Mark Galsworthy

Fairytale

Wieder war es diese schmerzende Zeit. Weihnachten, als würde ihr das irgend etwas anderes als Schmerzen bereiten.
†  30. Januar 1972
Kayleigh sah dieses Datum nun schon seit fünfunddreißig Jahren, immer und immer wieder,  jeden Tag,  wenn sie auf dieser Bank auf dem Friedhof von Derry saß und auf den Grabstein schaute.
Es markierte den Todestag  von Fynn, ihrem  Verlobten, der  an diesem Tag von den Engländern erschossen wurde. 
Fynn war kein Aufständischer, er  war ihr Mann  und er lag dort mit all ihren Plänen, Plänen für eine Familie, ein kleines Geschäft in Derry und ihre Zukunft.
Alles war wohl überlegt und auch ihre Familien hatten den Beiden Unterstützung zugesagt.
Ja, und dann erschossen die Engländer ihren Fynn. 
Nicht weil er ein Aufständischer war oder sie angegriffen hatte. Er war, wie man so schön sagt, nur zur falschen Zeit am falschen Ort.
Es war noch nicht einmal ein Schuß, der ihn sofort getötet hatte, aber an diesem Blutsonntag waren die Krankenhäuser, weil völlig unvorbereitet,  nicht in der Lage, allen Opfern die medizinische Hilfe zukommen zu lassen, die  notwendig war, und so verblutete Fynn in ihren Armen auf dem Flur des Krankenhauses.
„Uns selbst allein“ , das Motto der IRA, war sein letztes Flüstern, bevor sein Herz aufhörte zu schlagen.  
Das war nun Jahrzehnte her, und selbst die britische Regierung  gab  inzwischen zu, daß das  Handeln ihrer Armee am Blutsonntag nichts weiter war als Mord.
Nur, was nutzte Kayleigh dieses  späte  Bekenntnis ?
Sie hatte die Kinder nicht geboren, die sie sich gewünscht hatten, sie hatte  demzufolge auch keine Enkelkinder, obwohl die Kleinen in ihrer Straße sie Grandma nannten.
Andere Frauen hätten vielleicht einen anderen Mann geheiratet, aber nicht Kayleigh.
Die Liebe, die beide teilten, war zu rein und zu tief, nie wäre es ihr in den Sinn gekommen Fynn auszutauschen.
So verbrachte sie nun ihre Zeit auf der kleinen Bank vor Fynns  Grab und trauerte der Liebe nach, die ihnen nicht vergönnt war.
Neben dem Grabstein stand ein Ginster. Irland, durch den Golfstrom klimatisch begünstigt, ließ ihn nicht ganz erkahlen, und so hatte er selbst jetzt zur Weihnachtszeit noch viele seiner kleinen Blätter.
Ein leichter Wind ließ seine Äste einen langsamenTanz vollführen und der zog sie in seinen Bann.
Nein, es waren nicht nur Blätter, die sich dort bewegten.
Ja, sie konnte nicht mehr so gut sehen wie früher, aber daß da etwas anders war als sonst, das entging ihr nicht.
Sie versuchte das Geschehen zu fixieren.
So richtig gelang ihr das nicht, es wirkte wie ein übergroßes Glühwürmchen, aber es war nicht nur ein Leuchten, es schien auf sie zuzufliegen, aber sehr, sehr langsam.
Sie dachte an die alten irischen Sagen über die Feen und das kleine Volk und war nun hellwach.
Aber immer wenn man etwas ganz genau inspizieren will, dann entgleitet es einem.
So wie man auch die allerschönste Schneeflocke zwar für Sekunden sehen, aber niemals einfangen kann.
Aber da war etwas, das war eindeutig und leuchtete nicht nur, sondern bewegte sich auch.
Das Leuchten wurde nicht nur intensiver, sondern auch der Lichtkegel wurde größer.
Kayleigh stand auf, ging direkt darauf zu. Vor dem Busch blieb sie stehen und kniete nieder.
Da schälte sich mitten in diesem irrlichternden  Schein ein Gesicht aus dem Ungefähren und ließ ihr Herz wild pochen.
Es war das Antlitz von Fynn.
Und es war nicht nur ein Abbild.  Es schaute sie an,  die gleiche Liebe ausstrahlend, die beide nur allzu kurz leben durften.
In Irland sinken die Temperaturen selten unter den Gefrierpunkt, aber Kayleigh fröstelte es.
Sie war hin und her gerissen zwischen der Erinnerung und diesem Ereignis.
Ihre Sinne schwanden.
Am Weihnachtsfeiertag  fand man sie und brachte sie in das rechtsmedizinische Institut von Derry.
Kayleigh und Fynn hinterließen keine Kinder ,  Fynn nur ein Grab in dem Kayleigh im Januar bestattet wurde.
Die Geschichte wäre nun zu Ende erzählt, gäbe es nicht Stimmen, die sich absolut sicher sind, daß in Tara ein Ehepaar aufgetaucht sei, das sehr glücklich und zufrieden dort lebte und im nächsten Frühjahr ein Baby erwarten würde.
Aber kann man den Iren und ihren Geschichten trauen ?
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.08.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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