Jutta Schwarz

Die Rueckkehr

Als Claudius die Kneipe verliess, begann es zu schneien. Langsam, schwerelos kamen die Flocken, winzige, glitzernde Sterne, von denen keiner dem anderen glich. Sie schwebten auf ihn herab, setzten sich auf sein Haar, seinen Mantel, streiften kaum spuerbar, fast zaertlich sein Gesicht.
Claudius fluchte leise vor sich hin. Ein Bier hatte er noch haben wollen, ein einziges nur. Das war doch wohl nicht zu viel verlangt an einem Abend wie diesem. Aber der Wirt hatte es ihm verweigert. "Sie haben genug", hatte er gesagt, "gehen Sie nach Hause. Heute ist schliesslich Weihnachten."
Weihnachten! Claudius lachte. Es war ein freudloses, spoettisches Lachen. Was hatten sie nur alle mit diesem ruehrseligen Fest? Da gingen sie hin, haengten Kugeln und Lametta an irgendwelche Baeume, schmueckten die Haeuser, sangen laecherliche Lieder und machten auf Liebe und Frieden.
Und Anna, seine Anna, war nicht besser. Letztes Jahr, da hatte er mitgespielt, ein einziges Mal, weil es das erste Weihnachten in ihrer jungen Ehe war  und sie ihm versprochen hatte, dieses Jahr darauf zu verzichten und mit ihm zu verreisen. Irgendwohin, wo es kein Weihnachten gab, keine brennenden Kerzen, keine Gefuehlsduselei. Doch jetzt hatte sie nichts mehr davon wissen wollen. Da liess er es, er hatte keine Lust allein. Aber es hatte einen entsetzlichen Streit gegeben, und dann war er kurzerhand ausgezogen.
Sechs Uhr! Jetzt zuendete sie wohl gerade die Kerzen an und sang dem Kleinen eines dieser Lieder vor. Er er wuerde sie ansehen mit seinen grossen, dunklen Augen, deren Blick manchmal so weise war, als haette er sein Leben nicht gerade erst begonnen. Das Licht der Kerzen wuerde sich in ihnen spiegeln, und er wuerde kleine, entzueckte Laute von sich geben. Seine Haende wuerden nach Annas glaenzendem Haar grabschen oder nach ihrer Nase...
Sei's drum! Er hatte nichts damit zu tun. In seinem Leben war kein Platz fuer derlei Unfug.
Wenn da  nur nicht  diese dumpfe Traurigkeit gewesen waere, dieses seltsam schwere Ziehen in der Brust, die Sehnsucht, die er sonst nie spuerte. Diese Sehnsucht nach irgendetwas, das irgendwann einmal Teil seines Lebens gewesen war. Irgendwann, so lange her. Fortgetragen von der Zeit und verweht in den Stuermen, die er so siegreich bekaempft hatte in all den Jahren, dass sie ihm nichts mehr anhaben konnten. Und nun lief er ziellos durch die Strassen und wusste nicht, wohin.
Wie still es war, wie unendlich weit und tief diese Nacht, wie friedvoll! Und dennoch! Kam da nicht von irgendwoher Musik? Und das Haus da vorn? Er schloss die Augen, presste die Haende auf die Ohren. Nein, er wollte nichts hoeren, nichts sehen. Zoegernd oeffnete er seine Augen wieder, doch das Bild blieb. Ein paar Minuten stand er wie erstarrt, dann ging er, wie von einer unsichtbaren Macht angetrieben auf dieses Haus zu. Immer noch quetschte das Gartentoerchen, durch das er jetzt hindurchschritt, und die Christrosen rechts und links am Weg streckten ihre Knospen durch die duenne Schneedecke. Er verhielt den Schritt und sah sich um, und es war, als sei Zeit stehen geblien.
Hell fiel das Licht  in den Garten, und Claudius trat ans Fenster und blickte hinein, in ein Zimmer, das er kannte. Er sah eine Frau, die am Klavier sass, sah rechts und links davon ein Maedchen und einen Jungen,  die Floete spielten und dahinter einen grossen Mann, dessen kraeftige Stimme den Raum fuellte: "Stille Nacht, Heilige Nacht..."
Wie gebannt verharrte Claudius, unfaehig, sich zu bewegen. Nun war das  Lied zu Ende. Die vier Menschen umarmten sich und gingen zu einer festlich geschmueckten Tanne, die in der Nische am Fenster stand, so, wie es immer gewesen war. Sogar der grosse Stern auf ihrer Spitze war da. Jener Stern, den er einmal gebastelt hatte, als seine Haende noch Kinderhaende gewesen waren. Ganz deutlich konnte er die Augen der  Menschen erkennen, in denen ein Leuchten stand. "Froehliche Weihnachten!" Die Hand des Mannes strich ueber die Koepfe der Kinder, bevor sie sich aufgeregt auf ihre Geschenke stuerzten. Und er sah den Mann und die Frau, das Laecheln in ihren Gesichtern, zwei Haende, die sich fanden.
Lange, lange stand der einsame Betrachter und blickte hinein, sah sich mit roten Wangen inmitten Eisenbahnschienen und Waggons, seine Schwester, die begeistert  eine Puppe an sich drueckte und jene zwei Menschen, die seine Eltern waren. Und ploetzlich wusste er, dass nichts verlorenging, das man liebte, mochte auch die Zeit darueber hinschreiten und den Mantel des "Es war einmal" darueberbreiten.
Ein Hauch von Waerme kam auf ihn zu, ein Duft von Kindheitsglueck wehte ihn an, ein Stueck Geborgenheit. Es umfing ihn, huellte ihn ein und loeschte all die Jahre aus, die ihn hatten vergessen lassen, dass es in aller Menschen Herzen immer einen Raum gibt, der die Erinnerungen huetet bis zuletzt.
Da wehrte Claudius sich nicht laenger. Noch einmal umfing er das Zimmer, das Haus, den Garten mit einem langen Blick, dann wandte er sich ab und ging den Weg zurueck. Nach einigen Metern blieb er stehen und drehte sich herum.
Das Haus war verschwunden. Doch es verwunderte ihn nicht. Nichts verwunderte ihn mehr in dieser Nacht, die er hatte verdraengen wollen auf seiner Jagd nach dem Leben. Und er ging weiter mit einem Laecheln, an seinem Hotel vorbei. Schneller, immer schneller, unter dichten weissen Schleiern. Dorthin, wo sie auf ihn warteten, seine Frau und sein Kind. 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.12.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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