Angelika Flister

Womöglich entzaubert

1. Lebkuchen
 
Womöglich haben viele Menschen auf der Welt diese eine, spezielle Person.
Du
kennst sie nur flüchtig, sie dich vermutlich überhaupt nicht. Und doch
hat sich ihr Gesicht in dir eingebrannt. Unmöglich, es wegzuwischen,
allein schon der Versuch scheitert jedes Mal aufs Neue. Dieser eine
Mensch schwirrt dir im Kopf herum, ganz unbewusst.
– Und eines steht
fest: Ihr lauft euch über den Weg. Immer wieder. Jetzt und heute, dann
und wann. Vielleicht im Supermarkt. Vielleicht in der Videothek.
Vielleicht im Bus.
Und jedes Mal setzt dein Herz einen Schlag aus,
dein Gesicht wird knallrot und dein Bauch jammert für einen kurzen
Moment süß auf. Dein Gehirn hat aus all den gespeicherten Gesichtern
deines Lebens genau das wieder hervorgeholt, es mit dem Gesicht an der
Kasse, am DVD-Regal oder auf dem Zweisitzer verglichen und für
identisch und liebreizend befunden.
Womöglich haben viele diese eine
spezielle Person; vermutlich bin ich aber auch nur ein armer Irrer in
einer menschenleeren Wüste.
Meine Person heißt Nadja.

Als ich
in der achten Klasse war, sah ich sie zum ersten Mal. Ich erinnere mich
noch genau an den Tag. Es war Herbst, Oktober. Ein goldener Oktober,
wie er im Buche steht. Die Temperaturen und die Sonnenstunden liefen
denen im Hochsommer den Rang ab und so ließ ich mich tatsächlich dazu
herab, mich für die große Pause nach draußen auf den Schulhof zu
begeben.
Ich war ein seltsamer Kerl. Janosch mit den dicken
Brillengläsern, der immer Bücher mit sich herumtrug. An diesem Tag war
es ein dickes grünes Schulbuch über Physik und ein Schinken, dessen
Inhalt und Namen ich vergessen habe. Es war vermutlich irgendein
Fantasyroman.
Und ich aß Lebkuchen. Das war an diesem Tag mein
Pausenbrot. Diesen würzigen Geruch brachte ich fortan stets mit Nadja
in Verbindung. Noch heute.
Wie immer steuerte ich zielsicher auf
meinen einsamen Stammplatz neben der Rotbuche zu. Er war direkt neben
den Müllcontainern, was mich nicht störte, meine Mitschüler allerdings
schon, weshalb sie sich in angenehmeren Bereichen des Hofes aufhielten.
Der Raucherecke beispielsweise.
So ignorierten die anderen mich, der
fröhlich darüber war, und ich die anderen, was sie nicht einmal
bemerkten. – Was mich wiederum freute.
Ich saß auf der Mauer, aß
meinen Lebkuchen und las in meinen beiden Büchern. Parallel. Der
Müllgeruch war nicht penetrant und erinnerte mich ein kleines bisschen
an den Supermarkt von nebenan.
Hätte ich nicht meinen Kopf ruckartig gehoben, um eine lästige Fliege wegzuscheuchen, hätte ich Nadja vermutlich nie gesehen.
Doch ich hob meinen Kopf. So war es vorhergesehen gewesen. Vom Schicksal, oder sonst wem.
Sie
stand an der Mülltonne und warf die Verpackung eines Schokoriegels weg.
Ein kleiner Fetzen Plastikverpackung in den riesigen Schlund des
Müllcontainers. Vermutlich schaltete mein Gehirn bereits ab diesem
Zeitpunkt auf „record“. Welcher Teenager wirft schon seinen Abfall in
die dafür vorgesehen Behälter?
Erst, als sich das Mädchen umdrehte,
entschied mein Gehirn, dass sich dieser Moment für immer in meine
Gehirnwindungen brennen sollte.
Sie trug ihr Haar nicht
ungewöhnlich: Ein rabenschwarzer geflochtener Zopf lag auf ihrer
rechten Schulter. Er glitzerte bläulich im Sonnenlicht. Ihr Gesicht war
blass, fast weiß mit einem leichten Goldstich, und wies asiatische Züge
auf, die ihr Gesicht jedoch nicht allzu puppenhaft erschienen ließen.
Ihre mandelförmigen Augen waren blau, himmelblau. Was völlig unpassend
und zugleich ungeheuer…richtig wirkte.
An die Kleidung, die sie an
diesem Tag trug, erinnere ich mich heute nicht mehr in allen
Einzelheiten. Wahrscheinlich war es etwas Unauffälliges, denn sie trug
meist unauffällige Sachen, die sie auffallend schön machten.
Ich
weiß noch, dass eine Freundin dazu kam – eine ihrer wenigen
Freundinnen, denn sie hatte nicht viele – und mit ihr redete. Dass ich
sie die ganze Zeit über beobachtete, schien sie kein bisschen zu
stören. Oder sie bemerkte mich ganz einfach nicht.
Ich überhörte sogar den Pausengong.

Von
da an brachte ich alles Mögliche über sie in Erfahrung. Aber nicht wie
ein Stalker. Ganz heimlich und verstohlen beobachtete ich sie, manchmal
belauschte ich auch ihre Gespräche. Nur manchmal.

So erfuhr ich
eines Tages – es war März –, dass sie wohl sehr politisch engagiert
war. Etwas, das ich mich nie traute, aus welchen Gründen auch immer.
Zudem arbeitete sie in der Freizeit bei der hierzustädtischen Tafel und
bereitete für die Obdachlosen warme Mahlzeiten zu. Und das, ohne etwas
dafür zu bekommen.
Ein wahrer Engel. Ich, der kleine Kerl mit der
hässlichen Brille, war hin und weg von ihr. Was, wenn ich mich als
Obdachloser verkleidete, und ihr am Donnerstagabend dort einen Besuch
abstatten würde? Ja, sicher, der Gedanke war einfach nur verrückt. Und
deshalb schlug ich ihn mir auch sofort wieder aus dem Kopf und trottete
stattdessen in Richtung Physiksaal, in dem ich mich wie immer in die
letzte Reihe setzte und mich trotzdem rege am Unterricht beteiligte.

Ich
sprach nie mit ihr, es genügte mir, sie heimlich zu beobachten. Es
erfüllte mich mit Glück und sorgte dafür, dass immer mehr Bücher
ungelesen auf meinem Nachttisch zu Hause vergammelten.
Ich musste
die kurze Zeit, in der ich noch die Möglichkeit hatte, sie zu
betrachten, nutzen, denn sie war in der zehnten Klasse und würde nach
den Sommerferien unsere Realschule verlassen.

Im Mai begann die
Renovierung des Schulgebäudes. Aus unerfindlichen Gründen war es
unmöglich, die ohrenbetäubenden Umbauarbeiten auf die in zwei Monaten
folgenden Sommerferien zu legen.
So erlitten ich und meine Mitschüler Höllenkopfschmerzen, während wir versuchten, dem Unterricht zu folgen.
Doch für mich hatte das Ganze etwas Gutes: Ich erfuhr an diesem Tag ihren Namen.
Wie es der Zufall so wollte, wurde unser Unterricht in ein fremdes Klassenzimmer verlegt, zwei Zeilen von unserem entfernt.
Es gehörte einer zehnten Klasse.
In
der Fünf-Minuten-Pause betrachtete ich die Bilder aus dem
Kunstunterricht an den Wänden, die Poster blöder Hip-Hop-Stars – und
das Klassenfoto.
Natürlich entdeckte ich sie sofort. Das hübsche Mädchen mit den asiatischen Zügen und dem asiatischen Nachnamen. Nadja Ye.
Eine
ganze Zeit lang stand ich sprachlos davor. Auf dem Foto sah sie sehr
ernst, aber nicht unfreundlich aus. Ihr Haar war zu einem Knoten
hochgesteckt.

Einige Tage später war ich der letzte, der das
Zimmer verließ, bevor wir in unser frisch renoviertes Klassenzimmer
zurückkehrten.
Heimlich löste ich die Reißzwecke, mit der das Klassenfoto an der Pinnwand befestigt war und steckte es in meine Tasche.
Natürlich wurde am nächsten Tag von empörten Lehrern und einigen Schülern danach gesucht, doch gefunden haben sie es nie.

Ein
bestimmter Teil davon hing fortan über meinem Bett, zusammen mit
anderen Fotos, damit es meiner Mutter oder anderen Besuchern nicht
auffiel.
Doch ich hatte Respekt vor Nadja und deshalb holte ich mir
mit ihrem Bild vor Augen nie einen runter. Dazu war sie einfach zu
schade.
 
 
 
2. Lina
 
Ob ich in sie verliebt war, ist schwer zu sagen. Kann man jemanden lieben, mit dem man nie gesprochen hat?
Mit
dieser und anderen ähnlich quälenden Fragen verbrachte ich die
Sommerferien. Großteils allein, im abgedunkelten Schlafzimmer.
Ich
musste die Rollos einfach herunterziehen, wenn ich nicht wollte, dass
die Sonne mich briet, meine kostbaren Fotos – von denen eins besonders
kostbar war – nicht ausblichen und die Temperaturen meines
Schlafzimmers nicht anfingen, denen im Gewächshaus den Rang streitig zu
machen.
Ich war regelrecht verzweifelt über die Tatsache, dass mir nun wohl oder übel eine Nadja-freie Zeit bevorstand.

Anstatt
weiterhin Trübsal zu blasen, strengte ich mich nach den Sommerferien im
Unterricht noch mehr an, als zuvor. Es diente vor allem zur Ablenkung;
aber natürlich wurde der Stoff an sich auch langsam anspruchsvoller und
bedurfte mehr Aufmerksamkeit, als gewöhnlich.
Ab und zu erwischte ich mich dennoch dabei, wie ich auf dem Schulhof den Blick schweifen ließ, ganz aus Gewohnheit.

Wie
es das Leben bei mir so wollte – wie es das Leben bei nahezu jedem
will, fand auch ich irgendwann meine erste, feste Freundin.

Als
ich erfolgreich in die zehnte Klasse versetzt wurde – und nebenbei
bemerkt genau das Klassenzimmer bezog, in dem Nadja vor zwei Jahren
unterrichtet wurde –, bekamen wir ein paar neue Schüler.
Hauptschulabsolventen und ehemalige Gymnasiasten, die auf ihre späten
Tage merkten, dass es für sie dort zu schwer war.
So ein großer
Andrang war ziemlich ungewöhnlich, doch unsere Klasse war mit
zweiundzwanzig Schülern die kleinste, weshalb uns fünf neue Mitschüler
nicht allzu sehr wehtaten. Drei Jungen und zwei Mädchen.
Eine von ihnen, Lina hieß sie, sollte aus unerfindlichen Gründen bald an mir Gefallen finden.

Lina
saß fortan neben mir und ignorierte mich nicht. Anders, als der
Großteil meiner Klassenkameraden. Sie plauderte sogar mit mir, ganz
normal, ganz selbstverständlich. Und sogar freundlich.
Womöglich lag
es daran, dass ich ihr bei den Hausaufgaben half – sie hatte zu Anfang
erhebliche Schwierigkeiten mit dem Stoff. Es konnte auch daran liegen,
dass ich sie ab und zu bei Arbeiten abschreiben ließ, ohne etwas
dagegen zu sagen.
Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich die
Akne schon lange hinter mir gelassen hatte und ich – abgesehen von der
großen Brille – inzwischen ein recht annehmbares Kerlchen wurde.

Oder aber der Grund war vielmehr, dass ich ein totaler Draufgänger geworden war, ein Haudegen, wie er im Buche steht.
„Lina, hast du Lust, mit mir ins Kino zu gehen?“
‚Wow,
meine erste richtige Anmache!’, schoss es mir sogleich durch den Kopf.
Zumindest glaubte ich, dass es sich um eine Anmache hielt.
Wir waren
gerade auf dem Nachhauseweg, den wir immer gemeinsam zurücklegten und
es war mal wieder Oktober. Ein matschiger, nebliger Oktober in diesem
Jahr.
Ich war bei meinen Worten auf der Stelle stehen geblieben. Ich glaube, ich war einfach zu überrascht von mir selbst.
Lina blieb erst ein paar Meter nach mir stehen und drehte sich dann um.
Sie hatte blondes Haar, eine spitze Nase, gebräunte Haut und grüne Augen. So ganz anders als Nadja.
„Ja klar, gern“, antwortete sie mit einem Lächeln. „Wann denn?“
„Ich…weiß
nicht, heute Abend?“ Langsam wurde ich ein wenig rot, als mir klar
wurde, was genau ich da gerade tat. Die Situation wurde mir zu heikel.
„Heute
Abend ist gut. Kannst mich ja abholen, weißt ja, wo ich wohne.“ –
Schließlich brachte ich sie nach der Schule immer nach Hause. Da sie
nur ein paar Straßen von mir entfernt wohnte, bot sich das einfach an.
„Okay,
und welchen Film?“, fragte ich ein wenig nervös. Ich setzte mich wieder
in Bewegung, Lina ebenfalls, als ich sie erreichte.
„Du hast mich
eben eingeladen, also suchst du auch den Film aus“, sagte sie bestimmt.
Sie grinste kurz. „Hauptsache, keine Schnulzen. Ich hasse Schnulzen!
Merk dir das, Janosch.“
Um neunzehn Uhr holte ich sie ab und wenig
später saßen wir im billigsten Kino der Stadt, auf der Leinwand lief
ein Fantasyfilm mit noch billigeren Effekten, über den wir uns
gemeinsam lustig machten.
Mein erster Kuss, den ich noch am selben
Abend empfing, war nicht besonders toll, auch nicht besonders schlimm.
Und nicht so sabberig, wie in diversen Teenie-Zeitschriften zu lesen
war. Was daran liegen mochte, dass wir beide schon sechzehn waren und
Lina im Gegensatz zu mir bereits einiges an Erfahrung zu bieten hatte.
Wenig später führten wir eine feste Beziehung.

Mein erstes Mal hatte ich in meinem Bett, über dem immer noch viele verschiedene Fotos hingen.

Lina
und ich verstanden uns gut, auch wenn das geheimnisvolle Prickeln bei
uns fehlte, zumindest auf meiner Seite. Aber sie war ein ansehnliches
Mädchen und meine Eltern mochten sie.

Anfang Februar, das zweite
Halbjahr meines letzten Schuljahres an der Realschule hatte gerade
begonnen, sah ich Nadja wieder. Ganz unverhofft, mir war es schon fast
gelungen, sie komplett aus meinem Gedächtnis zu streichen. Aber eben
nur fast.
Lina und ich gingen spazieren. Nichts Ungewöhnliches.
Dieselben Straßen, die wir immer gingen. Ab und zu schwiegen wir, ab
und zu redeten wir.
Schon als ich Nadja vom Weiten sah, durchzuckte
meine Brust ein harter Stich. Ein fast körperlicher Schmerz. Ohne es zu
bemerken, starrte ich sie an.
Sie hatte sich kaum verändert, trug
bloß ihre Haare ein wenig kürzer als vor zwei Jahren. Ihr Gesicht war
immer noch genauso schön wie damals. Ich spürte, wie ich rot wurde, wie
ein kleiner Junge – der ich ja auch noch war. Sie trug einen dunklen
Mantel gegen den schneidenden Wind des Winters, einen dunkelgrünen
Schal und dunkelgrüne Handschuhe. Ihr Gang wirkte hypnotisch auf mich,
war aber nicht aufreizend. Ihr Blick fiel kurz auf mein Gesicht und es
kam mir so vor, als würde für einen Augenblick ein Ausdruck des
Wiedererkennens darauf zu sehen sein. Womöglich war das aber nur
Einbildung, denn sogleich schaute sie wieder auf den Boden, anscheinend
in Gedanken versunken.
Ich schaute ihr sogar wie gebannt hinterher.
Das Gezeter von Lina war selbstverständlich groß. Sie war ohnehin eine sehr eifersüchtige junge Frau.

Unsere
Beziehung hielt nicht lange. Ich war ihr zu langweilig, sie war mir zu
spannend. Die Jugend, die sie auskosten musste, hatte ich anscheinend
übersprungen oder nur im Geiste durchlebt. Während sie die Nächte in
Bars und Clubs verbrachte, und neben mir zwei andere Kerle hatte, wie
ich im Nachhinein von ihr erfuhr, saß ich zu Hause, zeichnete, las oder
hörte Musik.
Die Abwesenheit des Kribbelns im Bauch tat ihr Übriges zum Scheitern unseres fünfmonatigen Zusammenseins.

Eine
sehr lange Zeit kam ich wieder wunderbar allein zurecht. Ich holte mein
Abitur nach, kaufte mir eine neue Brille und erlebte das, was das ganz
normale Leben so mit sich brachte.
Meine Eltern trennten sich, meine Großväter starben kurz nacheinander – solche Sachen eben.

Weshalb ich das alles erzähle?
Immer
wieder lief und läuft mir Nadja über den Weg. So oft, dass es mir
unheimlich vorkommt und ich es nicht als Zufall akzeptieren will,
obwohl es mit Sicherheit immer Zufälle waren und sind.
Und immer wieder kommt die Zeit von meinem achten Schuljahr bis zum jeweils letzten Treffen von Nadja in mir hoch, unweigerlich.
So auch heute.
 
 
3. Lukkulisch
 
Inzwischen bin ich vierundzwanzig Jahre alt, mit einer wundervollen
Frau verlobt, die nicht viel spannender, aber auch nicht viel
langweiliger ist, als ich und studiere Germanistik in Berlin. Du
schöne, studiengebührenfreie Stadt!Weit entfernt von Geburtsort und
Heimatstadt. Somit ist es also so gut wie ausgeschlossen, irgendwelchen
alten, bekannten Gesichtern zu begegnen.
Das habe ich zumindest angenommen.

Heute
Morgen habe ich beschlossen, einfach mal faul zu sein. Mich in
irgendwelchen grünen Gegenden der Stadt herumzutreiben – im Britzer
Garten, umgeben von Kindern und Senioren, vielleicht, immer meine
eigene unabwendbare Zukunft vor Augen. Und dann würde ich, richtig,
lesen, denn noch immer war ich ein weltmeisterlicher Bücherwurm.
Wobei ich damit in gewisser Weise auch etwas für mein Studium täte.

Doch
bevor ich diese halsbrecherischen Pläne in die Tat umsetzen konnte,
habe ich mich dazu entschlossen, etwas essen zu gehen. „Etwas essen
gehen“ ist ein sehr breit gefächerter Begriff, besonders in der
Bundeshauptstadt.
Warum nicht mal etwas Ungesundes und zugleich Außergewöhnliches ausprobieren?
Denn
ich esse nur sehr selten Fast Food, noch seltener kapitalistisches Fast
Food. Trotzdem bin ich, fast wie magisch, von einem „Restaurant“ der
Amerikanischen Kette Burger King angezogen worden und einfach
hineingegangen.
Und wieder mal hat mich der Schlag getroffen.
Innen
ist es regelrecht mit Menschen voll gestopft gewesen, dicken Menschen,
dünnen Menschen. Allesamt mampfenden, schlürfenden Menschen. – Ich habe
gezögert, mich zu ihnen zu gesellen.
Nun, ich habe Hunger gehabt –
habe immer noch Hunger – und es ist in diesen Läden um einiges kühler
als draußen, zumindest im Sommer. – Im Winter wäre es ja auch irgendwie
unvorteilhaft.
Die erste Hürde ist schnell geschafft gewesen,
nachdem sich die lange Schlange schließlich aufgelöst hat. Schnell habe
ich ein gewöhnliches Whopper-Menü mit Sprite bestellt – wie
unübertreffbar lukkulisch – und eine Zeit lang ratlos mit meinem
Tablett im Weg gestanden.

Nur wenige Sekunden sind seitdem
vergangen und ich stehe hier immer noch mit meinem Tablett herum, vom
zweiten Schlag an diesem Tag getroffen.
Ich sehe genau zwei freie
Plätze, in Fensternähe. Doch etwas hält mich davon ab, direkt auf sie
zuzugehen und mich auf ihnen niederzulassen.
Es hat diesmal zwar ein
wenig gedauert, bis ich sie erkannt habe, doch sie ist es. Nadja, das
schöne Mädchen – nein, die junge Frau mit den asiatischen
Gesichtszügen. Mein Mund wird augenblicklich trocken und mein Herz
gerät kurz ins Stolpern. Ich spüre, dass meine Wangen anfangen zu
prickeln. Meinem Solarplexus verpasst das Ganze ein kurzes Zwicken.
Weshalb in aller Welt ist sie hier? Sie wohnt doch gar nicht hier! – Seit wann wohnt sie hier?
„Aus’m weg da, Digga!“, mault mich ein Teenager in voller Hip-Hop-Gangstermontur an und schiebt sich unsanft an mir vorbei.
,Hätte ich bloß „zum Mitnehmen“ gesagt’, schießt es mir durch den Kopf. Doch nun ist es zu spät.
Ich
setze mich in Bewegung, steuere gezielt auf die freien Plätze zu. Meine
Beine fühlen sich plötzlich wieder wie Blei an, auf einmal bin ich
wieder der kleine Janosch mit der hässlichen Brille, der sich hinter
seinen Büchern vergräbt und seine Angebetete vom Weiten anschmachtet.
Ihr
Gesicht… Sie hat sich so wenig verändert. Wie ist das möglich? Das
letzte Mal habe ich sie vor zwei Jahren getroffen. Zufällig gesehen.
Wenn ich bedenke, wie ich mich in der Zeit verändert habe…
Kurz
vor meinem Ziel stolpere ich fast über drei in schwarz gewandete
Gestalten, die es sich am Boden neben der Wendeltreppe zu den Klos
bequem gemacht haben und mit traurigen Mienen ihre Burger verspeisen.
Ich zögere kurz und schlucke mehrmals angestrengt. Mein Hals ist plötzlich wie zugeschnürt.
„Ist hier noch frei?“, sage ich leise und deute mit einem Nicken auf die freien Plätze.
Nadja sieht mich das erste Mal bewusst an, lächelt sogar kurz. „Ja, sicher, setzen Sie sich.“
Sie siezt mich! Sehe ich so etwa schon so alt aus?
Ein
wenig unbeholfen stelle ich mein Essen auf dem Plastiktisch ab und
lasse mich langsam nieder. Irgendwie sind meine Gliedmaßen länger und
hinderlicher als sonst.
Den Blick demonstrativ auf mein Essen gerichtet, packe ich meinen Burger und die Fritten aus.
Könnte schlimmer sein, weitaus schlimmer.
Der Strohhalm in den Trinkbecher. – Es ist angerichtet!
Ich
blicke kurz auf und entdecke eine zweite Frau, die mit am Tisch sitzt.
Bis eben habe ich sie nicht richtig registriert. Hm, nein, nichts
Besonderes. Blondiertes Haar, geschminktes Gesicht, Püppchen. Und viel
Rosa. Solariumbräune.
Moment. Neben Nadja, in einer Unterhaltung vertieft?
Ich
nehme meinen Burger in die Hände, beiße herzhaft hinein und höre hin.
Wie in alten Zeiten, als ich sie auch immer heimlich belauscht habe.
„Also, in das Kosmetikstudio gehe ich ganz sicher nicht noch mal!“, zetert die Blonde.
Nadja nippt an ihrem Softdrink. Etwas zu essen hat sie nicht vor sich stehen.
„War’s
denn so schlimm?“, fragt sie mit erhobener Augenbraue, ehe sie einen
kurzen Blick über die Schulter zu einer mittelgroßen Horde Kinder wirft
„Na, ich mein – guck doch!“ Frau Blond hält ihr die Hand unter die Augen.
Nadja saugt zischend die Luft ein. „Sieht ja wirklich nicht gut aus, ist ja richtig eingerissen.“
Vom
Nahen kann ich genau erkennen, dass sie dick geschminkt ist. Über ihrem
wunderschönen Gesicht liegt eine dicke Schicht Make-up. Oder Puder,
oder sonst was.
Und das, obwohl sie früher von solchem Zeug immer die Finger gelassen hat.
Hm,
vielleicht ist sie ja auch bloß ein wenig ungeschickter geworden, oder
ich habe es früher ganz einfach nicht bemerkt? Vermutlich Letzteres.
Ich schiebe mir ein paar Pommes Frittes in den Mund und spüle sie mit einem Schluck Zuckerwasser mit Sprudel herunter.
„Na
ja, und du weißt ja, was für horrende Preise dort gelten. Schrecklich,
sag ich dir. Wucher!“ Wasserstoffblondchen stochert ein wenig in ihrem
Kaninchenfutter herum, das in kalorienreicher Sauce fast ertrinkt.
„Ärgere
dich nicht darüber, Sophie. Du weißt doch noch, neulich? Als ich vom
Friseurbesuch kam? Erinnerst du dich, wie ich da aussah?“ Nadja
beginnt, merkwürdig schrill zu kichern und Blondch…Sophie stimmt mit
ein. Offenbar hat Nadja sehr lustig ausgesehen.
„Oh ja, das werde
ich so schnell wohl nicht vergessen!“, jappt Sophie zwischen zwei
Lachern. „Wie ein Wischmopp hast du ausgesehen. Verklagt hätte ich den,
der das verbrochen hat!“
„Ja, das werde ich nächstes Mal auch, ganz sicher.“
Nadja
blickt mich kurz Stirn runzelnd an, woraufhin ich schnell aber
unauffällig woanders hinsehe, die Stirn ebenfalls in Falten gelegt.
Ja, sicher, das ist Nadja Ye, mein langjähriger Schwarm. Doch irgendwas ist falsch an ihr.
Wie
der Geschmack von Nutella auf den Lippen, obwohl man gerade ein
Schinkenbrot gegessen hat. Oder wie ein Schluck eiskalten Wassers aus
einer Flasche, deren Flaschenhals handwarm ist. Sie wirkt so…falsch.
Der letzte Rest des Burgers verschwindet in meinem Magen. Bleiben nur noch die Fritten als Nachtisch.
Ein
lautes Kreischen vom Nachbartisch lässt mich zusammenzucken und mich
daran erinnern, dass ich mit meiner Freundin unbedingt das Thema Kinder
besprechen muss. Beziehungsweise, die Vorbeugung eines solchen.
Ein
kleines Mädchen beginnt zu schreien wie eine Heulboje, während ein
etwas älterer Junge in einen halb aufgegessenen Hamburger beißt.
„Mama, Lukas hat Miriams Burger geklaut und isst ihn jetzt!“, verkündet ein etwas älteres Kind mit Sing-Sangstimme.
Die arme Mutter, die jetzt schlichten gehen muss…
Nadja
steht auf, verdreht die Augen – und geht auf die Gruppe von Kindern zu.
Sie schimpft recht laut mit dem kleinen Jungen, der offenbar ihr Sohn
ist. Genau wie der etwas ältere Sohn, der das Ganze still beobachtete.
Himmel,
wann hat sie angefangen, Kinder zu kriegen!? Der ältere Sohn ist
vielleicht fünf oder sechs, der andere muss um die vier Jahre alt
sein!
Gut, dass ich rechnen kann.
Ich ziehe die Augenbrauen
zusammen und nehme ein paar hastige Schlucke aus meinem Pappbecher. –
Das kommt jetzt doch ziemlich überraschend.

Während ich den Rest
meines Mahls verspeise, ruht mein Blick eine Weile auf Nadja, die sich
inzwischen wieder hingesetzt hat. Sophie ist soeben aufgestanden und
versucht nun, das immer noch weinende Mädchen zu trösten, das wohl ihre
Tochter sein muss.
Nadja wirkt leicht genervt, gestresst und unruhig.

„Komm,
lass uns gehen, es hat echt keinen Sinn mit den Kleinen“, jammert
Sophie, die bereits zwei der Kinder an den Händen hält, nach nur kurzer
Zeit
„Moment noch, ja?“, ruft Nadja ihrer Begleiterin zu – nur um
sich dann an mich zu wenden. „Sag mal, kenne ich Sie nicht irgendwo
her?“
Ich schürze die Lippen und kneife meine Augen zusammen. „Hm,
nicht, dass ich wüsste.“ Gelogen ist es nicht, kennen tun wir uns ja
nun wirklich nicht.
„Hm, komisch, dabei kommen Sie mir so merkwürdig bekannt vor.“
Lässig hebe ich die Hand. „Das kriege ich oft zu hören, wahrscheinlich habe ich einfach ein Allerweltsgesicht.“
„Ja,
womöglich.“ Sie steht auf, nimmt ihren Becher und wirft mir einen
letzten Blick zu, ehe sie ihren älteren Sohn an die Hand nimmt und
zusammen mit ihrer blonden Freundin und dem quengelnden Mädchen nach
draußen verschwindet.
Ich zucke mit den Schultern und kaue auf der letzten Fritte herum.
Vielleicht
liegt es daran, dass ich inzwischen doch erwachsen geworden bin, dass
sie mich auf einmal nicht mehr so interessiert, wie damals. Womöglich
bin ich aber einfach nur entzaubert worden
Ich schnappe mir das
Tablett und schiebe es in das dafür vorhergesehene Regal. Den
Pappbecher mit dem sabberigen und mit Ketchup und Frittierfett
vermischten Rest Sprite werfe ich in den Mülleimer.
Die Senioren im Britzer Garten warten sicher nicht gern. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.10.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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