Alfred Hermanni

Heimliche Hatz

 

 

- Eine perspektivische Science-Fiktion-Befürchtung -

 

Von Alfred Hermanni und Peter Jaskewitz 24.12.2010

(Alle Rechte vorbehalten)

 

Achtung!

Die Namen und Personen dieser Geschichte sind frei erfunden und der reinen Phantasie entsprungen. Sie existieren nicht im wahren Leben. Und doch könnte diese Geschichte auf wahren Begebenheiten beruhen, zumindest in einigen Teilen. Wenn nicht, so besteht durchaus die reale Gefahr, dass dies tatsächlich so geschehen könnte. RFID-Mikrochips werden schon heute zunehmend eingesetzt, nicht nur bei Haustieren, sondern auch bei Menschen, zunächst subkutan und freiwillig, noch. Frage: Möchten Sie in einer solchen Welt leben?

 

Inhalt

 

Kapitel Seite

 

  1. Vielleicht schon bald… 1 1

  2. Vor einigen Tagen, als es begann… 4

2.1 Einschub: Kurz zuvor - 1. unbekannte Variable 6

2.2 Zufallsfund mit Folgen 8

  1. Dieters Credo - 2. unbekannte Variable 20

  2. Zur gleichen Zeit in Langley 25

  3. Aufbegehren… 29

  4. Einen Tag später: Berlin - Büro des Innenministers 31

  5. Morning has broken… 34

  6. Halbfinale 39

  7. Down-Under - im Outback 43

  8. Eines morgens in Yale… 61

  9. Auch Potsdam ist eine Reise wert 62

  10. Wie im Fernsehen… 62

  11. Meine Schwester, Manni und ich 63

  12. Bilanz: Ein Glückspilz rechnet ab 64

  13. Finale: irgendwie ein Epilog mit guten Aussichten… 67

 

 

1

Vielleicht schon bald…

 

Etwas rüttelte ständig an mir herum und störte meinen Schlaf. Lästig… Ich fühlte mich unangenehm gestört und schlug unwillig meine Augen auf. Es war eine Hand, die mich an den Schultern hielt und unablässig daran rüttelte. Dann hörte ich Geräusche, die sich langsam in eine Stimme verwandelten. „Hallo, wachen sie auf!“, hörte ich sie - wie durch Watte gedämpft. „Wir wollen ihnen helfen, versuchen sie wach zu werden.“

Die Stimme wurde immer deutlicher, und der Schleier vor meinen Augen wurde nach und nach transparent. Wieder im Hier und Jetzt sah ich ein älteres Ehepaar zu mir herabblicken. Ich lag auf dem Boden in einer Seitenlage und hatte am ganzen Körper Schmerzen, gewaltige Schmerzen.

Ein Stück weiter sah ich ein Motorrad zerschellt und verbogen an einer Böschung liegen, und die Erinnerung setzte nun schockartig ein.

Noch ganz im Bann meiner letzten bewussten Sekunden vor dem Blackout krächzte ich mit heiserer Stimme: „Wie lange liege ich hier schon? Sie müssen schnell weg von hier“.

Langsam, langsam, junger Mann, wir warten, bis der Krankenwagen und die Polizei eintreffen“, sagte der ältere Mann, während sich seine Frau zu mir hinunter beugte und mir vorsichtig half, den Helm abzunehmen.

Behutsam versuchte ich mich aufzusetzen, was mir aber nur unter heftigen Schmerzen gelang. Nahezu alle Schmerzrezeptoren meines gepeinigten Körpers bäumten sich auf gegen jede noch so kleine Bewegung. Aber ich musste hoch und weg, koste es, was es wolle. Endlich saß ich zumindest aufrecht, tastete stöhnend meinen Körper ab. Es hatte mich übel durchgeschüttelt. Die Prüfung ergab aber, dass ich wenigstens keine Knochenbrüche erlitten hatte. Aber mir war schwindelig und übel, der Kreislauf spielte verrückt.

Nachdem ich mich einigermaßen gefasst hatte, fragte ich unvermittelt in Richtung meiner Retter: „Haben sie ein Fahrzeug?“

Ja, dort, das Wohnmobil. Haben sie denn keine anderen Sorgen?“, antwortete die ältere Dame und lächelte mir beruhigend zu.

Mühsam und schwankend stand ich schließlich auf, wieder erfasste mich ein leichter Schwindel, und ich nahm dankend die stützende Hand des Mannes an, schleppte mich in Richtung des Wohnmobiles und wollte einsteigen.

Bitte, vertrauen sie mir“, bat ich das Ehepaar: „Wir müssen unbedingt schnell von hier fort. Sie sind in Gefahr! Jetzt werden auch sie zur Zielscheibe, die dulden keine Zeugen, bitte, fahren sie los, sofort!“, forderte ich sie auf, noch immer konfus.

Ein fragender, skeptischer Blick des Mannes erreichte mich, und seine Frau sagte spontan und keinen Widerspruch duldend: „Nun fahr schon los, Martin, ich vertrau´ dem jungen Mann!“. Junger Mann sagte sie zu mir. Ich lächelte trotz der Schmerzen still in mich hinein. Muss wohl doch jünger aussehen als ich bin, dachte ich.

Auf der hinteren Sitzbank des Wohnmobiles liegend versuchte ich, die Schmerzen zu ignorieren. Ich hatte mir wohl recht viele Prellungen und Überdehnungen zugezogen, die sich nun äußerst schmerzhaft bemerkbar machten. Aber wie durch ein Wunder ist nicht mehr passiert. Ich lebte.

Der Motor wurde gestartet, und wir fuhren los.

Ein paar Kilometer weiter fühlte ich mich schon etwas sicherer und blickte aus dem Fenster. Wir durchfuhren eine kleine Ortschaft. Ein paar kleine Läden, eine Bank, ein Internetcafé und eine Postfiliale erblickte ich im Vorbeifahren.

Bitte halten sie an“, sagte ich einer plötzlichen Eingebung folgend zu meinen Wohltätern.

Haben sie die Polizei angerufen und den Unfall gemeldet?“, fragte ich das Ehepaar.

Ja, natürlich“, antwortete die alte Dame.

Wie, ich meine mit dem Handy oder aus einer Telefonzelle?“

Natürlich mit dem Handy. Von wo aus sonst außerhalb einer Ortschaft?“, bemerkte sie.

Wiederum ergriff ich die Initiative: „Bitte hören sie jetzt genau zu! Haben sie bereits die neue Version des Personalausweises, ich meine den mit dem integrierten Mikrochip?“

Selbstverständlich, der ist ja so praktisch, man kann damit einkaufen und bezahlen oder...“, bemerkte die Dame, als ich sie abrupt unterbrach.

Es ist jetzt sehr wichtig, dass sie tun, was ich sage: Nehmen sie ihr Handy und ihre Ausweise. Gehen sie zur Post und schicken sie alles an ihre Adresse! Aber nehmen sie bitte vorher den Akku aus dem Handy und legen mehrere Lagen Alufolien um die Ausweise!“

Warum sollen wir das denn machen?“, fragte mich der Mann stirnrunzelnd, so als ob er an meinem Verstande zweifelte.

Ganz einfach, weil wir damit sonst geortet werden können. Erstens über das Handy und zweitens über den Mikrochip in den Ausweisen. Ohne Akku klappt die Handyortung nicht, und die Alufolie dämmt das Signal, so dass es verschwimmt. Man kann uns dann nicht ohne weiteres finden. Wir sollten auch zusehen, dass wir irgendwo ein sicheres Versteck finden. Ihr Auto ist auch nicht sicher, irgendwann müssen wir ein anderes Fahrzeug finden.“

Junger Mann, sie verlangen aber sehr viel von uns, und wir wissen überhaupt nicht, was los ist. Wer sind sie, und warum sollen wir denn nicht sicher sein?“, wollte die Dame wissen.

Wenn sie meinen Anweisungen gefolgt sind, werde ich ihnen alles erklären. Es ist eine sehr lange, komplizierte Geschichte. Aber jetzt machen sie bitte, was ich ihnen sagte. Schnell. Die anderen schlafen nicht“, verlangte ich dringlich.

Wer sind bloß die anderen?“

Ich erzähle ihnen alles, wenn wir ein sicheres Versteck haben“, wiederholte ich.

In Ordnung, aber wir wollen dann wirklich alles wissen“, erklärte sich der Mann zögernd bereit.

Nach einer Viertelstunde kam er aus der Postfiliale und stieg in den Wagen. „Ich hab´ alles zu unserer Adresse geschickt. Was soll nun geschehen?“

Wir brauchen eine sichere Unterkunft, und wir müssen das Fahrzeug loswerden“.

Wie soll das vor sich gehen, unser Wohnmobil war nicht gerade billig. Wir haben lange dafür gespart“.

Haben sie Freunde, bei denen wir eine Unterkunft finden könnten?“, fragte ich.

Ja, nicht aber in dieser Gegend. Doch wir haben hier ein Wochenendhaus, na ja, kein richtiges Haus, eher eine Blockhütte, aber sehr gemütlich. Wasser und Strom gibt es auch“, erzählte der Mann.

Ist das Haus im Grundbuch eingetragen?“, wollte ich wissen.

Nein, es ist vor langer Zeit von mir allein gebaut worden, eine Baugenehmigung hätte ich wahrscheinlich nicht erhalten, weil…“, er zögerte, „…weil es im Landschaftsschutzgebiet liegt. Aber wegen seiner Lage am Waldrand kann man es von der Straße aus nicht sehen. Und ich hab´ mir gedacht...“, erläuterte er…

Hört sich gut an“, unterbrach ich ihn: „Wir lassen den Wagen am Parkplatz des Bahnhofs stehen, nehmen ein Taxi und lassen uns in die Nähe der Hütte bringen. Den Rest gehen wir zu Fuß. Wir nehmen ein wenig Proviant und nur das Nötigste mit! In Ordnung?“

Junger Mann, sie machen mir allmählich richtig Angst. Sind wir jetzt auf der Flucht?“, fragte mich die Dame mit deutlich zittriger Stimme.

Seit sie mich fanden, sind wir alle auf der Flucht. Sie sind unschuldig zu unbequemen Zeugen geworden. Und wir sind in Lebensgefahr, bitte glauben sie mir!“, beendete ich meine Ausführungen.

 

*

 

Der Weg zur Hütte war sehr anstrengend und beschwerlich für mich. Das Wohnmobil konnten wir in einer Seitenstraße in Bahnhofsnähe zurücklassen. Zum Glück haben die Schmerzen ein wenig nachgelassen, und ich humpelte dem Ehepaar mehr schlecht als recht hinterher. Immerhin legten wir noch eine Strecke von fast 3 Kilometern zurück, bis wir am Ziel waren. Wie der Mann schon erwähnte, lag die Blockhütte weitab der Straße am Waldrand und war eingebettet in eine kleine Lichtung, die von Buschwerk umsäumt war. Von der Straße aus war das Gebäude nicht zu sehen. Optimal.

Nachdem wir in die gute Stube eingetreten waren, setzte ich mich erst einmal und schnaufte ordentlich durch.

Darf ich sie um etwas Trinkbares bitten? Und, naja, Hunger habe ich auch“, fügte ich hinzu und blickte die Dame des Hauses an.

Selbstverständlich, junger Mann. Wie heißen sie eigentlich?“, fragte sie mich. „Mein Name ist Thomas Becker“, antwortete ich bereitwillig.

Ich heiße Veronica, und das ist mein Mann Martin. Martin und Veronica Fischer. Und weil wir uns nun so nahe gekommen sind, dürfen Sie uns auch beim Vornamen nennen“, fügte sie hinzu. Ich nahm gern an, fühlte ich mich doch auf diese Weise ein wenig wohler - so unter mitfühlenden Freunden.

Mein Mann war Polizist und ist vor einem Jahr in Frühpension gegangen. Jetzt wollen wir unser Leben genießen. Ich hoffe, Sie vermasseln uns das nicht. Haben wir uns strafbar gemacht und helfen einem Verbrecher auf der Flucht? Werden sie gesucht?“, stellte sie gleich mehrere Fragen auf einmal.

Ich bin kein Verbrecher, und sie haben sich auch nicht strafbar gemacht, es ist nicht allein die Polizei, die mich sucht, sondern...“

Ich unterbrach mich, weil mir ein Glas Orangensaft und ein Sandwich gereicht wurden.

Danke, ich werde gleich alles erklären“.

Ich trank von dem Saft und verzehrte genüsslich das Sandwich.

Das tat gut, vielen Dank.“

Gern, und nun möchten wir ihre Geschichte hören“, antwortete die Dame des Hauses erwartungsvoll.

Ja, jetzt werde ich berichten. Bitte bedenken sie aber, dass es viele parallele Ereignisse am Rande gegeben haben muss. Denn nur so und nicht anders kann ich mir den Verlauf der Geschehnisse erklären…

 

2

 

Vor einigen Tagen, als es begann…

 

Hallo Tommy!“, begrüßte mich Manni. Es war mein Lieblingsneffe. Vorgestern war er 20 Jahre alt geworden und hat mich angerufen, um zu fragen, ob ich ihn heute Morgen zu einem Vorstellungsgespräch in einem Vorort Dortmunds fahren könnte. Da er noch kein eigenes Auto besaß, erklärte ich mich gern einverstanden, ihn zu seinem potentiellen Arbeitgeber zu chauffieren. Zeit genug hatte ich in den nächsten 4 Wochen ohnehin, weil Sonja, meine schöne junge Gefährtin, seit über einer Woche mit ihren zwei stinkreichen Freundinnen einen Ehefrauen-Extraurlaub in Australien verbrachte, kostenlos: als Gast, so ganz ohne Handystress, bei Wellness und Selbsterfahrung in Down-Under. Ich hoffte, dass sie den Aufenthalt dort genießt.
Denn erst gestern hatte sie mich angerufen und des Nachts geweckt. Ich muss wohl recht schlaftrunken gewesen sein. Vielleicht war es auch der Cognac, von dem ich ab und zu ein Gläschen naschte. Sie wollte mich nicht beunruhigen und gab sehr dezent zu verstehen, dass ihr die Freundinnen ein wenig auf die Nerven gingen. Von wegen vornehmes Gehabe und so. Sie deutete an, dass sie eventuell früher zurückkäme. Aber davon wollte ich nichts wissen und riet ihr energisch ab, sich erstmal zu akklimatisieren und die Reise zu genießen, weil sich eine solche Chance nicht mehr so schnell ergeben würde. Und überhaupt, sagte ich, mittlerweile wieder wach, und kicherte, könne ich meine neue Geliebte auch nicht ohne weiteres fortschicken. Aber sie, Sonja, möge sich vor Kangaroo-Jack und
Crocodile-Dundee hüten. Das seien berüchtigte Frauenhelden dort im Outback, brummelte ich zum Ende des Gesprächs noch launig.

 

Und wozu hat man schließlich einen Onkel, wird sich Manni gedacht haben? Recht hat er. Ich mochte Manni sehr, unter anderem, weil er so lebensbejahend und aktiv war. Zurzeit versuchte er, sich von seinen Eltern zu emanzipieren und auf eigenen Füssen zu stehen.

Hallo Manni, meinen Glückwunsch nachträglich, komm erst mal `rein und setze dich“, forderte ich ihn auf und begrüßte ihn mit einem Handschlag. Meine andere Hand schob ihm zugleich eine 20-Euro-Note als kleines Geburtstagsgeschenk in die Hemdtasche. Er wollte mit einer Geste abwehren, aber mein Gesichtsausdruck bewog ihn, das Geldgeschenk anzunehmen. Die Freude war ihm anzusehen. Ich kannte das aus eigener Erfahrung: In dem Alter biste immer blank und kannst Geld stets gut gebrauchen.

Wir können gleich losfahren, ich will nur noch meinen Kaffee austrinken. Möchtest du auch einen?“, fragte ich ihn und rührte in meiner Tasse.

Nein, danke, ich bin voll aufgeregt. Jetzt noch einen Kaffee, und ich setze das Vorstellungsgespräch glatt in den Sand“, antwortete Manni.

Bleib ruhig, Junge, mach dich locker, immer cool und geschmeidig… Sag mal, meinst du nicht auch, dass es besser wäre, zum Vorstellungsgespräch einen Anzug oder wenigstens ein Sakko zu tragen?“

Leicht gesagt, aber ich habe keinen Anzug oder eine gute Jacke“, antwortete Manni. „Mit dem Geld läuft´s gerade sehr schleppend. Ich brauche regelmäßige Einnahmen, um durchzukommen. Mein Laden wirft zu wenig ab. Du weißt schon, fast jeder unterhält heut´ ein Internetcafé. Ich brauche noch Zeit, bis mein Kundenstamm steht“, fügte er hinzu.

Was ist denn das für ein Job, um den du dich beworben hast?“, hakte ich nach.

Servicefahrer nannte sich das in der Anzeige. Belieferung eines festen Kundenstamms wurde mir am Telefon gesagt.“

Und was sollst du ausliefern?“, fragte ich misstrauisch, wie ich es bei solchen Angeboten immer war.

Wurde mir nicht gesagt, ich solle einfach zu einem Bewerbungsgespräch kommen und heute auch gleich die erste Tour mitfahren.“

Meine Skepsis blieb, denn ich hatte vor knapp einem Jahr eine schlechte Erfahrung aufgrund eines ähnlichen Stellenangebots gemacht.

Ich will dir ja nicht die Hoffnung nehmen, Manni, aber ich glaube, die wollen dich als Staubsaugervertreter engagieren. Handelt es sich zufällig um die Firma ElektroFux in der Hagener Straße?“

Ja, woher weißt du das?“, antwortete mein Neffe verdattert.

Ich hab´ da vor einem Jahr auch angerufen. Wir waren schon über eine Stunde unterwegs zu einem Kaff im Sauerland, als der Kollege mit der Sprache herausrückte und mir den Job erklärte. Den ganzen Tag habe ich mit diesem Idioten verbracht und musste mit ansehen, wie er älteren Menschen überteuerte Staubsauger für über achthundert Euro aufs Auge drückte. Fünfundzwanzig Jahre Garantie auf das Gerät, einige der Leute waren aber schon über achtzig Jahre alt. Der war so hartnäckig und lästig, dass die meisten schließlich unterschrieben, um uns loszuwerden. Der Typ war auch noch Verkäufer des Monats in dieser Scheiß-Firma. War kein Job für mich“, schloss ich den Bericht.

Au, Kacke, soll ich mich da überhaupt bewerben, ich mein´, Staubsaugervertreter will ich auf gar keinen Fall werden. Wahrscheinlich zahlen die nur Provisionen, und wenn ich keinen verkaufe, gibt es auch kein Geld“.

Richtig. Genau so ist es!“, bestätigte ich.

Mist, was mach ich denn jetzt?“, lamentierte Manni.

Du ziehst dein Bewerbungsgespräch durch, und zum Schluss zeig´ ihnen den Stinkefinger. Erkläre dem Manager, dass du alten Leuten keine überteuerten Staubsauger verkaufen wirst und gehst! Soll er mal schön selbst machen“.

Ich glaub´, du hast recht. So mach ich es“, entgegnete mein Neffe.

Und überhaupt, Manni“, fügte ich noch hinzu, „ich kann mir kaum vorstellen, dass du mit Abi und deinem Computerkenntnissen auf Dauer zufrieden wärst in einer solchen Abzocker-Bude… Das ist keine Arbeit für einen begnadeten Hacker wie dich“, klopfte ich auf den Busch und grinste. „Haste auch wieder recht“, entgegnete Manni mit roten Ohren und wirkte irgendwie ertappt. „Habe nur das Geld gesehen bei der Sache.“ Guter Neffe, der Manni, dachte ich mir und schrieb ihm einen Punkt gut für den nächsten Geburtstag.

In einem Cafe in der Nähe von ElektroFux wartete ich auf meinen Neffen, aß ein belegtes Brötchen und trank noch eine weitere Tasse Kaffee.

Keine Stunde später war er auch schon zurück und setzte sich zu mir.

Wie war es?“, fragte ich ihn und ließ ein wenig den besorgten Onkel `raushängen, um meine Neugierde zu tarnen.

Cool! Ich hab den Typen reden lassen, und der laberte mich echt zu mit seinem Scheiß. Laber, laber, bla, bla und das ganze Zeugs von wegen Servicefahrten und festem Kundenstamm, aber kein Wort über Staubsauger. Dann hab ich ihm in die Augen geschaut und gesagt, dass er sich seine Staubsauger in den Arsch schieben kann. Der hat vielleicht blöd aus der Wäsche geguckt, als ich aufstand und auch noch grinste. He, he.“

Gut gemacht, Junge.“

Hast du noch Zeit, oder willst Du gleich nach Hause?“, fragte mich Manni.

Warum?“

Ich brauch was im Bauch, und 'n Bier könnt´ ich auch vertragen.“

Kein Problem, willst du hier essen, oder woanders hin?“

Ich kenne in der Nähe einen kleinen, aber feinen Imbiss, nennt sich Schnitzelhaus. Liegt in Wambel, Nähe Pferderennbahn, du weißt schon, Dortmunder Osten. Ist lecker und preiswert“, schlug er vor. Ich nickte, während ich meinen Kaffee austrank.

In Ordnung, dann fahren wir dorthin“.

Ich geh aber nochmal für Königstiger, so ein Bewerbungsgespräch reizt die Blase“.

Ja, aber mach nicht so laut“.

Manni stand auf und ging zur Toilette. Ich winkte die Bedienung heran und bezahlte schon mal, um Zeit zu sparen. Auch verspürte ich plötzlich Hunger.

 

2.1

 

Kurz zuvor - 1. unbekannte Variable

 

Bereits schwer atmend und verschwitzt erreichte Gregory Burnett das Cafe, in dem er seinen Kontaktmann treffen sollte. Ihm, der über ausgezeichnete Verbindungen zu den Ton angebenden Medien verfügte, wollte er sich anvertrauen und endlich ein Ende machen mit diesem verfluchten Projekt, das hier in Deutschland durchgeführt wurde.
Voller Sendungsbewusstsein und mit heißem Herzen hatte er nahezu sein ganzes Leben im geheimen Kampf gegen Kommunisten, Tyrannen und andere korrupte Regime im Dunstkreis des Kalten Krieges verbracht - für die Freiheit. Und er war stolz darauf, für sie und die Demokratie sowie die unveräußerlichen Grundrechte der Menschen gekämpft zu haben. Aber jetzt sah er alles den Bach heruntergehen. All seine Wertvorstellungen wurden mit Füßen getreten. Und er sollte dabei mitmachen, nach all den Dienstjahren für eine gute Sache. Das kam einfach nicht in Frage. Nicht mit ihm. Erst recht nicht, wenn eiskalten Technokraten in der Führungsspitze der Dienste dem Größenwahn erlegen sind.

Als sogenanntes Besatzungskind eines in Deutschland stationierten GI und seiner deutschen Ehefrau halfen ihm seine deutschen Sprachkenntnisse bei verschiedenen Einsätzen in der damaligen DDR weiter. Aus voller Überzeugung hatte er folglich gegen dieses unmenschliche Regime operiert.

Für die Freiheit und Demokratie einzustehen, bildete inzwischen seinem wichtigsten Lebensinhalt. Nur diese fundamentalen Werte machten überhaupt den Unterschied zu den vielen Diktaturen dieser Welt aus. Das hatte er erkannt. Und jetzt sollte er genau das Gegenteil dessen tun, für das er ein Leben lang eingetreten war? Für ihn, der seine Kindheit in Deutschland verbracht und noch immer glücklich lächelte, wenn er an seine Mutter dachte, einfach undenkbar. Es erschien ihm wie Verrat, sich weiter an dieser Operation zu beteiligen. Verrat auch an seiner eigenen Familie, den Kindern und Enkeln - dort: daheim in Pennsylvania.
 

Er würde, nein er musste es öffentlich machen, denn nur darin lag überhaupt die Chance, eine neue Variante eines totalitären Systems, die einer Daten-Diktatur, zu verhindern. Erst recht, weil ihm zu Ohren gekommen war, dass nicht nur russische, sondern auch die US-Geheimdienste bereits die Forschung mit ELF, der Extremly Low Frequency-Bestrahlung forcierten. Mittels dieser Technik würde es bald nicht nur möglich sein, die Stimmung der Probanden zu beeinflussen. Der Schritt zur gezielten Gedankenkontrolle und -beeinflussung ganzer Bevölkerungsgruppen war nur noch ein kleiner.

Aber es war an ihm, zu handeln, auch wenn es ihn seinen Job bei der Firma kosten sollte. Aber was war schon die Firma; in seinem Alter und den Erfahrungen im Dienst des Vaterlandes hatte er längst keine Illusionen mehr... Vielleicht hatten seine Vorgesetzten bereits Verdacht geschöpft, weil er seinen Dienst ganz offenkundig immer unwilliger verrichtete. In letzter Zeit wurde er auch immer öfter mit unbedeutenden Tätigkeiten beschäftigt. So wie jetzt: mit Kurierdiensten. Er sollte einen dieser Geräte-Prototypen des kombinierten Ortungs- und Personendaten-Auswertungssystems in Handygröße bei der Statistikgruppe hier im Ruhrgebiet abliefern. Er grinste bei dem Gedanken, welchen Namen die deutschen Kollegen diesem Superhandy verpasst haben: OPA. Sicherlich war diese Bezeichnung nicht nur dem typisch deutschen Hang geschuldet, alle möglichen abstrakten Bezeichnungen in eine gängige altbekannte und vertraute Benennungsform zu bringen. Das noch sehr klobig und althergebracht wirkende äußere Design des Geräts war ziemlich auffällig. Greg vermutete, dass man es den ergonomischen Bedürfnissen anpassen würde, sobald es in Serie ging.
Nun ja, er war Muttersprachler, was die deutsche Sprache betraf. Seine CIA-Kollegen verstanden diese Art von Spaß jedenfalls nicht, aber vielleicht fehlte ihnen auch nur das entsprechende Humor-Gen. Der Kurierdienst bot ihm aber eine gute Gelegenheit, das Gerät seinem Kontaktmann vorzuführen. Er trug es - unauffällig und griffbereit wie ein gewöhnliches Handy - in seiner Manteltasche.

Sein Kontaktmann war längst überfällig. Greg suchte derweil die Toilette auf, um sich ein wenig zu erfrischen und ging zum Waschbecken. Er kühlte sich ab und entfernte den Schweiß, indem er sich etwas Wasser ins Gesicht spritzte. Wenigstens kann ich mich in den letzten Tagen, die mir noch bleiben, guten Gewissens im Spiegel betrachten, grübelte er in Fortsetzung seiner Gedankengänge weiter vor sich hin. In einer neuerlichen Anwandlung von Selbstironie stellte er fest, dass er gerade in einen solchen blickte, als er sich mit einem Papiertuch das Gesicht trocknete. Ist ja fast wie ein böses Omen, dachte er voller schwarzen Humors.

Aber seit Tagen fühlte er sich gar nicht wohl. Seit Monaten plagten ihn sein hoher Blutdruck, regelmäßig auftretende Atemnot und die Angst vor einem Herzinfarkt. Er mochte gar nicht wissen, wie viele kleine Infarkte schon stattgefunden haben, ohne dass er sie bemerkt hat. Alle Ärzte, die er bisher unter Umgehung der zuständigen amtlichen Stellen aufgesucht hatte, predigten vergebens: zu viele Zigaretten, zu viel Alkohol, zu viel Stress, zu wenig Sport. Ja, ja, er wusste es doch sowieso. Aber es war wie immer stärker als er. Aufhören kann ich auch ab morgen. Heute war ein ganz schlechter Tag, mit der Änderung meines Lebenswandels zu beginnen, dachte er selbstironisch, sich wohl der Widersprüchlichkeit seines Verhaltens bewusst…

Greg spürte nun ein dringendes Bedürfnis, sich zu entleeren und schloss sich in einer Toilettenkabine ein. Eilig zog er seinen Mantel aus und hängte ihn nachlässig an den Haken der Kabinentür. Fast wäre OPA dabei herausgefallen. Er wollte das Gerät wenigstens ein wenig zurückschieben. Aber er schaffte es nicht ganz, denn sein Enddarm forderte nun mit Vehemenz sein Recht. Während er sein Geschäft verrichtete, begann er plötzlich wieder stark zu schwitzen, und ein heftiger Schmerz fuhr ihm durch seine Brust und den Oberarm. Es hörte nicht auf, und ein schmerzhaftes Stöhnen entrang sich seiner Brust. Feurige Ringe tanzten vor seinen Augen, und der Schmerz ließ und ließ nicht nach. Er kannte die Symptome.

Ist es jetzt soweit, dachte Greg, soll ich hier in diesem Scheißkaff sterben? In Dortmund, einer Stadt, die in den USA kein Schwein kannte und die in Europa bestenfalls Fußballfans bekannt war. Und ich dachte, ich hätte noch soviel Zeit…

Dann hörte Greg, wie sich die Kabinentür nebenan öffnete. Wie durch Watte hörte er die Stimme eines wohl jüngeren Mannes fragen, ob er ihm helfen könne, dann wurde es dunkel um ihn, und er hörte nichts mehr...

 

2.2

 

Zufallsfund mit Folgen

 

Als Manni nach ein paar Minuten zurückkam, wirkte er plötzlich seltsam gehetzt und nervös.

Komm schnell“, flüsterte er. Eindringlich und ängstlich, wie ich fand.

Was ist los?“, fragte ich, nun ebenfalls besorgt.

Schnell, ich erkläre es dir gleich. Wir müssen sofort weg!“
Gut, dass ich schon bezahlt hatte. Also stand ich auf und verließ mit Manni das Cafe. Es konnte ihm nun nicht schnell genug gehen, die letzten Meter zum Ausgang lief er fast und hielt mir sogar die Tür auf.

Schnell, zum Auto!“, forderte er mich auf und begann zu laufen. Zum Glück war es nicht weit zum Parkplatz. Wir stiegen ein, ich steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor. Dabei blickte ich zufällig in den Rückspiegel und sah drei schwarze Autos zügig an das Cafe heranfahren. Ein Van und zwei BMW-Limousinen. Die Türen schwangen auf, und mehrere Gestalten in schwarzen Anzügen stiegen aus den Fahrzeugen. Sie beeilten sich ins Cafe zu gelangen. Ah, die Man in Black, dachte ich noch ein wenig amüsiert und fuhr los.

Ich glaub, du hast mir einiges zu erklären“, sagte ich nach einiger Zeit und blickte Manni an.

Gib Gas, gib Gummi, ich erkläre es dir gleich!“, erwiderte er. Ich fuhr weiter und bog an der nächsten Kreuzung rechts ab und stellte mich auf einen freien Parkplatz. „Also, was ist los, hast du Scheiße gebaut, oder was?“, wollte ich nun wissen.

Weiß ich auch nicht so richtig. Ich war doch auf der Toilette, als ich in der Kabine neben mir ein seltsames Geräusch hörte, so ein röchelndes Stöhnen, so als ob jemand Atemnot hätte. Ich fragte, ob ich helfen könnte, aber da hörte das Stöhnen mit einem seltsamen Seufzer auf. Ich traute dem Braten nicht und kletterte auf die Kloschüssel, blickte runter in die andere Kabine, und da lag er, oder besser gesagt da hockte bewegungslos ein Typ, so einer im schwarzen Anzug, und sah irgendwie tot aus“.

Und war er tot?“, fragte ich.

Ich glaub´ ja, der war tot. Ich bin dann herüber geklettert und fand dies hier. Es ragte aus seiner Manteltasche heraus. Kann man immer gebrauchen…“ Manni griff in seine Jacke und zeigte mir ein Gerät, das mich an die ersten älteren Mobiltelefone erinnerte. Groß, schwarz und klobig, mit Antenne. „Was ist denn das?“, wollte ich wissen.

Keine Ahnung. Fahr weiter und bieg´ mal da vorne links ab, wir sind gleich beim Schnitzelhaus.“

Kurz darauf saßen wir in dem Schnellrestaurant und gaben unsere Bestellung auf. Ich schaute mir Mannis Beute jetzt etwas genauer an: eine Tastatur mit auffallend mehr Zeichen als bei einem normalen Handy, ein großes Display und an der Oberseite eine trichterförmige Vertiefung mit einem kleinen Loch in der Mitte, aus dem ein dünner Stift ragte. An der rechten Seite befand sich eine kleine integrierte Antenne, vermutete ich.

Was meinst du, was das ist?“ Fragend blickte ich meinen Neffen an. Der nahm das Gerät und drückte auf eine der zentralen Tasten. Ein leiser Piepton erklang, und das Display leuchtete auf, das Gerät war jetzt wohl in Bereitschaft.

Manni drückte eine der Tasten, und ein Menü zeigte sich im Display, aus dem er eine Funktion wählte. Nach einiger Zeit kam ein Ausruf des Erstaunens über seine Lippen: „Ich werd´ verrückt. Das gibt `s doch gar nicht. Au, Scheiße. Das ist ja echt `n Hammer“.

Nun sag schon, was ist?“, verlangte nun auch ich zu wissen.

Warte, warte. Gleich hab ich es. Mann, das ist ja echt ein Ding. Wahnsinn!“, murmelte er vor sich hin und betätigte mit ziemlich großer Geschwindigkeit die Tastatur des Geräts.

Nun rück´ schon mit der Sprache raus! Was ist das für ein Ding?“, verlangte ich jetzt ärgerlich, weil er mich solange auf die Folter spannte. „Moment noch, gleich hab ich es“.

Eine Minute später blickte Manni mich fassungslos an und sagte: „Schau mal `rüber zur Theke, siehst du die Frau da, die heiße Blondine?“

Ja, und?“

Hier hast du ihre Adresse, Telefon- und Handynummer, Bankverbindung, Kreditkartennummer, Fahrzeugzulassung, E-Mail Adresse, Arbeitgeber, zweimal geschieden, alleinerziehend, Konto total im Minus, Schufa-Eintrag wegen Überschuldung, keine Vorstrafen, nur einige Strafmandate wegen falschen Parkens, Reisepass abgelaufen. Sämtliche Daten über sie, die es gibt. Ihr biometrisches Foto inklusive.“ Er hielt mir das Gerät vor die Nase, und scrollte die Daten auf dem Display herunter… - tatsächlich, alle Daten, Passbild eingeschlossen, waren darauf sichtbar.

Das glaub ich nicht, wirklich?“, stammelte auch ich nun entgeistert. Stumm saßen wir da und nahmen einen tiefen Schluck Bier.

Die fragliche Frau verließ nun das Restaurant.

Ja, und noch besser, die Frau geht gerade zu ihrem Auto, ich kann sie orten und verfolgen. Ha, hab´ gerade eine weitere Funktion entdeckt. Man kann damit sogar telefonieren, ist ja ein echtes Superhandy.“

Wie kann so etwas gehen?“

Ich sage nur eines, Tommy. Personalausweis mit integriertem Mikrochip. Klingelt es jetzt bei dir?“

Ich konnte es kaum glauben, und dann kam die Erkenntnis: Mit diesem Gerät konnte jeder aufgespürt, beobachtet und durchleuchtet werden, wenn die richtigen Verknüpfungen betätigt wurden. Der gläserne Bürger in Perfektion.

Stellte sich nur noch die Frage, wer oder welche Institution dieses Gerät benutzte. Polizei, Staatsschutz, Geheimdienste? Sie alle kamen in Frage. „Manni, kann man damit wohl auch die Daten manipulieren?“ Ein paar Minuten später hatte ich die Antwort. Man konnte es.

Das heißt, jeder konnte mit einem solchen Gerät datentechnisch gelöscht, also im übertragenen Sinne vernichtet werden. Natürlich hatte Manni die Löschtaste nicht betätigt.

Also konnte man Existenzen ruinieren, wirtschaftliche oder politische Konkurrenten ausschalten und damit aus dem Weg räumen. Wer ein solches Gerät besaß, der hatte Macht, wirklich große Macht.

Nächste Frage: Wer war der Tote im Cafe? Nächste Frage: Welche Funktion hatte er? Nächste Frage: War dieses Gerät ein Einzelstück? Die Fragen würden kaum ein Ende nehmen, wenn man die Geschichte zu Ende dachte.

Dann fielen mir plötzlich wieder die Anzugtypen in den drei schwarzen Wagen ein. Im TV waren das immer die Kerle von der CIA, bei uns wohl eher...? Tja, wer?

Die Bedienung servierte unsere Bestellung und unterbrach meine Überlegungen. Einer spontanen Eingebung folgend, bezahlte ich sofort und gab ihr ein gutes Trinkgeld, nur für den Fall, dass wir plötzlich los mussten. Man kann ja nie wissen, war schließlich Allgemeinbildung und in jedem Agenten- oder Krimifilm zu sehen.

Wir aßen schweigend, und ich begann wieder zu sinnieren. Nochmals fielen mir die Anzugträger ein. Ob sie dieses Gerät ebenfalls orten konnten?

Wenn ja, dann saßen wir hier auf heißen Kohlen.

Manni“, sagte ich kauend und voller böser Ahnungen: „Hau rein, wir müssen weg, sofort!“

Warum? Ich will noch in Ruhe mein Bier trinken“, nöhlte er.

Nimm es mit, wir müssen auf der Stelle verschwinden und dieses Ding irgendwie loswerden. Jetzt musst du mir vertrauen“.

Ein mulmiges Gefühl nahm von mir Besitz, so als ob sich eine Ratte in meinem Magen die Füße vertreten würde. Ungeduldig wartete ich darauf, dass Manni aufstand und endlich mit mir zum Auto ging.

Wir fuhren gerade an, da kamen sie auch schon um die Ecke gebraust. Die drei schwarzen Wagen.

Manni, hat das Ding Akkus? Und wenn ja, versuch sie herauszunehmen! Schnell!“

Ich hörte, wie er daran herumfingerte, aber keinen Erfolg hatte.

Scheiße aber auch, hier ist kein Fach, ich kann es nicht öffnen.“

Kannst du es über das Menü öffnen?“

Mal sehen. Ja, hier ist die Funktion... Kacke! Das Ding hat eine Pufferbatterie. Das heißt, es ist ständig Strom drauf, und wahrscheinlich kann es permanent geortet werden.“

Die Ratten mutierten und bissen sich in meinen Magenwänden fest. Sie machten weiter und malträtierten jetzt auch die Därme. Ich gab Gas, wollte nur schnell weg. Dazu bot sich die B 236 Richtung Hörde an. Hier konnte ich dem Motor mal die Brust geben, um so richtig auf Tempo zu kommen.

Mir kam der Gedanke, dieses Ding einfach weg zu werfen, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, es könnte noch lebenswichtig werden.

Hey, ich hab hier was“, hörte ich Manni sagen.

Was hast du herausgefunden? Mach endlich!“, sagte ich alarmiert.

Wir werden verfolgt. Hier ist ein Ortungsbild, und die Verfolger nähern sich schnell. Sehr schnell! Gib Gas, Onkel Tommy!“, rief Manni mit leicht zitternder Stimme. Onkel hat er mich schon lange nicht mehr genannt. Ein denkwürdiger Augenblick. Wie denkwürdig, sollte sich schon sehr bald zeigen.

Das mach ich schon längst, aber das ist nur ein alter Toyota Corolla, der nur noch sein Gnadenbrot bekommt und die 300.000 Km längst überschritten hat. Den nächsten TÜV-Termin überlebt er wohl auch nicht, falls er vorher nicht stillgelegt wird. Mit diesem Wagen werde ich die nicht abhängen können. Wir müssen uns was anderes einfallen lassen.“

Die Zeit blieb uns aber nicht. Schnell näherten sich die schwarzen Wagen mit den Man in Black. Ich raste durch die Straßen, so schnell es der Verkehr zuließ, flog bei Rot über eine Kreuzung hinweg, missachtete in meiner Angst ein Stoppschild und sämtliche anderen Verkehrsregeln. Ich hatte jetzt so an die 100 km/h drauf. Einmal wurde ich geblitzt, und mir war klar: Das gibt reichlich Punkte in Flensburg. Wir fuhren auf eine Bundesstraße in Richtung Schwerte zu. Es war eine Allee mit stämmigen Platanen. Und sogleich befanden wir uns außerhalb der geschlossenen Ortschaft. Dann waren sie auch schon heran, die Man in Black.

Einer der BMWs setzte zum Überholen an. Ich war darauf konzentriert, meinen Wagen in der Spur zu halten und hörte plötzlich ein leises Klirren sowie ein Stöhnen neben mir. Mannis Oberkörper sackte plötzlich auf das Armaturenbrett. Sein Hinterkopf färbte sich rot. Sie hatten doch tatsächlich auf meinen Lieblingsneffen geschossen, diese Schweine. Zunächst war ich wie gelähmt und hätte den Wagen beinahe vor einen Baum gesetzt. Ich musste mit ihm unbedingt zum nächsten Krankenhaus. Manni brauchte Hilfe, eine schnelle OP. Dann schrie ich auf und brüllte meinen Zorn heraus, als ich erkannte, dass der schwarze BMW mich in den Straßengraben abdrängen wollte. Es ging bergab. Mein Wagen gewann ebenfalls an Geschwindigkeit. Alles ging rasend schnell. Ich rammte den BMW nun meinerseits, indem ich ihm in die vordere Beifahrertür fuhr. Aber ich erzielte mit dem Manöver so gut wie keine Wirkung. Das gegnerische Fahrzeug war einfach zu schwer und wurde von einem Profi gesteuert. Jedenfalls geriet es keinen Millimeter aus der Spur. Im Rückspiegel sah ich bereits den schwarzen Van direkt hinter mir.
Aber aus dem Beifahrerfenster des BMW ragte nun ein Arm mit einer Pistole heraus. Er gehörte zu einem Typen mit schwarzem Schnäuzer. Und er grinste siegesgewiss, irgendwie pervers, wie ich fand. Jetzt war ich wohl an der Reihe, abgeknallt zu werden. Und er schoss tatsächlich, allerdings daneben und traf statt meiner noch einmal Manni, weil ich unvermutet auf die Bremse gestiegen war.

Ich scherte scharf nach rechts aus und ging noch einmal mit aller Kraft in die Bremsen.

Der Van brauste an mir vorbei. Ich gab wieder Vollgas. Und dann erblickte ich die Brücke über der Ruhr. Dort musste ich hin.

Ich zog den Wagen scharf nach rechts in einen unbefestigten Weg, raste dann wegen meiner überhöhten Geschwindigkeit aber über einen Acker und sah die Uferböschung auf mich zu kommen. Ich war zu schnell, viel zu schnell, das wurde mir plötzlich klar. Sekunden später hob ich ab, der Wagen flog über zehn Meter weit und stürzte in den Fluss. Mit einem Knall öffnete sich der Airbag und bremste meinen Aufprall. Zum Glück war ich angeschnallt. Manni war es nicht, und sein lebloser schlaffer Körper wurde ruckartig in den Sitz zurück katapultiert, spätestens jetzt wäre sein Genick gebrochen.

Noch schwamm das Fahrzeug, aber wir sanken schnell. Für Manni konnte ich nichts mehr tun. Diese Schweine hatten ihn ermordet und waren jetzt hinter mir her, um mich aus dem Verkehr zu ziehen. Ich schnallte mich ab und griff mir das verhängnisvolle Gerät.

Dann drückte ich den Schalter, um das Seitenfenster elektrisch herunterzulassen, was zu meinem Erstaunen noch gelang. Kein Kurzschluss der elektronischen Systeme. Glück im Unglück. Der Fluss drängte nun mit Macht ins Innere des Fahrzeugs, und schon bald war es komplett unter Wasser. Bevor ich die schwergängige verklemmte Fahrertür unter Schwierigkeiten öffnen konnte, atmete ich noch einmal aus der Luftblase unter dem Dach tief ein. Mit aller Kraft stieß ich mich von den Einstiegskästen ab, hielt die Luft an und ließ mich von der Strömung soweit wie möglich treiben. Dann tauchte ich kurz auf, atmete mehrmals tief ein und verschwand wieder unter Wasser. Diese Prozedur wiederholte ich noch einige Male und tauchte wieder auf.

Ich ließ mich durch die Strömung weitertreiben, blickte mich suchend um und erkannte weit entfernt die Ruhrbrücke.

Hoffentlich konnten sie mich unter Wasser nicht orten, dachte ich. Ich ließ mich noch ein Stück weiter treiben und schwamm zu einer mit Sträuchern und Büschen bewachsenen Stelle am Flussufer.

 

*

 

Dort kraxelte ich aus dem Wasser und versteckte mich im Sichtschutz eines größeren Strauches. Das Wasser floss und tropfte aus meiner Kleidung, und auch dieses unsägliche Gerät tropfte aus allen Fugen. Ich hoffte, dass es wegen der Feuchtigkeit erst einmal funktionsuntüchtig blieb und meine Verfolger abgehängt waren. Ich schnaufte ordentlich durch und atmete mehrmals tief ein und aus.
Dann kniete ich mich hin und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Der Schock stellte sich nun mit brutaler Vehemenz ein: Ein trockenes Schluchzen entrang sich meiner Brust. Was dann folgte, war ein nicht enden wollender Weinkrampf, den ich nicht unterdrücken konnte. Ich war außer mir, ein weinendes nasses Häufchen Elend im Schlamm am Uferrand.
Wie sollte ich das alles nur meiner Schwester und Mannis Vater beibringen, wie seinen Tod erklären? Habe ich wirklich genug getan, um sein junges Leben und sein Vertrauen zu schützen? Was war ich bloß für ein Onkel? Die Selbstvorwürfe wollten nicht enden. Der Verstand sprach mich zwar frei, doch die Gefühle waren völlig anderer Meinung. Meine bürgerliche Existenz war nach all dem ohnehin zusammengebrochen wie ein Kartenhaus. Es war vorbei mit meinem phlegmatischen Lebensrhythmus…
Wie lange ich in meinen Selbstvorwürfen und meiner Ohnmacht verharrte, weiß ich nicht mehr, denn die Realität in Gestalt des schwarzen Anzugträgers mit Schnäuzer, holte mich wieder ein. Die suchten tatsächlich die Ufer ab, um sich von meinem Ende zu überzeugen. Und der namenlose Anzugträger mit Schnäuzer war gerade im Begriff, sich mein notdürftiges Versteck im Gebüsch anzusehen und entdeckte mich nahezu im gleichen Moment.

 

Kalte Wut ergriff mich. Spontan hob ich einen Stein vom Boden auf, einen faustgroßen schönen, runden Findling, wog ihn kurz in der Hand und schleuderte ihn zornig in Richtung seiner verhassten Visage. Als Jugendlicher war ich stets Sieger beim Treffen von Treibgut oder anderen Zielen geblieben. Das kam mir jetzt zugute.
Ich sah noch wie der Typ mich schon wieder grinsend anschaute und wortlos seine Waffe anlegte. Doch mein Stein war bereits unterwegs und flog ihm mit voller Wucht ins Gesicht, genauer gesagt: zertrümmerte er ihm mit einem
hässlichen, knirschenden Geräusch seine Nase. Sein Grinsen erlosch je und wich einem bass erstaunten Ausdruck, als das Blut ihm förmlich aus der Nase schoss. Er konnte es nicht fassen. Seine Waffe fiel zu Boden. Er schrie mit Verzögerung auf, torkelte und hielt sich seine lädierte Nase. Dann stürzte er benommen die Böschung hinunter. Genau auf mich zu. Beide fielen wir ins seichte Uferwasser. Doch mein Gegner war nur angezählt und nach wie vor gefährlich. Ein Profi eben. Es folgte ein zäher Zweikampf. Wir wälzten uns im Wasser des Flussufers umher und schenkten uns nichts. Ich kämpfte um mein nacktes Überleben.
Er musste über Kampfsporterfahrungen verfügen. Kein Wunder, er war schließlich so etwas wie ein Killer. Zu meinem Glück war er aber noch zu benommen, um mich auf die Schnelle auszuschalten. Beide kamen wir zeitgleich auf die Beine und stürzten aufeinander zu. Er bekam nun meinen Hals zwischen seine Pranken und drückte mir kräftig auf den Kehlkopf. Ich geriet in arge Luftnot, sah schon rote Kreise vor den Augen und
spürte, dass ich rapide an meine Leistungsgrenze gelangte. Die Umgebung vor meinen Augen begann zu verschwimmen. Fast ergab ich mich in mein Schicksal. Sollte das alles gewesen sein in meinem Leben? Sollte ich Sonja nicht mehr wiedersehen?, schoss es mir durch den Kopf. Gleich würde ich meinem Lieblingsneffen, gegenüberstehen und mich gebührend entschuldigen können.
Doch auf einmal hatte ich so etwas wie eine Kurz-Vision: Dabei ging ich auf Manni zu, der auf einer bläulichen Wolke saß, auf der eine große 7 prangte. Ich erklärte mich ihm... Aber Manni war gar nicht glücklich über meine Gesellschaft und schämte sich meiner. Er fragte mich vorwurfsvoll-weinerlicher Stimme: „Bin ich denn völlig umsonst abgekratzt, du Schlaftablette? Willst du diese miese Type wirklich davon kommen lassen, Onkel Tommy?“
Das brachte mich urplötzlich zur Besinnung und mobilisierte explosionsartig meine letzten Kräfte.
In meiner Verzweiflung wandte ich einen schmutzigen Straßenkämpfer-Trick an. Ich setzte ihm scheinbar leichten Widerstand entgegen und ließ es zu, dass er mich zu sich heranzog, ganz nahe, um mich besser würgen zu können. Hasserfüllt blickten mich seine Augen in seinem blutverschmierten Gesicht an. Doch nun kam auch mein eigenes Aggressionspotential zur Geltung. Meine ganze Wut und der Hass auf den Mörder Mannis entluden sich nun ebenfalls mit urplötzlicher Gewalt. Ich setze einen heftigen Faustschlag genau in seinen Solarplexus. Er sackte ein wenig zusammen und lockerte seinen Würgegriff. Das brachte Luft: Ich schlug ihm meine beiden Hände zugleich auf seine Ohren. Vor meinem geistigen Auge sah ich förmlich seine Trommelfelle auseinanderfliegen. Er schrie auf vor Schmerz und taumelte. Ich nutzte die Chance, schlug ihm die Arme auseinander und verpasste ihm sofort einen brutalen Kopfstoß, zufällig wieder im Bereich seiner ramponierten Nase. Der Kerl stöhnte auf und ging nun mit verdrehten Augen zu Boden. Er blieb aber nur kurz liegen. Er vertrug doch mehr als ich erwartet hatte. Gerade wollte er sich wieder aufrichten. Ich gab ihm nun aber mit einigen üblen Tritten in die Rippen und in seine Weichteile den Rest. Schließlich kniete ich über ihm und prügelte ihn methodisch zusammen, bis ich vor lauter Rot nicht mehr wusste, wohin mit meinen Schlägen. Ich glaube auch nicht, dass er noch viel davon mitbekommen hat. Am Ende drückte ich seinen Kopf solange ins Wasser, bis keine Blasen mehr kamen.
„Du Dreckschwein hast ihn erschossen! Dafür stirbst du jetzt und wirst nun Mannis Sklave! Mich wollt ihr also auch noch umbringen? Ihr Hurensöhne werdet euch noch wundern!“, keuchte ich zornig meine Wut hinaus. Dann wurde sein Körper schlaff, und ich überließ ihn angewidert der Strömung.

 

Ich bebte am ganzen Körper. Ermattet sank ich zu Boden. Gehetzt blickte ich um mich. Mein Herz raste, und ich spürte deutlich den erhöhten Adrenalinspiegel, der sich noch immer vom Unterleib bis nach oben arbeitete. Du hast diesen schnauzbärtigen Profikiller also umgebracht, wurde mir bewusst, einen eiskalten Typen, dessen Physiognomie anscheinend nur des Grinsens fähig war - kein Wort hatte er bis dahin mit mir gewechselt, nichts, und mich wortlos zu töten versucht, wie Manni. Mein Zorn und die Trauer über Mannis gewaltsames Ende hatten mir letztlich die Kraft gegeben, eine Kampfmaschine wie ihn zu besiegen, auch ohne über die Folgen nachzudenken. Ich staunte über mich selbst und die archaischen Triebe in mir. Die Logik sagte mir zwar, dass er es war, der Manni erschossen und mich angegriffen hatte. Somit hatte er seinen Tod letztlich selbst provoziert. Aber am Ende wurde mir klar, dass ich eigentlich im Unrecht war, zumindest nach den Maßstäben meiner eigenen Moral und gängigen Rechtsauffassung. Notwehr hin oder her: Meine christliche Erziehung forderte ihren Tribut in Form starker Schamgefühle über meine Brutalität. Selbstzweifel und Gewissensbisse plagten mich. Ich fragte mich, ob es wirklich reine Notwehr war, die mich so kaltblütig handeln ließ. Dennoch wollte sich eine echte Reue bei mir nicht einstellen. Im Grunde war es inzwischen auch egal: Hätte ich ihn nicht zuerst gesehen und schneller reagiert, wäre ich jetzt ein toter Mann, allen moralischen und christlichen Grundsätzen zum Trotz. Mannis Tod wäre dann tatsächlich nahezu sinnlos gewesen.

Mein Augenmerk musste ich jetzt aber auf die Realitäten und mein eigenes Überleben richten. Ich hatte keine Zeit zu verlieren. Die anderen Man in Black würden recht bald nach ihrem Kampfgenossen suchen, womöglich durch elektronische Ortung, falls der Bursche verchipt war. Ich musste also weg von hier, schnellstens.

Es war zwar ein warmer Sommertag, aber bis meine Kleidung trocken war, würde es noch eine Weile dauern. Etwa einen Kilometer weiter sah ich eine weitere Ruhrbrücke. Da musste ich schnellstens hin. Ich lief in leichtem Trab das Ufer entlang und erreichte sie nach etwa 5 Minuten. Meine Kleidung war durch die Bewegung zumindest nicht mehr platschnass. Gut, dass ich noch einigermaßen in Form war, denn ich war nicht besonders aus der Puste - dem Adrenalin sei Dank.
Kaum dass ich auf der Brücke stand, sah ich bereits einen Lieferwagen ankommen. Ich streckte den Daumen heraus, und zu meinem Glück hielt der Fahrer auch an. Ich öffnete die Beifahrertür und fragte, ob ich mitfahren dürfte.

Bist wohl ins Wasser gefallen und nass geworden!“, stellte der Fahrer überflüssigerweise fest und grinste amüsiert. Ich war froh, keine weiteren Erklärungen abgeben zu müssen und grinste jovial zurück.

Du kannst hinten im Laderaum deine Klamotten wechseln und einen Arbeitsoverall anziehen. Hab genug davon, Werbeklamotten und so… Ist nicht so schlimm, wenn es dort nass wird. Wo willst du denn hin?“, wurde ich gefragt.

In den nächsten Ort. Ich muss telefonieren.“

Kannst mein Handy benutzen. Ich heiße übrigens Werner“, stellte sich der Fahrer vor.

Danke Werner, ich bin Thomas... Berger. Und nochmals vielen Dank“. Ich scheute mich, ihm meinen richtigen Namen zu nennen. Wahrscheinlich misstraute ich ihm zu Unrecht. Aber zu viel war passiert. Manni erschossen, ich hatte gerade einen Mann ins Jenseits geschickt, und nun half mir ein Unbekannter, der auch noch zufällig zur richtigen Zeit am rechten Ort auftaucht. Ich blieb lieber erst einmal vorsichtig. Der Kleiderwechsel ging schnell vonstatten. Sorgsam barg ich meine persönlichen Sachen und vergaß auch das Superhandy nicht.

Ich wählte mit Werners Handy die Nummer eines Freundes und verabredete einen Treffpunkt, an dem er mich in einer Stunde abholen sollte. Im nächsten Dorf stieg ich aus und bedankte mich noch einmal bei Werner.

Keine Ursache, hab´ ich gern gemacht“, antwortete er mir. Ich nahm meine feucht-klamme Kleidung an mich und ging zu Fuß im Overall weiter. Der Lieferwagen fuhr weiter und verschwand hinter der nächsten Kurve. Werner schien also sauber zu sein und gab mir ein wenig den Glauben an die Menschen zurück.

 

*

 

Wie in jedem Dorf gab es eine Kirche in der Ortsmitte, und keine Stunde später saß ich im Volvo meines Freundes Dieter - auf dem Weg nach Hause. Die Fahrt verlief recht einsilbig. Dieter spürte wohl, dass ich Sorgen hatte und wartete passiv ab, ob ich von mir aus etwas sage. Wir bogen in die Straße zu meiner Wohnung im Kreuzviertel Dortmunds ein, als ich in der Nähe einen schwarzen BMW „unauffällig“ parken sah. Zwei Personen saßen darin, Anzugträger wie ich aus den Augenwinkeln erkannte. „Dieter, halt nicht an, fahr einfach weiter“, bat ich alarmiert meinen Freund. Der reagierte prompt und fuhr ohne Verzögerung durch, während ich im Fußraum in Deckung gegangen war.

Bist du in Schwierigkeiten, Tommy? Wirst du von den Bullen gesucht?“, fragte mich mein Freund aus alten Zeiten. „Kann ich dir helfen? Du weißt, ich hab ein paar gute Connections“, ergänzte Dieter sein Angebot.

Ja, das wusste ich. Auf Dieter konnte ich mich hundertprozentig verlassen. Der stand zu seinem Wort. War früher selbst einmal ein harter Brocken. Anführer einer Rockerbande, hat wegen gefährlicher Körperverletzung an einer Handvoll Polizisten einige Jahre abgesessen. Als Wing-Tsun Kämpfer hatte er die Bullen durch eine harte Schule geschickt, nachdem diese seinen jüngeren Bruder zu Tode geprügelt hatten. Nach dem Knast lernte er unter spektakulären Umständen Marion kennen und wurde zu einem soliden Familienvater, Schriftsteller und hatte einige Rollen im Fernsehen absolviert. Sein Sohn, seit kurzem außer Haus, war nach seinem Jurastudium Strafrichter geworden. Welche Ironie des Schicksals, gerade nach Dieters Vita. Ich wollt´ seinen Sohn auch gar nicht in die Verlegenheit bringen, meinen Strafprozess zu führen oder sich als Richter für befangen erklären zu müssen.

Ich glaub' nicht, dass die von der Polizei sind, ich weiß aber auch nicht von welchem Verein sie kommen“, erklärte ich mein Verhalten.

Willst du mir vielleicht ein wenig mehr erklären?“, insistierte Dieter.

Ich zögerte, wenn ich Dieter da hineinzog, würde er vielleicht auch dran glauben müssen, aber im Moment war er der Einzige, der mir helfen konnte. Und er hatte wirklich gute Kontakte. Andererseits sollte seine Frau Marion auch nicht zur Witwe werden. Doch ich konnte nicht mehr, ich war nicht mehr fähig, meine innere Not zu kontrollieren, und es brach aus mir heraus: „Manni ist tot. Die haben ihn erschossen. Wegen diesem Ding hier“, sagte ich mit belegter Stimme und feuchten Augen. Ich musste einen Kloß hinunterwürgen, während Dieter erbleichte und den nächstbesten Parkplatz ansteuerte. Ich zeigte ihm Mannis brisantes Fundstück, das bereits drei Menschen das Leben gekostet hat. Es war Offline. Das Wasser hatte es wohl außer Betrieb gesetzt.

Was ist denn das?“, fragte Dieter erstaunt, wog das Gerät in seinen Händen und betrachtete es von allen Seiten.

Anfangs wussten wir das auch nicht, aber Manni hat herausgefunden, wozu es fähig ist“. Dann erklärte ich ihm alles, den ganzen Hergang und was ich darüber wusste.

Das ist heftig, ich hätte nicht gedacht, dass es so etwas schon gibt. Aber andererseits war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis die so etwas bringen“, kommentierte Dieter meine Erklärungen.

Und Dieter ergriff nun die Initiative. Nicht mit Vorwürfen oder einer Moralpredigt. Nein, er nahm sich der Sache zu meiner großen Erleichterung ganz ruhig und pragmatisch an: „Wir fahren jetzt erstmal zu meiner Werkstatt. Du wechselst mal zunächst die Klamotten, und ich rufe einen Bekannten an. Ist ein Computerfreak. Ich schätze, er kann uns helfen“.

Zwanzig Minuten später erreichten wir seine Motorradwerkstatt. Wenn Dieter nicht gerade an einem Roman schrieb oder bei Filmaufnahmen eine Rolle spielte, wurden hier Bikes getunt und veredelt. Hauptsächlich Kawasaki, seine Lieblingsmarke. Auch andere Marken waren vertreten, nur keine von Honda. „Die werden bei mir sofort eingeschmolzen“, war sein Standardspruch, wenn die Sprache auf diese Marke kam.

Wir gingen in sein Büro, ich setzte mich an einen kleinen Tisch und legte das Gerät darauf ab.

Möchtest du einen Kaffee oder was anderes?“, bot mir Dieter an.

Ich glaub ich könnte jetzt tatsächlich einen Drink vertragen.“

Whisky oder Cognac?“, fragte er nach.

Cognac wäre gut, einen dreifachen, bitte“. Dieter öffnete seine Bar und reichte mir ein Glas - dazu eine fast volle Flasche Remy Martin.
„Bedien dich, Tommy“.

Danke, Dieter“, knurrte ich freudig auf. Ob des guten Cognacs lief mir das Wasser im Munde zusammen. Genau die richtige Medizin für Mutters Sohn…

Ich goss mir einen guten Schluck ein und trank das Glas mit einem Zug leer und genoss die wohltuende wärmende Wirkung des Getränks. Danach füllte ich mir einen weiteren Drink ein, ließ ihn aber erst einmal stehen.

Eine wohlige Wärme breitete sich nun in meinem Körperzentrum aus und vertrieb die beißenden Ratten in meinen Eingeweiden. Dem einen geht´s unter die Haut oder auf die Pumpe, andere kriegen Migräne-Attacken, oder es schlägt ihnen auf den Magen. Ich musste wohl ein entsprechendes Risiko-Gen in mir haben, bin wohl der Magentyp, dachte ich sarkastisch.

Ich telefonier jetzt mal, da drüben steht ein Schrank. Darin findest du Kleidung, ich schätze wir haben etwa dieselbe Größe“.

 

Ich benutzte erst einmal Dieters Werkstattdusche und betrieb ein wenig Hygiene. Dann versorgte ich mich mit sauberer Unterwäsche, zog ich mir eine Jeans und ein T-Shirt an und wechselte meine nassen Schuhe gegen Stiefel aus. Leider waren sie ein wenig groß, solche mit längeren Spitzen, aber es war nichts anderes da. Und eine Lederjacke lieh ich mir auch noch aus. Alles - bis auf die Schuhe - passte wie angegossen. So musste es auch sein. Es gab Leute, die behaupteten, dass ich wie Dieters jüngere Ausgabe aussähe, so stark sei die Ähnlichkeit. Aber sei´s drum… Nun war ich fast wieder Mensch, zumindest vorläufig.

Derweil hatte Dieter seine Telefonate beendet, legte auf und berichtete:

Marion fährt sofort für einige Tage in den Bayerischen Wald, Familie und so… Mein Kumpel ist in einer halben Stunde hier und sieht sich mal das Superhandy an. Möchtest du eine Zigarette oder einen Joint?“

Danke, ich hab aufgehört zu rauchen, mit beidem. Tut mir echt gut, so ganz ohne, hätt´ ich nicht gedacht“, erklärte ich.

Ist auch in Ordnung. Ich selbst kiffe auch schon lange nicht mehr, aber ich hab´ immer ein Stück Dope für Freunde oder gute Kunden auf Lager.“
„Hör mal, Dieter, ich möchte dich und Marion nicht in diese Sache hereinziehen. Ihr habt zu viel zu verlieren. Ich meine eure bürgerliche Existenz und so…“, begann ich zu argumentieren. Zu spät war mir aufgegangen, dass ich von ihm zu viel, viel zu viel, erwartete und auch er mit seiner Familie in Gefahr geriet. Dieter unterbrach mich sanft mit einer beruhigenden Geste: „Lass mal stecken… Du hast recht, Tommy“, erwiderte er. „Ich habe tatsächlich viel zu verlieren. Aber eben deshalb geht mich die Sache auch etwas an. Einmal Erfahrungen mit Polizeiwillkür und Knast reichen mir. Und ich habe sehr viel zu verlieren: meine und Marions Freiheit zum Beispiel. Und wie deine Erlebnisse heute zeigen, sind wir wohl allesamt in Gefahr, unsere Grundrechte einzubüßen. Ich habe ebenfalls eine Scheißangst - um uns alle. Sieht jedenfalls so aus, dass es Grund genug zur Sorge gibt, wenn ich dir glauben darf“, schloss er seinen Vortrag. Ich schwieg betreten, und mir wurde plötzlich klar, dass mein Fall schon längst keine Privatsache mehr war. Und gegen Dieters Argumentation, vorgetragen mit eindeutiger Logik und natürlicher Autorität, konnte ich kaum etwas einwenden.
Dass es mit meinem gemächlichen Dasein nun endgültig aus war, war wohl unumkehrbar. Ich wusste nicht, ob das gut oder schlecht für mich war. Jedenfalls war ich ebenfalls nicht bereit, mich ohne weiteres der Willkür von geheimdienstlichen Profikillern zu unterwerfen - nicht nach meinen eigentlich guten Erfahrungen mit unserer Demokratie und den bürgerlichen Freiheiten. Irgendwie hatte auch ich keinen Bock darauf, in einem Bullenstaat zu leben oder von staatlichen Schnüfflern kontrolliert zu werden.
Der Staat als Datenkrake, nein, dass brauchten wir alle wirklich nicht!, ging es mir so durch den Kopf. Zu viel hatte ich noch von der Nazi- und DDR-Diktatur sowie den Eskapaden der kommunistischen Regime in den letzten Jahrzehnten im Gedächtnis. Außerdem verstießen die bisherigen Ereignisse der letzten zwei Tage total gegen mein inneres Gerechtigkeitsempfinden. Es konnte einfach nicht sein, dass…

 

Meine Gedanken wurden plötzlich durch einen Piepton unterbrochen. Das Gerät schaltete sich wieder ein, und das Display wurde aktiviert.

Scheiße!“, rief ich und sprang auch schon auf. Aber Dieter hatte sofort reagiert und das Ding in eine Blumenvase gleiten lassen. Plätschernd sank es hinab. Der Piepton verstummte.

Hoffentlich war die Zeit zu kurz für die Schweinebande, um zu reagieren und uns zu orten“, sagte Dieter und nahm die Blumen aus der Vase. Dann griff er hinein und zog das Gerät bis kurz unter die Wasseroberfläche. Das Display war dunkel und wohl wieder Offline, hoffte ich jedenfalls. Der Schreck saß mir wieder tief in den Gliedern. Nervös achtete ich auf jedes Geräusch, das von draußen hereindrang.

Dieter hatte das Büro verlassen. Als er wieder eintrat, war er bewaffnet. „Die hab´ ich für schlechte Kunden“, knurrte er, als er meinen fragenden Blick sah:

Das ist die neue Heckler & Koch, 10mm, Automatik, Modell 2011. Und als Munition habe ich Hohlspitzgeschosse besorgt, die fransen beim Aufprall auf, und viele kleine Partikel zerreißen alles, was im Weg ist. Vor denen sollte jeder Respekt haben. Bisher habe ich sie nicht gebraucht, aber wenn die Typen hier aufkreuzen, könnte es sein, dass ich sie benutze, das schwör´ ich. Auch ich hab´ Manni gemocht, war ein prima Kerl.“

Von draußen erklang ein Motorengeräusch. Ich fuhr sichtlich erschreckt zusammen.

Keine Panik, das ist mein Kumpel auf seiner Kawa, ich hab sie getunt und veredelt. Ich erkenne jedes von mir getunte Bike am Klang. Die fährt jetzt fast 330 km/h, hängt jeden Bullen ab“, beruhigte mich Dieter.

Dieters Kumpel betrat das Büro und wurde mir als Holger vorgestellt, Sohn eines Cousins von Dieter. Wir begrüßten einander und schüttelten die Hände.

Dann trank ich auf den Schrecken meinen Drink aus und erzählte ihm meine Geschichte.

Holger nickte: „Ich hab´ in den Internet-Foren schon einiges darüber gelesen. Das ist Pure-Hightech. Soll mit jedem Server aller staatlichen Institutionen verbunden sein. Und ich sage bewusst aller Behörden, mit diesem Gerät weißt du alles über jeden, was irgendwo über ihn gespeichert ist. Hängt davon ab, welche Verknüpfung du betätigst. Man kann den Namen, Adresse oder Autonummer eingeben, und schon hast du alle Informationen einschließlich der biometrischen Daten, also das komplette Persönlichkeitsprofil. Wenn du den neuen Personalausweis hast, den mit dem RFID-Chip, brauchst du das Gerät nur in Richtung der Person ausrichten, und mit der Gesichtserkennungsfunktion hast du Ratz-Fatz die Daten. Und noch besser: Wenn du wissen willst, wo sich jemand aufhält, gibst du ein, was du über die Person weißt, und das Gerät zeigt dir an, wo er zuletzt datentechnisch erfasst wurde, oder beim neuen Personalausweis bzw. Reisepass sogar, wo du dich augenblicklich befindest. Und jetzt kommt der Hammer - auch wo du dich auf der ganzen Welt gerade aufhältst, im Urlaub oder so. Hast du den neuen Perso dabei, findet dich das Gerät augenblicklich. George Orwells 1984 ist dagegen der reinste Kindergeburtstag, Brezel backen, Brötchen eintunken. Das ist die totale Überwachung, basierend darauf, dass jeder eine Datenspur hinterlässt, sobald er telefoniert, eine Mail schreibt bzw. eine SMS erhält oder im Netz surft. Und es wird noch schlimmer, die USA planen angeblich, jedem Neugeborenen einen körpereigenen Mikrochip einzupflanzen, den Rest kannst du dir bei der Datensammelwut von Behörden selbst denken. Fehlt nur noch, dass wir bald mit einem Balkencode auf der Stirn herumlaufen, weißt du, so eine Art EAN-Code für Europas Bürger“, beendete Holger seinen erschöpfenden Vortrag, der uns perplex dastehen ließ.

Chip-Chip-Hurra!“, dachte ich in einem Anflug schwarzen Humors. Holgers Ausführungen waren geradezu schockierend. Für den Staat und die Organisation, die dahinter stand, war wohl jeder verdächtig, ein potentieller Feind oder gar ein Terrorist. Die sind völlig verstrahlt und schienen von einem pathologischen Misstrauen gegenüber ihren eigenen Bürgern beeinflusst zu sein. Völlig krank das Ganze, totaler Kontrollzwang stand hinter dieser staatlichen Datensammelwut. Nur, welche Organisation betrieb das Geschäft und zog die Fäden? Geheimdienste, der Staat oder gar ausländische Abwehrdienste, z. B. die CIA?

Fragen über Fragen, die sich jetzt ergaben. Hatte ich, hatten wir überhaupt eine Chance, denen zu entkommen? Ich schätzte, ich hatte die geringste Chance, mein Name war ihnen ja hinlänglich bekannt. Zum Glück besaß ich noch die alte Ausführung des Personalausweises, sonst wäre ich wahrscheinlich schon tot - leichte Beute für einen Sniper.
„Können wir das Gerät öffnen und eventuell manipulieren?“, fragte ich.

Hm“, murmelte Holger: „Du sagtest, es hätte sich etwa zwei Stunden, nachdem es unter Wasser stand, wieder aktiviert. Das heißt, es hatte keinen Kurzschluss. Also ist es dagegen gesichert. Ich vermute, dass es bloß zu trocknen braucht, dann aktiviert es sich wieder. In Ordnung. Dieter, hol das Teil mal aus dem Wasser, und leg es auf den Tisch.“ Holger öffnete seinen mitgebrachten Werkzeugkoffer und entnahm ihm einige feinmechanische Geräte.

Woll'n wa ma schaun, watt wa da machen könn´ “, murmelte Holger in seinem unverkennbaren Dortmunder Platt vor sich hin. Genauestens nahm er das Teil unter die Lupe, fummelte hier und dort herum und seufzte nach einiger Zeit laut auf.

Das wird schwer. Ist gut gesichert, aber nicht gut genug. Ich schätze, wenn ich hier ansetze, dann könnte es klappen“, sagte er wieder mehr zu sich selbst, denn er blickte nicht auf, sondern konzentrierte sich nur auf das Gerät.

Ja, es hat geklappt, hab´ ich mir doch gedacht. Clever, muss ich zugeben, aber eben nicht clever genug. Seht her, ich musste die kleine Parabolantenne, diese kleine trichterförmige Vertiefung herausnehmen und jetzt, Sesam öffne dich, klappe ich das Ding auf, indem ich diese Sperre zur Seite drücke, und hier, bitteschön..., das Innenleben!“

Mit all den vielen Mikrochips, und was noch so alles zu sehen war, konnte ich nichts anfangen. Ich konnte nur darauf vertrauen, dass Holger genau wusste, was er da tat.

Ich hab´ den Akku entfernt, und jetzt suche ich die Pufferbatterie... - ja hier ist sie. Gleich hab´ ich es... - jetzt. So, nun sollten wir nach Adam seinem Riesen eigentlich sicher sein. Ich glaube nicht, dass sie uns noch ortungstechnisch erfassen können.“

Stolz präsentierte Holger seinen Erfolg, einen Akku, wie von einem gewöhnlichen Handy und eine Knopfbatterie als Puffer.

Und nun schauen wir mal, woher das Innenleben stammt“, sagte Holger und nahm eine starke Lupe aus seinem Koffer. Mit einem Bügel befestigte er sie vor seiner Stirn und betrachtete intensiv die einzelnen Komponenten des Gerätes.

Oh, oh... bis jetzt alles amerikanisch. Weiter, ja auch hier alles aus Ami-Land. Und noch weiter, sogar die Schalter. Interessant. Alles aus den USA, bis jetzt. Ich schätze, wir haben dem CIA einen seiner Schätze gestohlen. Die werden jetzt mächtig sauer sein, könnte ich mir denken“.

Die CIA oder ein anderer Geheimdienst aus den Staaten hatten Manni also auf dem Gewissen. Scheiße, ich selbst war auch so gut wie tot. Welche Chance konnte ich gegen eine so mächtige Organisation denn schon haben?

Sollte ich mich unseren Behörden stellen oder gar der CIA selbst? War die CIA hier vielleicht mit Duldung deutscher Behörden aktiv? Mitten in Europa…?

Wenn ja, dann wäre das ein handfester Skandal, Machtmissbrauch par excellence. Wenn das aufgedeckt würde, dann würden Köpfe rollen. Große Köpfe von ganz oben. Vielleicht lag darin die einzige Chance, aus dieser Sache heraus zu kommen.

Dieter hatte sich wohl ähnliche Gedanken gemacht, denn er sagte: „Die einzigen, die dir jetzt noch helfen können, Tommy, sind die Medien. Wenn das hier bekannt wird, folgt ein politisches Erdbeben, Revolution… Das heißt, ab jetzt müssen wir extrem vorsichtig sein.“ Holger meldete sich und fragte dazwischen: „Soll ich das Gerät wieder zusammen bauen?“

Bloß nicht“, antworteten Dieter und ich unisono. „Aber du könntest uns zeigen, wie man es wieder instand setzt, falls das mal aus irgendeinem Grund nötig ist“, ergänzte ich. Holger zeigte uns mit wenigen Handgriffen, wie das zu bewerkstelligen ist. Dann fügte er das Gerät ohne die Batterien wieder zusammen und überreichte mir alles.

Ich hab nichts gesehen, ich weiß von nichts, und kenne dich auch gar nicht. Klar? Du kennst mich nicht, und ich war auch nie hier. Ist mir alles zu heiß, ich habe voll den Muffengang und verschwinde jetzt in der Versenkung, ich rühr´ mich vorläufig nicht vom Fleck. Tschüss, Dieter, Tschüss, Tommy“. Sprach `s und war in kurzer Zeit mit brüllendem Motor seiner Kawasaki vom Hof.

Was nun?“, fragte ich und blickte Dieter an.

Heute Nacht kannst du hier in meinem Büro schlafen. Morgen früh nehme ich Kontakt zu einem Reporter vom SPIEGEL auf. Ich kenne den noch von früher, weißt Du, nach der Sache mit dem Hund“, antwortete er. Ein sentimentaler Zug umwölkte sein Gesicht. Ich wusste von der Geschichte mit Carlos, der vor einigen Jahren im nahezu biblischen Hundealter von 17 Menschenjahren verstorben war.

Außerdem habe ich noch einige Verbindungen zu Leuten vom Film. Du weißt ja, ich hatte mal ein paar kleine Rollen als Rocker in der ARD-Tatort-Serie. Vielleicht können die uns auch irgendwie helfen. Und ich werde einige meiner ehemaligen Gangmitglieder hierher bestellen, heute noch“, fuhr Dieter mit seinen Ausführungen fort.

 

3

 

Dieters Credo - 2. unbekannte Variable

 

(Tommys Anmerkung)
Dieter gehört zu den Menschen, die durch ihr Handeln oder ihre Zivilcourage einige Entwicklungen am Rande meiner Erlebnisse angestoßen haben dürften. Diese parallelen Interaktionen haben den Verlauf der Geschehnisse letztlich entscheidend beeinflusst. Jedenfalls habe ich dies nach Dieters und den anderen Berichten so rekonstruieren können. Deshalb sind seine Erlebnisse, Gedankengänge und Handlungsmotive in der persönlichen Erzählform wiedergegeben.

 

Da war Tommy nun, einer meiner besten Freunde, zu dessen Naturell regelmäßige anarchische Schübe in Form von Widerstand gegen jegliche Autorität gehörten.

Und dabei war er gar nicht dumm, sondern sehr intelligent, eher hochbegabt und meist unterfordert. Zumindest in seiner Schul- und Ausbildungszeit wurde ihm das zum Verhängnis, weil die Lehrkräfte wohl auf ganzer Linie versagt haben.

 

Und nun saß er hier und berichtete von Ereignissen, die einem Science-Fiction Roman entnommen worden sein konnten. Mal wieder war er in eine Sache hineingeschlittert, die es in sich hatte.

Ich mochte es kaum fassen. Aber die Faktenlage einschließlich eines Super-Handys und dessen brisante Funktionen blieben nun mal, man konnte es drehen und wenden wie man wollte, besonders nachdem wir Holgers Bericht zur Kenntnis nehmen mussten.

 

Auch mein Vertrauen gegenüber staatlichen Institutionen war nicht besonders ausgeprägt. Und wenn die Tommy erst mal im Visier hatten, würden sie ihn früher oder später übel zu Fall bringen - meine eigenen Erfahrungen ließen ebenfalls keinen anderen Schluss zu.

Und so gut wie ich Tommy kannte, war der trotz aller Unbequemlichkeit überhaupt nicht fähig, jemanden einfach so mir nichts dir nichts umzubringen. Schon gar nicht Manni, seinen Lieblingsneffen. Allein schon die Tatsache, wie er sich bemühte, mich aus Sorge um Marion und meine Familie aus der Sache herauszuhalten, war ein wichtiges Indiz für seine Fürsorge, uns nicht zu schaden.

 

Ich hatte ihn damals als Youngster bei den Freeway Tigers aufgenommen. Er war ein guter Kumpel, den man allerdings von allem zu überzeugen hatte, bevor er mitmachte. Hier und bekam ich hören, ich hätte ihn nur aufgenommen, weil er mir so sehr ähnlich sähe, quasi wie eine jüngere Ausgabe von mir. Und wenn ich es recht bedenke, könnte da was Wahres dran sein…
Aber Tommy blieb damals auch nur für kurze Zeit. Auf Anraten eines Streetworkers hatte er sich entschlossen, die Abendschule zu besuchen und sein Abi nachzuholen. Das imponierte mir, obwohl ich zunächst skeptisch war.
Doch es blieb beim erfolglosen Versuch, das Abitur zu erreichen. Hat aber gerade noch für die Fachhochschulreife gereicht, so dass er anschließend Sozialarbeit studierte. Aber Tommy kam nicht klar, war zu anarchisch und ließ sich nur ungern etwas sagen. Dienstanweisungen lagen ihm schon gar nicht. Nach drei Jahren Arbeit im Sozialen Dienst einer Behörde schmiss er aus nichtigem Grund den Job. Konnte den Mund einfach nicht halten, mal wieder ein Autoritätsproblem.

Dann habe ich ihn etwas aus den Augen verloren. Soll wohl mit einer Milieu-Kneipe Pleite gegangen sein und sich später in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durchgeschlagen haben.

Seit zwei Jahren hat er eine Freundin, Sonja Glaser. Eine sympathische Erscheinung aus dem Künstlermilieu. Ich habe die beiden mal im Museum getroffen. Danach waren wir essen und haben uns ab und zu auf Partys getroffen. Wir kamen uns näher. Ich mochte Sonja, Marion mochte sie auch. Doch dann haben wir uns dennoch ein wenig aus den Augen verloren. Ich hoffte, dass seine Freundin ihm Stabilität und Selbstbewusstsein einhaucht. Aber irgendwie schien Tommy auch damals unzufrieden, ich weiß nicht genau warum. Vielleicht, weil er wieder mal arbeitslos war. Ja, irgendwie trifft die Redewendung „Du bist, was du tust!“ besonders auf ihn zu. Er ist im Moment ohne Job und entsprechend den üblichen männlichen Rollenzuweisungen unglücklich. Tommy definiert sich leider zu sehr über Arbeit. Obwohl ausgebildeter Sozialarbeiter, der diesen Zusammenhang kennen und die damit verbundenen Selbstvorwürfe neutralisiert bekommen sollte, schaffte er es nicht, sich selbst aus diesem Teufelskreis zu befreien. Aber so etwas war ja auch leichter gesagt als getan…

 

Doch davon mal ab: Schon die ganze Zeit, im Hintergrund meiner Gedankenwelt, versuchte sich ein Bewusstseinssplitter bemerkbar zu machen, kam aber nicht durch. Doch plötzlich präsentierte mir mein Unterbewusstsein zu meinem eigenen Erstaunen den Hinweis auf eine Bibelstelle. Es war eine Passage aus dem Neuen Testament, gelesen während meiner Zeit im Knast. Anfangs, als ich noch nicht an Lesestoff kam, hatten die Wächter versucht, mich zu schikanieren und mir nur die Bibel als Lesestoff genehmigt.
Nachdem ihnen die Sache mit der Schlägerei in der Untersuchungshaft bekannt
geworden ist, ich meine den Stunt, den ich beim Kampf gegen fünf Polizisten abgeliefert habe, hatte sich wohl herumgesprochen, dass mit mir nicht gut Kirschen essen ist. Sowohl das Wachpersonal, wie auch die harten Jungs, wagten sich nicht direkt an mich heran, weil ich mir dank meiner Kampfsporterfahrung auch im Regelvollzug konsequent Respekt verschafft hatte. Und so lief ich quasi außerhalb der knastinternen Hierarchie nebenher und hatte meine Ruhe.
Meine Gedanken schweiften ab zu diesen entscheidenden Ereignissen meines Lebens. Wie gestern noch, erinnere ich mich an sie.
Gerade eine Woche ist es her, dass ich wieder in aller Stille das Grab meines jüngeren Bruders Freddy besucht hatte, der damals in Folge der schweren Misshandlungen durch das Wachpersonals des Polizeigewahrsams verstorben war.

Anfang der 90ger Jahre waren wir zusammen verhaftet und ins Untersuchungsgefängnis gebracht worden. Dort wurde ich wieder Willen Ohrenzeuge der brutalen Übergriffe des Aufsichtspersonals gegen Freddy.
Als zudem auch ich noch von ihnen verprügelt werden sollte, wehrte ich mich meiner Haut. Sie wussten nicht, dass ich Kampfsportler war und durchliefen auf diese Weise einen wichtigen, schmerzhaften Lernprozess, bei dem ich der strenge Lehrer war. Fünf von ihnen verletzte ich zum Teil schwer, aber der Anblick meines blutüberströmten kleinen Bruders hatte in mir Aggressionen geweckt, von deren Existenz ich bis dahin selbst nichts ahnte. Die Burschen machten jedoch eine wichtige Erfahrung: wie es sich anfühlt, von einem Gummiknüppel massiert zu werden und von der eigenen Medizin zu kosten. Doch das ist jetzt Geschichte…

Ja, ich war einmal ein schwerer Junge und ganz bestimmt kein harmloses Weichei. Aber im Knast bin ich doch ins Grübeln gekommen, eigentlich völlig unspektakulär:
 

Als ich jedenfalls, bereits im Regelvollzug, nach einer Leseerlaubnis fragte, verwies mich das Wachpersonal höhnisch lachend auf die Bibel Die durfte keinem Gefangenen verweigert werden. Sie sei ja besonders spannend und geradezu kurzweilig waren die schadenfrohen Bemerkungen.
Und sie war tatsächlich spannend, rätselhaft - und sehr interessant. Ich habe sie gründlich gelesen. Zugegeben: Nicht alles habe ich verstanden, bin kein Theologe. Vieles werde ich vergessen haben. Vielleicht hat mir das Buch der Bücher aber auch geholfen, ein gewisses, damals für mich neues soziales Verständnis zu erwerben, so dass ich ihm seither großen Respekt entgegenbringe. Das war der Beginn eines Lernprozesses, der mich zu einem anderen Menschen machte.
In mir reifte zu dieser Zeit der feste Entschluss, ernsthaft ein neues Leben zu beginnen. Jung genug war ich - damals jedenfalls. Aber bestimmte Reizworte bleiben hängen. So wie jetzt.
Ich hatte irgendwo ein Bibel-Exemplar herumliegen und suchte die betreffende Bibelstelle im Neuen Testament. Offenbarung Johannes, das waren die Stichworte. Dann hatte ich sie: Die Offenbarung des Johannes, Kapitel 13, Verse 16-18:

Und es macht, das sie allesamt, die Kleinen und die Großen, die Reichen und Armen, die Freien und Knechte, sich ein Malzeichen geben an ihre rechte Hand oder an ihre Stirn, dass niemand kaufen und verkaufen kann, er habe denn das Malzeichen, nämlich den Namen des Tieres oder die Zahl seinen Namens. Hier ist die Weisheit! Wer Verstand hat, der berechne die Zahl des Tieres; denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig“.
 

Nachdem ich die Zeilen gelesen hatte, durchfuhr es mich siedendheiß. Es schien mir, als sei ich auf eine biblische Warnung gestoßen. Das Zeichen nicht anzunehmen konnte nur bedeuten, das Seelenheil nicht aufs Spiel zu setzen, und zwar um des eigenen Vorteiles willen. Es ging also um Gottvertrauen und darum, eine biblische Botschaft ernst zu nehmen. Und das Ortungsgerät bzw. Superhandy, die RFID-Chips und Laser-Tätowierungen in Form von Balkencodes schienen eine solche gefährliche Entwicklung anzudeuten. Ich gebe zu, das ist vielleicht ein hochspekulativer Denkansatz. Doch dass ich nicht ganz falsch liegen kann, wenn sich schon die Evangelien mit diesem Aspekt befasst haben, lag nun auf der Hand. Aber rätselhaft blieb nach wie vor, dass ausgerechnet die Bibel, eine Schrift, die es seit Jahrtausenden gab, eine derartige Metapher in einer so hochaktuellen Frage aufwerfen konnte. Zumindest gab mir diese Bibelstelle nun eine gewisse Sicherheit, so dass ich meiner ersten Eingebung folgen und mich voller Gottvertrauen positionieren konnte: Es konnte nicht richtig sein, die Menschen zu überwachen, zu steuern und wie das Vieh zu kennzeichnen.
Das stand allenfalls den Amis bzw. ihren Cowboys zu, wenn sie ihre Rindviecher mit Brandzeichen versehen wollten - aber auch nur in den Südstaaten der USA wie Texas oder Arizona. Schon der Versuch dazu in Deutschland war ein Duell wert, und zwar um „12 Uhr Mittags“, dachte ich in einem Anflug skurrilen Humors in Anlehnung an den berühmten Wild-West-Film.

 

Jemand hatte mir mal erzählt, dass das Bibelverständnis der Menschen proportional zu ihrem wachsenden Erkenntnisstand oder ihren technologischen Möglichkeiten wuchs, sozusagen innerhalb bestimmter Entwicklungs- und Zeitfenster. Die Erforschung des Bibelcodes, Hesekiels Offenbarung, alles Erkenntnisse, die nur im Lichte eines gesteigerten technischen und intellektuellen Verständnisses erklärbar wurden. Beispielsweise sollen amerikanische Ingenieure das Fluggerät nach Hesekiels Angaben nachgebaut haben - und es war tatsächlich flugfähig. Also genauso wie die aktuellen Versuche, die Steuerung bzw. Verwaltung der Menschen mittels RFID-Chips oder Balkencodes herbeizuführen.

Die Sache passte auf Tommys Ausführungen wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Und gerade den bigotten Amis war eine solche Nummer durchaus zuzutrauen.

 

Aber mir stellte sich jetzt die Frage, ob meine Schultern nicht zu schmal waren, die große Last zu tragen, die sich in Tommys Fall ergeben hat. Doch ich habe mich entschlossen, ihm beizustehen. Es war eine Frage meines Selbstverständnisses. Noch nie hatte ich jemanden im Stich gelassen, von dessen Unschuld ich überzeugt war. Wenigstens habe ich immer versucht, behilflich zu sein im Rahmen meiner Möglichkeiten. Und Tommy glaubte ich jetzt ohne Vorbehalte.

Doch ich brauchte Hilfe. Nur noch mehr breite Schultern konnten diese überaus schwere Bürde tragen. Und die andere Seite operierte anscheinend auch nicht ganz allein, sondern mit einer Riesenorganisation im Rücken.

Eine direkte Auseinandersetzung kam nicht in Frage. Was also war zu tun? Mehr und mehr kam ich zur Überzeugung, dass wir entschlossenen Unterstützer brauchten.

Da waren zunächst einmal meine echten Freunde aus den guten alten Rockerzeiten - andere treue Kumpane dieses Kalibers hatte ich nicht. Und dann waren da noch die Kumpel von der Presse und vom Film. Die musste ich aktivieren. Vielleicht ging da was in Richtung Öffentlichkeit. Ich war recht populär. Durch TV-Filme in der Tatortreihe und meine schriftstellerische Tätigkeit.

Denn eines war klar: Tommy war angeschlagen und ohne Unterstützung letztlich wehrlos, auch wenn er ein harter Brocken war. Und ich selbst musste mir ebenfalls was einfallen lassen, etwas ganz Schlaues.

 

Doch zuvor galt es, meine eigene Familie abzusichern. Marion hatte gute Bekannte im Bayerischen Wald in der Gegend, in der ich damals sie und meinen treuen Hund Carlos kennengelernt hatte. Ich suchte sie auf und konnte sie nach einigen Zärtlichkeiten davon überzeugen, dass sie sehr, sehr erholungsbedürftig ist, weil ich mal wieder in einer Zwickmühle steckte, bei der sie in Gefahr geraten könnte. Meine Liebste stellte keine unnötigen Fragen und hatte ihre Reisetasche innerhalb einer Stunde gepackt. Ein Ticket für den ICE ergatterte sie ebenfalls. Sie kannte diesen Ton in meiner Stimme und vertraute mir so wie ich ihr. Mein Sohn befand sich mit einer behördlichen Reisegruppe ohnehin im außereuropäischen Ausland, auf einer Rundreise irgendwo in Afrika, und inspizierte dort die Justiz des Landes. Damit war er aus der Schusslinie. Gestern noch hatte er mit Marion telefoniert. Es ging ihm gut, und er wollte noch einen längeren Urlaub in der Gegend dort dranhängen. Nun, nachdem meine Marion abgereist war, konnte ich aufatmen, denn sie war nun ebenfalls aus der Schusslinie.

 

Ja, Tommys Problem war schon längst keine Privatsache mehr. Auch ich hatte viel zu verlieren. Deshalb geht mich die Sache auch etwas an. Einmal Erfahrungen mit Polizeiwillkür und Knast reichten mir. Und wie Tommys Erlebnisse gezeigt haben, sind wir anscheinend allesamt in Gefahr, unsere Grundrechte einzubüßen. Die Angelegenheit musste an die Öffentlichkeit, denn nur darin lag die Chance, eine totalitäre Variante von Orwells 1984 zu verhindern. Zwar habe ich ebenfalls eine Scheißangst. Aber es sieht jedenfalls so aus, dass es Grund genug zur Sorge gibt, wenn ich Tommy glauben darf. Und mein Vortrag, den ich ihm gestern Abend gehalten habe, beruhte auf Wahrheit und Überzeugung. Ich hoffe nur, dass ich bei meiner Unterstützung keine Fehler begehe. Denn die können im vorliegenden Fall durchaus tödlich enden wie sich gezeigt hat.

Nach aller Logik war es aber genau jetzt an der Zeit, Partei zu ergreifen und Farbe zu bekennen.

 

Ich klemmte mich also wie versprochen ans Telefon, um für einige Stunden zu checken und zu organisieren. Ich hatte da so eine Idee…

 

4

 

Zur gleichen Zeit in Langley

 

Stanley Miller war erfolgreich. Sein Klarname dürfte aber, wie in diesen Kreisen üblich, anders lauten. Es lief zurzeit sehr gut für ihn in Washington. Als jahrgangsbester Absolvent der Yale University in Jura, Schwerpunkt Europapolitik, fiel es ihm nicht schwer, damals recht bald den richtigen Leuten in der Bush-Administration aufzufallen. Nachdem er nach einigen Monaten festgestellt hatte, dass ihm richtige ehrliche Arbeit im Hochschulbetrieb doch zu anstrengend war, nahm er ein entsprechendes Angebot an und ging nach Washington. Es folgten einige Jahre der Bewährung und Herausforderungen in den verschiedensten Abteilungen, in denen man ihn wohl sorgfältig beobachtete. Diese Zeit bewältigte er aber aufgrund seines überragenden Intellekts geradezu bravourös. Nun ja, er war natürlich auch mit der Gabe des besonders perfiden Mobbings gesegnet, das ihm letztlich nicht nur zu seinem hervorragenden Juraabschluss in Yale, sondern auch im Washingtoner Ministerialbetrieb von Nutzen war. Als attraktiver Womanizer waren ihm überdies seine Virilität bzw. sein Sexappeal durchaus von Nutzen. Als Frauenheld par excellence besaß er zudem die Fähigkeit, verschiedenste Frauenbekanntschaften so diskret zu unterhalten, dass keine von ihnen je von der anderen erfuhr. Was sollte in Washington auch schon anders sein als damals in Yale: Wie andere Frauen ebenfalls, verschmähten auch die Professorinnen einen hübschen jungen Studenten nicht. Mittlerweile war er es aber, der sich die Sexualpartnerinnen aussuchte - bis jetzt ausgestattet mit einem untrüglichen Instinkt für Frauen, die mit ihm aufgrund seiner beruflichen Stellung anbändelten, um sich diese zunutze zu machen. Aber da war ohnehin nichts zu machen, Stan war in dienstlicher Hinsicht eine Auster: völlig verschlossen und loyal.
Nun ja, ihm war es recht, konnte er doch seine sexuellen Vorlieben auf diese Weise ausleben. Solange er die Dynamik solchen Beziehungen steuern konnte, ließ es sich angenehm leben, denn seine prüde Ehefrau Jane kannte in dieser Hinsicht keinen Spaß. Sie war Tochter eines Senators, dessen nicht unerheblicher Einfluss seiner weiteren Karriere ohne weiteres beenden konnte.

Aber es ging bis heute alles gut. Alle seine Jobs endeten nahezu immer mit einer Empfehlung für noch verantwortungsvollere Aufgaben. Schon bald bildete er das wichtigste Verbindungsglied der Administration zum Büro des Nationalen Sicherheitsberaters und den diversen US-Geheimdiensten.

Heute war wieder so ein Tag, an dem eine dieser Konferenzen stattfinden sollte. Er wurde abgeholt von einer großen, aber unauffälligen Limousine, deren besonders blickdicht getönte Privacy-Verglasung keinen Einblick ins Wageninnere zuließ, aber je nach Bedarf auch nicht nach außen. Ihm war klar, dass er nicht erfahren sollte, wo die Besprechung stattfand. Zu diesem Zweck kreiste das Fahrzeug einige überflüssige Runden in der Gegend herum. Draußen blieb alles im Dunkeln. Die elektronische Ausstattung im Fond der Limousine war vom Feinsten: Fernsehen, Telefon, iPod, iPad, PC-Ausstattung und Navigation - so ziemlich alles vorhanden. Nur nützte es ihm nichts, zumindest anhand des Navis konnte er seine Position nicht bestimmen. Es fehlte ihm schlicht und ergreifend das nötige Passwort dazu. Aber als sich die Geräuschkulisse ein wenig veränderte und die Fahrt bergab ging, ahnte Stan, dass sie letztlich doch in eine der Tiefgaragen Langleys bzw. der riesigen CIA-Zentrale, hineinfuhren: die Bequemlichkeit als fester psychologischer Faktor dachte er und grinste verächtlich. Aber er schwieg und spielte mit. Nach den üblichen strengen Sicherheitskontrollen konnte er endlich den Aufzug betreten und zum Konferenzsaal fahren.

Vom Anlass dieses Treffens hatte er bis jetzt nichts erfahren. Auch das Büro des Sicherheitsberaters tat unwissend und gab sich wie stets sehr geheimnisvoll. Aber anwesend waren nur die üblichen Verdächtigen samt Assistent und Protokollführerinnen: der Direktor des CIA namens Bob und sein FBI-Kollege John, wie schon immer traditionell verbunden in inniger Feindschaft. Diese ungute Konkurrenz behinderte die amerikanischen Interessen seit langem auf das Äußerste, war aber wohl nicht zu vermeiden. Selbst um den Preis der Anschläge auf die Twin Towers am 11.09.2001 ließ sich die Eigendynamik dieses destruktiven Verhältnisses auf Dauer nicht neutralisieren.

Der damalige „Rücktritt“ des CIA-Direktors und des Sicherheitsberaters nach den Anschlägen änderten nichts daran. Schade, schade, dachte Stan und setzte sich erwartungsvoll in seinen Sessel.

Bob hatte heute den Vorsitz und ergriff das Wort. Er begrüßte flüchtig alle Teilnehmer.

Dass die Sitzung heute streng geheim ist, brauche ich vermutlich nicht zu betonen“, begann er.

Komm schon zur Sache“, unterbrach ihn süffisant John und grinste. Ziemlich selbstgefällig, wie Stan Miller fand. Aber Bob ließ sich davon nicht beeindrucken und umriss den Anlass des heutigen Treffens in seinen Grundzügen bis hin zum aktuellen Sachstand: Stan erblasste, als ihm die Konsequenzen und die Dimension der Operation deutlich wurden. Demnach hatten die CIA und das FBI nichts Geringeres in Gang gesetzt, als in die Geschicke eines Bündnispartners einzugreifen. Zwar mit Billigung des dortigen Innenministeriums, das sich ebenfalls einen Zugewinn an Kontrolle versprach, jedoch unter Umgehung des eigenen und dortigen Außenministeriums sowie ohne Zustimmung des Sicherheitsberaters in Washington. Anscheinend hatte man dies bis jetzt nicht für nötig gehalten, entweder aus reiner Selbstgefälligkeit oder purem Größenwahn, wie Stan vermutete.

Jedenfalls stellte sich der Stand der Geheimoperation wohl so dar, dass man in Deutschland die Erprobung eines in den Staaten entwickelten handygroßen Ortungsgerätes zur Ausspähung von Personendaten durch Verknüpfung mit allen behördlichen Computern in der Praxis vorantrieb. Das bot sich besonders wegen der kürzlich dort eingeführten Ausstattung der Personalausweise mit einem RFID-Mikrochip und der soziologisch günstigen Vergleichbarkeit mit einigen US-Bundesstaaten an.

Für die USA zeichnete sich ohnehin ab, dass es auch hier bald zur Ausweispflicht kommen würde, selbst die Einpflanzung von RFID-Mikrochips bei Neugeborenen wurde wohl erwogen, und man wollte vorbereitet sein - Terrorverdacht, Kriminalität, Drogen und nicht zuletzt die Möglichkeit, mit dieser Technologie auch potentielle Bündnispartner ein wenig auf Linie zu bringen, wenn die Wirtschaftsdaten oder deren Politik mal nicht stimmen sollten, Wirtschaftsspionage und weltweite Datenkontrolle inbegriffen. Ein riesiges, lukratives Business tat sich auf: Verkauf von Gesundheitsdaten, Wirtschaftsdaten, Zuordnung durch Chipkontrolle usw.
Die militanten republikanischen und rechtskonservativen Kreise in der US-Administration gaben ohnehin wieder den Ton an. Insbesondere die Verfechter der Ansicht, dass die USA ihre weltweite Führungsrolle ohnehin nur durch ihre technologische Überlegenheit ausfüllen könnten, drängten nach Stans Informationen schon lange darauf, die Bündnispartner entweder zu „kolonisieren“ oder indirekt zu steuern, um so die amerikanischen Hegemoniebestrebungen abzusichern. Und das musste ja nicht unbedingt mit reiner Waffengewalt geschehen. Insoweit kam dem geplanten Test eine immense Bedeutung zu.

Es kam noch schlimmer: Ein Spezialteam mit IT-Technikern der US-Entwicklungsfirma befand sich bereits Deutschland und bereitete gemeinsam mit deutschen Sicherheitstechnikern die virtuelle Infrastruktur für die Durchführung des Praxistests vor, CIA-Bodyguards einer geheimen Einheit inklusive. Spätestens jetzt schrillten bei Stan die Alarmglocken. Spontan ergriff er das Wort.

Sind sie denn von allen guten Geistern verlassen, eine solche Geheim-Operation ohne Wissen des Sicherheitsberaters in Gang zu setzen?“

Und einmal in Fahrt fuhr er fort: „Sind ihnen eigentlich die außenpolitischen Folgen klar, wenn davon etwas durchsickert? Ich melde jedenfalls größte sicherheitspolitische Bedenken an und bitte darum, diese ins Protokoll zu nehmen. Noch heute werde ich den Sicherheitsberater von ihrem Alleingang in Kenntnis setzen. Rechnen sie mit ihrer Entlassung“.
John grinste, mal wieder süffisant, wie Stan fand.

Das mit der Protokollierung wollen wir mal abwarten. Wer hier ein sicherheitspolitisches Risiko mit seinen Weibergeschichten darstellt, bleibt abzuwarten. Jedenfalls lasse ich mir hier von keinem Abteilungsleiter der Administration derartige Vorwürfe machen, erst recht nicht von einem Womanizer, der seinen Schwanz in jede beliebige feuchte Muschi steckt“. Stan fuhr auf: „Wie können sie so etwas…?“, zischte er erregt.

Ach wissen sie, Stan“ ,erwiderte John, noch süffisanter lächelnd, „sie können sich auch die Videos ansehen. War schon interessant, wie sie es machen. Besonders die Fesselspiele waren gar bizarr, aber ihre griechisch-römischen, äh… proktologischen Übungen fanden meine Agentinnen dann doch sehr anstrengend, wenn sie wissen, was ich meine. Ihre Ehefrau Jane wird das nicht so sehr amüsieren, erst recht nicht den Senator, schätze ich. Wie bigott bzw. heuchlerisch die amerikanische Öffentlichkeit auf solche Vorgänge reagiert muss ich gerade ihnen nicht erklären, mein Lieber. Und überhaupt, woher nehmen sie ihre Gewissheit, dass das Büro des Sicherheitsberaters nicht informiert ist, mein lieber Stan? Klingelt´s jetzt?“, resümierte er in Form einer rhetorischen Fragestellung. Stan erbleichte. Er war fassungslos, war er doch bis heute der festen Überzeugung gewesen, seine amourösen Abenteuer völlig unter Kontrolle zu haben. Das FBI war noch verschlagener als er es je vermutet hatte. Aber einmal musste es so kommen, dachte er, gut inszeniert, alle Achtung, sie haben mich hereingelegt, auf Linie gebracht, eingenordet wie einen defekten Kompass, und das alles ganz brutal in Gegenwart der Assistenten und hübschen Protokollführerinnen… Der Gesichtsverlust war total. Stan versuchte zu retten was zu retten war.

Nun, wenn der Sicherheitsberater informiert ist…“, murmelte er zaghaft und akzeptierte damit seine vorläufige Niederlage.

Na ja, mal gemach, es muss ja nicht soweit kommen, das mit den Videos meine ich, oder John?“, wandte sich Bob an seinen FBI-Kollegen.

Nein, noch nicht, alles eine Frage der nationalen Sicherheit“, entgegnete dieser nebulös. Diese widerlichen narzisstischen Schweine, alle beide, empörte sich Stan innerlich. Aber er war wehrlos und musste die Demütigung wohl oder über hinnehmen.

Aber nun zur Sache, meine Herren“, übernahm Bob wieder die Leitung der Konferenz.
„Nachdem sie ihre Bedenken nun, äh…, zurückgestellt haben, Stan, muss ich von einem kleinen Problem in Old Germany berichten. Leider ist einer unserer langjährigen Mitarbeiter, Greg Burnett, beim Scheißen auf einem Klo in Old Germany - Dortmund oder ähnlich nennt sich das Kaff dort - verstorben. Er wollte unser Projekt wohl an die Presse verraten, wie wir mittlerweile herausgefunden haben, und sich mit einem Mittelsmann treffen, wusste aber nicht, dass dieser Kontaktmann einer unserer Undercover-Agenten war. Greg wäre also ohnehin aufgeflogen, der alte sentimentale Sack. Zu allem Unglück wurde ihm leider ein Ortungsgerät entwendet, eines der wenigen Prototypen. Wir haben einen der Diebe auf der Flucht umlegen, äh…, ausschalten können. Aber dessen Partner, Thomas Becker, sein Onkel wie wir inzwischen wissen, ist ein harter Brocken. Hat schon einen unserer Bodyguards kaltgemacht und ist abgehauen. Orten konnten wir ihn noch nicht. Er muss das Gerät neutralisiert haben. Wir wissen aber, dass es sich um eine verkrachte Existenz handelt. War mal Sozialarbeiter oder so. Seine Freundin, eine Sonja Glaser, eine Künstlerin, befindet sich mit einigen Freundinnen im Moment auf einer Australien-Rundreise. Bleibt jetzt die Frage, wie wir weiter verfahren. Ein Bekanntwerden der Operation oder einen Skandal können wir zurzeit nicht gebrauchen“, beendete er seinen Vortrag und blickte beziehungsreich auf Stan Miller. Dieser wurde noch blasser und überlegte, wie er sich herauswinden konnte, um nicht weiter in Ungnade zu verbleiben.

Ist das Team in Deutschland etwa überfordert, weil es deren Bürger gleich killt?“, fragte er.

Das biegen wir schon gerade. Immerhin haben die Jungs den Dirty-Job in Prag schnell und geräuschlos durchgezogen“, beschwichtigte Bob und wandte sich an einen der Assistenten: „Findet Becker und neutralisiert ihn. Mach´ eine entsprechende SMS mit Überranganweisung fertig, sofort!“ Der Assistent verließ wortlos den Raum und kam nach zwei Minuten zurück. Er nickte in Richtung Bob und sagte lediglich: „Anweisung vollzogen!“ Bob dankte und lächelte Stan gönnerhaft an: „Sie wissen schon: Never change a winning Team!“. Schöne Gewinner, dachte Stan sarkastisch.

Zwar wissen wir nicht, wo er sich befindet, aber den Aufenthaltsort seiner Freundin kennen wir doch, oder?“, fragte Stan in die Runde. Bob griff den Faden auf und nickte anerkennend in seine Richtung: „Genau, schalten wir auch sie aus, vielleicht wird der Ehemann danach geschmeidiger.“

Das meinte ich eigentlich nicht“, verfeinerte Stan Miller seinen Beitrag. „Ich dachte eher an eine Art Sicherungsverwahrung, bis der Ehemann kooperiert. Denn wer garantiert uns, dass er nicht erst recht Amok läuft, wenn wir seine Freundin liquidieren.“

Klartext“, fiel ihm John verschlagen ins Wort. „Es wäre dann halt die gute, alte Geiselnahme, bis wir den Kerl an der Leine haben.“

Ok“, sekundierte ihm Bob, „benachrichtigt die nächste CIA-Truppe im Outback. Die sollen mal die Reiseroute der Lady checken. Aber lasst sie möglichst leben - wenn es sich machen lässt“, wandte er sich milde lächelnd an einen seiner Assistenten.

Ist´s recht so, Stan?“, wandte er sich grinsend in seine Richtung. Stan blieb nichts anderes als die Entscheidung hinzunehmen.

Aber ich frage mich ohnehin, was wir danach mit ihr anstellen sollen, wenn ihr Mann ausgeschaltet ist. Aber ich werde den Vorgang in Berlin besprechen, wenn ich Dieckmann vom Staatsschutz treffe. Der ist da nicht so zimperlich“, murmelte Bob vor sich hin.

Und dabei blieb es. Stan Miller verließ deprimiert das Büro. Seine Niederlage gegenüber dem Netzwerk des FBI musste er sich zähneknirschend eingestehen. Etwas wollte er noch versuchen. Am nächsten Morgen hatte er ohnehin ein Meeting beim Sicherheitsberater und wollte die Angelegenheit zumindest indirekt thematisieren.

Doch dieses Treffen wurde ein Desaster. Der Sicherheitsberater sah ihn nur kalt an und ging auf das Thema nur insofern ein, als er Stan anwies, sich in dieser Angelegenheit an Bob oder John zu halten. Deprimiert verließ Stan das Briefing, völlig desillusioniert und um eine bittere Erfahrung reicher.
Stan mochte aber sein wie er wollte: mobbinglastig, Womanizer und promisk, nicht unbedingt mit den klassischen Eigenschaften eines Gutmenschen ausgestattet. Doch nachts, nach schlaflosen Stunden, ergriffen ihn Gewissensbisse. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und verließ sein Haus durch die Hintertür. Er begab sich in aller Heimlichkeit zu Fuß in die Innenstadt. Von dort aus führte er in einer der seltenen Münz-Telefonzellen ein langes Gespräch mit Natalie, einer seiner wirklichen Freundinnen, der politisch engagierten Frauenrechtlerin und Datenschützerin. Mit ihr hatte er bislang tatsächlich noch keine Affäre gehabt - was ihn zwar in seinem männlichen Ego kränkte, aber dennoch mochte er sie sehr. Stan erzählte ihr alles, wirklich alles, ohne etwas auszulassen, restlos. Danach war ihm leichter. Er hoffte, dass Natalie die richtigen Schlüsse aus seinen Informationen zog. Doch auch der Loyalitätskonflikt mit den Anforderungen seiner Administration war schwer zu ertragen. Denn noch immer war er ein treuer Staatsdiener mit Leib und Seele, ganz klassisch. Und Jurist, der er war, die ersten zehn Zusatzartikel der amerikanischen Bill of Rights mit ihren unveräußerlichen Grundrechten fest im Blick, sah er sich zum Handeln verpflichtet. Voller Sorgen blickte er der Zukunft entgegen.

 

5

 

Aufbegehren…

 

Zwei Stunden später war das Gelände um Dieters Tuning-Werkstatt mit Motorrädern und zwei Wohnmobilen völlig zugeparkt.

Über ein Dutzend Männer, viele auch mit ihren Freundinnen oder Frauen, hatten sich mit ihren Maschinen eingefunden: alle wie Dieter und ich schon deutlich in den Jahren, vielfach tätowiert, in Lederkleidung und etliche noch mit ihrer alten Kutte, die auf ihre frühere Mitgliedschaft bei den „Freeway Tigers“ hindeutete. Viele dieser rauen Kerle hatten statt ihrer jugendlichen Haarpracht nur noch deutliche Geheimratsecken oder eine Halbglatze aufzuweisen und glichen dieses Manko mit einem Rauschebart aus. Aber ich wollte nicht meckern: Meine eigene hohe Stirn zog sich schließlich auch bis zum Nacken hin. Soviel zur männlichen Eitelkeit…

Die Begrüßung mit Dieter fiel sehr herzlich aus. Allen gemeinsam war, dass sie mal eine verschworene Gemeinschaft waren und ihrer Freundschaft ein Leben lang treu blieben. Hier half einer dem anderen.

Als sie von uns erfuhren, was alles passiert war, gab es keinen, der einen Rückzieher auch nur entfernt andeutete.

Ich fühlte mich schon ein wenig sicherer. Sollten die Typen von der CIA ruhig kommen, die würden sich auf einen heißen Tanz gefasst machen müssen.

Einer von Dieters alten Kumpeln telefonierte, und eine knappe Stunde später fuhr ein Wagen vor. Dieter dirigierte ihn in die Werkstatt und öffnete den Kofferraum. Dann wurde der Inhalt verteilt. Ich staunte nicht schlecht, als jeder mit einer Waffe ausgestattet wurde. Revolver, Pistolen und sogar einige Maschinenpistolen wurden den Freunden gegeben.
Ich fühlte mich noch sicherer…

Abends kam Dieter zu mir.

Hey, du wirst jetzt gesucht, als Mörder von Manni. Kam gerade in den Nachrichten, mit Fahndungsbild und so… Die haben den Wagen aus dem Fluss gefischt und dir den Mord in die Schuhe geschoben. Eine Sonderkommission wurde auch einberufen“, ergänzte er.

Das war zu erwarten, die ziehen die Fäden bestimmt von ganz oben“, antwortete ich resigniert. Jetzt war ich also ein kriminelles Element, zum Abschuss freigegeben, dachte ich.

Bleib cool, Alter. Wir machen jetzt einen Strategiewechsel. Extreme Vorsicht ist nicht mehr angesagt, wir gehen in die Offensive“, meinte Dieter. Damit wollte er mir wohl Mut machen, aber so recht gelang ihm das nicht.

Dieter verließ das Büro, und ich füllte mein Glas wieder mit dem Rest der Cognacflasche.

Dann ging ich zur ehemaligen und wiederauferstandenen Rockergang.

Mit aufmunternden Sprüchen, einigen derben Schlägen auf die Schulter zeigten sie mir, viele von ihnen auf ihre Weise, dass sie auf meiner Seite waren. Ich fand das wohltuend, irgendwie toll. Einige suchten ein Gespräch mit mir, und ich begann mich in dieser Truppe wohl zu fühlen. Meine Besorgnis schwand jetzt proportional zur Wirkung des Alkohols. Es war wieder Remy, der es mir angetan hatte…

Nach einer Weile kam Dieter und rief uns alle zusammen. Er verschaffte sich mit seiner natürlichen Autorität ohne Probleme Geltung. Ein wenig beneidete ich ihn wegen dieses Charismas… Aber wer hat, der hat.

Hey, Leute, Brüder und Schwestern, hört zu. Erst einmal noch Danke, dass ihr mir und meinem alten Freund in einer schwierigen Lage zur Seite steht, obwohl ihr nichts damit zu tun habt. Nochmals: Danke Jungs und - äh, Mädels!“ Gekicher aus der Frauenabteilung war die Folge, und auch ich grinste.

Morgen früh kommt ein Reporterteam vom SPIEGEL und ein Filmteam, das ich noch von damals kenne, ihr wisst schon, Tatort und so“, fuhr er fort.

Den Jungs waren die Tatortkrimis, bei denen auch einige von ihnen als Statisten mitgewirkt haben, und das Filmteam offenbar bekannt, denn Beifall und Jubel brach unter meinen Beschützern aus.

Wir werden ein Interview mit Tommy durchführen, indem er seine Unschuld und die Umstände erklärt. Gleichzeitig wird das Filmteam die ganze Szene zusätzlich filmen. Denn falls der Sender das Interview nicht freigibt, wird die Story ins Internet gestellt. Schätze auch, dass die Leute von WikiLeaks die Geschichte ebenfalls gern aufgreifen würden. Und nichts fürchten die Geheimdienste im Amiland mehr als eine solche Öffentlichkeit, immer noch. Damit haben wir einen kleinen Trumpf in der Hand, unser Ass im Ärmel“, führte Dieter weiter aus.

Zustimmender Beifall erklang, und ich fand Dieters Idee ebenfalls sehr gut, einfach genial. Sehr souverän, wie er mit dem Fall umging. Ein Mann, der mit Verantwortung umzugehen wusste und Courage aufwies, dachte ich im Stillen. Vielleicht hatte ich bei dieser Taktik tatsächlich eine kleine Chance, aus dieser üblen Nummer rauszukommen. Doch ich blieb erst einmal skeptisch, war alles zu neu für mich.

 

6

 

Einen Tag später: Berlin - Büro des Innenministers

 

Freudig erregt begrüßte der Innenminister den CIA-Präsidenten und seine beiden Assistenten in der „Kleinen Lage“, wie der Sitzungsraum behördenintern genannt wurde. Der Minister führte die Gespräche mit Amerikanern stets in reinstem US-Englisch. Seine Sprachkenntnisse pflegte er immer wieder, ob passend oder nicht, anzubringen. Jeder sollte wissen, dass er Harvard-Absolvent war.
Bobby hier, Bobby da, wie mich das anwidert, dachte Rudi D., dessen Name vermutlich genauso wenig echt wie der der Gäste war. Als zuständigem Staatssekretär oblag ihm die Aufgabe, für die deutsche Seite an der Feldanalyse des virtuellen Praxistests hinsichtlich des Umgangs mit den Daten der verchipten Ausweisinhaber mitzuwirken. Allerdings war es wohl unvermeidlich, dass er in einen Vorgang hineingezogen wurde, den er als höchst bedenklich einstufte. Das hatte er dem Innenminister bereits mehr oder minder deutlich zu verstehen gegeben. Doch sein Chef erwies sich immer mehr als Opportunist. Ihm reichten der pauschale Terrorverdacht, Kriminalität, Drogen und nicht zuletzt die Möglichkeit, mit dieser Technologie auch potentielle Bündnispartner auszuspähen, wenn die Wirtschaftsdaten mal nicht stimmen sollten, Wirtschaftsspionage inbegriffen. Seine Motivationslage war mit der der Amerikaner nahezu identisch, anders war seine Willfährigkeit kaum noch zu erklären. Und damit war die Phase der Unschuld wohl längst vorbei, dachte der Staatssekretär resigniert. Aber die Anweisungen waren unmissverständlich.

 

Der Termin war auf Wunsch der Amerikaner kurzfristig einberufen worden. Sie waren mit einem ihrer superschnellen Lear-Jets angereist. Dabei waren noch ein Abteilungsleiter aus der Hauptverwaltung des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln, des BKA, Wiesbaden, deren Namen aus den bekannten Gründen nur eine untergeordnete Rolle spielten, und Dieckmann, Hauptabteilungsleiter Staatsschutz, dem Innenminister direkt unterstellt.

Die CIA-Leute von denen mindestens einer der deutschen Sprache mächtig sein musste, kamen ohne Umschweife zur Sache und berichteten.
Demnach ist einer der CIA-Agenten auf einer Toilette in Dortmund verstorben. Zu allem Unglück wurde ihm dabei eines der wenigen Prototyp-Ortungsgeräte entwendet. Einen der Diebe haben die Amerikaner auf der Flucht erschossen. Aber dessen Angehörigen, Thomas Becker, den Onkel des Opfers noch nicht, weil sich dieser gegen seine Liquidierung bisher erfolgreich zur Wehr gesetzt und sogar seinerseits einen der CIA-Agenten getötet hat. Musste wohl ein harter Brocken sein. Er befand sich auf der Flucht. Geortet werden konnte er noch nicht, weil er vermutlich die Funktion des Geräts erkannt und es neutralisiert hat. Es sollte sich dem Vernehmen nach um eine sog. verkrachte Existenz handeln. War mal als Sozialarbeiter tätig, zurzeit aber arbeitslos. Seine Freundin, eine Künstlerin namens Sonja Glaser, befand sich momentan mit einigen Freundinnen auf einer Australien-Rundreise. Die Amerikaner beabsichtigten anscheinend, sie präventiv von der Bildfläche verschwinden zu lassen, um den Ehemann unter Druck setzen zu können. Vom Innenminister kamen keine Fragen bzw. Einwände, auch von Dieckmann nicht. Die Kollegen vom BKA und Verfassungsschutz blieben ebenfalls stumm.

 

Dem Staatssekretär dröhnten die Ohren. Er konnte es kaum glauben. Da wird auf Deutschem Boden einfach so mir nichts dir nichts ein Staatsbürger liquidiert, ohne dass sich der Minister oder sein Adlatus Dieckmann dazu wenigstens äußerten? Statt für die Sicherheit ihrer Bürger einzutreten, spielten sie der CIA durch ihre Passivität geradezu in die Hände. Da gab es seit über 20 Jahren zwar einen Vier-Plus-Zwei-Vertrag, wonach Deutschland die volle Souveränität zurückerhalten hat. Gut, es gab geheime Zusatzprotokolle dazu, und das Grundgesetz war noch immer ein Provisorium, doch de facto war Deutschland autonom und auch als ein solcher Staat zu behandeln. Aber die US-Geheimdienste gebärdeten sich auf deutschem Boden immer noch so, als wenn sie dies nicht realisiert hätten. So als wären sie die Herren der Welt.

Bleibt jetzt die Frage, wie wir weiter verfahren. Ein Bekanntwerden der Operation oder einen Skandal können wir in dieser Phase der Planung zurzeit absolut nicht gebrauchen…“, beendete der vortragende Assistent gerade seinen Bericht.
Ohne nachzudenken ging unkontrolliert der Jurist in Rudi D. mit ihm durch. Vielleicht war sein unbedachter Reflex auch seiner sozialdemokratischen Parteizugehörigkeit geschuldet, jedenfalls legte er in scharfem Ton sein Veto ein, in dem er nicht nur die Fragwürdigkeit der ganzen Operation in Frage stellte, sondern auch die selbstherrliche Liquidierung eines deutschen Staatsbürgers. durch amerikanische Behörden auf das schärfste verurteilte. Und schon gar nicht käme in Frage, dass eine Deutsche Staatsbürgerin entführt werden sollte. Dem Minister war der Einspruch seines Staatssekretärs sichtlich unangenehm. Allerdings konnte er seinen Staatssekretär schon aus Gründe der hier anders gelagerten politischen Streitkultur nicht ohne weiteres zur Ordnung rufen. Er besprach sich mit Dieckmann und bat um eine kurze Unterbrechung der Konferenz. Rudi D. wurde in einen Nebenraum gebeten.
„Sind sie eigentlich wahnsinnig, solche wichtigen Gäste in dieser Form anzugreifen?“, fuhr ihn der Innenminister sofort frontal an.

Bitte bedenken sie rechtliche Lage, Herr Minister, immerhin ist ein deutscher Staatsbürger gewaltsam zu Tode gekommen. Eine Ehefrau soll entführt werden. Worauf lassen wir uns da ein? Wenn das zur Presse durchsickert…“, widersprach Rudi D.“

Was geht mich die Scheiß-Pressefreiheit an?“, erregte sich der Innenminister spontan - und entlarvend. Rudi D. blickte ihn an und nahm seinen ganzen Mut zusammen. Er erwiderte: „Ich bleibe bei meinen rechtlichen Bedenken und erwarte, dass sie unsere Gäste samt und sonders auf der Stelle verhaften lassen. Sie sind nicht in diplomatischer Mission hier, juristisch und völkerrechtlich ginge es also. Und ich frage sie, was dieser vorauseilende Gehorsam gegenüber der CIA bewirken soll“. Der Innenminister lief zunächst puterrot an, wurde danach immer blasser und überlegte. Ihm war anzusehen, dass er einen inneren Kampf ausfocht. Seine Überlegungen blieben erfolglos, obwohl er sich bislang noch aus jeder Schlinge hatte ziehen können. Ratlos schaute er zu Dieckmann herüber.

 

Der Sicherheitschef lehnte sich jovial zurück, fixierte Rudi D. und fragte: „Sagen Sie mal Rudi, haben ihre plötzlichen Datenschutzbedenken auch damit zu tun, dass sie von ihrer Frau überwacht worden sind und dass ihre außereheliche Affäre aufgeflogen ist? Wie steht es denn in ihrem Scheidungsverfahren? Wir hätten da einige delikate Fotos über ihre sexuellen Gewohnheiten mit ihrer Freundin beizusteuern, und wenn ihnen an der Pressefreiheit soviel liegt - ich könnte da aushelfen.“ Jetzt war es an Rudi D. puterrot anzulaufen.

Woher wissen sie…, wie kommt es…, dass sie…?“, stotterte er.
„Gerüchte, Gerüchte, Denunzianten, anonyme Zusendung von Fotos…, sie wissen ja wie so etwas läuft, Rudi, die Welt ist schlecht“, entgegnete Dieckmann, nun sichtlich zufrieden.
Es stimmt sogar, dachte Rudi D., jetzt haben sie mich am Wickel. Leider gab es tatsächlich keine einvernehmliche Trennung zwischen ihm und seiner Frau, auch wenn diese durch ihre zahlreichen eigenen Affären selbst der Anlass war, dass er die Scheidung eingereicht hat. Und seine Frau war nun vermutlich darauf aus, aus der Trennung das maximale Kapital herauszuschlagen - deshalb also die Einschaltung einer Privatdetektei, die ihn wohl tagelang verfolgt und erfolgreich ausgespäht hat. Und die Weitergabe der Informationen an seine Behörde setzte dem Ganzen die Krone auf. Und der Sex mit Sylvia, nun ja, er spürte endlich wieder Leben in sich, nachdem ihm seine Ehefrau seit langem die kalte Schulter gezeigt hat. Aber das ist jetzt vergossene Milch, dachte er und fügte sich in die Faktenlage der Situation.


Der Innenminister änderte minimal seine Taktik. „In Ordnung Rudi, ich schalte jetzt die deutschen Behörden ein. Wir übernehmen, und die Amerikaner halten sich zurück. Können sie damit leben, Rudi?“, resümierte der Minister mehr pro forma und nutzte die Gunst der momentanen Schwäche von Rudis Situation, ohne seine Antwort abzuwarten.

Einen weiteren Skandal können wir zurzeit nicht gebrauchen“, ergänzte Dieckmann.

Das mit dem Todesfall biegen wir schon grade. Putativer Notstand der Polizeibehörden, innere Sicherheit und so“, fügte er hinzu.
Der Innenminister dankte und wartete Rudis Stellungnahme gar nicht ab. Er lächelte ihm nur gönnerhaft zu: „Dann sind wir uns jetzt also einig - nicht wahr Rudi?“

Schöne Einigkeit. Zynismus wäre die bessere Bezeichnung, dachte dieser sarkastisch. Mit hängenden Schultern betrat er im Geleit des Innenministers und Dieckmanns die „Kleine Lage“.

Mein Staatssekretär hat seine rechtlichen Bedenken zurückgezogen. Lassen sie uns fortfahren“, verkündete der Innenminister.

Die Deutschen Behörden übernehmen den Fall jetzt, und wir hoffen, ihn zu unserer aller Zufriedenheit lösen zu können. Das mit der, äh…, Verhaftung von Frau Glaser in Australien wünsche ich nicht. Darum kümmern sich die deutschen Sicherheitskräfte selbst“, sprach er in Richtung Bob. Dieser reagierte verlegen und antwortete: „Ich hoffe, Herr Minister, dass wir unsere Leute noch rechtzeitig zurückrufen können.“

Der Innenminister reagierte wie immer flexibel: „Nun gut. Herr Dieckmann lässt alle Telefonate der Eheleute und die Reiseroute von Frau Glaser überprüfen. Wir hoffen, dass noch nichts dramatischeres vorgefallen ist. Schlimmstenfalls müssen wir einen putativen Notstand der Polizeibehörden und der Bedrohung der inneren Sicherheit des Landes annehmen, wie mir bereits Herr Dieckmann andeutete. Möglicherweise liegt im Fall von Frau Glaser auch Drogenmissbrauch vor, zumindest war da mal was in ihrer Vergangenheit, glaube ich, wir prüfen auch das. Ich wünsche, dass sie bei ihrer Einreise von den Zollbehörden sorgfältig gefilzt wird. Und wir berufen mit sofortiger Wirkung eine Sonderkommission ein. Herr Dieckmann übernimmt ihre Koordination im Bundesgebiet und begibt sich in Kürze nach Dortmund, nein, besser sofort. Wir haben uns doch verstanden, meine Herren, oder? Bitte ziehen sie jetzt ihre Leute zurück, auch die in Australien, und ich hoffe, dass es nicht zu spät ist, Bobby“, wandte er sich an ihn. Der nickte in Richtung seines Assistenten, der eilfertig sein Handy in die Hand nahm und fleißig simste. Dieckmann stand auf und verließ eilig die „Kleine Lage“, vermutlich zu seinem Flieger in Richtung Airport Dortmund.

Spätestens jetzt, nachdem wir bei dieser Schweinerei mitwirken und sogar einen aktiven Part übernehmen, haben auch wir Deutschen mal wieder unsere politische Unschuld verloren, dachte Rudi D. resigniert und schaute sich die missratenen Ergebnisse demokratisch legitimierter Willensbildung in Gestalt des Innenministers und dessen Prachtexemplars von Hauptabteilungsleiter namens Dieckmann an.

Der Innenminister wandte sich an Bob: „Ich habe da noch einige Flaschen Chateau Petrus 1971 im Schrank entdeckt. Haben sie heute Abend Zeit für ein Hintergrundgespräch am Kamin, mein Freund?“, fragte er ihn in englischer Sprache. Bobs Gesicht leuchtete auf.

Gern, ich dachte schon, sie fragen gar nicht mehr“, erwiderte dieser.

 

Die Champagnerlaune, besser gesagt die Weinseligkeit, des Innenministers wollte sich so gar nicht auf Rudi D. übertragen. Dessen Niederlage war nahezu vollständig. Man hatte ihn völlig kaltgestellt, nicht gerade elegant, aber ungemein wirkungsvoll. Er musste schweigen, wollte er seine Freundin und ihre APO-Vergangenheit nicht im Fokus der öffentlichen Meinung wiederfinden.

Überdies wäre eine Scheidungsverhandlung auf der Grundlage dieser Informationen absolut ruinös für ihn und seine Freundin. Seine Karriere dürfte jetzt ohnehin am Ende sein. Ja, ja, Sex, Drugs and Crime, dachte er resigniert als er die Behörde verließ. Nur wohin mit den Gewissensbissen und seiner Verwicklung in diese Machenschaften?, fragte er sich - und das alles mir als altem 68ger. Er fasste einen Entschluss, weil er die Anzahl der Kompromisse mit den Amerikanern für aufgebraucht hielt. Er hatte ohnehin viel zu lange stillgehalten.
Dann kam der Abend. Er traf sich mit seiner Freundin, diesmal in ihrer Wohnung, und erzählte ihr alles, alles, ohne etwas auszulassen, restlos. Danach war ihm leichter. Doch auch der Loyalitätskonflikt war schwer zu ertragen. Denn er war noch immer ein überzeugter demokratischer deutscher Staatsbürger, dem die Interessen seines Landes mit ihren unveräußerlichen Grundrechten der Bürger über alles gingen. Die Deutschen hatten es nach all den Jahrzehnten freiheitlicher Grundordnung nicht verdient, dass sich eine Kaste gewissenloser Technokraten an der Staatsspitze etablierte. Und ein treuer Beamter mit Leib und Seele war er auch, ganz klassisch. Nur deshalb hatte er getan, was getan werden musste, sich widersetzt mit ungewissem Ausgang. Voller Sorgen blickte er der Zukunft entgegen.

 

7

Morning has broken…

 

Der Morgen kam, und ich wurde von Dieter geweckt.

Steh´ auf, Tommy. In zwei Stunden sind die Reporter und das Filmteam da.“

Mist, ich hatte verschlafen. Die letzten Ereignisse haben ihren Tribut in Form von Schlaf gefordert. Nachdem mein Körper endlich Gelegenheit gefunden hatte, sich zu entspannen, war er verspannt - und wie. Jeder Muskel tat mir weh, alles war überdehnt und schmerzte. Noch nie war ich so ausgelaugt. Ich fühlte mich kraftlos wie nie, physisch und seelisch. Aber Dieter beruhigte mich, nachdem er einen Blick auf mich geworfen hatte.
„Es ist nichts angebrannt, Tommy. Ich habe dich mal pennen lassen. Hast sicher `ne Mütze Schlaf gebraucht nach den Ereignissen gestern und dem Remy Martin…“, grinste er. „Alles Folgen deiner Auseinandersetzung, glaube mir. Ich kenne das. Geh mal in die Dusche und lass etwas Wasser auf deinen Körper, am besten Wechselbäder, wenn du kannst, und dann frühstücken wir“, forderte er mich auf.
Ich gähnte ausgiebig, schlich ins Bad und versuchte, meine Morgenhygiene nach Dieters Anweisungen zu vollziehen. Aber die Wechselbäder haben mich fast umgebracht. War nichts mehr für einen älteren Herrn.

 

Anschließend gab es ein Massenfrühstück. Dieters Kumpel waren früher aufgestanden und hatten mit den Frauen schätzungsweise hundert Brötchen, etliche Pfund Aufschnitt, Mett, Käse und literweise Kaffee organisiert und zubereitet. Dieses Frühstück werde ich nie vergessen: ein herrlicher Schmaus mit musikalischer Untermalung durch Oldies aus den 70ger und 80ger Jahren und einer Stimmung, die mich mächtig melancholisch stimmte, wegen der guten alten Zeiten und so… Über Nacht waren sogar noch ein paar weitere alte Kumpel aufgetaucht, und an die dreißig gestandene Männer und Frauen in Rockerkluft teilten ihr Frühstück mit mir. Doch zugleich war mir klar, dass sie es hauptsächlich für Dieter, ihren ungekrönten Chef, taten - mich kannten sie ja kaum.

Wir aßen, tranken und lachten, und ich vergaß für einen Moment, in welch prekärer Lage ich mich befand.

Dann fuhren fast zeitgleich die Wagen der SPIEGEL-Reporter und des Filmteams vor.

Hey Männer!“, verkündete Dieter: „Bringt bitte eure Mühlen, äh…, Bikes vom Gelände und macht Platz für das Reporterteam und die Kollegen vom Film!“

Nach einer Stunde hatte das Team vom SPIEGEL seine Ausrüstung positioniert. Gleichzeitig hatte das Filmteam seine Kameras an verschiedenen Stellen innerhalb und außerhalb der Werkstatt angebracht. Sogar an den Dachstreben, und ich weiß nicht wo sonst noch, waren kleine Kameras befestigt. Alles drahtlos versteht sich.

Jetzt wurde es Zeit für das Interview. An einem vorbereiteten Tisch vor dem Werkstatteingang nahm ich Platz. Ich war total nervös und hatte zunächst eine totale Sprechblockade. Aber nach und nach wurde ich ruhiger. Die hatten mich doch tatsächlich erstmal reden lassen und gar nichts aufgenommen, weil die meisten Nichtprofis nach aller Erfahrung vor laufender Kamera zunächst Probleme hatten. Doch dann wurde es ernst.

Ein junger Reporter stellte mich und sich vor, und ich durfte anhand gezielt gestellter Fragen jetzt meine Geschichte erzählen. Dann wurde ich nach diesem ominösen Super-Handy gefragt. Ich zog es hervor und legte die Akkus und die Pufferbatterie daneben.

Eine andere Person, ein Informationstechniker, wurde mir vorgestellt, und man fragte mich, ob ich es zusammen bauen könnte. Natürlich hatte ich Angst davor, aber Dieter nickte mir von der Seite zu. Es war wohl Teil seines Plans, genau das zu tun.

Mit zitterigen Handgriffen setzte ich es zusammen und der Piepton erklang. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken herunter. Wie lange wird es wohl dauern, bis die geheimnisvolle andere Seite zuschlagen würde?

Dann nahm der Techniker das Gerät in die Hand, und schon bald hatte er die Funktionen unter Kontrolle. Er richtete die kleine Parabolantenne des Super-Handy‘s auf verschiedene Mitglieder meiner Beschützer, auf Kollegen der Reporter und des Filmteams aus, und jedes Mal konnte er eine Datenfülle - oft mit Strafregister - vorweisen, die alle nicht nur höchst erstaunte sondern auch augenscheinlich schockierte - vor allem die Leute mit neuem Personalausweis. Und alles wurde aufgezeichnet, das Super-Handy auch im Kamera-Makroformat. Als das Interview beendet war, winkte mich Dieter unauffällig zu sich. Ich stand von meinem Platz auf und ging zu ihm.

Tommy, siehst du dort drüben auf der anderen Straßenseite die graue Yamaha XJ6, mit dem roten Helm am Lenker?“

Ja, klar.“

Die hab ich getunt, statt 78 PS hat die jetzt über 130 PS, die geht richtig ab wie Schmitts Katze. Hier sind die Schlüssel. Für alle Fälle. Lass uns jetzt zum Regiewagen des Filmteams gehen, ich hab die Jungs noch gar nicht richtig begrüßt. Komm schon, Alter! Hast dein Interview übrigens richtig gut absolviert, warst Klasse.“

Zusammen gingen wir zu einem weißen Lieferwagen und stiegen ein.

Dieter stellte mich kurz vor und begrüßte dann seine alten Kumpel vom Film sehr herzlich.

Wir besprachen eine Weile das bisher Aufgenommene und die Zeitplanung dazu, als wir unterbrochen wurden. Unvermutet hörte ich eine näselnde Stimme: „Scheiße, scheiße, gar nicht gut. Die sind im Anmarsch!“ Wir blickten auf den Monitor, und ich sah die bekannten schwarzen Limousinen vorfahren. Diesmal in doppelter Besetzung, vier BMW und zwei Vans. Die Türen schwangen auf, und zwölf Typen in schwarzen Anzügen - sind die phantasielos, dachte ich noch, immer die gleiche Kutte, ist doch total langweilig und bescheuert - sprangen aus den Fahrzeugen und begaben sich direkt zu den Reportern, die immer noch über das Gerät berichteten. Wir stürzten nach draußen.

Der kommandierende Anzugträger, ein glattrasierter blonder Hüne, ergriff das Wort: „Nehmen Sie alle die Hände hoch, bleiben sie ganz ruhig, und händigen sie uns dieses, äh…, Handy sofort aus! Es wurde einem unserer Mitarbeiter entwendet, während er einen Herzinfarkt hatte. Statt Hilfe zu holen, sind sie abgehauen“, sagte er und wies in meine Richtung.

Der Kollege hatte keine Chance und musste auf einer Toilette einen unwürdigen Tod sterben. Also geben sie uns jetzt das Gerät zurück. Es gehört ihnen sowieso nicht!“, befahl er, ein Kaugummi kauend, und mit deutlichem, amerikanischen Akzent.

Während er das sprach, hatten seine Man in Black ihre Waffen gezogen und zielten damit in unserer Richtung, um uns einzuschüchtern.

Dann allerdings wurden ihre Augen groß und größer, als sie ihrerseits in die Mündungen verschiedenster Waffen blickten. Wie auf ein geheimes Kommando, hatten auch meine Beschützer blitzschnell zu den Waffen gegriffen und sie auf die Anzugträger gerichtet. Die hatten wohl mit allem, aber nicht mit Widerstand gerechnet, und blickten nun fragend zu ihrem blonden Anführer. Aber auch der schien ratlos, eine solche Offensivkraft hatten sie wohl nicht eingeplant. Ein klassisches Patt, dachte ich für mich.

Und ohne dass sie es merkten, wurde auch diese Szenerie von den Kameras aufgezeichnet.

Zufällig jetzt gab es wohl einen Vibrationsalarm auf dem Handy des führenden Anzugträgers. Es musste eine Anweisung in Form einer SMS sein. Er betrachtete die Textnachricht und sah zu seinen Leuten herüber. Sie senkten auf eine Geste ihres Chefs die Waffen, und ihr Anführer ergriff wieder das Wort und verlegte sich aufs Verhandeln: „Damit werden sie nicht durchkommen. Man wird sie zur Rechenschaft ziehen. Wir geben ihnen diese Chance nur einmal. Händigen sie uns das Gerät aus, und wir verschwinden, ohne dass es für sie Konsequenzen hat!“

Doch davon ließen sich Dieters Freunde nun gar nicht beeindrucken. Sie hoben nur kurz ihre Waffen, und die Man in Black blickten noch ratloser.

Okay, wer ist hier der Anführer?“, machte sich wieder der blonde Anzugträger bemerkbar.

Lassen sie uns die Angelegenheit in Ruhe besprechen! Am besten unter vier Augen“, forderte er und blickte suchend in die Runde. Er versuchte offenbar Zeit zu schinden.

Oh Shit, gar nicht gut, gar nicht gut!“, hörte ich wieder die unverkennbare näselnde Stimme im Hintergrund: „Die bekommen tatsächlich Verstärkung.“

Und ein halbes Dutzend grauer Limousinen und mehrere Lieferwagen fuhren vor. Alle mit Blaulicht, allerdings ohne Sirene. Zweifellos die deutsche Polizei oder wer auch immer. Aus den Lieferwagen stürmten SEK-Einsatzgruppen, mit Maschinenpistolen und in Kampfmontur. Aus den grauen Mercedes-Limousinen stiegen nun ebenfalls deutsche Anzugträger aus, aber allesamt in grau - muss wohl ein Bedürfnis nach Uniformität oder Ähnlichem sein -, sinnierte ich vor mich hin. Und allen voran schritt ein glatzköpfiger Mann mit dichtem Kinnbart.

Den kenne ich. Das ist Dieckmann vom Staatsschutz. Der ist dem Innenminister direkt unterstellt, eines der ganz hohen Tiere“, hörte ich die bekannte Stimme im Hintergrund flüstern.

Wie ich schon sagte, es werden Köpfe von ganz oben rollen“, meinte nun Dieter und schaute mich an.

Dieckmann ging zu den Anzugträgern aus dem Ami-Land, besprach sich kurz mit deren Anführer. Gleich und gleich gesellt sich gern!“, fiel mir unverhofft ein passender Spruch zu der eigentlich skurrilen Situation ein. Dieckmann kam auf die Reporter und uns zu.
Jovial wandte er sich zunächst an die
Freeway Tigers, wohl weil ihm hier die Waffen entgegen ragten.
„Hey, ihr alten Männer! Wollt ihr die Helden spielen? Wir sind nicht in Hollywood. Legt die Waffen auf den Boden und fahrt heim zu euren Familien. Und wenn nicht, verhafte ich euch alle wegen Bildung einer kriminellen…, ach Scheiße, dieser Terminstress und so, heute bin ich mies drauf, nein, einer terroristischen Vereinigung. Ich meine es ernst. Also, macht keine Dummheiten!“, befahl er, und im selben Moment hoben die SEK-Truppen ihre Waffen und zeigten damit an, dass ihr Boss es durchaus ernst meinte. Die Amis verhielten sich derweil passiv und ließen Dieckmann machen. Meine Beschützer hatten wohl keine Chance, sie befanden sich in einer aussichtslosen Lage, und ich hoffte, dass sie jetzt nicht durchdrehen würden. Alles stand auf des Messers Schneide. Doch mit einer unmerklichen Geste hieß Dieter sie, ihre Waffen niederzulegen. Mit verächtlichem Gesichtsausdruck warfen sie die verschiedenen Waffen Dieckmann vor die Füße. Einige meiner Beschützer ließen es sich nicht nehmen, knapp an Dieckmann vorbei zu Boden zu spucken, was dieser aber zähneknirschend hinnahm. Sie räumten wortlos das Feld.

 

Sichtlich zufrieden drehte sich Dieckmann nun zu den Reportern und befahl: „Sofort überreichen sie uns das gesamte Filmmaterial und ihre Aufzeichnungen, alles ist im Rahmen der Notstandsgesetzgebung beschlagnahmt! Und dieses Gerät nehme ich auch an mich, das ist Staatseigentum, her damit!“, knurrte er und riss dem Informationstechniker das Superhandy aus den Händen.

Na, bist du nun zufrieden?“, fragte Dieter nun scheinheilig und katzenfreundlich lächelnd in Dieckmanns Richtung. Der konnte mit der Frage anscheinend nichts anfangen, jedenfalls zeigte er überhaupt keine klare Reaktion. Sein Blick schweifte umher, ging zur Seite, nach oben, und dann sah auch er die an den Dachstreben befestigten Kameras. Man konnte von seinen Lippen das Wort Scheiße ablesen. Dieckmann gab einigen seiner Leute ein Zeichen. Sofort setzte sich die halbe Truppe in Bewegung und begab sich zu den Dachstreben, um die Kameras zu demontieren. Aber Dieter grinste nur, was mir schon sehr absonderlich vorkam. Die anderen SEK-Beamten blieben auf ihren Posten und sollten vermutlich nach wie vor für Ruhe sorgen.

Jetzt aber wacker weg mit dir, Tommy! Schnapp dir das Bike und hau ab! Schnell!“, flüsterte Dieter und drückte mich in Richtung des bereitgestellten Fahrzeugs. Von der Seite nahm ich noch wahr, wie mir jemand etwas zusteckte und mit näselnder Stimme sagte: „Hier, alles aufgezeichnet, was bisher aufgenommen wurde. Total brisante Daten - aber der bunte Stick ist gesichert, Kennwort: Orwells Schiss. Ein besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Nimm sie, und ab dafür. Versteck sie gut. Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts, und wir drehen hier nur einen Film, Milieustudie und so.“

Ich griff mir also die Dinger und bewegte mich unauffällig im Sichtschutz meiner Freunde nach hinten zum Bike. Einige Müllkübel und Buschwerk boten mir vorübergehend gute Deckung. Ich musste sowieso unbedingt für Königstiger. Meine Blase war nämlich zum Bersten gefüllt. Schätze es war der Stress, wegen des Interviews, der Man in Black und ihrer mausgrauen deutschen Kollegen… Ich erledigte also unauffällig mein Geschäft und hatte auf diese Weise für den Fall der Fälle eine gute Ausrede, Pissen und so. Und überhaupt, dachte ich: eine gute Gelegenheit, Orwells Schiss zu deponieren, wenn ich schon einmal den Hosenschlitz offen hatte. Ich schob in die Unterhose. Ich will nicht Drumherum reden, - halt genau unter die Glocken, wenn sie wissen, was ich meine, liebe Leute… Passender Ort für Orwells Schiss, fiel mir ein, und ich grinste schelmisch. Ja, das sind so die Vorteile der männlichen Anatomie, liebe Mädels. Aber die eure ist auch nicht von schlechten Eltern, muss ich zugeben.

Für den anderen Datenträger gab es auch ein hübsches Plätzchen. Zwischen zwei parkenden Autos hockte ich mich unauffällig hin, nestelte an meinen Stiefeln und schob ihn weit vor bis in die rechte Stiefelspitze. Gut, dass die Kontakte der USB-Sticks einschiebbar und somit platzsparend waren. So störten sie mich kaum an meinem Körper und behinderten mich auch nicht beim Gehen. Das Ganze dauerte keine halbe Minute, sicher ist sicher. So, das wäre erledigt, dachte ich erleichtert und spähte die Lage aus. Und tatsächlich gelang es mir, das Motorrad unbehelligt zu erreichen.
Ich setzte mir den Helm auf, führte den Zündschlüssel ein und ließ das Bike zunächst das leichte Straßengefälle abwärts rollen.

Und sie hatten offenbar noch immer nichts gemerkt. Ich startete nun den Motor und legte einen Gang ein. Langsam und leise entfernte ich mich vom Ort der Ereignisse. Dann gab ich Gas. Sofort merkte ich, dass ich hier mächtig Power unterm Arsch hatte und beschleunigte zügig.
Nach ein paar Minuten fiel mir auf, dass ich doch verfolgt wurde. Mein Abgang war nicht unbemerkt geblieben, denn schon bald sah ich im Rückspiegel das Blaulicht der grauen Limousine meiner Verfolger. Dann erkannte ich auch einen schwarzen BMW, es waren also zwei Wagen hinter mir her, die mich jagten. Ich gab ordentlich Gas und ließ sie erst einmal zurück. Aber sie holten auf. Ich fuhr so schnell ich konnte, merkte aber , dass ich in den Kurven nicht schnell genug war. Es war schon zu lange her, als ich noch selbst Motorradfahrer war. Mir fehlte die Übung, die Routine. Ich konnte die Schräglage in den Kurven nicht voll ausnutzen, und recht bald sah ich im Rückspiegel wieder das Blaulicht. In halsbrecherischem Tempo jagte ich durch die Straßen Dortmunds in Richtung Süden, gehetzt vom deutschen Staatsschutz und der CIA. Und das in Deutschland, im beschaulichen Ruhrgebiet. Ich raste auf eine Kreuzung zu, flog bei Rot über sie hinweg, hörte ein wildes Gehupe hinter mir, als auch schon der schwarze BMW mit vollem Tempo von einem Kleinlastwagen seitlich gerammt wurde, sich überschlug und von einem LKW mitten in der Rollbewegung noch einmal getroffen wurde. Der BMW wurde in zwei Teile zerrissen. Die Insassen hatten vermutlich keine Chance. Und weiter ging die Jagd. Der Wagen mit Blaulicht befand sich noch immer noch hinter mir. Der nächsten Kreuzung näherte ich mich mit viel zu schnellem Tempo. Wieder zeigte die Ampel Rot, geradezu Blutrot, und beinahe wäre ich von einem PKW erwischt worden. Im letzten Moment konnte ich abbremsen und ihn durchfahren lassen. Dann gab ich wieder Gummi. Mein Verfolger näherte sich unaufhaltsam, und das Blaulicht nervte mich langsam. Ich gab noch mehr Gas. Irgendwie musste ich ihm entkommen. Ein paar hundert Meter vor mir kam die nächste Kreuzung in Sicht, mein Verfolger war jetzt vielleicht fünfzig Meter hinter mir.

Ich näherte mich rasch der Kreuzung. Ausgerechnet jetzt fuhr eine Straßenbahn über sie hinweg. Mit einem geradezu waghalsigen Manöver zog ich an ihr vorbei. In letzter Sekunde kreuzte ich ihre Spur und hatte meinen Verfolger für ein paar Sekunden abgeschüttelt, dessen quietschende Reifen gegen ihre Behandlung protestierten. Aber nicht für lange. Noch war er im Spiegel nur als kleiner, weit entfernter blaublinkender Lichtpunkt zu erkennen. Aber er kam stetig näher. Dann musste ich voll in die Eisen, ein LKW versperrte beide Fahrtrichtungen, weil er ein Wendemanöver durchführte. Wenige Sekunden später war auch mein Verfolger schon direkt hinter mir und die Beifahrertür öffnete sich.

Aber es tat sich eine kleine Lücke neben dem LKW auf, die ich sofort nutzte und hindurch raste. Wieder einige Sekunden gewonnen. Aber auch mein Verfolger war schon bald wieder zu sehen und folgte mir unverdrossen. Der Fahrer war zweifellos gut trainiert, und schon nach kurzer Zeit füllte sein Blaulicht meinen Rückspiegel wieder voll aus.

Vor mir sah ich einen Abzweig zu einer Landstraße. Ich bog ab und erkannte, dass sie etwa einen halben Kilometer geradeaus führte. Ich gab Vollgas, und das Bike marschierte ordentlich voran. Das Blaulicht wurde wieder kleiner. Eine Kurve kam in Sicht, und ich legte mich hinein, aber sie wurde eng und enger. Ich merkte sofort, dass ich zu schnell war, viel zu schnell, und dann merkte ich nichts mehr…

 

8

 

Halbfinale

 

Das ist also Ihre Geschichte“, stellte Veronica Fischer fest, nachdem ich zum Ende gekommen war.

Wirklich interessant, meinst du nicht auch, Martin?“, fragte sie in seine Richtung.

Ja, ja, ist schon interessant. Aber, ist sie auch wahr?“, fragte mich Martin mit einem eigenartig lauerndem Gesichtsausdruck.

Ja, es war genauso, wie ich es erzählt habe und nicht gelogen“, entgegnete ich, weil ich ihr Misstrauen zu verstehen glaubte.

Haben Sie denn noch, äh, diesen USB-Stick, Thomas? Hier, möchten sie noch ein Glas Orangensaft“, fragte Veronica und stellte ein Glas vor mir ab. „Nun, haben Sie den Stick noch?“, wollte jetzt auch Martin wissen, und ein lauernder Zug in seinem Gesicht gesellte sich hinzu.

Plötzlich begann ich mich unbehaglich zu fühlen. Warum fragten sie so penetrant nach dem USB-Stick? Einem unbestimmten Bauchgefühl folgend, hatte ich in meinem Bericht allerdings nur von einem Speicher, Orwells Schiss, berichtet, aber auch, weil ich der Anzahl keine besondere Bedeutung beigemessen hatte. Das zahlte sich nun aus, wenn mein Verdacht sich bestätigen sollte.

Sagen Sie, haben sie ihn noch?“, insistierte auch Veronica noch einmal. Irgendwie kamen mir die Fragen noch drängender vor, mein Misstrauen wuchs.

Ja, ich habe ihn noch“, antwortete ich.

Zeigen Sie ihn uns!“, klang es jetzt in forderndem Unterton.

Warum, fragte ich mich, wollen sie den Datenspeicher unbedingt sehen? „Bitte trinken Sie ihren Saft“, säuselte Veronica nun unvermutet und lächelte mich an.

Nein, danke, ich bin nicht durstig“, erwiderte ich und lächelte jetzt ebenfalls. Aber es war ein mehr fatalistisches, hilfloses Lächeln.

Zeigen Sie uns den Stick, und trinken Sie den Saft! Sofort!“, mischte sich unvermutet Martin ein und richtete plötzlich eine Pistole auf mich, mit der er genau auf meinen Kopf zielte. Und seine Hand zitterte nicht im Geringsten. „Was ist los..., warum...? Wer sind sie wirklich?“, fragte ich völlig verdattert, und die Erkenntnis schnürte mir fast die Kehle zu.
Veronica ergriff das Wort und antworte mit spöttischem Unterton: „Können Sie sich das nicht denken? Sind sie wirklich so naiv zu glauben, dass andere Menschen Sie einfach in ihrem Wohnmobil mitgenommen hätten, zumal sie doch ganz offensichtlich gesucht wurden?“

Martin ergänzte: „Kurz nach ihrem Unfall war jedenfalls schon der Staatsschutz vor Ort und hat die Unfallstelle abgeriegelt. Man hat ihr Motorrad durchsucht, aber nichts von Bedeutung gefunden, auch weil man nicht wusste, ob sie überhaupt etwas Wichtiges dabei haben könnten. Zum Glück waren Sie lange genug bewusstlos, bis wir eintrafen, um ihr, äh…, Vertrauen zu gewinnen. Schließlich hätten sie über noch mehr Informationen verfügen können. Und diese Annahme hat sich ja auch bestätigt, als sie uns von dem USB-Datenträger erzählt haben. Selbstverständlich haben wir unsere Ausweise und das Handy auch nicht mit der Post verschickt. Die anderen wissen also genau, wo wir uns aufhalten. Und jetzt her mit dem Stick!“, zischte Martin, hielt mir die Waffe vors Gesicht und entriegelte die Sicherung. Keine Spur mehr vom älteren Herrn im Ruhestand - auch Veronica zeigte sich ganz professionell, trat von der Seite hinter mich und entsicherte ihre eigene Waffe.

Diesen Poker hatte ich durch meine eigene Dummheit verloren, erkannte ich, und sackte zusammen. Wie ein Häufchen Elend saß ich da, stand auf, ließ langsam und wortlos meine Hose herunter und griff in meine Unterhose. Unterhalb meines besten Stücks hatte ich ihn deponiert: Da hatte wohl bei der Durchsuchung an der Unfallstelle niemand Lust gehabt, mir zwischen die Beine zu greifen und genauer nachzusehen. War aber auch kein Wunder, denn bis gerade war nicht einmal bekannt, dass es diesen brisanten USB-Stick gibt. Ich bemühte mich weiterhin, ein ängstliches Gesicht aufrechtzuerhalten, um die beiden nicht misstrauisch zu machen, denn dieser Stick hatte ja bekanntlich einen Zwilling…

Und jetzt trinken Sie den Saft!“, blaffte mich Veronica an und riss mir den bunten USB-Datenträger aus der Hand.

Ich will aber keinen Saft!“, trotzte ich schon aus Prinzip noch ein wenig herum.

Sie trinken, oder ich schieße Ihnen ins Knie!“, drohte nun auch sie und unterstrich ihre Forderung mit ihrer Waffe. Sie blickte mich entschlossen an und bemerkte noch in einem Anflug von Sympathie: „Nehmen sie `s nicht persönlich, eigentlich waren sie ja ganz sympathisch in ihrer Fürsorge um uns, wirklich. Aber Job ist Job“.

Und Martin ergänzte eiskalt: „Und wenn du nicht trinkst, schieß´ ich dir die Eier weg! Klar?“ Spätestens diese Aussicht überzeugte mich davon, dass ich sehr großen Durst hatte. Ich zog langsam meine Hose hoch und befestigte den Gürtel. Widerwillig trank ich den Saft aus und stellte fest, dass er scheußlich schmeckte. Wie in Zeitlupe nahm ich wahr, wie mir die Sinne schwanden. Aha, Ko-Tropfen, dachte ich und hörte noch Veronicas Stimme: „In einer Stunde ist alles wieder gut, dann wachen Sie auf und werden alles vergessen haben. Haben sie verstanden, was wir...?“ Dann wurde es dunkel um mich herum...

 

*

 

Als ich erwachte, war etwas nicht richtig. Genau, der Geruch: Es roch penetrant... - ja, nach Gas. Meine Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Kabelbinder, stellte ich fest. Und ich lag auf dem Boden, in einer bequemen Seitenlage.

Mühsam setzte ich mich auf und sah die Uhr auf dem Tisch. Darunter sah ich zwei rote Propangasflaschen sowie diverse Schlauch- und Kabelverbindungen. Am schnellen Takt der digitalen Sekundenanzeige erkannte ich, dass die Uhr rückwärts lief. Wohl ein Zeitzünder. Noch knapp zehn Minuten Zeit blieben mir. Was nun?

Es ist verdammt schwer, mit auf dem Rücken gefesselten Händen zu agieren. Aber ich versuchte, mich rückwärts in Richtung Wand vorzuschieben, um mich daran aufrichten zu können. Gar nicht so einfach, aber schließlich gelang es mir dennoch, dort anzukommen. Und ich hatte nur noch die Uhr im Blick. Noch sechs Minuten. Ich faltete meine Beine im Schneidersitz unter mir zusammen und versuchte, auf den Fußaußenseiten aufzustehen. Früher war das kein Problem, aber heute klappte nichts mehr beim ersten Versuch. An der Wand fand ich Halt und konnte mich langsam hochschieben. Irgendwann hatte ich Erfolg, und mit wackeligen Beinen stand ich nun schweißgebadet da. Noch vier Minuten.
Als nächstes versuchte ich, mein rechtes Bein durch meine gefesselten Hände zu stecken. Aber wie gesagt, beim ersten Versuch klappte heute gar nichts - aber beim dritten. Mit dem linken Bein brauchte ich nur zwei Versuche, und ich hatte die Hände endlich vor meinem zugegebenermaßen deutlichen Bauchansatz, besser gesagt meiner Wampe. Ich verfluchte die vielen Cognacs und abendlichen Biere. Noch anderthalb Minuten.

Auf dem Küchentisch stand eine Konservendose, daneben lag ein Taschenmesser mit geöffnetem Dosenöffner. Und eine volle Flasche mit, Brrr, Orangensaft.

Mit den noch gefesselten Händen ergriff ich das Taschenmesser, und es gelang mir, den Kabelbinder zu durchtrennen, verschiedene Schnittwunden inklusive. Ich rannte zur Haustür...verschlossen, von außen. Ich stürzte zum Fenster, um es zu öffnen. Natürlich klemmte es und versagte den Dienst. Also warf ich mit Wucht die Konservendose durch. Splitternd zerbrach die Einfachverglasung, war Gott sei Dank keine Sicherheitsverglasung. Mit der Orangenglasflasche glättete ich einigermaßen die überstehenden Ränder, blickte auf die Uhr - und erschrak: ... nur noch vierzehn Sekunden. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich nahm Anlauf, hechtete kopfüber durch das Fenster. Schmerzhaft spürte ich, wie ich mir den Rücken aufschnitt. Mit einer Rolle vorwärts landete ich im Freien. Zum Glück auf gutem, weichen Rasen…

Sofort sprintete ich in Rekordzeit in Richtung der nächsten Baumgruppe, stolperte noch und kauerte mich keuchend hinter eine gute, dicke, deutsche Eiche. Keine Sekunde zu früh, denn plötzlich brach die Hölle los.

Die Gasexplosion war dermaßen heftig, dass ich fast ein Knalltrauma erlitt. Den Rest des Geräuschinfernos nahm ich nur noch wie durch Watte wahr. Fetzen des Hauses wurden in alle Richtungen geschleudert. Irgendetwas prallte knallend an den Baum, hinter dem ich Schutz gesucht hatte. Einige Meter seitlich von mir wurde ein junger Baum von einem schweren Holzbalken halbiert. Es regnete weithin Trümmerteile. Aber irgendwann hörte es auf. Nur das Prasseln des Feuers war noch zu hören.

Ermattet sank ich nun zu Boden und verschnaufte. Die Kraft des Lebens hatte wieder einmal gesiegt. Doch ich wusste nicht so recht, ob ich deshalb traurig oder froh sein sollte. Nachdem ich mich beruhigt hatte, richtete ich mich langsam auf und sah mit Entsetzen, was den Baum getroffen hatte: Ein Spaten steckte mit dem Blatt tief im Stamm des Baumes. Noch nachträglich wurde ich bleich. Wenn der mich getroffen hätte…

Das Blockhaus brannte langsam ab - und beinahe wäre ich darin geröstet worden, stellte ich mit Entsetzen fest. Diese Infamie hätte ich den älteren Herrschaften nun doch nicht zugetraut. Aber auch Deutschlands Profikiller verstanden wohl ihr Handwerk.

Siedend heiß durchfuhr mich, dass ich jetzt erstmal weg musste. Bestimmt wimmelt es hier bald von Polizei und Feuerwehr. Es reichte mir schon, als Mörder gesucht zu werden, aber noch zusätzlich als Brandstifter, das brauchte ich nicht wirklich.
Mehr unbewusst hatte ich den Spaten aus dem Baum gezogen und an mich genommen. Wahrscheinlich eine reine Ersatzhandlung, die wohl meine Erbitterung ausgleichen sollte. Vielleicht war es aber auch der archaische Wunsch in mir, eine Waffe, etwas Handfestes, Gefährliches in Händen zu halten, keine Ahnung…
Während ich lostrabte, überlegte ich, wie weit wohl der nächste Ort entfernt war, durch den wir zuletzt gefahren waren. Sehr weit konnte er jedenfalls nicht liegen. Also schlug ich diese Richtung ein und befand mich bald in der Nähe der Straße. Ich schrak zusammen. Hinter dem Buschwerk seitlich von mir stand das Wohnmobil. Darin saßen Martin und Veronica. Mit Hilfe eines Fernglases betrachtete Martin vom Beifahrersitz durch das geöffnete Seitenfenster die Vorgänge bei der Blockhütte. Veronica saß am Steuer und drängte quengelnd zur Abfahrt, aber Martin wollte wohl weiter beobachten. Noch hatten sie mich nicht entdeckt. Ich schlich leise heran, um herauszufinden, ob sie meinen Tod sozusagen amtlich bestätigten und hörte gerade noch Veronicas ungeduldigen Kommentar: „ Komm, lass uns jetzt abhauen, der ist hinüber. Worauf wartest du noch?“

Man weiß ja nie“, blaffte Martin zurück.
Alles wäre gut gegangen, wenn da nicht dieser trockene Ast gelegen und sich mit lautem Knacken bemerkbar gemacht hätte. Martin schrak auf und zog sofort seine Waffe. Er hatte mich gleich entdeckt und legte an.

Siehst du, dacht´ ich‘s mir doch…“, knurrte er noch in Richtung Veronica und riss entsetzt die Augen auf, als ihn der Spaten traf - genau zwischen dieselben. Er sank stöhnend zusammen. Sein Kopf hing aus dem Seitenfenster heraus. Der Spaten steckte noch in seiner Stirn und nahm die Farbe seines Blutes an. Wie in einem Reflex hatte ich das Gartengerät geworfen, genau durch das offene Wagenfenster, und präzise getroffen. Lang, lang ist’s her, aber die „Spatenwurf-Meisterschaften“ in der Jugend-Gang haben mich gerettet. Aus Langeweile hatten wir uns daraus einen Sport gemacht… Wieder war es ein Wurf, der meinem Leben eine entscheidende Wendung gab... Aber mir blieb keine Zeit, über die Hintergründe nachzudenken. Veronica hatte nach kurzem Schock den Wagen gestartet und die Flucht ergriffen. Mit überdrehtem Motor. Ich hörte noch, wie sich der Wagen schnell entfernte. Der blutige Spaten blieb zurück. Jetzt ließ ich ihn liegen.
 

Zeit für mich, ebenfalls vom Tatort wegzukommen. Ich hielt mich abseits der Straße. Zehn Minuten später hörte ich die Feuerwehr mit Blaulicht und dröhnendem Martinshorn an mir vorbeirauschen. Nach ungefähr einem Kilometer sah ich im Garten eines Einfamilienhauses eine Wäscheleine, an der Kleidung zum Trocknen aushing. Ich schlich mich heran und stahl ein T- Shirt, ein weites Hemd und ein Handtuch. Danach zog ich im Schutze eines Strauchs mein blutverschmiertes T-Shirt aus. Mit dem Handtuch reinigte ich so gut es ging meine Wunden und zog mich um. Kurz vor der Abenddämmerung erreichte ich mein Ziel in der Stadt. Ich stand vor der Tür eines Ladens und las

 

INTERNETCAFÉ.

 

Die Rache ist dein, Manni, dachte ich grimmig, zog mir in einer Einfahrt den rechten Schuh aus und holte den brisanten USB-Zwillingstick hervor. Zum Glück hatte ich davon nichts erzählt. Den Datenträger fest im Griff, betrat ich den Laden. Dieter wartete auf Nachricht…

 

9

 

Etwa zur gleichen Zeit Down-Under - im Outback

 

Auch nach einer Woche in Australien konnte sie diese nahezu unerträgliche Schönheit ihrer Umgebung und den Überfluss an neuen Eindrücken nicht fassen. Ein Paradies, diese Tropen, dachte Sonja Glaser, hier irgendwo müsste es gelegen haben, und suchte mit Blick in den Sternenhimmel nach den vertrauten Sternbildern. Doch diese waren nicht zu finden, hier, südlich des Äquators. Allenfalls das bekannte Sternbild Kreuz des Südens hätte sie sehen können, wenn sie sich darum bemüht hätte, denn von Mitteleuropa aus ist dieses nicht beobachtbar. Sie war beschwingt und glücklich. Das waren mal echte Freundinnen. Schenkten ihr doch so mir nichts dir nichts eine solch kostspielige Reise. Down-Under und bald im Outback auf Rundreise, um zumindest die wichtigsten Sehenswürdigkeiten dieses Kontinents kennenzulernen. Und alles in Fünf-Sterne-Unterkünften mit Wellness-Abteilungen, Meditations- und Massageangeboten, Sekt und leckere Buffets und nahegelegene Shopping-Malls inbegriffen. Es war wie im Traum - Big Easy. Das war Lebensart…
Momentan befanden sie sich in einer attraktiven Fünf-Sterne-Bungalow-Anlage, umgeben von Palmen und tropischem Buschwerk. Die Zikaden sangen ihr Lied, seltenes skurriles, exotisches Vogelgezwitscher bildete den Geräusche-Background…

Schon bald sollte es losgehen. Zunächst zum Sammelpunkt - und dann weiter im vollklimatisierten Luxus-Reisebus, selbstverständlich mit deutschsprachigem Reiseführer.

Andrea und Sandra hatten so ziemlich an alles gedacht. Ach, wenn mein Tommy das nur sehen könnte, dachte sie wehmütig. Aber sein Bild verblasste bald angesichts der vielen neuen Eindrücke…

Nach einiger Zeit wurde sie nun doch müde und verzichtete auf ihren allabendlichen Spaziergang. Sie begab sich vorzeitig in ihr Einzelzimmer. Ihre Freundinnen schliefen wohl schon. Sie hatten nebenan ein Doppelzimmer belegt. Nun ja, sie waren auch schon seit langem befreundet und insoweit berechtigt, das größere Zimmer zu benutzen. Und schließlich war sie ja nur Gast der beiden und sollte keine überzogenen Ansprüche stellen. Für einen kurzen Moment blitzte diesbezüglich eine gewisse Unlust auf. Alles nur Sozialneid, dachte sie, und ihre Anwandlung verflüchtigte sich... Doch allein auf ihrem Zimmer konnte sie doch nicht einschlafen. Ich denke zu viel, sagte sie sich. Durch die dünnen Zimmerwände erklangen plötzlich Geräusche, die auf heftigen Sex zwischen Frauen schließen ließen. Erst nach Verzögerung realisierte sie, dass es sich um eine erotische Begegnung ihrer Freundinnen handelte. Die Vermutung, dass ihre Freundinnen ein lesbisches Verhältnis unterhielten, bestätigte sich nun. Ein wenig diskreter könnten die beiden aber sein. Dann bin ich also doch nur als Alibi für die Ehemänner mitgenommen worden, durchfuhr es sie. Doch diesen Gedanken verwarf sie wieder. Das Gestöhne ließ bald Zeit nach. Irgendwann schlief sie ein.

Beim Frühstück am nächsten Morgen war Sonja bemüht, sich so natürlich wie sonst zu verhalten. Doch das muss ihr wohl misslungen sein. Es war Sandra, die wohl mehr instinktiv ahnte, dass Sonja sich anders als sonst verhielt. Sie klopfte nachmittags auf den sprichwörtlichen Busch und fragte auf direktem Wege, ob Sonja ein Problem mit ihren sexuellen Präferenzen habe. Sonja blieb nichts anderes, als dieses von sich zu weisen. Abstrakt konnte sie sich schlecht dagegen aussprechen, zumal gleichgeschlechtliche Beziehungen in Deutschland schon lange legalisiert und jedermans persönliche Sache waren. Das musste zwar nicht mit Sonjas Präferenzen identisch sein, gleichwohl empfand sie es als bigott, den durchaus vermögenden Ehepartnern etwas anderes vorzugaukeln und dennoch die finanziellen Vorteile der ehelichen Beziehung zu nutzen. Aber das erwähnte sie nicht, um weiteren Streit mit ihren Gönnerinnen zu vermeiden. Ganz wohl fühlte sie sich in ihrer Rolle als drittes Rad am Wagen und gesponsertes fleischgewordenes Alibi aber auch nicht mehr.

 

Mittags trafen neue Touristen im Hotelressort ein. Es waren auch einige fesche junge Kerle dabei, wie auch Sonja und ihre Freundinnen bei der Ankunft der Gruppe feststellten. Abends sollte auf der Wiese hinter dem Hotel ein Aussie-Barbecue stattfinden, bei dem die neuen Gäste begrüßt werden sollten. Wie sie erfuhren, waren traditionell auch die schon angereisten Gäste dazu eingeladen, um sich zu beschnuppern, zumal sie übermorgen gemeinsam auf die Rundreise gehen sollten.

 

Sydney hatten sie bereits kurz nach ihrer Ankunft besichtigt. Nachmittags durften sie im Rahmen einer Sonderführung das Muschel-Opernhaus besichtigen, die berühmte architektonische Bau-Ikone der Stadt. Der Abend im Opera House endete mit einer Aufführung von La Traviata, einfach himmlisch.

Bondi Beach, Sydneys legendärer Strand, eine Hafenrundfahrt, The Rocks, die bekannte Geburtsstätte dieser Stadt und zwei Tage freie Tage in den vielen Boutiquen, Cafés und Kneipen schlossen sich an.
Ein Ausflug in die Blue Mountains mit der berühmten Felsformation der Three Sisters musste genauso sein wie der Besuch der Ortschaft Katoomba und der bläulich schimmernden Eukalyptus-Wälder samt ihrer putzig-lethargischen Koalas. Sonja musste lächeln beim Anblick dieser Bären, denn ihr fiel spontan Tommy ein, der genauso wenig aus der Ruhe zu bringen war wie diese australischen Zeitgenossen. Dann folgten ein Besuch von Kangaroo-Island, dem großen Zoo ohne Zäune mit seiner Seehund-Kolonie in der Seal Bay. Sie sahen den Leuchtturm am Cape du Couedic, den Admirals Arch. Atemberaubend. Ein Kaleidoskop schönster Eindrücke in einer ganz und gar bizarren, dürren Outback-Landschaft. Und nun waren sie nach langer Reise, vorbei an den berühmten gelben Roadsigns Australiens mit Kangaroos, Kamelen oder Beuteltieren, angekommen - hier: in einem Luxus-Hotelressort und freuten sich auf die Weiterreise von Alice Springs zum Nationalpark Uluru-Kata Tjuta und dem spirituellem Zentrum der Aborigines, dem Heiligtum Ayers Rock, dem berühmten roten Monolithen mit seinen Höhlen und geheimnisvollen Grotten sowie den sagenhaften Sonnenuntergang beim Kings Canyon. Hier sollten sie auch einiges vom Leben der Aborigines erfahren.

Daran anschließen sollte sich ein Ausflug nach Devils Marbles, den Teufelsmurmeln, einer mysteriösen Landschaft mit gigantischen Steinkugeln.

Weitergehen sollte es noch mit einer Fahrt über Innisfail nach Cairns und einem Ausflug mit der Skyrail-Gondelbahn über den Baumwipfeln des Regenwaldes hinauf zum tropischen Örtchen Kuranda. Zurück war eine Zugfahrt mit dem nostalgischen Kuranda-Train vorgesehen. Der berühmte Kakadu-Nationalpark und der Nourlangie Rock mit seinen rätselhaften uralten Felsmalereien durften nicht fehlen.

Endstation sollten Cairns und das wunderschöne Great Barrier Reef mit seinen traumhaften Korallenbänken sein.

Wahrscheinlich braucht es mehrere Leben, die Schönheiten dieses Kontinents und die Ausstrahlung seiner lässigen Bewohner samt ihrer sympathischen Lebensart, dem Australien Spirit, auch nur annähernd kennenzulernen, staunte Sonja.

 

In den Abendstunden gab es zunächst einen Kurzvortrag samt Diashow über den weiteren Ablauf der Rundreise, den der hier eingesetzte Reiseleiter namens Don mehrsprachig, englisch und in passablem Deutsch, abhielt.
Sonja fiel während des Vortrags auf, dass er immer wieder zu ihr hinsah, mehr als interessiert und den Blickkontakt zu ihr suchte. Es war dieser Blick seiner blauen Augen, der zwar nur Bruchteile von Sekunden tiefer, länger und intensiver als üblich in den ihren versank, aber er rührte etwas an in ihr und bannte ihre Gedanken. Das schmeichelte ihr natürlich. Aber sie war auch ein wenig verlegen: ein jüngerer Mann und sie, eine bereits reifere Frau… Gleichwohl war er ihr nicht nur ausgesprochen sympathisch, sondern übte da so eine gewisse Anziehungskraft auf sie aus. Und so schenkte sie ihm ein zaghaftes Lächeln.
Es gab anschließend noch einige Small Talks in der Touristengruppe. Don hatte sich nach einiger Zeit Don zurückgezogen.
Hm, vielleicht ist er auch ein wenig schüchtern, wahrscheinlich aber nur müde und bereitet sich auf die Rundreise vor, der er ja als Reiseleiter vorstehen wird, dachte sie. Doch sie rief sich zur Ordnung, weil sie sich vorgenommen hatte, nicht an verbotenen Früchten zu naschen. Allerdings war sie in einer selbstkritischen Anwandlung erstaunt darüber, in welchen Bahnen ihre Denke plötzlich verlief… Ja, überlegte sie, er könnte mir tatsächlich gefährlich werden.
Aber sie würde während der Rundreise ja genug Gelegenheit bekommen, sich mit ihm zu unterhalten.

 

Das abendliche Aussie-Barbecue, bei dem sich die neuen Gäste traditionell mit den schon angereisten Gästen ein wenig beschnuppern sollten, versprach recht nett zu werden. Sonja wollte sich daran für zwei bis drei Stunden beteiligen und danach schlafen gehen.

Doch das Barbecue begann seine eigene Dynamik zu entfalten. Tropische Musik, Tanz, Cocktails, nette Unterhaltungen, in denen Sonja begann, sich zunehmend wohl zu fühlen. Zum Ende der Party, als die meisten Touristen schon gegangen waren, fand sie sich mit ihren Freundinnen und einem Dutzend junger Männern und Frauen in einer internationalen Gruppe wieder, die ausgelassen weiterfeierte.

Wie es schließlich dazu kam, dass sie alle noch in der Nacht an der etwas weiter entfernten Grill-Feuerstelle zusammensaßen und sich der romantischen Stimmung und dem Flair der Tropen hingaben, vermochte Sonja nicht mehr genau zu sagen. Sie war beschwingt durch die Cocktails, fühlte sich jung, frei und genoss es, mal wieder von jungen Männern in ihrer Weiblichkeit umworben zu werden - und ließ sich mitreißen von der Stimmung. Vielleicht waren es auch die Joints, die irgendwer plötzlich kreisen ließ, oder sonst was. Die exotische Musik, die irgendwer über seinen iPod abspielte, tat ihr Übriges: Es kam zwischen einigen Paarungen zu spontanem offenen Sex, erstaunlicherweise war auch Andrea daran beteiligt. Etwas Bi schadet nie, dachte Sonja spöttisch an einen alten Sponti-Spruch aus ihrer Jugendzeit. Sie hatte sich bis jetzt zurückgehalten und diverse Annäherungsversuche abgewiesen. An Gruppensex war sie nicht interessiert, er war ihr eigentlich zuwider.

Sie trank noch einige Schlucke des schmackhaften Cocktails, den ihr jemand gereicht hatte. Danach wollte sie aufs Zimmer. Doch schon nach kurzer Zeit spürte sie, dass sich etwas in ihrer Stimmung veränderte. Ein spontanes und wildes sexuelles Begehren flackerte in ihr auf. Sie registrierte eine heftige Hitzewelle im Unterleib und merkte, wie sie feucht und geradezu wahnsinnig geil wurde. Eine unbändige, triebhafte Lust nach Sex ergriff sie. Es wird mir doch nicht jemand was ins Glas getan haben…?, war ihr letzter klarer Gedanke, als sie wie fremdgesteuert, nicht mehr sie selbst, völlig enthemmt und lüstern, auf zwei junge Männer zuging und sich dabei die Bluse aufknöpfte, zu allem bereit… - dann wusste sie nichts mehr - Filmriss.

 

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fand sie sich in ihrem Bett wieder, nur nachlässig zugedeckt. Jemand muss sie hergebracht haben. Neben dem Bett lagen ihre Jeans und die Bluse. Der Slip fehlte. Und sie stellte die physischen Folgen der letzten Nacht am ganzen Körper fest: Verschmutzte Knie und Ellenbogen, blaue Flecken, Kratzspuren, wund gescheuert und klebrig in all´ ihren Öffnungen, sie fühlte sich elend und zerschlagen am ganzen Körper - und hatte absolut keine Erinnerung an die letzten Vorgänge während der wilden Party. Ihre letztes bewusstes Denken endete beim letzten, ach so schmackhaften Cocktail, dem Liebestrunk sozusagen… Sie konnte es nicht fassen. Das soll wirklich ich gewesen sein, durchfuhr es sie, und Schamesröte stieg ihr ins Gesicht.

Ihr Frühstück hatte sie sowieso verpasst. Sie duschte ausgiebig und unterzog sich erst einmal einer ausgiebigen und teilweise schmerzhaften Morgenhygiene, bei der sie sich unter Tränen versorgte. Letztlich wusste sie nicht, ob sie Tränen der Scham oder des Schmerzes vergoss. Als sie fertig war, begab sie sich zunächst zur Hausbar und genehmigte sich ausnahmsweise einen doppelten harten Drink, der sich wohltuend in ihrem Körper ausbreitete. Dabei versuchte sie zur Ruhe zu kommen und die letzten Stunden der Aussie-Barbecues zu rekonstruieren. Allein, es gelang ihr nicht, sich zu erinnern. Sie gab ihr Vorhaben schließlich auf und beschloss, das Mittagsbuffet aufzusuchen.

 

Dort traf sie auch ihre Freundinnen an, die ebenso übernächtigt und verkatert wirkten. Sandra sah sie verhalten spöttisch an und grinste.

Dafür, dass du dich über uns so mokiert hast, warst du gestern Abend ziemlich wild dabei. Hätte ich gar nicht gedacht, zu welchen Übungen du fähig bist“, meinte sie. Andrea schloss sich an und bemerkte: „Stehst wohl auf straffen, harten Sex, oder? Mit zwei Kerlen zugleich im Sandwich zu vögeln und mir danach sofort meinen Typen auszuspannen… Ich muss schon sagen, meine Liebe, hätte ich nicht vermutet, dass du so abfahren kannst. Oder legst du noch Wert auf weitere schmutzige Details, vielleicht noch welche Blasinstrumente du bedient hast…? Tja, stille Wasser gründen tief…“. Sonja lief vor Scham puterrot an.

Ich kann mir das alles auch nicht erklären, bitte, glaubt mir“, stotterte sie herum und fand kaum die passenden Worte.

Etwas muss über mich gekommen sein, oder jemand hat mir was in meinen Cocktail getan. Und ich erinnere mich an nichts, absolut an gar nichts, was danach kam. Ich hatte einen totalen Blackout“, versuchte sie sich zaghaft zu erklären. Sandra und Andrea grinsten unisono.

Ja, ja, wir lassen das mal so stehen, und die Erde ist eine Scheibe“, meinte Andrea noch süffisanter.

Also, wenn ihr mir schon nicht glaubt, was seid ihr denn dann für Freundinnen?“, stieß Sonja erbittert hervor.

Willst gerade du dich etwa beschweren?“, fragte Sandra mit drohendem Unterton in der Stimme. Andrea sekundierte, in dem sie hinzufügte: „Vielleicht glaubt dir das ja dein Tommy.“ Diese unverhohlene versteckte Drohung nahm Sonja ihr besonders übel. Damit wollen die beiden nur sicherstellen, dass ich meinen Mund über ihre Beziehung halte. Und sie liegen richtig, denn ich kann selbst kaum glauben, was passiert ist, dachte sie bitter und völlig verwirrt. Ausgerechnet ihr, zwar offen für sexuelle Phantasien, aber keineswegs eine Verfechterin eines konkreten Hardcore-Sex´, musste das widerfahren. Alles war so schrecklich peinlich.

 

Gerade von ihren Freundinnen hätte sie mehr Verständnis erwartet, nur ein wenig, wenigstens aus weiblicher Solidarität heraus. Sie war so maßlos enttäuscht. Aber sie hatte in ihrer derzeitigen Verfassung einfach keine Kraft mehr, weder körperlich noch seelisch, um sich mit Sandra und Andrea in der Sache auseinanderzusetzen. Schweigend erhob sie sich, verließ den Mittagstisch ohne einen Bissen zu sich genommen zu haben und begab sich auf ihr Zimmer. Ja, dachte sie, in der Vergangenheit hatte ich einigen Drogenkontakt, wenn auch in Grenzen: Joints, etwas Koks, hier und da mal Pillen in der Studentenzeit eingeworfen. Aber letztlich hatte sich davon abgewandt. Auch weil sie mit Mühe und Not aus einem Gerichtsverfahren herausgekommen war, das aus Mangel an Beweisen eingestellt worden ist. Sie hatte sich danach einen Ruck gegeben und ihre Energie in ihr Studium und ihre berufliche Weiterentwicklung gelegt. Mit Erfolg.

Sie beschloss, am frühen Abend einen Spaziergang zu unternehmen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Sie überlegte schon wieder ernsthaft, ob sie die Reise und somit ihre Abhängigkeit von Sandra und Andrea zu beenden sollte. Finanziell würde eine solche Maßnahme sie zwar einiges kosten, aber sie traute es sich zu, dies irgendwie zu bewältigen. Ein solcher Schritt bedeutete natürlich einen großen Einschnitt, auch hinsichtlich des künftigen Verhältnisses zu ihren Freundinnen. Freundinnen ist gut. Sind sie denn wirklich Freundinnen, oder resultiert meine Verärgerung nur aus meinem eigenen Fehltritt, dachte Sonja selbstkritisch. Doch zuvor wollte sie mit Tommy telefonieren, um sich mit ihm zu beraten. Die Schamesröte schoss ihr ins Gesicht, als sie erkannte, was ihre Absicht war:

Mich beim ihm ausheulen, dazu ist er gut. Und beschissen habe ich ihn auch noch. Einer läufigen Hündin gleich habe ich mich verhalten und herumgevögelt, total triebgesteuert, wohl auch völlig hemmungslos - wie es aussieht. Und kaum bin ich in Schwierigkeiten, mache ich in hilfloses schutzsuchendes Weibchen. Dabei habe ich ihn bereits klammheimlich verachtet, weil er mir so lethargisch herüberkommt und sich in seinem Selbstmitleid suhlt. Und was mache ich? Denke in den üblichen, klassischen Rollenzuweisungen nach dem Motto: Der Mann muss für das Einkommen sorgen, und die Frau führt den Haushalt oder sorgt fürs Geldausgeben mittels Shopping und so. Wie erbärmlich von mir…

 

Sie nahm sich vor, die momentanen Schwierigkeiten selbst zu bewältigen. Aber wenigstens wollte sie seine Stimme hören, nachdem ihr soviel widerfahren war. Sie wollte ein wenig Energie, Mut und Zuversicht tanken - bei ihrem Tommy, den sie eigentlich gar nicht verdiente. Ja, so schnell ändern sich Ansichten, liebe Sonja, sprach sie mehr mit sich selbst. Erst vor einigen Tagen hatte sie ihn angerufen.

Sie hatte ihn geweckt, damals. Aber von ihren zaghaften angedeuteten Rückreiseplänen wollte er nichts wissen. Er riet ihr, sich erstmal zu akklimatisieren und die Reise zu genießen, weil sich eine solche Chance nicht mehr so schnell ergeben würde. Aber sie, Sonja, möge sich vor den Frauenhelden Kangaroo-Jack und Crocodile-Dundee hüten. Doch das Telefonat hatte sie aufgebaut. Sie war danach wieder zuversichtlich und guten Mutes.

Aber der Hinweis mit den Frauenhelden, der ging ihr jetzt an die Substanz. Schon passiert, mein lieber Tommy, wenn du nur wüsstest, dachte sie im Stillen.

 

Am frühen Abend, noch kurz vor ihrem Spaziergang rief sie bei Tommy an. Doch der meldete sich nicht. Dann fiel ihr die Zeitverschiebung ein und dass es in Deutschland früh am morgen war, besser gesagt eigentlich mitten in der Nacht, zumindest für Tommy, der letzte Zeit gern mal länger schlief. Warum ist er bloß nicht zuhause, fragte sie sich, der wird doch wohl nicht bei einer anderen im Bett liegen. Aber nein, nicht mein Tommy, der ist und bleibt mir treu. Und schon wieder erwischte sie sich selbst auf frischer Tat, quasi in flagranti: wiederum diese verdammte irrationale Widersprüchlichkeit. War das weiblich oder nur anerzogen?, stöhnte sie innerlich auf. Ich selbst hatte hier meinen Spaß - auch wenn der meiner Kontrolle entglitten ist - und von Tommy erwarte ich eine geradezu mönchische Treue und bin beim geringsten Anlass sogar eifersüchtig, gerade ich. Es wird eine plausible Erklärung für seine Abwesenheit geben. Vielleicht besuchte er gerade seine Schwester…

Sonja konnte zu diesem Zeitpunkt nicht einmal im Entferntesten ahnen, wie plausibel der Grund für Tommys Abwesenheit in der Tat war, noch nicht.

 

Nun trat sie ihren Spaziergang an, um frische Luft zu schnappen. Das klärende Gespräch mit Andrea und Sandra wollte sie später am Abend, bei einigen Drinks führen. Sie hinterließ mehr routinemäßig Nachricht an der Rezeption. Es wurde ein ausgiebiger Spaziergang. So weit hatte sie sich noch nie vom Hotelressort entfernt. Sie befand sich gerade am Rande der Ortschaft, die an die Hotelanlage grenzte, als ihr ein Mann in einem hellen Tropenanzug auffiel. Völlig overdresst für diese ärmliche Gegend, fehlt nur noch ein Schlips, dachte sie. Er war blond, hochgewachsen und sah gut trainiert aus. Er hatte ein Fernglas in der Hand und wohl die Umgebung beobachtet. In seiner Nähe stand ein beiger amerikanischer Straßenkreuzer, dessen Marke sie nicht kannte. Auch darin saßen zwei Typen, ebenfalls in hellen Tropenanzügen, die sich bemühten, unauffällig zu erscheinen. Auffällig unauffällig, wie in einem Agentenfilm, dachte sie ironisch und ging am Fahrzeug vorbei, nicht ohne vorher spöttischen Blickes hineinzusehen. Einer der Fahrzeuginsassen war dunkelhaarig mit Schnurrbart, ein Latino, ebenfalls in Übergröße. Der andere war rothaarig, auch er im XXL-Format, ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt. Könnte eine gute Skulptur abgeben, dachte sie mit Kennermiene. Sie ging um eine Biegung, die von dichtem Buschwerk gesäumt war. Dann hörte sie, wie der Motor des Straßenkreuzers gestartet wurde und das Fahrzeug langsam an ihr vorbeifuhr. Sie sah nicht hin, um nicht angequatscht zu werden oder womöglich auf anzügliche Bemerkungen reagieren zu müssen. Das konnte sie jetzt gar nicht gebrauchen.

Sie wunderte sich noch, dass der Wagen auf ihrer Höhe anhielt und plötzlich eine Fahrzeugtür geöffnet wurde. Der Latino war schnell ausgestiegen und auf sie zugekommen. Dann spürte sie noch einen Einstich in den Oberarm, und danach nichts mehr.

 

*

 

Don berief am späten Vormittag die Reisegruppe ein, um letzte Absprachen zu treffen. Es waren nahezu alle erschienen. Er vermisste nur die hübsche blonde Deutsche mit dem tiefgründigen Blick ihrer grünen Augen, die ihm gestern so angenehm aufgefallen war. Sie fehlte aus unerfindlichen Gründen, obwohl es doch den Anschein gehabt hatte, als wenn sie bereits mit Feuer und Flamme auf den Beginn der Reise wartete. Aber er musste zugeben, dass er sie nicht nur aus professionellen Gründen vermisste. Er hatte da so eine kleine Sehnsucht nach ihrer Nähe, das musste er sich wohl eingestehen. Nach Ende der Besprechung fragt er ihre Freundinnen nach ihrem Verbleib. Er war verpflichtet, die Gruppe zusammenzuhalten und für Sicherheit zu sorgen. Und außerdem bot sich jetzt eine Gelegenheit, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Vielleicht hatte sie auch gute Gründe für ihr Fortbleiben. Eine der Freundinnen, Andrea, begab sich zum Zimmer von Sonja Glaser, wie die Frau hieß, um nach ihr zu schauen. Nach kurzer Zeit kam sie zurück und schien unruhig.

Sie war nicht dort, das ist ungewöhnlich“, sagte sie. Die andere Freundin, Sandra, begab sich nun ebenfalls auf die Suche und wollte das Hotelressort durchsuchen. Don blieb noch ein wenig im Foyer des Hauses, um das Ergebnis der Suchaktion abzuwarten. Doch auch Sandra kam ergebnislos und ratlos zurück. Für Don war dies jetzt Anlass genug, sich zur Rezeption zu begeben. Vielleicht wusste man dort mehr. Es wurde ein Teilerfolg. Sandra hatte beim diensthabenden Rezeptions-Mitarbeiter die Information hinterlassen, dass sie ein wenig außerhalb der Anlage herumspazieren wolle. Allerdings war das jetzt fast zwei Stunden her. Nun war auch Don alarmiert. Immerhin befanden sie sich am Rande des Outbacks. Hier lebten nicht nur die niedlichen Koalas, die harmloseren Kängurus oder wilden Kamele, sondern auch Dingos, Giftschlangen und Skorpione. Er brauchte nur an jenen berüchtigten, hochgiftigen „Black Rock“-Skorpion zu denken, dessen Stich je nach körperlicher Verfassung des Opfers tödlich sein konnte. Und diese possierlichen rot-schwarzen Zeitgenossen lebten in dieser Gegend. Es wäre auch nicht der erste Unfall mit einem Touristen. Selbst eine Ohnmacht konnte bei den kalten Nächten hier im Outback ernste Folgen zeitigen. Er setzte sich in seinen Dienstjeep und beschloss, die Gegend um die Hotelanlage abzusuchen. In der näheren Umgebung gab es nichts Auffälliges zu vermelden. Und so beschloss er, seinen Suchradius zu erweitern. Sie schien spurlos verschwunden zu sein. Es blieb Don nichts anderes übrig, als bis zur nächsten Ortschaft zu fahren. Möglicherweise ist dorthin gegangen. Auf dem Weg ging es um eine Biegung, die von dichtem Buschwerk gesäumt war. Mehr zufällig blickte er auf eine freie Stelle abseits des Weges und sah, dass dort ein Fahrzeug mit sehr viel Power angefahren sein muss. Er setzte zurück und besah sich den Platz ein wenig gründlicher. Was sofort auffiel war, dass neben den tiefen Spurrillen einige Zweige frische Knickspuren aufwiesen. Er ging näher heran und stellte mit Entsetzen fest, dass am Boden eine leere Einmalspritze lag. Nun war Don vollends alarmiert und begann sich Sorgen zu machen. Das hier ist doch wohl keine Scheiß-Entführung, oder?, fragte er sich kopfschüttelnd. Er fuhr weiter bis zur Ortschaft und hielt an der ersten kleinen Tankstelle mit Raststättenanschluss, deren Besitzer Jack er recht gut kannte, weil seine Touren stets in dieser Hotelanlage begannen und er selbst ab und zu im Ort war.

Ja, bestätigte Jack, auf dem Weg zur Ortschaft habe er eine blonde Touristin herankommen sehen. Aber in der Biegung sei sie aus seinem Blickfeld geraten, und kurze Zeit später sei ein beiger Chevrolet mit recht hoher Geschwindigkeit an der Raststätte vorbeigefahren. Ja, dieselbe Frau habe sich dann auch darin befunden. Er habe gedacht, dass sich die drei Typen mit ihr verabredet und etwas vorhätten. Ab und dann suchten Touristinnen ja auch ein Abenteuer in Down Under. Auf nähere Nachfrage konnte Don Jack noch entlocken, dass es sich bei den Typen vermutlich um Amis gehandelt haben muss. Die hätten schon einige Zeit in der Gegend herumgelungert und nichts verzehrt bei ihm. Einer von denen habe mit einem Fernglas hantiert und vielleicht nach Kangaroos gesucht. Aber jetzt käme ihm das Ganze auch seltsam vor, meinte Jack.

 

Zum näheren Verständnis sei aber erklärt, dass das Misstrauen Dons einen realen Hintergrund hatte. Er war bis vor einigen Jahren Mitglied einer australischen Spezialtruppe, die unter anderem verschiedene Einsätze in Afghanistan absolviert hat. Er dachte nur ungern an diese Zeit zurück, war sie doch mit zu vielen unangenehmen blutigen Erfahrungen besetzt. Als Kind einer Deutschen und eines Hong Kong-Chinesen, die sich einst Hamburg kennen- und lieben gelernt haben, waren seine Eltern mit ihm im Alter von elf Jahren nach Australien ausgewandert. Trotz seiner Ingenieurausbildung gelang es seinem Vater nicht, in Deutschland beruflich Fuß zu fassen. Und die Mutter hatte Probleme wegen des dortigen latenten Rassismus in ihrem sozialen Umfeld. Und das im internationalen Hamburg der Seefahrer und Pfeffersäcke. So folgte sie ihrem Ehemann nach Australien. Don hatte allerdings hauptsächlich positive Erfahrungen aus dem Deutschland seiner Kindheit mitgenommen und ab und zu Heimweh.

Gleichwohl ging er nach dem Ende seiner schulischen Ausbildung und einem begonnen Studium der Biochemie zur australischen Army. Schon bald fiel er dort wegen seiner überdurchschnittlichen sportlichen Leistungen und schnellen Auffassungsgabe auf. Es dauerte nicht lange, dann führte der Kompaniechef ein langes Gespräch mit ihm. Kurz darauf wurde er abkommandiert - es folgte eine Spezialausbildung auf einer abgelegenen, geheimen Militärakademie, deren Standort auf keiner Karte verzeichnet war. Selbst er würde sich außerstande sehen, die Koordinaten dieser Location zu benennen, auch unter der Folter nicht, weil er sie einfach nicht kannte. Dort wurde ihm das allerletzte abverlangt. Am Ende war er nicht mehr derselbe. Die Endstation für ihn und die anderen Absolventen war Afghanistan und ein überaus schmutziger Krieg im Geheimen. Die Gegner waren jedoch nicht besser. Man schenkte sich nichts. Allein die Tatsache, dass sie technologisch besser ausgerüstet waren als die Taliban oder Leute von Al- Kaida, konnte deren Fanatismus und Todessehnsucht wettmachen. Dass er überlebte, war nicht zuletzt seinen Nahkampffähigkeiten, seiner überaus guten Reaktionsfähigkeit und Kompromisslosigkeit bei der Ausführung seiner Aufträge zu verdanken. Nicht dass er sich mit Leib und Seele dem Töten verschrieben hätte. Aber der Talibanterror an der Bevölkerung dieses Landes belehrte ihn eines Besseren: abgeschnittene Nasen und Ohren, durch Säure zerstörte Frauengesichter, permanente Vergewaltigungsorgien an unschuldigen Dorfbewohnerinnen mit meist tödlichem Ausgang, die gern den Besatzern in die Schuhe geschoben wurden, Geiselnahme von Kindern, Selbstmordattentate, für die Kinder benutzt wurden - alles im Namen Allahs…

Insoweit schöpfte er sofort Verdacht, als er die leere Spritze gefunden hatte. Er kannte das Modell. Es wurde eigentlich gern von der CIA genutzt. Was aber hatte die Deutsche mit der CIA zu schaffen. Warum hatte man ihr aufgelauert?

How ever, dachte er, sie gehört zu meiner Gruppe, ich bin für sie verantwortlich. Also suche ich sie erst einmal!
Doch ihm war klar, dass ihn nicht nur die allgemeine Verantwortung für eine Touristin antrieb. Hätte er es sich leicht gemacht, wäre der formelle Weg der sicherste: Polizei verständigen und abwarten. Aber im Falle der blonden Deutschen war es wohl mehr. Es war der reine Beschützerinstinkt, der sich in ihm die Bahn brach. Don wollte sie beschützen und vor Gefahr bewahren, gerade sie… - in die er sich ein wenig verliebt hatte. So schnell geht das also mit der Liebe auf den ersten Blick, mein lieber Don, dachte er ein wenig melancholisch.
Er machte sich also schleunigst auf den Weg und folgte der Straße, die aus der Ortschaft führte, mit Vollgas. Es ging durch das Outback. Nichts außer Steppe und Wüstenei würden in den nächsten Stunden die Landschaft dominieren. Bis auf seine Pistole, eine halbautomatische Browning 9 mm, und ein Nahkampfmesser hatte er nichts im Jeep. Na ja, ein Sixpack Dosenbier und ein Gebinde Wasser sowie eine halb gefüllte Flasche Cognac für den Notfall befanden sich ebenfalls im Wagen.

Und weil Don ein Jäger war, jagte er seine Beute mit untrüglichem Instinkt. Das wussten die CIA-Agenten aber nicht. Ganz im Vollgefühl ihres scheinbaren Entführungserfolges fühlten sie sich völlig sicher. Der Auftrag aus Langley war eindeutig. Dass aber bereits eine heimliche Hatz begonnen hatte, bei der sie die Beute waren, konnten sie nicht ahnen.

 

*

 

Nur langsam klärten sich die Nebel vor Sonjas Augen. Sie wurde plötzlich wach und fand sich in Begleitung der Anzugträger-Typen wieder. Sie unterhielten sich in Englisch mit amerikanischem Akzent. Der Straßenkreuzer bewegte sich mit vorgeschriebener Geschwindigkeit gemächlich über den Weg in Richtung der Bundesstraße, wohl um zur nächsten Großstadt zu gelangen. Angefasst worden war sie nicht, das stellte sie als erstes fest. Hätte mir auch noch gefehlt nach dieser turbulenten Nacht, dachte sie, noch immer verwirrt von der Situation, in der sie sich nun befand. Es geht anscheinend nicht um eine Vergewaltigung oder Ähnliches, konstatierte sie. Doch was wollten die Männer dann von ihr? Nach einiger Zeit fragte sie in Englisch nach, was denn los sei. Der Blonde, der mit dem Fernglas, antworte ihr in akzentfreiem Deutsch: „Da kannst du dich bei deinem Typen bedanken. Der macht uns große Schwierigkeiten. Wir haben dich mal, äh…, zur Sicherheit eingepackt. Vielleicht lässt er mit sich reden, wenn du ihn darum bittest, sich zu stellen.“ „Was hat Tommy denn getan“, fragte sie noch verwirrter als vorher. „Eigentlich geht dich das nichts an, Baby, aber er mischt sich in Sachen ein, die nicht in seine Liga gehören, auch wenn er ein harter Knochen ist.“

Sonja verstand rein gar nichts mehr und konnte sich auf das alles keinen Reim machen. Weitere Fragen wurden einfach nicht mehr beantwortet. Man ignorierte sie. Und als sie wohl einmal zu oft nachfragte, verpasste ihr der Latino auf ein Zeichen des Blondkopfs eine derartig schallende Ohrfeige, dass ihr fast die Trommelfelle platzten. Nasenbluten setzte ebenfalls ein. Danach schwieg sie. Der rothaarige Typ fuhr derweil in aller Seelenruhe weiter und machte den unbeteiligten Driver.

 

Nach ungefähr einer Stunde stellte sich ein menschliches Rühren bei ihr ein, und sie bat darum, kurz anzuhalten, weil sie es nicht mehr aushielt. Ihre Blase war zum Bersten gefüllt. Nachdem man sie einige Zeit ignoriert hatte, willigte der Blondkopf schließlich ein, dass sie abseits des Weges anhielten. Er folgte ihr und bemerkte machtbewusst: „Hast Glück gehabt, ich muss auch gerade pissen, Baby.“ Es war bereits später Nachmittag. Sie gingen auf ein nahegelegenes Kakteenfeld und einige Felsbrocken zu. Es war wohl unvermeidlich, dass er ihr unter dem Deckmantel der Beaufsichtigung zusehen wollte bei ihrem Geschäft. Zähneknirschend ergab sie sich in ihr Schicksal, lüftete ihre Unterhose und ließ ihrem Urin seinen freien Lauf, danach kam es wie kommen musste: Auch der Enddarm forderte sein Recht ein. Mit puterrotem Kopf machte sie weiter, was der Blondschopf grinsend zur Kenntnis nahm. Er warf ihr nach dem Ende ihres Geschäfts lässig ein gebrauchtes Tempotaschentuch zu. Sonja blieb nichts anderes übrig, als es zu benutzen. Erst jetzt holte er demonstrativ seinen riesigen halberigierten Penis hervor und begann mit hartem Strahl zu pinkeln.

Bleib schön stehen, meine Kleine, damit ich dich genau sehen kann, sonst haust du mir noch ab, und wenn du brav bist, tue ich dir vielleicht noch einen großen Gefallen“, sprach‘s, kniff ihr ein Auge zu und stieß ein meckerndes Lachen aus. Natürlich wollte er nur, dass ich seinen Schwanz betrachte, um mich damit zu beglücken, konstatierte sie. Wenn der wüsste, wie genug ich vorläufig davon habe, er hätte keinen Spaß dabei, dachte sie resigniert, bereitete sich aber mental auf einen sexuellen Übergriff vor. Der Typ machte jedenfalls auf sie den Eindruck, als wenn er genau diese Absicht hätte. Die Furcht davor hielt sie im eisernen Griff.

Aber es gab wohl so etwas wie eine Ironie des Schicksals. Der Blondschopf muss wohl mit seinem harten Strahl aus dem bereits voll erigierten Penis ein wenig zu weit gepinkelt und die Fluchtdistanz einer vorher nicht sichtbaren Schlange unterschritten haben. Das Reptil nahm die feuchte Störung zum Anlass, laut aufzuzischen, bäumte sich auf und schlug in seine Richtung. Der Blondschopf, seine Hände noch am Schwanz, zuckte instinktiv zurück und verlor dabei die Balance, stolperte rückwärts über einen Stein und knallte mit dem Hinterkopf auf einen Felsbrocken. Dabei besudelte er sich mit seinem Urin. Er blieb bewusstlos liegen, während die Schlange sofort die Flucht ergriff.

Jeder Mensch geht mit seinen Ängsten unterschiedlich um. Der eine setzt Aggressionen frei und greift an. Andere wiederum versuchen, sich die vermeintlich stärkere Partei gewogen zu machen. Und dann gibt es Menschen, die die Flucht ergreifen, ohne lange nachzudenken.
Sonja war zunächst fassungslos und wollte im ersten Impuls Hilfe holen. Aber sie befanden sich im Sichtschutz einiger Büsche und Kakteen. Die Kollegen des Typs würden ohnehin glauben, dass er sie inzwischen vögelt und so schnell nicht stören. Und so folgte Sonja einer anderen Regung: Sie folgte ihrem Fluchtinstinkt und rannte los. Die Angst bestimmte ihre nächsten Handlungen.
Doch sie überlegte nicht die Konsequenzen eines solchen Vorgehens: Mitten im Outback, und auch noch zur Abendstunde, loszulaufen konnte nicht gut ausgehen. Reine Panik diktierte ihre Handlungen. So gut es ging, versuchte sie in Deckung zu bleiben und entfernte sich vom Ort des Geschehens, grob in Richtung zur letzten Ortschaft.

Nach ungefähr zehn Minuten hörte sie laute Rufe: „Sonja, bleiben sie stehen und ergeben sie sich. Ihre Flucht ist völlig sinnlos. Wir müssen sie sonst töten!“ Es war der Blondschopf. Ist wohl wieder aufgewacht. Das könnte euch so passen, fangt mich doch, ihr Idioten, dachte sie. Sie war eine geübte Joggerin und behielt ihren Laufrhythmus bei.

Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass die Typen ernst machen würden. Nach einiger Zeit hörte sie Laufschritte und stellte fest, dass sie verfolgt wurde. Plötzlich gab es einen Knall, und der Kaktus knapp neben ihr explodierte. Sie schrak zusammen und erhöhte ihr Tempo, versuchte im Zick-Zack zu laufen. Doch es nützte nichts. Ein weiterer unschuldiger Kaktus, nur noch einige Zentimeter neben ihr, fiel in sich zusammen. Was sie nicht ahnte, war, dass der Schütze nur seine Waffe einschoss, und dass der nächste Schuss dank des Zielfernrohrs sitzen würde. Und so kam es auch. Sonja hörte einen weiteren Knall und spürte plötzlich einen glühendheißen Schmerz an ihren linken Oberarm. Sie krachte hart auf den Boden. Dennoch hatte sie Glück. Denn die Tatsache, dass sie noch lebte, bestand darin, dass der Schütze bewusst ihren Oberarm und nicht ihren Kopf oder die Region um ihr Herz herum ausgewählt hatte. Sie schrie auf vor Pein und brach zusammen. Der Schock brachte ihren Kreislauf soweit herunter, dass sie bewusstlos wurde. Um das Einschussloch bildete sich eine kleine Wasserlache.bDie Erklärung denkbar einfach. Der Schütze hatte Projektile aus Eis benutzt, ein High-Tech-Produkt, entwickelt für Spezialaufgaben der CIA. Niemand würde jemals ein Projektil finden, selbst wenn er gezielt danach suchte.

 

*

 

Nach langer Vollgasfahrt vermochte Don in der Ferne die Staubwolke eines Chevi zu sehen. Er gab noch mehr Gas und näherte sich ihm auf etwa eine Meile. Danach fuhr er vorsichtig hinterher. Und das war gut so, denn der Straßenkreuzer bog hinter einer Kurve auf eine Seitenfläche ab. Vielleicht zu einer Pinkelpause, dachte er und stieg ebenfalls aus. Eine gute Idee, soviel Zeit muss sein, bemerkte er in Gedanken und pinkelte ebenfalls genüsslich einen Kaktus an. Seine Waffen hatte er mitgenommen. Vielleicht ist das alles ja eine ganz harmlose Sache, beruhigte er sich selbst. Als er in der Nähe war, schlich er sich leise an und vermied es, die Sichtachse zu einem der Rückspiegel zu durchkreuzen. Die letzten Meter robbte er sich an das Fahrzeug heran. Gerade wollte er sich aufrichten, als er dieser Entscheidung enthoben wurde. Die Tür ging auf. Ein Anzugträger, ein rothaariger stämmiger und holzschnittartiger Typ rief in englisch-amerikanischem Akzent in Richtung der Kakteengruppe: „Komm mal langsam zum Ende, Morton, zieh´ deinen Schwanz heraus, so toll ist die Kleine nun auch nicht. Und wir sollen sie auch heile in der Zentrale abliefern.“ Als keine Antwort kam, wandte er sich an seinen Kollegen im Fahrzeugfond.

Hör mal Christo, da stimmt was nicht. So lange dauert kein Fick. Lass uns mal nachsehen. Äh…, nimm deine Knarre mit, du weißt schon die eisgekühlte.“ Beide gingen sie los, während Don zunächst liegen blieb. Er hörte einige Wortfetzen, die jemand laut in deutscher Sprache rief: Frau Glaser möge stehenbleiben und dass ihre Flucht sinnlos sei… - ansonsten müssen man sie töten. Dann liefen die Typen los, wohl um die Deutsche zu verfolgen. Sie muss ihnen entwischt sein. Da scheint sich ein heißer Tanz anzubahnen, dachte er und lief in sicherer Entfernung, jede Deckung nutzend, hinterher. Doch als er zwei Schüsse, kurz hintereinander hörte, wusste Don, dass wohl größte Gefahr für seine Schutzbefohlene bestand. Es fiel ein dritter Schuss, dem ein lauter weiblicher Aufschrei folgte. Don schlich sich heran und sah die beiden Kerle und einen riesigen Blondschopf, der am Hinterkopf blutete und leicht ramponiert wirkte.

Na, hat sie dir eine verpasst, die Schöne aus Old Germany?“, spöttelte der Latino und begann, sein Gewehr zusammenzuklappen. Am Boden lagen ganz besondere Patronenhülsen, und zwar mit verstärkter spezieller Isolationshülle. Don gefror förmlich das Blut in den Adern. Er kannte die Munition aus eigener Kenntnis: Es waren Hüllen für Projektile aus schockgefrorenem Eis, die der Latino verschossen hatte. Niemand würde je feststellen können, wodurch das Opfer wirklich gestorben war. Keine Spuren, bis auf ein wenig Wasser, das bald verdunstet, dachte Don. Er wusste, dass es auch Wüstengewehre gab, welche Projektile verschossen, die zuvor aus Sand zu Glaskugeln umgeschmolzen worden sind. Das hier waren scheißgefährliche Profis, wahrscheinlich CIA-Agenten. Und das auch noch im Verhältnis 1:3, gar nicht so günstig für mich, konstatierte er. Er müsste versuchen, sie hintereinander auf die Schnelle auszuschalten, um nicht alle Drei zugleich gegen sich zu haben. Im Normalfall kein Problem, aber bei Profis… Er nahm sein Messer zwischen die Zähne, um die Hände frei zu haben oder um es zu werfen. Dann griff er nach seiner Schusswaffe. Aber die Burschen hatten scharfe Ohren und entdeckten ihn. Es war der Latino, der aufschrie, seine Waffe fallen ließ und Don sofort mit einem Messer, ähnlich dem seinen, angriff. Es folgte ein Kampf, der nur Sekundenbruchteile dauerte. Der Latino hatte sich auf einen Messerkampf in seiner Spezialdisziplin eingestellt. Den Gefallen tat Don ihm aber nicht. Der Bursche sank mit verdrehten Augen röchelnd zu Boden, Dons Messer tief in der Kehle. Don hatte augenblicklich reagiert, es gedankenschnell geworfen und sofort getroffen.

Auch die anderen Burschen waren aufmerksam geworden. Der rothaarige Hüne griff ihn ebenfalls an und machte ebenfalls den Fehler, sich auf einen Zweikampf einzulassen. Dieser dauerte immerhin fast eine Minute. Don beendete ihn mit einer Serie von Kettenfauststößen in den Unterleib ein. Der Kerl stöhnte auf und ging zu Boden. Allerdings vertrug er mehr als Don erwartet hatte. Es gelang dem Rotschopf, sich wegzudrehen und auf die Beine zu kommen. Er musste über Erfahrungen im Boxsport verfügen, denn er nahm sofort die typische Haltung ein und griff an. Aufgrund seiner Körpergröße verfügte er über eine recht große Reichweite und konnte einige schmerzhafte Körpertreffer bei Don landen. Der ließ hin herankommen und wurde von seinem Gegner umklammert und an dessen Körper herangezogen. Don wusste, was nun kommen musste. Als er nahe genug heran war, sprang er kraftvoll hoch und wollte einen diagonalen, brutalen Kopfstoß in den Nasenbereich des rothaarigen Hünen platzieren. Doch der Kerl war einfach zu groß, zuckte auch noch instinktiv zurück, und der Stoß traf nur dessen Kinn und Unterlippe. Die erhoffte große Wirkung blieb also aus. Stattdessen fing sich Don eine üble Kopfnuss ein und ging zu Boden, rollte sich instinktiv zur Seite und entging nur knapp einem heftigen Fußtritt. Don sprang auf und steppte zwei Schritte zurück, wehrte einen Tritt in seine Körpermitte ab und trat mit seinem Fußspann dem Hünen über dessen Deckung hinweg ins Gesicht. Der torkelte zwei, drei Schritte zurück und griff wieder an. Mit einem geraden Fauststoß zielte er auf Don's Kinn. Blitzschnell wehrte dieser den Stoß mit dem Unterarm ab und umklammerte den Angreifer an der Ellenbeuge. Mit einem kräftigen und schnell ausgeführten Schlag mit der rechten Handwurzel traf Don die Nase seines Gegners. Der brach tödlich getroffen zusammen, denn Don hatte mit diesem Schlag das Nasenbein des rothaarigen Hünen tief in dessen Hirn gedrückt. Ja, schmutzig, unfair, aber wirkungsvoll. Um nichts anderes ging es bei solchen Kämpfen.
Mit ihren leichtsinnigen Angriffen haben die Amerikaner ihr eigenes Todesurteil gesprochen. Und Pech, dass sie ausgerechnet auf einen ihnen ebenbürtigen Profi gestoßen waren.
Danach hatte Don sofort seine Schusswaffe gezogen und entsichert, der Blondschopf, gewarnt durch den Ausgang der beiden Kämpfe, aber auch.
Also ein Patt, dachte Don. Was folgte, war reine Psychologie. Sie standen voreinander mit ihren Waffen und warteten auf ihre Chance. Beiden war klar, dass sie tödliche Killer waren, eben Profis.

Was soll das Aussie, wir sind doch Verbündete? Misch dich hier lieber nicht ein. Wir kriegen sie und dich früher oder später sowieso. Das weißt du genau“, blaffte Morton ihn an.

Vielleicht ja, vielleicht nein, Kumpel. Und nicht, wenn du wieder mit so einer lausigen Anfängertruppe aufkreuzt“, antwortete er ihm mit einem Blick auf seine toten Kumpane. Hasserfüllt blickte ihn der CIA-Killer an und presste zornig hervor: „Die Firma vergisst nie, Aussie, dafür sorge ich persönlich.“ Don blieb ihm nichts schuldig.

Aber nicht, wenn ich dich vorher kaltmache, Yankee“, entgegnete er kalt lächelnd und richtete seine Waffe auf seine Herzregion. „Und was wollt ihr überhaupt von, äh… Sonja?“ Oh, mir fällt nicht einmal Ihr Nachname ein, dachte er bei dieser Gelegenheit.

Darf ich dir nicht sagen, Arschloch. Aber sie stört und hat einen Freund, der uns Ärger macht. Und eigentlich wollten wir sie nur wegsperren. Was macht die dumme Gans, will einfach abhauen.“
Don höhnte: „Ts-ts, die Frauen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren: lassen sich nicht mal mehr kurz vergewaltigen. Für euch also ein guter Grund, auf sie zu schießen und sie anschließend kaltzumachen, oder? Und was wäre nach der Verhaftung gekommen? Lass mich raten, bestimmt ein fairer Prozess, nicht wahr? Neuerdings können Kühe auch fliegen. Wem willst du denn das alles weißmachen? Und du nennst mich Arschloch, Gringo? Kannst nicht einmal richtig pissen, wenn ich mir deine nasse Hose ansehe“, stichelte er weiter, um ihn aus der Reserve zu locken. Der Blonde lief rot an und war einen Moment lang irritiert.

Es war einen Versuch wert, dachte Don und täuschte einen unauffälligen Seitenblick an, dem der Blondschopf instinktiv folgte. Zeit genug für Don, seinen Schuss zu platzieren und das Todesurteil an dem mutmaßlichen CIA-Agenten zu vollstrecken, um sich dabei zugleich zur Seite zu werfen.

Der Blonde sank tödlich getroffen zusammen. Aber es gelang auch ihm noch, ebenfalls zu schießen, doch nicht mehr so genau. Die Kugel traf Don am rechten Oberarm und warf ihn ob ihrer Vehemenz zu Boden. Es wurde dunkel um ihn...

 

Nachdem Don aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte, musste er sich erst einmal orientieren. Er stand taumelnd auf. Mehr in Gedanken, steckte er die drei am Boden liegenden Eis-Patronenhülsen ein. Er begab sich nun auf die Suche nach seiner Schutzbefohlenen. Das war gar nicht einfach, denn inzwischen war die Dunkelheit angebrochen. Es gelang ihm nicht mehr, sie zu finden, obwohl er noch lange Zeit nach ihr suchte. Aber ohne Mond im diffusen Licht der Sterne hatte er keine wirkliche Chance. Auf seine Rufe, auch in deutscher Sprache, reagierte sie nicht. Entweder war sie verletzt oder völlig verängstigt, dachte er. Es machte keinen Sinn. Er wollte bis zum Morgengrauen abwarten, um sie dann weiter zu suchen. Deshalb nahm er eine Meditationsstellung ein und programmierte seine innere Uhr auf ein Erwachen in etwa fünf Stunden. Dann müsste es hell genug sein, sie aufzufinden.

Genau so kam es auch. Nach etwa 500 Metern fand er sie im ersten Tageslicht. Sie war noch bewusstlos. Wie schön sie ist, und wie sehr sie mir gefällt, dachte er in einem Anflug von Melancholie als er sie betrachtete.

Vorsichtig weckte er sie. Sie schrak auf und wollte voller Panik aufspringen, um die Flucht zu ergreifen, vermutete sie doch wieder einen ihrer Häscher. Beruhigend sprach er in deutscher Sprache auf sie ein. In der Aufregung war er bei der Anrede ohne es zu merken vom Sie ins vertrauliche Du gewechselt. Langsam stellte sich Erkennen in ihren Gesichtszügen ein. Sie begann zu schluchzen. Don ließ sie erst einmal gewähren. Danach berichtete sie stockend von den Ereignissen mit ihren Entführern und auch dass es wohl um Thomas, ihren Partner in Deutschland ging. Oh, doch kein Ehemann, dachte Don in einem Anflug von Egoismus. Sie hatte wohl stundenlang auf ihrem verletzten Arm gelegen, der infolgedessen völlig verdreckt und fast taub war. Durch Massage und vorsichtige Streckung war diese Störung aber bald beseitigt. Er stellte fest, dass sie nur einen tiefen Streifschuss abbekommen hatte, der bereits verharscht war. Aber ärztlich behandelt werden musste er dennoch, recht bald.
Sie brauchten jetzt eine Verschnaufpause. Sonja erzählte auch ein wenig von sich, ihrem Aufenthalt im Hotel, von ihren Freundinnen und Tommy. Sie war nun mal in Fahrt, und so erleichterte sie ihr Herz, indem sie Don im Verlaufe der nächsten Stunde ebenfalls von ihrer komplizierten Beziehung mit Tommy berichtete…
Und erst jetzt stellte Sonja fest, dass ihr Retter ebenfalls verletzt war. Sie stellte Fragen. Er musste ihr alles über ihre Befreiung und darüber berichten, wie es zu seiner Verwundung gekommen war, ganz genau. Schließlich erkannte sie, dass sie die Entführung ohne Don, wohl kaum überlebt hätte. Sie bedankte sich unter Tränen und nahm ihn dabei zärtlich in die Arme. Sie muss wohl zu fest gedrückt haben, denn Don verzog schmerzhaft sein Gesicht. Das tat ihr so leid, dass sie ihn spontan streichelte, während sie sich zugleich entschuldigte.
Vielleicht hat Don diese Geste auch nur allzu gern missverstanden und umarmte sie nun seinerseits, was sie zunächst aus Dankbarkeit auch zuließ. Denn sympathisch, nun ja, eigentlich mehr als das…, war er ihr ohnehin. Doch seine Nähe, seine Wärme, ihre Dankbarkeit und die Ausläufer des ganzen fürchterlichen Stress´ trafen auf keinen Widerstand bei ihr. Sie konnte sich seinem Zauber nicht mehr entziehen. Die aufgebauten Spannungen und die gerade überstandene Lebensgefahr suchten und fanden ein nur allzu menschliches Ventil. Die zunächst zaghaften Zärtlichkeiten und weichen Küsse Dons weckten wieder etwas von ihrer Weiblichkeit in ihr. Und dann flackerte ein spontanes sexuelles Begehren in ihr auf. Sie registrierte, wie sich eine Hitzewelle in ihrem Unterleib ausbreitete, wie sie feucht und geil wurde. Ihr war klar: Nein, diesmal hat mir niemand etwas ins Glas getan. Ich koste tatsächlich von den verbotenen Früchten…, und ich will es so und nicht anders. Er ist mein Retter, und dafür liebe ich ihn - im Moment. Egal, was danach passiert. Aus der Situation heraus entwickelte sich eine intensive, einvernehmliche sexuelle Begegnung. Hastig entledigten sie sich ihrer störenden Kleidungsstücke… - und für beide wurde es eine erfüllende, schöne Erfahrung, getragen von Zärtlichkeit und Vorsicht. Ihre intimen Wunden der Spontanorgie spürte Sonja überhaupt nicht mehr.
Ein stärkeres Trauma hat sich also nicht ergeben, blitzte es kurz in ihr auf, als sie ihn auf dem Boden des Outbacks voller Leidenschaft einritt. In diesem Moment eruptierte sein Körper, der ihre zog sich zusammen - bis in den Mikrokosmos ihrer letzten Atome. Ihrer beiden Sinne versanken, und ekstatische Wellen trugen sie fort. Sie hörte sich und ihn schreien. Und sie wünschte sich, dass der Moment ewig andauern möge. Gemeinsam erreichten sie einen tiefen, explosionsartigen Höhepunkt.
Als sie zu sich kam, blickte sie in Dons verliebte Augen. Und ihr tat es nicht leid, mit ihm geschlafen zu haben. Weil auch sie es so gewollt hat, ganz ohne Zwang… Ihr anschließender Weinkrampf brachte weitere Erleichterung. Und eine bislang unbekannte Euphorie ließ sie die traumatischen Geschehnisse der letzten Stunden viel gelassener sehen. Außerdem war Don, ihr Beschützer und nun Liebhaber, bei ihr.
Alles wird gut, sagte sie sich. Es muss wohl stimmen, dass es in bedrohlichen Situationen selbst zwischen wildfremden Menschen zu spontanem Sex kommen kann, im Angesicht des Todes wie etwa in den Luftschutzbunkern des zweiten Weltkriegs. Ähnliches ist mir wohl gerade selbst passiert. Und ich bereue es nicht einmal, seltsam, dachte Sonja und fühlte sich unendlich befreit… Don schmiegte sich an sie, sog in vollen Zügen ihren Duft ein und sah sie wortlos an, mitten ins Herz getroffen von Amors Pfeilen…

 

Doch er war auch Pragmatiker. Es wurde Zeit, dass Sonja ärztlich behandelt wurde. Auch die Polizei musste her, um den Vorfall zu untersuchen, damit es nicht wie blanker Mord aussah. Gemeinsam richteten sie ihre Kleidung und schleppten sich zu Dons Fahrzeug, in dem sich auch sein Handy befand. Er verständigt das Polizeirevier der nächsten Ortschaft und schilderte die Umstände und bat auch um ärztliche Hilfe. Als nächstes verständigte er die Rezeption des Hotelressorts, damit Sonjas Freundinnen und die Hoteldirektion zur Ruhe kamen.
 

Nach etwa 1 Stunde traf ein größeres Polizeiaufgebot ein. Wenige Minuten später erkannte Don am Geräusch, dass sich auch ein Hubschrauber näherte - die Polizei hatte wohl ebenfalls die Sicherheitsbehörden des nächsten größeren Distrikts alarmiert.
Zunächst wurde Sonja verhört, während der Arzt Don medizinisch versorgte. Zum Glück war es bei ihm nur ein Durchschuss, der bald verheilt sein würde.
Doch danach wurde auch er intensiv zu den Vorgängen befragt, und zwar gleich von zwei Vertretern der australischen Sicherheitsbehörde. Als sie kurz allein waren, während die Polizei Spuren sicherte, offenbarte Don den Sicherheitsleuten seine frühere Stellung und den Namen seines Kommandeurs. Es gab ein kurzes Telefonat. Danach waren die Herren vom Sicherheitsdienst erheblich freundlicher. Don händigte einem von ihnen eine der sichergestellten Patronenhülsen aus. Der leitende Sicherheitsmann wurde blass. Auch ihm waren solche Projektil-Hülsen nicht unbekannt. Es gab ein weiteres Telefonat. Danach trafen bald zwei weitere Hubschrauber ein, einer davon mit Vertretern des nächstgelegenen US-Konsulats, der andere mit hochrangigen australischen Militärs besetzt. Selbstverständlich fehlten bei den getöteten CIA-Agenten Ausweise und jedwede Hinweise auf ihre Identität.
Die Gesprächsatmosphäre zwischen Australiern und amerikanischen Vertretern war denkbar frostig, trotz der mittlerweile heißen Temperaturen. Ein diplomatischer Eklat schien wohl unvermeidbar. Obwohl Bündnispartner, sah es auch Australien nicht gern, wenn fremde Geheimdienstleute unabgestimmt auf ihrem Territorium ihr Unwesen trieben und versuchten, in geheimen Operationen Staatsbürger oder Gäste zu liquidieren. Nach üblichem Schema bestritten die amerikanischen Vertreter natürlich, die toten CIA-Leute überhaupt zu kennen.

 

Die weitere Entwicklung konnte auch Don zwar nicht mehr beeinflussen. Aber er war clever genug gewesen, den Sicherheitsbehörden die Eis-Patronenhülse zu übergeben. Mit der Übergabe dieser Patronenhülse wollte er jedenfalls verhindern, dass die Angelegenheit unter den Teppich gekehrt wurde oder weitere Anschläge mit dem Ziel der Zeugenbeseitigung stattfanden. Ein richtiger Schachzug. Zumindest hatten nun auch die australischen Sicherheitskräfte Kenntnis von der Sache. Ohne weiteres würde es auch die CIA nicht mehr wagen, ein solches Attentat auf ihn oder Sonja zu verüben.

 

Nachdem Don und Sonja entlassen waren, fuhr er mit ihr zurück ins Hotelressort. Die Fahrt verlief ohne weitere Vorfälle, aber schweigend. Beide hingen ihren Gedanken nach.

Die Zeitplanung für die Rundreise war jetzt natürlich Makulatur. Der Start musste verschoben werden, bis sich für Don ein geeigneter Ersatz fand.

 

Sonjas Freundinnen jedoch waren wie ausgewechselt und rührend um sie bemüht, als sie von den Ereignissen im Outback erfuhren. Keine süffisanten Bemerkungen, Sticheleien oder Spott… Vielmehr ein schlechtes Gewissen bei Sandra und Andrea, die ja letztlich Auslöser von Sonjas kleinem Fluchtversuch waren.

Dir ist aber auch nichts erspart geblieben, Sonja. Das Ganze war im wahrsten Sinne des Wortes ein Abenteuerurlaub und keine Wellness-Reise für dich“, fasste Andrea die Ereignisse am Ende zusammen.

Und wir haben dir nicht einmal geglaubt, als du uns die Ursache für deinen Blackout nanntest. In der Rückschau fällt mir auch ein, dass du während der wilden Party vorgestern irgendwie verändert warst, als wärst du gar nicht du selbst: seltsam, mit stumpfem Blick, so ungewöhnlich animalisch - und ich schäme mich jetzt so sehr“, ergänzte Sandra und senkte den Blick. Aber Sonja mochte sich mit diesem unangenehmen Thema nicht mehr befassen.

Ist schon o.k. Erinnert mich bloß nicht mehr daran. Ein tieferer Schock hat sich Gott sei Dank nicht eingestellt, obwohl ich die physischen Folgen dieser Extrem-Orgie noch immer spüre. Doch lasst uns jetzt das Thema wechseln“, bat Sonja. Das wurde auch respektiert, und es kam zu einer sehr emotionalen, tränenreichen Versöhnung zwischen den drei Frauen.

 

Doch die Ereignisse überschlugen sich. Mittlerweile waren verschiedene Zeitschriften und Magazine aus der Heimat und den Staaten eingetrudelt. Auch Sonja kam am Zeitungskiosk des Hotels vorbei und wurde blass, als sie auf der Titelseite des SPIEGELS ein Foto ihres Tommys sah. Sie erwarb das Magazin und begab sich sofort auf ihr Zimmer, um den betreffenden Artikel zu lesen. Nun verstand sie wenigstens einen Teil der Ereignisse, die auch ihr widerfahren waren. Auch Don meldete sich telefonisch und verwies auf die Ausgabe der NEW YORK TIMES. CNN-TV hatte wohl auch schon berichtet. Da ist Tommy wohl ohne zu wollen in einen handfesten Skandal hineingeschlittert und hat ihn mit knapper Not überlebt, genau wie sie ihre Entführung. Aber er soll sich tapfer geschlagen haben. Während ich hier meinen Vergnügungen nachgegangen bin, meldete sich prompt ihr schlechtes Gewissen.

 

Tief im Inneren war sie dennoch völlig verunsichert. War es möglich, zwei Männer zu lieben. Bei Tommy war es eine mittlerweile gewachsene enge und symbiotische Liebesbeziehung. Aber wie passte Don da herein?
Unvermutet war ein neuer Mann in ihr Leben getreten und hat sie in ein Gefühlschaos gestürzt.

Konnte ein einziger Augenblick, diese so kurze Begegnung mit Don, alles plötzlich so in Frage stellen?, fragte sie sich.

Unverhofft kommt oft“, besagte ein altes Sprichwort. Und Don war wohl ein solch unverhofftes Zufallsereignis, das einem urplötzlich widerfährt und eine schwere Entscheidung abverlangt. Ihr wurde klar, dass es das klassische Dilemma zwischen Herz und Verstand war.

 

Nachmittags kam Don, um sie zu besuchen. Sie bat ihn auf ihr Zimmer und ließ zwei Gedecke zum Kaffeetrinken kommen. Sie saßen zunächst schweigend voreinander. Dann offenbarte sich Don.

Sonja, Darling, however, ich kann nicht anders und muss es dir sehr direkt sagen: Ich habe mich bis über beide Ohren in dich verliebt, bereits ab dem Zeitpunkt, als ich dich zum ersten Mal sah. Wie du empfindest, weiß ich nicht genau, aber ich möchte gern mein Leben mit dir teilen und mit dir zusammen sein“.
Sonja hatte es geahnt und versuchte, mit viel Gefühl zu reagieren, um ihn nicht zu verletzten. „Don, auch ich mag dich, sehr, sehr gern, ach, eigentlich mehr als das. Aber mein Herz gehört Tommy. Ihn liebe ich wirklich, ohne Vorbehalt, und das habe ich hier - auch Dank deiner Hilfe - endgültig erkannt. Unsere kurze intensive Liaison, lieber Don, war schön, wunderschön. Und gäbe es Tommy nicht, du hättest mich am Hals, glaube mir. Aber ich musste eine Entscheidung treffen.“

Sie nahm sein Gesicht zärtlich in ihre beiden Hände und küsste ihn noch zärtlicher auf den Mund. Don wirkte dennoch sehr niedergeschlagen. Wie konnte es auch anders sein, als er mit einem leicht melancholischen Unterton in der Stimme antwortete:

Nun, ich habe es befürchtet, Sonja, und muss deine Entscheidung wohl respektieren. Glücklich bin ich darüber aber wirklich nicht, Sonja. Ich weiß auch nicht, wie ich nun mit meinem Blues umgehen soll. Ich schätze, dass ich jetzt Angst haben werde vor der Einsamkeit - ohne dich und der Sehnsucht nach dir und deiner Liebe. Aber wenigstens kann ich in meinen Träumen bei dir sein, auch wenn es vielleicht kitschig anmutet. Aber Tommy muss ein ganz besonderer Mensch sein, trotz seiner Lebenskrise. Ich hoffe, dass er dich verdient. Und ein guter zweiter Platz in deinem Leben ist schon viel, mehr als ich zu hoffen wagte, Darling.“ Dann schwieg Don, denn die lange Ansprache in Liebesdingen hatte ihm seine ganze Energie abverlangt.
„Und, äh…, darf ich denn deine Adresse haben, falls ich mal wieder in Deutschland bin. Ich würde dich und Tommy dann in aller Freundschaft besuchen wollen“, fügte er dann fast schüchtern hinzu.
Gern ging Sonja auf seinen Wunsch ein und gab ihm die entsprechenden Informationen.

Aber auch Sonja war nicht ganz unberührt geblieben von Dons Reaktion. Mit feuchten Augen umarmte sie ihn zum Abschied noch einmal sehr zärtlich.
Doch sie hatte sich jetzt entschieden, ob richtig oder falsch, wusste sie nicht. Ob Kopf- oder echte Gefühlsentscheidung ebenso wenig. An dieser metaphorischen Weggabelung hatte sie instinktiv eine Richtung gewählt.
Hoffentlich die richtige, sagte sie sich bang, ganz im Bewusstsein, dass auf Erden immer ein Restrisiko blieb. Erst aufgrund der ganzen tiefgreifenden Geschehnisse hatte sie erkannt, wie wichtig ihr Tommy war. Hoffentlich wollte er sie noch, wenn er von Don erfuhr. Doch langsam baute sich in ihr eine Sehnsucht auf, die Sehnsucht nach Tommys Nestwärme und diesem Wohlfühlfaktor, den nur er ihr bieten konnte. Dieser Wunsch, sich zu ihm zu begeben, machte ihr endgültig deutlich, dass diese einmalige intensive Begegnung mit Don einer Ausnahmesituation geschuldet war. Nun war sie sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. An die Liaison mit Don würde sie zwar gern zurückdenken, aber ihre Liebe galt Tommy…
Und plötzlich musste sie an einen dieser schönen, melancholische Songs von Chris de Burgh denken.
Wie war noch der Titel? Ach ja, „The Head and the Heart“. Trifft genau auf meine Situation zu. Das Dilemma wird in diesem Lied jedenfalls zugunsten des Herzens gelöst, wenn sie sich recht erinnerte. Als wäre die Musik bestellt, klang der Refrain dieses Songs einige Male in ihr nach.

 

Sonja und Don nahmen ihren Kaffee und hielten sich schweigend die Hände, bis er aufstand, um zu gehen. So trennten sie sich. Der Moment des endgültigen Abschieds war gekommen. Sie umarmten sich noch einmal. Bevor er den Raum verließ, hatte er noch etwas mitzuteilen: „Sonja, die US-Botschaft ist an mich herangetreten. Sie wollen den Schaden finanziell wieder gutmachen - Schmerzensgeld und so. Die haben mir einen sechsstelligen Dollarbetrag als Entschädigung angeboten. Werde ich wohl annehmen. Sie werden sich auch an dich wenden. Ich schätze, dass sie auch dich entschädigen wollen, und ich rate dir: Nimm an! Besser für alle Beteiligten. Sonst sehen die noch womöglich eine Gefahr in dir, und man weiß ja nie bei solchen Organisationen. Du kennst das sicherlich - plötzlicher Unfall mit tödlichem Ausgang oder ähnlich. Also zögere nicht, bitte.“

Nach kurzer Überlegung nickte Sonja.

Ja, ich schätze, dass du recht hast, Don. So werde ich es machen. Aber vermutlich muss ich eine Verschwiegenheitsklausel unterzeichnen, oder?“ Don nickte, winkte ihr zu und ging, hoch aufgerichtet, ohne sich umzusehen...
So widersprüchlich es war, spontan wollte sie ihm hinterhereilen, um ihn zu umarmen und zu küssen, um seine Nähe noch einmal zu spüren. Gleichwohl sagte ihr etwas, dass diese Gefühlsaufwallung noch immer ihrer inneren Zerrissenheit zwischen ihm und Tommy geschuldet war: diesen Männern, denen große Teile ihres Herzens gehörten. Und stattdessen schluckte sie mühsam ihre Tränen herunter und zog sich in ihr Zimmer zurück, innerlich gebeugt wie eine gebrochene alte Frau, mit gespaltenem Herzen, voller Schmerz und Zorn auf sich selbst, um einen der traurigsten Nachmittage ihres Lebens anzutreten…

 

Und Don stürzte sich in eine Art Beschäftigungstherapie, um mit seinem Blues zurechtzukommen. Alles in ihm hatte danach gerufen, zurückzueilen - zu Sonja, um ihre Nähe noch einmal zu spüren, ihren Duft einzuatmen und um sie zu kämpfen. Stattdessen zwang er sich voller Disziplin, die Entscheidung ihres Herzens zu respektieren und keinen emotionalen Druck auszuüben. Er war klug genug, um zu erkennen, wie schwer sie sich mit ihrer Herzensentscheidung getan hat. Und überhaupt, ihm fiel eine Bemerkung seines Vaters ein, der sinngemäß eine chinesischen Weisheit zitiert hatte: „Enttäuschung ist das Ende der Täuschung“. Wie wahr, dachte Don, in meinem Falle aber eher das Ende der Selbsttäuschung… Wie konnte er allen Ernstes auch glauben, dass sich die Liebe einer Frau nach so kurzer Zeit ohne weiteres erringen ließ.

 

Für Don gab es nun viel zu tun. Er musste die restlichen Eis-Patronenhülsen so intelligent deponieren, dass die CIA oder das FBI nicht auf dumme Gedanken kamen, sicher ist sicher. Dennoch mussten und sollten diese Dienste ahnen, dass er trotz derer finanziellen Ausgleichszahlung noch etwas in Petto behalten hat, dass gegen sie verwendet werden könnte. Die CIA oder wer auch immer sollten nur nicht auf dumme Gedanken kommen. Zu diesem Zwecke wollte er noch einige diskrete Kontakte aktivieren…
Und dann wollte er schreiben. Zunächst eine E-Mail an diesen Übermenschen Tommy, dachte Don ein wenig neidvoll an seinen Liebes-Antipoden in Europa, damit der mal langsam sein Leben in die Hand nahm und nicht alles Sonja überließ…

 

Auch Sonja war während des Nachmittags zu einem Entschluss gekommen. Beim Abendessen bat sie ihre Freundinnen darum, die gemeinsame Reise vorzeitig abbrechen zu können. Sie wollte zu Tommy, der ihre Hilfe jetzt sehr nötig habe. Andrea und Sandra respektierten diesen Wunsch, denn auch sie waren durch ihre Ehemänner mittlerweile über die Vorgänge in der Heimat informiert worden. So musste Sonja keine langatmigen Erklärungen abgeben. Und so zogen sich die drei Frauen zu einer kleinen Abschiedszeremonie mit einigen Drinks zurück und brachten zugleich ihr freundschaftliches Verhältnis wieder in Ordnung.

Die Freundinnen ließen es sich nicht nehmen, am nächsten Morgen den vorzeitigen Rückflug für Sonja zu organisieren. Die Hotelrezeption bekam eine Menge zu tun, weil es schnell gehen musste. Alles First Class - natürlich - und übernahmen auch die üppigen Umbuchungsgebühren bei Qantas Airways, der australischen Fluggesellschaft. Ihrer so arg gebeutelten Freundin sollte es an nichts fehlen, erst recht nicht an ihrem Tommy, der wohl doch sehr in Not war. Schon für den kommenden Morgen wurde ein Domestic Fly zum nächsten internationalen Airport gebucht.

 

10

 

Eines Morgens in Yale…

 

Schon im dunklen Morgengrauen verließ Natalie ihre Wohnung in Yale. Sie verzichtete auf die Benutzung des eigenen Wagens. Gewarnt durch Stans Hinweise, nahm sie den Hinterausgang und gelangte zu Fuß durch eine Gartenanlage in einen nahegelegenen Park. Bis zum nächsten Taxistand war es nicht weit. Sie hatte Glück. Es lief gerade ein Cab ein. Der Fahrer wollte gerade mit seiner Frühstückspause beginnen. Aber die Aussicht auf eine lukrative Beförderung ließ ihn diese verschieben. Die Taxifahrt zum nächsten Ort war teuer, verdammt teuer, einschließlich des sehr, sehr großzügigen steuerfreien Trinkgelds, das einem Monatslohn entsprach und ihn den Fahrgast völlig vergessen machen sollte. Die Amnesie des Fahrers setzte unmittelbar nach Übergabe des Trinkgeldes ein. An eine Beförderung so früh am Morgen hätte er sich ansonsten bestimmt erinnert… oder?
Und bald befand sich Natalie am Ziel, lief einige Schritte zu Fuß und betrat ein Internetcafé. Es befanden sich kaum Benutzer im Raum. Das war gut. Sie wollte ungestört sein, denn es gab viel zu schreiben. Die E-Mail ging an einen Freund aus alten Zeiten, der sie an den Freund eines Freundes weiterleitete. Verschiedene Server weltweit liefen an und speicherten Daten, deren Brisanz der Sprengwirkung einer Bombe gleichkam… Und eine der E-Mails gelangte auf verschlungenen Wegen, sozusagen über Bande, nach 3 Tagen auf den Server von WikiLeaks und die zweite zur NEW YOK TIMES…

 

 

11

 

Auch Potsdam ist eine Reise wert

 

Bereits im dunklen Morgengrauen verließ Sylvia die gemeinsam angemietete Wohnung in einem Vorort Berlins. Sie verzichtete auf die Benutzung des eigenen Wagens. Gewarnt durch Rudis Hinweise, nahm sie den Hinterausgang und gelangte zu Fuß durch die Gartenanlage in einen nebenliegenden Park. Bis zum nächsten Taxistand war es nicht weit. Sie hatte Glück. Auch diesmal befand sich ein Taxi dort, dessen bärtiger langhaariger Fahrer gelangweilt sein Frühstück verzehrte. Aber um der attraktiven Beförderung willen, unterbrach er gern die Mahlzeit und fuhr los. Die Taxifahrt nach Potsdam war teuer, verdammt teuer, einschließlich des sehr, sehr großzügigen steuerfreien Trinkgelds, das nahezu einem Monatslohn entsprach und ihn den Fahrgast völlig vergessen machen sollte. Die Amnesie des Fahrers setzte unmittelbar nach Übergabe des Trinkgeldes ein. An eine Beförderung so früh am Morgen hätte er sich bestimmt erinnert, aber weil so etwas noch nie passiert sei…, nein, auf keinen Fall habe er sein Fahrzeug bewegt. Und eine Quittung läge sonst ja auch vor, oder ?
Aber Sylvia befand sich bald am Ziel, lief zur Sicherheit noch einige hundert Meter um den Block herum und betrat schließlich ein Internetcafé. Es befanden sich kaum Benutzer im Raum. Das war gut. Sie wollte ungestört sein, denn es gab viel zu schreiben. Die E-Mail ging an einen Freund aus alten Zeiten, der sie an den Freund eines Freundes beim Chaos-Computer-Club weiterleitete. Verschiedene Server weltweit liefen an und speicherten Daten, deren Brisanz der Sprengwirkung einer Bombe gleichkam… Und eine der E-Mails gelangte auf verschlungenen Wegen, sozusagen über Bande, nach 3 Tagen auf den Server von WikiLeaks und die zweite zum SPIEGEL…

 

12

 

Wie im Fernsehen…

 

Guten Abend, meine Damen und Herren,
willkommen zu den Spätnachrichten der Tagesthemen!

 

Kaum zu glauben, was sich auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschlands abgespielt haben soll: Was zunächst nach einer Gasexplosion in einem Wochenendhaus im Süden der Ruhrgebietsstadt Dortmund aussah, scheint sich zu einem Desaster für die Deutschen Sicherheitsbehörden auszuwachsen. In dem abgebrannten Gebäude soll angeblich die verbrannte Leiche des bundesweit gesuchten Mörders Thomas Becker gefunden worden sein. Nicht weit vom Unglücksort entfernt, fand man auch die Besitzer des Ferienhauses, das Ehepaar Martin und Veronica Fischer, tot in ihrem Wohnmobil. Beide starben vorgeblich durch einen Kopfschuss.

Brisant an dieser Angelegenheit ist aber die Tatsache, dass heute Abend im Internet eine anonyme Dokumentation veröffentlicht wurde, die nicht nur die Unschuld des angeblichen Täters nahelegt, sondern ebenfalls auf einen handfesten Skandal deutscher und US-Geheimdienstkreise hindeutet. Ähnliches ließ auch vorab die Spiegel-Redaktion verlautbaren und kündigte detaillierte Informationen in der kommenden Wochenausgabe an. Darüber hinaus veröffentlichte SPIEGEL-ONLINE Videoaufnahmen eines äußerst fragwürdigen Einsatzes deutscher Polizeibehörden in Kooperation mit Angehörigen eines US-Geheimdienstes. Als Absender der Datensendung hatte sich der beschuldigte Thomas Becker ausgegeben, und zwar nach seinem angeblichen Ableben. Vieles deutet auf illegale Pläne zur Überwachung von Bürgern mit Duldung Deutscher Sicherheitsbehörden hin. Die SPIEGEL-Redaktion gab überdies bekannt, dass es ihr ebenfalls gelungen war, die Videoaufnahmen über den fragwürdigen Polizeieinsatz an den Staatsschutz-Behörden vorbeizubringen. Diesen war wohl entgangen, dass diese während des Einsatzes bereits Online an die Redaktion gesendet worden waren. Auch der Internetdienst WikiLeaks veröffentlichte brisante Informationen, die ihm aus unbekannten Quellen zur Verfügung zugespielt worden sind. Es geht um die Machenschaften eines US-Geheimdienstes in Deutschland: Demnach sollte auch hierzulande eine Intensiv-Überwachung mit Wissen staatlicher Stellen erprobt werden. Auch bei WikiLeaks wurden ernsthafte Zweifel an der Schuld von Thomas Becker geäußert, dessen Vergehen fingiert worden seien, um sie ihm unterzuschieben.

In den USA ermittelt anscheinend das Justizministerium gegen die CIA- und FBI-Direktoren; sie wurden vom Dienst suspendiert. Vor dem US-Kongress in Washington soll es bereits zu einer kurzfristigen Anhörung des Sicherheitsberaters gekommen sein. Informierte Kreise rechnen damit, dass ihn der Präsident in Kürze von seinen Pflichten entbindet.

Dem Vernehmen nach soll auch der Bundes-Innenminister bereits seinen Rücktritt angeboten haben. Das Europa-Parlament will die Vorgänge um die Infiltrierung europäischer Behörden durch US-Geheimdienste zum Anlass nehmen, die Problematik in Kürze zu debattieren. Dem Bundestag liegt eine große Anfrage aller Oppositionsparteien zu dem Skandal vor. Nähere Einzelheiten erfahren sie in der anschließenden Brennpunktsendung...

 

13

 

Meine Schwester, Manni und ich

 

Verzeih mir, Tommy, ich habe dir Unrecht getan!“, hörte ich meine Schwester mit tränenerstickter Stimme flüstern. Sie nahm mich in die Arme und weinte eine Zeitlang an meiner Schulter. Es lag tiefe Trauer in ihrem Gesicht. Zärtlich strich ich über ihr Haar und hielt sie lange gedrückt. Sie beruhigte sich nur langsam. Es tat mir so gut, gerade von ihr umarmt zu werden, gerade von meiner jüngeren Schwester, die selbst über Verlust ihres geliebten Sohnes hinweg kommen musste. Sie trat ein, und gemeinsam heulten wir uns aus, bis die Spannung nach und nach einer seltsamen surrealen Erleichterung wich.

Vor einigen Minuten hatte es an der Tür geklingelt. Ich schreckte auf und sah mich nach allen Seiten um. Noch immer war ich schreckhaft, geradezu neurotisch, hatte Panikattacken. Auch wenn ich nun offiziell als unschuldig galt, traute ich dem Frieden noch immer nicht. Zuviel war geschehen in den letzten Tagen. Und wer weiß, welche geheimen Behörden plötzlich ein eigenständiges Interesse an mir entwickeln könnten. Ich schätze, dass ich ein ziemliches Trauma weg hatte - muss mich vielleicht professioneller Hilfe bedienen, wenn ich es nicht verpackt kriege.
Durch das Fenster sah ich aber, wer vor der Tür stand. Zunächst wollte ich nicht öffnen - so schuldig fühlte ich mich noch immer wegen Mannis Tod. Aber Kneifen kam nicht in Frage, erst recht nicht, wenn es um meine Schwester ging. Demütig öffnete ich die Haustür, bereit mein Karma anzunehmen und mir die fälligen Vorwürfe anzuhören…

Aber es ist anders gekommen. Sie und ihr Mann, also mein Schwager, sind nun informiert und von meiner Unschuld ebenfalls fest überzeugt. Die anfänglichen Zweifel waren vergessen, auch wenn ich tagelang als ausgeflippter Mörder ihres Sohnes und kriminelles Element galt. Und ich weiß nicht, ob ich an ihrer Stelle den offiziellen Verlautbarungen nicht auch selbst aufgesessen wäre. Aber mittlerweile gab es in den Medien kein wichtigeres Thema, als den Skandal um den geplanten Praxistest mit der Überwachung verchipter deutscher Ausweisinhaber.
Dass ich rehabilitiert war, stand nun wohl fest. Genauso wie die Rolle der Staatsschutz-Behörden und ihrer korrumpierten Agenten, die anscheinend jedes Maß verloren hatten und der Kontrolle entglitten waren. Wäre die Sache nicht zufällig durchgesickert… - nicht auszudenken, was uns allen hierzulande geblüht hätte.

 

14

 

Bilanz: Ein Glückspilz rechnet ab

 

Schon bald kommt Sonja zurück. Bereits nach einer Woche hatte sie sich von Down Under aus gemeldet, telefonisch. Sehnsucht und so. Ihre Freundinnen gingen ihr mit ihrem vornehmen Gehabe wohl langsam auf den Geist. Zwar hatte ich sie zum Verbleiben ermutigt, weil sie so ein Abenteuer wie Australien mit seinen Sehenswürdigkeiten und tropischen Flair so bald nicht mehr erleben würde. Aber wenn sie dennoch früher zurückkommt, mir ist sie willkommen. Ich freute mich jedenfalls schon auf das Wiedersehen.
 

Wie auch immer: Ich hatte große Sehnsucht nach ihr und vermisste ihre Streicheleinheiten. Habe ihr viel zu erzählen. Schätze, sie wird zwar staunen, mir aber bestimmt kein Wort glauben, wenn ich von den Ereignissen der letzte Tage berichte: Ich als Auslöser einer Staatskrise, ein Local Hero und Hauptdarsteller in einem historischen Moment politischer Willensbildung? Ha, ha! Doch nicht ihr phlegmatischer, ruhiger und so ausgeglichener Tommy… Und Hand aufs Herz, glauben sie mir: Auch ich kann das alles bis heute nicht so recht realisieren. Doch ich möchte Sonja zeigen, dass ich etwas geschafft habe, auch wenn es mehr oder weniger nur in Ausnahmesituationen geschah, um zu überleben… Das Schmerzensgeld war ja nicht wirklich ein Verdienst durch ehrliche Arbeit oder so.

 

Derweil sitze ich Zuhause und höre melancholische Musik: z.B. Dire Straits, Element of Crime (selbst die Namens-Wahl der Musikgruppe passt zu meiner momentanen Lage, dachte ich, Nomen est Omen…, und grinste ob dieser Wortspielerei vor mich hin) - und wartete auf ein Lebenszeichen von Sonja, zählte die unendlichen Minuten bis zu ihrer Rückkehr…

 

Sofort nach Eingang einer sehr rätselhaften E-Mail von Down-Under, in der im holprigen Deutsch die Rede davon war, dass ich eine solche Frau wie Sonja nicht verdiene und so langsam aus dem Kreuz kommen müsste, um sie zu behalten. Graue Strähnen im Haar und ein Bauchansatz seien noch längst kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen bzw. sein Selbstmitleid zu pflegen, schon aus Respekt vor einer Frau wie ihr, dieser mutigen und standhaften Person. Alles gezeichnet und gesendet von einem Don…
Aus all dem sehr merkwürdigen Text konnte ich mir kein rechtes Bild machen. Jedenfalls gab es aber mentalen Großalarm, der mich auf das höchste beunruhigte… Von einem Don hatte ich bis jetzt nichts gehört.
Sonja wird sich doch nicht umorientiert haben, gerade jetzt?, fragte ich mich.
Wie von Tarantel gestochen machte ich mich mit Dieters Volvo auf den Weg zum Frankfurter Airport. Zumindest ihre Ankunftszeit samt Flugnummer waren der verworrenen E-Mail gerade noch zu entnehmen. In den frühen Morgenstunden war ich am Airport angekommen.
Mir erschloss sich hier eine völlig neue Welt. Mein letzter Besuch lag zwanzig Jahre zurück. Alles war noch größer, schöner und sehr international, seit man das zweite Rollfeld gebaut hat. Bis zu 130 Flugbewegungen pro Stunde sind jetzt erreichbar. Wahnsinn.

Qantas-Airways landete pünktlich auf die Minute. Ungeduldig wartete ich fast eine Stunde lang am Gate und suchte nach Sonja. Und dann war sie da, meine schöne gekrönte Königin. Braungebrannt, aber mit tiefen Rändern unter den Augen..- und irgendwie besorgt. Beim Zoll habe es unwahrscheinlich lange gedauert, beschwerte sie sich. Alles, aber auch alles sei durchsucht worden. Man habe sie anscheinend nur sehr ungern gehen lassen, so ihr Gefühl.

Wir fielen uns in die Arme. Meinen Kuss erwiderte sie zwar, aber er war anders als sonst, nicht ganz so weich, den Bruchteil einer Sekunde zu kurz, seltsam distanziert. Und die von mir überreichte rote Rose schien sie kaum zur Kenntnis zu nehmen. Nun, vielleicht ist sie nur müde nach dem langen Flug, dachte ich besorgt und versuchte diesen verdammten Don aus meinen Gedanken zu verbannen.

Die Rückfahrt im Volvo verlief nahezu schweigend. Ab und zu blickte sie in den Rückspiegel und hinter sich, so als würde sie mit einer Verfolgung rechnen. Seltsam, dachte ich, so erging es mir ebenfalls seit einigen Tagen. Sie fragte nicht einmal nach unserem alten Toyota Corolla oder meinem Wohlbefinden und schien permanent in Gedanken. Vielleicht in Australien - bei diesem Don? Ich nahm es erst einmal hin. Seine E-Mail erwähnte ich nicht.
In unserer Wohnung angekommen, kredenzte ich das vorbereitete Mittagessen, Wein dazu und bemühte mich geduldig darum, dass sie ihre unübersehbare Spannung verliert.

 

Schließlich begann sie zu erzählen. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Ich erfuhr von allen Ereignissen, restlos - von ihren sexuellen Eskapaden, vom Streit und der Versöhnung mit ihren Freundinnen, bis hin zur Entführung durch die CIA, der Rettung durch Don und von der Kurz-Liaison mit ihm, meinem Liebes-Antipoden Down Under. Ahnt´ ich´s doch…

Ich war schockiert. Nicht nur von ihren sexuellen Abwegen, die ich mir noch erklären konnte. Denn die hatte sie letztlich auch nicht zu verantworten. Es tröstete mich, dass es nur Sex war, wenn auch mehr oder minder erzwungen durch den Einsatz von Drogen. Besonders empörte mich aber die Kaltblütigkeit, mit der diese CIA-Killer im Beamtenstatus ein Menschenleben auslöschen wollten. Aber es wunderte mich gleichwohl nicht. Ich war traurig und besorgt. Meinen ersten spontanen Anfall von wilder Eifersucht konnte ich gerade noch zügeln. Nur mühsam gelang es mir, endlich meinen Verstand zu benutzen. Ich gab mich sehr kontrolliert, obwohl in mir die Gefühle tobten.

Sonja“, entgegnete ich dann längerem Schweigen. „Mit einer Liebschaft meinerseits kann ich dir nicht dienen, obwohl ich sie scherzenshalber erwähnt hatte bei unserem Telefonat. Aber mir ist es hier nicht viel besser als dir ergangen. Möchtest du etwas mehr darüber erfahren oder dich lieber zu Don hin orientieren. Ich verstünde es sogar. Mit einem Loser wie mir ist ein Leben auf Dauer nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig“.
Sie sah mich merkwürdig an und bat mich darum, ihr von den einzelnen Ereignissen in Deutschland zu berichten. Das tat ich dann auch, ohne meine Rolle besonders hervorzuheben. Das lag mir nicht besonders. Ich verlagerte den Bericht eher auf die Akzente meiner Fehlleistungen und auf mein Versagen bei Mannis Tod. Über meine fragwürdigen Siege gegen die Geheimdienstleute mochte ich nur das Wesentliche berichten, war noch alles zu frisch und völlig surreal.

 

Sonja hörte sich meinen Bericht wortlos bis zum Ende an und war entsetzt. Das sah ich ihr deutlich an. Schließlich zog sie mich vorsichtig und zärtlich in die Arme und begann zu weinen. Auch ich konnte jetzt durchatmen und mir nun endlich erlauben, feuchten Augen zu bekommen - mehr aber nicht, bin ja schließlich ein Kerl, und Männer dürfen nicht weinen, glaube ich… In ihrer Umarmung ging es mir aber langsam wieder besser. Lange und ausgiebig ließ ich mich streicheln und küssen. Ach, was habe ich auf diesen Moment gewartet? Es waren gefühlte Jahrhunderte …

Als wir uns beruhigt hatten, kam es endlich zum Versöhnungsgespräch. Sie bat mich nochmals um Verzeihung für ihre sexuelle Entgleisung während des Aussie-Barbecues. Nur für die Liaison mit Don entschuldigte sie sich nicht. Fiel mir natürlich auf. Dafür thematisierte ich meine Meinung dazu. „Ja, Sonja, du hast mir mit Don wohl tatsächlich Hörner aufgesetzt, aber für einen ausgemachten Hornochsen wie mich war das genau die richtige Medizin. Und ich muss diesem Don sogar noch dankbar sein bis an mein Lebensende. Er hat immerhin nichts Geringeres vollbracht, als dein Leben zu retten. Und das ihr eine Affäre hattet… Nun, wie ich mich verhalten hätte in seiner Lage, kann ich mit Sicherheit auch nicht sagen. Jedenfalls würde ich für mich selbst auch nicht die Hand ins Feuer legen bei so einer schönen Frau wie Dir. Das muss ich ihm trotz aller Eifersucht wohl oder über zugestehen. Gott weiß, dass ich ebenfalls kein Engel bin.“
Ich fuhr fort: „Wann kann ich ihn wohl kennenlernen? Wir beiden müssen viel Bier trinken. Ich habe ihm zu danken, so von Mann zu Mann. Na ja, vielleicht haue ich ihm pro forma auch was aufs Maul, er wird das schon verstehen. Aber wahrscheinlich klopfe ich ihm eher auf die Schulter für deine Rettung. So, entweder nimmst du mich jetzt einfach so wie ich bin mit meinen vielen Fehlern, oder eben nicht. Anders kann ich nicht sein, Sonja.“ Das und viel weiteres dummes Zeug sonderte ich während meiner Eloge zur Beziehung mit Sonja ab, bis sie schließlich lächelte und feststellte: „Irgendwie seid ihr Männer in dieser Beziehung gleich und glaubt, ein Monopol auf uns Frauen zu haben. Aber lass´ mal gut sein, Tommy. Habe ich meine Entscheidung getroffen oder nicht? Warum bin ich wohl hier in Dortmund und nicht bei Don, Down-Under, unten im Outback, du Volltrottel?“

Weil du dich für mich entschieden hast und mehr liebst als ihn?“, lautete meine schüchterne Antwort.

Richtig, setzen, Eins plus, Becker“, stellte meine gestrenge Oberlehrerin fest und antwortete: „Ich nehme deine Wortfetzen mal als Liebeserklärung par excellence. Aber wenn du jetzt nicht langsam damit anfängst, mich sexuell zu belästigen und zu begrapschen, muss ich dich so lange vergewaltigen bis der Arzt kommt, Mannsbild. Und hör´ endlich mal damit auf, deine Fähigkeiten und Leistungen ständig kleinzureden. Ich habe den SPIEGEL-Artikel zu der Angelegenheit genau gelesen. Du warst einfach Klasse, Tommy!“, sprach´s und zog mich in unser Schlafzimmer.
Dort blieben wir, etwa zwei Tage, nur unterbrochen durch etwas Erholungsschlaf und einige wenige telefonisch bestellte Mahlzeiten beim Pizzadienst oder Chinesen. Und niemand hat gestört, nicht einmal der Staatsschutz…

Alle klugen Frauen dürften, schon aus Erfahrung, wissen: Ein Mann ist ein gar empfindlich Wesen und bedarf ab und dann der besonderen Fürsorge in Sachen Liebe und Sex. Deshalb war die tätige Klarstellung meiner Liebsten dringend nötig, um meine Seelenpein zu beenden.

Wie auch immer. Sonja war jedenfalls wieder zurück, und zwar bei mir. Fragmente der Worte aus dem Buch „Die Liebe in Zeiten der Cholera“ von Gabriel Garcia Marquez fielen mir dazu ein, die er Florentino, dem Helden seines Buches, in den Mund legt, als dieser Fermina seine Liebe gesteht und sie „Meine gekrönte Göttin, meine Morgendämmerung nennt“. Die meine, sie war wieder hier. Ich war überglücklich und rundum zufrieden.
 

Verstehen sie, lieber Leser. „Nichts ist schwieriger als die Liebe“. Zu selbstverständlich hatte ich unsere Beziehung genommen und vergessen, was man tut, wenn die Liebe herrenlos zurückgeblieben ist. Na klar, ist wieder von Marquez.

 

Es sieht für uns beide wohl ganz nach einem Happy End aus …

 

15

 

Finale: irgendwie ein Epilog mit guten Aussichten…

 

Auch die US-Medien haben inzwischen die geheimdienstlichen Entgleisungen der CIA und des FBI aufgegriffen. Für die amtierende Regierung bis hin zur Staatsspitze ein totales Desaster mit Tsunami-Qualität. Sie ist deshalb mächtig unter Druck geraten. Es zeichnet sich ab, dass der republikanische Präsident auf eine Wiederholung seiner Amtszeit verzichten wird. Der Direktor der CIA ist aufgrund der Ermittlungen des US-Justizministeriums aus „gesundheitlichen“ Gründen zurückgetreten, der FBI-Direktor ziert sich aber noch. Eine Untersuchung im US-Senat ist bereits angekündigt.

In der EU brach ein Proteststurm aus. Nicht nur die vereinigten Datenschutzbeauftragten protestierten. Auch im Bundestag und im EU-Parlament ging es hoch her. Der EU-Kommissionspräsident sah sich zu einer Erklärung veranlasst, in der er mit großem Pathos eine Lanze für die bürgerlichen Freiheiten brach und das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Bürger über ihre persönlichen Daten pries… Natürlich ist mal wieder eine neue EU-Richtlinie in Vorbereitung.

Der Rücktritt des Bundes-Innenministers und weiterer hohen Beamten in den Sicherheitsbehörden, wirft kurz vor den Wahlen seine Schatten voraus.

Vom zuständigen SPIEGEL-Redakteur habe ich unter der Hand erfahren, dass dem Innenminister eigentlich nur seine Äußerung zur „Scheiß-Pressefreiheit“ zum Verhängnis wurde. Dieckmann hatte das Büro zum „Eigenschutz“ verwanzt und im Untersuchungsausschuss eine Videoaufzeichnung präsentiert. Damit waren er selbst und der zuständige Staatssekretär, Rudi. D., aus dem Schneider. Eine verdammte Schlangengrube war das dort in Berlin. Der geplante Praxistest zur Überwachung der Bürger als solcher hätte für den Rücktritt nicht gereicht, Stichwort Innere Sicherheit, Terror, usw. Das Ergebnis der angeblichen Feldstudie hätte ja durchaus negativ ausfallen können, so jedenfalls die Juristen. Und in einem solchen Falle hätte der Innenminister dem Ganzen selbstverständlich Einhalt geboten. Aber die grundgesetzlich garantierte Pressefreiheit anzugreifen, dass war schon von anderer Qualität, absolut untragbar… Und die Morde: Die gingen auf das Konto der CIA. Die Zeichen stehen jetzt dennoch für einen Politikwechsel in Deutschland und wohl auch in der EU.

 

Ganz diskret wurde meiner Schwester und mir in Abstimmung mit den US-Behörden ein ausgesprochen lukratives sechsstelliges Schmerzensgeldangebot durch den neuen Innenminister angeboten, natürlich ohne Anerkennung einer Rechtspflicht, versteht sich. Das werden wir wohl annehmen, zumal es sich um Beträge handelte, die einen schwindelig machen. Denn irgendwie muss es weitergehen, nachdem meine bürgerliche Existenz nahezu ruiniert worden ist. Galgenhumor ist in diesem Fall vermutlich die beste Reaktion, denn etwas Dreck bleibt trotz aller Unschuld bekanntlich immer hängen. Überdies bliebe die Suche nach einem Job in meinem Alter ohnehin ein Vabanquespiel mit ungewissem Ausgang.

Und sie werden es nicht glauben. Die Amis haben auch Sonja abgefunden. Ebenfalls ein sechsstelliger Betrag. Wir sind jetzt reich, sehr reich. Um unsere finanzielle Zukunft müssen wir uns vorerst keine Sorgen machen.


Nun, dennoch hat sich für mich doch so eine Art Happy End ergeben, irgendwie. Hätte ich nach all den Ereignissen überhaupt nicht mehr erwartet. Ausgerechnet ich bin davon gekommen. Gerade ich, der sprichwörtliche Loser.
Oder was würden sie von einem Typen vermuten, der stramm auf die fünfzig zugeht, und der es nach all den beruflichen und gesellschaftlichen Chancen geschafft hat, alles mit großem Erfolg zu vermasseln?

 

Nein, es war nicht die schlechte Kindheit oder ein kaputtes Elternhaus. Im Gegenteil, ich bin in geordneten bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Meine Eltern haben mich liebevoll aufgezogen, mich gelehrt, stets fair sowie gerecht zu sein und anderen Menschen mit dem gebotenen Respekt zu begegnen bzw. den Konsens im Leben zu suchen. Mehr als die Vermittlung dieser Tugenden kann man nicht erwarten. Noch heute liebe ich sie dafür.
Dennoch bin ich damals irgendwann abgeglitten, vielleicht aus Neugier oder auch, um mal die andere Seite kennenzulernen, ich weiß es nicht. Selbsterfahrungswünsche, pubertäre Auflehnung gegen den kleinbürgerlichen Lebensstil und seine Moral könnten es auch gewesen sein. Ich befand mich damals vermutlich in einer Phase zwischen Anpassung und Kreativität, um meinen eigenen Lebensentwurf hinzubekommen, glaube ich jedenfalls.
Stellen sie sich vor: die Ausbildung als Maschinenbauer gerade geschafft, Autoritätsprobleme, und danach ging es los.
Ich landete für längere Zeit in einer Jugendgang, terrorisierte mit meinen Freunden aus der Gang die Leute im Wohnviertel, hielt mich mehr in den Abhängzonen der Ortschaft auf als Zuhause. Nur mit Hilfe eines

Streetworkers schaffte ich es auszusteigen und die Abendschule zu besuchen.
Doch es blieb beim erfolglosen Versuch, das Abitur zu erreichen. Wollte unbedingt Physiker werden. Hat aber gerade noch für die Fachhochschulreife gereicht. Das anschließende Verlegenheitsstudium zum Sozialarbeiter

brachte es auch nicht. Kam nicht klar, war unglücklich damit, zu weltfremd

das Ganze. Mit Mühe und Not schaffte ich das Examen und das anschließende Jahrespraktikum. Die drei Jahre Arbeit im Sozialen Dienst einer Behörde habe ich aus nichtigem Anlass geschmissen; konnte den

Mund einfach nicht halten, wusste alles besser (mal wieder ein Autoritätsproblem, ständig aufmüpfig gegenüber dem Abteilungs-Chef).

Heute verstehe ich ihn, der hat´s nach einiger Zeit einfach nicht mehr ausgehalten mit mir. Und dann legte ich nach fünf Jahren Selbständigkeit

mit einer Milieu-Kneipe eine waschechte Pleite hin - habe irgendwann

Umsatz mit Gewinn verwechselt. Die Straßenschläger-Tricks habe ich mir in dieser Zeit abgeguckt und auch längere Zeit eine Tae-Kwon-Do Schule besucht. Wegen der Pleite verschlug es mich ins Taxi-Milieu. War auch

nichts, zu lange Arbeitszeiten, gefährlich und zu wenig Geld. Gelegenheits-Jobs, Schwarzarbeit. Danach irgendwann wieder Arbeitsamt. Ein netter Sozialarbeiter-Kollege aus der Vergangenheit hat mich sozusagen zur Jagd getragen und beim Vermittler auf dem kleinen Dienstweg ein gutes Wort für mich eingelegt. Die haben mir dann immerhin einige Jobs vermittelt: BVB-Fanberater, Streetworker und Suchtberater, aber nur in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Waren interessante Jahre. Leider wurde

ich nach Ablauf der Maßnahmen nie übernommen, weil sich die sozialen Anstellungsträger auf diese Weise meist nur billige Fachkräfte besorgten

und die Projekte unter anderem Namen dann mit neuen Arbeitslosen weiterführten. Tja, und danach war ich mal wieder arbeitslos, vielleicht war´s auch ein Burnout - ich weiß es nicht. Alles war irgendwie verkorkst.

 

Möglicherweise wenden sie ein, dass das Ganze halt eine Orientierungszeit gewesen sei. Ha, ha, ziemlich lange Orientierungsphase, sage ich nur. Aber auch Sonja ist der Meinung, dass ich jetzt endlich damit aufhören sollte, meine Fähigkeiten und Leistungen kleinzureden. Ich sei einfach Klasse, meint sie. Dabei habe ich mich nur so gut es ging meiner Haut gewehrt. Gut, wenn Sonja das sagt, wird es vielleicht stimmen. Und die Ereignisse der letzten Tage haben meinem Lebenslauf im wahrsten Sinne des Wortes die Krone aufgesetzt. Es kann schon sein, dass ich mich innerhalb der ganzen Geschehnisse nur suboptimal bewegt habe, doch ich habe überlebt. Bin vielleicht doch kein Loser…

 

Aber mein Gedankenfluss ließ sich nicht so ohne weiteres abwürgen. Ich wäre damals in der Tat verzweifelt, hätte ich nicht Sonja kennengelernt, meine schöne junge Gefährtin, die trotz allem einen Narren an mir gefressen hatte. Seit einem Jahr bewohnten wir im Dortmunder Kreuzviertel ein Penthaus. Tolle Aussicht, schönes Wohnen. Ohne ihr Geld wäre die Bude aber nicht finanzierbar gewesen. Besonders, weil sich in Kürze das Ende meiner Transferleistungen, also des Arbeitslosengeldes I abzeichnete. Eine üble Falle, ein Teufelskreis das Ganze: Arbeit bekam ich aus Altersgründen keine, Arbeitslosengeld II auch nicht, weil ich mit Sonja in einer sog. Bedarfsgemeinschaft lebte. Vermutlich wäre ich bald durch alle möglichen Projekte der örtlichen ARGE geschleust worden - Bewerbungen üben, weitere Beschäftigungstherapien inbegriffen. Zum Kotzen das Ganze. Das Leben machte sich lustig über mich. Ich konnte Sonja kaum noch in die Augen sehen. Zu sehr war ich in der traditionellen Rollenzuweisung verhaftet, wonach der Mann das Geld zu verdienen hat. Meine Angst, dass sie mich wegen meines Versagens verachten könnte, nahm damals bereits neurotische Züge an und entwickelte sich zu einer echten Sinnkrise.

 

Und wieder schweiften meine Gedanken ab - zu dem Tag, an dem ich Sonja Glaser kennenlernte: Es war im Rahmen einer Vernissage, die eine Galerie in der Kathedrale des Dortmunder „U“ veranstaltete, dem neuen angesagten Kunsttempel der Stadt. Ein neuer farbverliebter Shootingstar sollte inszeniert werden. Ungeschickt, wie ich manchmal so bin, stieß ich ihr Rotweinglas um. Zum Glück ist nichts Gravierendes passiert. Es stimmte tatsächlich: Die ersten Sekunden beim Anblick eines Menschen entscheiden nicht nur über Sympathie oder ihr Gegenteil, sondern wohl auch über alles Weitere… Und wir kamen zu meinem Glück ins Gespräch. Sie war eine Frau im besten Alter, schätzungsweise 10 Jahre jünger als ich und wohl gerade ohne Freund. Sie ähnelte ein wenig Catherine Deneuve, und es hat auf Anhieb Zoom gemacht bei mir. Ihre sympathische Erscheinung, ihr Duft und dieser besondere tiefgründige Blick, auf den ich so abfuhr, bannten mich auf der Stelle. Ein sinnlicher voller Mund, dessen herrliches Lächeln, das fast immer auch ihre Augen erreichte, blaue Augen, herrlich geschwungene Brauen und lange Wimpern, die eingebettet waren in ein Gesicht, wie es nicht mal Mona Lisa aufzuweisen hatte... Ich könnte die Beschreibung beliebig fortsetzen. Und diese grünen Augen, in denen man sich so schnell verlieren konnte, wenn die Augen die sprichwörtlichen Fenster zu ihrer Seele waren, dann habe ich das Paradies gesehen… Blondes volles Haar umrahmte ihr Gesicht, um dann auf ihre schmalen Schultern zu fallen, sie passte so perfekt in mein Beuteschema, dass ich es nicht ausgehalten hätte ohne sie. Und diese langen Beine, die eine so perfekte Komposition mit ihrer übrigen schlanken Figur bildeten: Ich war hin und weg, auf der Stelle, verliebt… Bis heute weiß ich nicht, wer wessen Beute war - aber als kluge Frau gab sie mir stets das Gefühl, dass ich sie erobert und verzaubert hätte. Und die Schmetterlinge in meinem Bauch kamen gar nicht zur Ruhe… Der Blitz der Liebe hatte mich getroffen.
Sie war eine hochgebildete und selbstbewusste Frau, eine Kunsthistorikerin, die außerdem bildende Kunst - mit einer Affinität zu Auguste Rodin bis hin zu abstrakten Darstellungen von Bronze- und Eisenskulpturen wie denen von Henry Moore - studiert hatte. Sie war tätig als Kustodin im Museum einer nahen Dortmunder Nachbarstadt und betreut dort verschiedene Bilder- und Skulpturensammlungen.
Ein schönes Gefühl, dort oben im siebten Himmel.
Allerdings frage ich mich bis heute, auch nach all den Ereignissen, was sie an mir findet, ausgerechnet an mir…

 

Doch im Moment bin ich voll angesagt und habe sogar eine Einladung zu einer bekannten Fernseh-Talkshow in der Tasche. Kein übles Honorar, sage ich nur, hätt´ ich gar nicht gedacht. Berühmt bin ich wohl auch, die Interviews sind nicht weniger lukrativ - aber zuerst lass´ ich mich vom SPIEGEL befragen. Die haben mir schließlich wirksam geholfen. Ein Buch über den ungeheuerlichen Politkrimi soll ich auch schreiben, aber mit Hilfe eines Ghostwriters. Das Angebot eines Verlages liegt vor, hat Dieter arrangiert. Verfilmt werden soll meine Story ebenfalls. Aber ob ich das mache, weiß ich nicht, Sprechblockade und so. Doch andererseits, ich in einer Hauptrolle als Einzelkämpfer, der nicht so viel reden muss, vielleicht gar nicht so schlecht. Ja, ja die männliche Eitelkeit, ich weiß, ich weiß.
Ich muss jetzt nur aufpassen, dass ich nicht abhebe und meine alten Freunde vergesse.

 

Die „Freeway Tigers“ haben mich zu ihrem nächsten Jahrestreffen eingeladen. Vor der Kulisse der Kokerei Zollverein in Essen soll ein ökumenischer Gottesdienst, also eine Biker-Messe, stattfinden, mit Pfarrer und so. Man rechnet damit, dass tausenden Motorradfans aus dem Bundesgebiet teilnehmen werden. Und auch solche, die sich zugehörig fühlen. Danach ist ein Friedenskorso durch Ruhrgebietsstädte wie Dortmund, Bochum oder Gelsenkirchen geplant. Ich mache natürlich mit. Freue mich schon.
Allerdings gibt es da eine Menge Klärungsbedarf bezüglich meiner tatsächlichen Rolle bei den ganzen Ereignissen und einiges zu besprechen. Ich bin nämlich, ohne es zu wollen, in den Augen vieler
„Freeway Tigers“ zu einer Art Mythos mutiert, obwohl ich mich eigentlich nur meiner Haut gewehrt habe. Aber das nächste Massen-Frühstück mit ihnen geht definitiv auf meine Kappe, voll.

 

Meine Verbindung zu Dieter ist nun eine sehr intensive. Seine Marion ist aus dem Bayerischen Wald zurück und Dieter glücklich. Auch sein Sohn ist von seiner Dienstreise wohlbehalten zurück.
Hätte ich nicht gedacht, dass er so ein feiner Kumpel ist. Kann noch viel lernen von ihm. Ich bin ihm sehr dankbar, war er es doch, der mich unter hohem persönlichen Risiko für seine Familie und sich selbst unterstützt hat in einer üblen Notlage. Seine Strategie, in ihrer Schlitzohrigkeit kaum zu überbieten, war schließlich aufgegangen, wie sich letztlich gezeigt hat. Vor allem die Kamera-Dummies, gut sichtbar im Dachgebälk untergebracht, waren der Coup. Sie haben Dieckmann und seine Truppe geleimt und rechtzeitig von der alles entscheidenden Online-Datenübertragung an die Redaktionen abgelenkt, die an anderer Stelle zeitgleich ablief. Das war mal so etwas wie echte Zivilcourage, schätze ich. Aber es hat sich auch gezeigt, dass die wesentlichen Elemente des demokratischen Systems als Korrektiv funktioniert und ihre Fähigkeit zur Selbstkorrektur bewiesen haben, dank der Pressefreiheit. Und die Männer und Frauen vom Spiegel haben dem politischen Druck widerstanden, tapfer die Wahrheit über die Hintergründe berichtet und ihren Beitrag zum Systemwechsel geleistet. Ich möchte auch gar nicht wissen, was da hinter den Kulissen so alles abgelaufen ist…
Bleibt noch abzuwarten, wie weit die Fähigkeit der demokratischen Strukturen zur Selbsterneuerung in Parteienlandschaft, Parlament und Regierung und ausgeprägt ist. Ich habe da so meine Zweifel.
Jedenfalls konnte zunächst der überbordenden Eigendynamik staatlicher Stellen im vorliegenden Fall noch einmal Einhalt geboten werden.

 

Ja und Manni? So schnell werde ich ihn nicht vergessen, meinen Lieblingsneffen. Noch immer trauere ich. Das Schlimmste für mich war seine Bestattung. Habe den Sarg mitgetragen - war Ehrensache… Noch immer ist mir zum Heulen zumute. Aber sein Lebenskreis hat sich endgültig vollendet. Sehr früh, das ist bitter. Und ich werde lange brauchen, um endgültig festzustellen, ob ich ihm gegenüber versagt habe oder nicht. Sicher, zu Beginn der Ereignisse befanden wir uns zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Zumindest ich musste nun mühselig lernen, diese Vorgänge als Bestandteil meines Lebens zu akzeptieren und mich auch mit den unerfreulichen Aspekten meines eigenen Handelns irgendwie versöhnen.

 

Als ich dies eines Abends nach einigen kleinen Remy Martin erkannte, wurde mir wieder so etwas wie eine Kurz-Vision zuteil: Mir war so, als würde mich Manni grüßen und mir mit einem verschmitzten Lächeln aus den Gefilden der Wolke 7 zuwinken, den Daumen nach oben gereckt. „Hast die Nummer voll cool durchgezogen, Alter…, äh, Onkel Tommy“, sagte er ohne peinlich berührt zu sein, wie bei der letzten Begegnung. „Pass auf, ich hab´ da was munkeln hören, die planen, euch allen `nen Chip zu verpassen da unten. Spuck´ ihnen in die Suppe, zeig´ ihnen mal den Stinkefinger…!“, glaubte ich noch verstanden zu haben, bevor er transparent wurde und verschwand. Irgendwo hinter einem großen Schleier, der ihn verbarg, aber noch unerreichbar für mich. Er schien nun zufrieden zu sein und wartete vielleicht auf eine neue Reinkarnation. Seltsam diese Erscheinungen, aber vielleicht war ich auch nur zu besoffen. Dennoch nahm ich sie ernst, weil mich die letzte Aussage doch sehr beunruhigte, Alkohol hin oder her.
Doch ich glaube nun, dass ich bald mit mir im Reinen bin. Muss morgen noch zu seinem Grab und mit ihm darüber reden…

 

Kaum zu glauben, dass das alles seinen Anfang nahm in Dortmund, meiner schönen Heimatstadt im Ruhrgebiet. Aber es hat sich gezeigt, dass die Welt klein ist, alles eng zusammenhängt in ihr und Ereignisse fortwirken in ihrer Dynamik bis in die tiefste Provinz, egal wo sie stattfinden - ob in Langley, Berlin oder Down Under im Outback des fünften Kontinents. Gerade Mal zweieinhalb Wochen ist es her.
 

Wehre den Anfängen!“, soll der römische Dichter Ovid schon vor über 2000 Jahren gesagt haben. Diesen Zeitpunkt haben wir alle wohl verpasst. Das sind nämlich keine Anfänge mehr, sondern bereits laufende Prozesse mit eigener Dynamik. Es braut sich etwas Übles zusammen. Doch zu viel steht auf dem Spiel für uns alle. Das wurde mir bewusst. Neulich hatte ich über meine Studienzeit nachgedacht: Mir fiel mein Soziologie-Professor ein, der Adorno mit den Worten zitierte: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Der Aphorismus Adornos bezog sich auf die Negativ-Strukturen einer fehlgeleiteten Gesellschaft, welche ihre Mitglieder an ihrer freien Entfaltung hindern, in der man eben nicht gut leben könne. Ergo bin ich demzufolge ebenso in der Verpflichtung, meinen Beitrag zum Umbau der Gesellschaft - zumindest in meinem unmittelbaren Umfeld - zu leisten, damit sich die Menschen in ihr wohlfühlen können. Sollte mir das Studium etwa doch was gebracht haben?, fragte ich mich danach. Für mich steht jedenfalls fest: Demnächst werde ich mich politisch engagieren, vielleicht als Pirat, aber das weiß ich noch nicht genau… Es braucht ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken - und es dauert, was es braucht bei solch wichtigen Entscheidungsprozessen. Doch ich habe nach all den Ereignissen gelernt: Nicht alle Grenzen sind dazu da, dass man sie überschreitet.
Ich bin nun zuversichtlicher und guten Mutes. Es geht voran mit mir, Heiratsantrag an Sonja nicht ausgeschlossen, ganz klassisch. Ich muss mich trauen, im wahrsten Doppelsinne des Wortes. Dazu hatte ich bereits eine Idee: Wir legen uns ein
Schloss am Rhein zu, ja, tatsächlich ein Schloss. Ha, sie denken, lieber Leser, kaum hat er ein wenig Geld, wird er größenwahnsinnig. Keine Angst, die Wahrheit ist, dass sich in Köln neuerdings ein schöner Brauch etabliert hat. Die Paare erwerben dabei ein Vorhängeschloss, lassen darauf das Hochzeitdatum, ihre Namen oder einen Spruch eingravieren und befestigten das Liebes-Schloss am Stahlgitter der Hohenzollern-Rheinbrücke. Der Schlüssel wird symbolisch gemeinsam in den Rhein geworfen, auf das man immer zusammen bleibe, auf ewige Treue sozusagen. Schön, oder? Hoffentlich spielt Sonja mit…
Und sie finden, ich wäre spießig oder kleinbürgerlich geworden? Kann schon sein. Aber wissen Sie was? Ich find’s echt klasse…

 

Und was nehme ich mir kurzfristig vor? Weiß nicht so recht. Aber warum soll dem Politkrimi über meine jüngsten Erlebnisse nicht ein weiteres Buch folgen, ganz ohne die Hilfe eines Ghostwriters? Thema: vielleicht etwas über Dieters Leben und seinen treuen Gefährten, den Wolfshund Carlos…
Denn wenn ich es mir so recht überlege, waren Deutsch und Literatur durchaus die Fächer, in denen ich Stärken aufzuweisen hatte. Vielleicht ist der Verlag, der mein erstes Buch auflegt, ja an einem weiterem interessiert. Habe ja Beziehungen, ich meine, Dieter könnte ja versuchen, etwas zu arrangieren. Und nach der Verfilmung meiner Story dürfte mein Bekanntheitsgrad die Marktchancen ebenfalls vergrößern. Sie merken, meine Damen und Herren, ich beginne mich so langsam ins Wirtschaftsbusiness einzuleben.
Aber ob ich das alles hinbekomme, wird die Zukunft zeigen. An meinem guten Willen soll es jedenfalls nicht scheitern. Sie sind eingeladen zur Vorstellung meines Buches mit anschließender Signierstunde. Zumindest habe ich nun eine Perspektive. Näheres dazu in meinem literarischen Erstlingswerk.
Weiterer Hilfestellungen durch Freunde bedarf es nicht, glaube ich jedenfalls… Kann jetzt alleine gehen, und ich schätze, dass ich tatsächlich nur eine besonders lange Orientierungszeit brauchte. Bin wirklich nicht der Schnellste wie es aussieht...

 

 

Ende 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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