mit seinen
Gedanken immer wieder zum Denken heraus, weiss Mark zu berichten.
Jonathan eröffnet die Gesprächsrunde mit folgenden Worten:
„Wenn der Schöpfer mal vor urferner Zeit daran gedacht haben sollte, Menschen
als seine Ebenbilder zu schaffen, dann hat er damals bestimmt auch schon an uns
gedacht, an die Auserwählten unter seinen Söhnen.
Der Stall von Bethlehem, den gibt es überall: in einem
Bauernhaus eines 200-Seelen-Bergdorfes, in einem mexikanischen Elendsviertel
oder in einem Fürstenschloss von Luxemburg.
Wir können zu Hause allein oder hier im kleinen Kreis
gemeinsam ein Tagebuch schreiben, uns vorgenommen haben wir, das eine als auch
das andere zu tun. Nachdem wir nun sieben Tage hinter uns gebracht haben,
sitzen wir vereint hier.
Jeder hat ein paar Tagebuchaufzeichnungen der vergangenen
Woche mitgebracht. Begeistert liest jeder des anderen unzensierten Ergüsse.
Danach versuchen sie aus den einzelnen Tagebuchblätter ein grösseres Stück zu
basteln, sie sind sich zuversichtlich, dass es hinhaut, aber es will sich nicht
so richtig etwas Übergreifendes und Gemeinsames herausformen; alles wirkt so steif und gekünstelt. Es fehlt
bestimmt nicht am Einsatz. Julius versucht zu integrieren. Noch sind sie
zuversichtlich, dass es hinhaut. Wenigstens mit der Zeit.
Mark ist schon sichtlich genervt: „Wir werden, wenn wir so
weitermachen, auch in neun Jahrtausenden unserer Freundschaft ....
Julius unterbricht: „Gott, wenn das möglich wäre!“
Mark: „ lass mich ausreden: .... wir werden dann so viele
Erfahrungen ziehen aus dieser Zeit, 9000jährige Weisheitsfülle, dass es uns
leicht – leicht sein müsste, ein schönes Tagebuch zu schreiben! Aber wir haben es aus zwei Gründen nicht
leicht: Vor uns toben Kriege, Hass und Rücksichtslosigkeit, Niedertracht und Feindschaft;
wahrlich ein ungutes Beispiel, das uns andere sogenannte Christen und Gläubige anderer Konfessionen geben, so dass
die Menschheit einer Katastrophe , einem Supergau zufahren dürfte. Dies lässt
sich auch aus allerlei anderen Zeichen annehmen. Und zum andern können wir dem
natürlichen Tod nicht entrinnen. Ich habe Angst, dass uns nicht mehr sehr viel
Zeit bleibt.
Jonathan: „Ich stimme dir zu, Mark, und auch wenn man die
Fantasie hätte, das Leben, das wir heute leben um zwei oder dreitausend Jahre
zurückzusetzen. Die Zustände ähneln sich so verdammt!
Julius: „ Ihr erinnert euch noch an das bedruckte Blatt, das
durch das offene Fenster wirbelte, als ein Herbsturm über das Land brauste? Ich
versprach euch, das Blatt zu zeigen.
Jonathan: „Ja! Noch am gleichen Abend sann ich über deine letzten
Worte nach und dabei fiel mir auf, dass du dich wohl schon mit dem Bibelwort
beschäftig hast: „Das Weizenkorn muss zur Erde fallen und sterben, damit es
Frucht bringen kann“. Noch lange musste
ich darüber nachdenken und stellte mir schliesslich die Frage: Was ist das
Leben?