Helmut Glatz

Die seltsame Umkehrung


Die seltsame Umkehrung der Lebensabläufe des Matthias O.,
 
oder: Der nicht existente Großvater
 

 
Ich war natürlich entsetzlich aufgeregt, als ich erfuhr, daß ich meinen Großvater besuchen durfte. Old Wabble, so wurde er von uns respektlos genannt, hatte seinerzeit die Heimat verlassen und war in das Land der Zukunft, in das Land seiner Sehnsucht ausgewandert, während sein Sohn – also mein Vater – es mit dem Sprichwort hielt: Bleibe im Lande und nähre dich redlich.
 
Inzwischen war ich nicht nur den Babyschuhen entschlüpft, sondern meinem Vater bereits um einige Zentimeter über den Kopf gewachsen – von der erheblich größeren Schuhnummer ganz zu schweigen.
 
Hatte er sich bisher kaum um uns Zurückgebliebenen gekümmert, so gelüstete es Old Wabble auf seine alten Tage offenbar, den entfernten Enkel kennenzulernen.
 
Der Brief, in dem er mich einlud, war mit etwas kindlichen Schriftzügen geschrieben, die aber weit weniger zittrig aussahen als die Schriften von Menschen gleichen Alters in unserem Bekanntenkreis.
 

 
Es war das erste Mal, daß ich allein eine so große Reise unternehmen durfte. Mein Onkel, der zweite Sohn Old Wabbles, und dessen Sohn Bob (also mein Cousin) wollten mich abholen. Trotz meiner schlechten Vorahnungen ging alles glatt, und ich konnte auf dem Flughafen meine beiden Verwandten, die ich bisher nur von Fotos her kannte, in die Arme schließen. Dabei gab es eine kleine Konfusion, weil ich Little Joe zuerst für meinen Onkel hielt, denn er trug lange, abgewetzte Kleider, einen Vollbart und eine Nickelbrille, die ihn ausgesprochen alt aussehen ließ (ich hatte auch den Verdacht, daß er sich einige Falten ins Gesicht geschminkt hatte), während mein Onkel Bob in seinen Jeans und mit der lässigen Haltung eines Profisportlers einen durchaus jugendlichen, dynamischen Eindruck machte.
 
Als wir nach einer längeren Autofahrt Bobs Haus erreichten – es lag in einem wunderhübschen Park auf einer kleinen Anhöhe -, sprang mir eine gertenschlanke, quicklebendige Mädchengestalt entgegen, die mich derart stürmisch umarmte, daß ich mit meiner sprichwörtlichen Schüchternheit fast in Verlegenheit geraten wäre. Es bedurfte einer längeren Erklärung (schließlich war ich der fremden Sprache nur sehr unvollkommen mächtig), bis ich verstanden hatte, daß es sich bei der temperamentvollen jungen Dame um Bobs Frau, also meine Tante, handelte.
 

 
Nach und nach begriff ich: In diesem seltsamen Land wurden offenbar die Menschenalter verdreht und verändert. Junge Leute wie Little Joe und seine unter der dicken, grauen Schminke wahrscheinlich bildhübsche Frau Jenny gaben sich älter als sie waren, sprachen gesetzt und inhaltsschwer, bewegten sich bedächtig und mit einer Vorsicht, wie wenn sie ihre zerbrechlichen, altersschwachen Knochen schonen müßten.
 
Menschen der älteren Generation hingegen waren voll sprühenden, jugendlichen Lebens, tummelten sich auf den Sportplätzen und in Discos und gurrten und zirpten herum wie Verliebte auf einer Frühlingswiese. An eine ernsthafte Unterhaltung mit diesen Pseudo-Twens war nicht zu denken, weil sie ständig kicherten und offenbar keinerlei Verständnis für die Probleme und Beschwernisse des menschlichen Lebens und die derzeitige Weltlage (gespannt!) aufbrachten.
 

 
War ich also durch meine Begegnung mit Bob, Little Joe und ihren Frauen bereits vorgewarnt, so bedeutete das Zusammentreffen mit meinem Großvater geradezu einen Schock.. Old Wabble erschien im Outfit eines Schulknaben, mit Matrosenanzug und Schultüte in der Hand. Anfangs tat ich sein Gehabe als äußere Marotte ab, merkte aber bald, daß er sich – gewollt oder ungewollt – auch in seinem Wesen, seiner Denkart, seiner Redeweise völlig den Eigenheiten eines Grundschulkindes angepaßt hatte. Das größte Vergnügen bereitete es ihm, zwischen den Bäumen im Park Fangen oder Verstecken zu spielen. Er war zu jedem Schabernack aufgelegt, erschreckte mich am Morgen im Bett als Gespenst, wozu er sich ein weißes Laken umgehängt hatte, nähte heimlich die Ärmel unserer Hemden zu und vertauschte am Frühstückstisch Salz- und Zuckerfaß, wobei er eine diebische Freude nicht verbergen konnte.
 
Selbst Onkel Bob meinte, Grandpa triebe seine Jugendlichkeit ein bißchen zu weit. Daß er aber so konsequent dabei bleiben würde, konnten damals weder ich noch mein Onkel noch sonst jemand ahnen. Und so kam es geradezu zwangsläufig zu jenen Ereignissen, deren staunender Augenzeuge ich werden sollte, und die noch lange Zeit nicht nur die Familienmitglieder, sondern auch weite Kreise einer verblüfften Öffentlichkeit beschäftigten.
 

 
In den wenigen Wochen, die ich bei Bob und seiner Familie verbrachte, ging es nämlich mit meinem Großvater rapide abwärts. Genauer gesagt, er wurde immer jünger. Offenbar hatte ihn seine fixe Idee mit solcher Besessenheit ergriffen, daß der Lebensplan seiner Gene sich davon beeindrucken ließ, was schließlich zu einer radikalen Umkehrung der Lebensphasen führte. (Die biologischen Vorgänge und ihre Ursachen kann ich hier nicht aufzeigen, ich verweise auf die Disssertation von Max O´Hara: Die seltsame Umkehrung der Lebensabläufe des Matthias O., Philadelphia 1998.)
 
Deutlich war Old Wabbles Übergang vom Grundschulkind zum Vorschulkind zu beobachten. Innerhalb weniger Tage verlernte er fast alles, was er sich im Laufe seines bisherigen langen Lebens angeeignet hatte. Er spielte nur mehr mit einfachen Bauklötzchen, sammelte Pokemonfiguren und hatte an den dümmsten Comiczeichnungen das allergrößte Vergnügen. Besonders abstoßend war es, daß er allerlei Gegenstände in den Mund nahm, dabei heftig sabberte und sich ohne Zweifel in der oralen Phase befand. Bald hockte er nur noch lallend in seinem kleinen Kinderstühlchen (man hatte es glücklicherweise in einem hinteren Winkel der Garage entdeckt) und ließ sich von Jenny füttern.
 
Dann mußte man das Kinderbettchen herbeischaffen nebst dem Laufstall, an dessen Sprossen er die Kraft seiner Patschhändchen maß und lauthals in die Gegend krähte. Seine Gesichtszüge wurden zunehmend babyhafter, die runden Bäckchen färbten sich rosa wie frisch geerntete Pfirsiche, und seine einstmals weitausgreifende Nase schrumpfte zu einer stupsigen Knolle zusammen. Ich muß wohl nicht erwähnen, daß er inzwischen alle seine Zähne verloren hatte, und daß die einstmals schlohweiße Haarpracht zu spärlichem Flaum verkümmert war.
 
Schwierig wurde es, als er die normale Babynahrung nicht mehr vertrug. Man mußte wohl oder übel eine junge Mutter aus der Nachbarschaft als Amme verdingen, an deren Brust er nun lustvoll seinen Hunger stillte.
 
Little Joe, sonst ein Mensch mit ruhigem Gemüt und engelsgleicher Geduld (Bob sah dem Ganzen ohne große innere Anteilnahme zu), wurde immer nervöser.
 
„Wohin soll das noch führen?“ fragte er, als er mich einmal heimlich beiseite nahm, während seine Frau Jenny die Windeln Old Wabbles wechselte. „Ich habe Großvaters Launen lange genug ertragen, aber jetzt, glaube ich, geht seine Exaltiertheit doch ein wenig zu weit!“
 
Ich stimmte ihm zu und wir beschlossen, mit Old Wabble ein ernsthaftes Wörtchen zu reden. Umsonst. Großvater quakte uns nur strahlend an, zupfte an Joes Bart und riß mit solcher Vehemenz an meiner Nase, daß mir ganz schwarz vor den Augen wurde.
 
Inzwischen reichten sich Ärzte, Heilpraktiker, Psychotherapeuten und Ordensgeistliche, die Joe in immer größerer Besorgnis konsultierte, die Klinke in die Hand. Aber alle Vitaminpräparate, Hormoninjektionen und gruppendynamischen Trainingseinheiten halfen nichts. Großvater hatte bereits das Stadium eines Neugeborenen erreicht, und dann – ich mußte irgend etwas geahnt haben, denn ich hatte an diesem Morgen meinen dunklen Anzug mit der feierlichen Krawatte angelegt – war er plötzlich nicht mehr da. Wir suchten das Baby im Kinderbettchen, im Laufstall, dann unter dem Bett, schließlich in allen Schubladen, im Haus und im Garten: Old Wabble war wie weggezaubert.
 
„Eigentlich müßte er jetzt, konsequent wie er war, in den Bauch unserer Urgroßmutter geschlüpft sein“, meinte Joe mit einem Anflug von schwarzem Humor. Aber diese Geschmacklosigkeit hatte uns der Verschwundene doch erspart.
 

 
Über die folgenden Verwirrnisse und Schwierigkeiten mit Behördenvertretern, Polizeibeamten (ja, sogar die Kriminalpolizei hatte sich eingefunden!) und Rundfunkreportern möchte ich mich nicht weiter auslassen. Zum Glück hatte uns das Fernsehen verschont, da es ja – mangels Großvater – nun auch nichts mehr zu filmen gab.
 
Ein weiterer Schrecken stand uns noch bevor. Wir stellten nämlich fest, daß alle Dinge, die an ihn und seine Existenz erinnerten, wie durch ein Wunder verschwunden waren. Zuerst entdeckten wir, daß seine Fotos im Kinderzimmer fehlten. Wir dachten an einen Zufall und wollten die Bilder ersetzen. Aber die entsprechenden Alben waren leer. Dokumente, Urkunden, Briefe, ja selbst seine Schuhe und Kleider waren wie von Erdboden verschluckt. Es schien so, wie wenn Opa niemals existiert hätte.
 
Hatte uns Old Wabble vor seinem plötzlichen Verschwinden noch einen letzten Streich gespielt, indem er jegliche Erinnerungsstücke an sich tilgte? Saßen wir einem gigantischen Betrugsmanöver auf, dessen Sinn und Zweck uns Hinterbliebenen unerklärlich war? Oder hatten wir das, was mit Großvater geschah, in einer Art Kollektivwahn nur geträumt?
 
Wie Detektive versuchten wir, Spuren zu entdecken, die uns seine Existenz bewiesen hätten. Vergebens. Selbst in den Branchenverzeichnissen der Telefongesellschaften, in den Adressenlisten der Investmentbanken und auf den Speicherplatten der Mormonen fehlte er.
 
Selbst Bob wurde bei diesen Untersuchungsergebnissen ernst. „Wir müssen uns wohl oder übel damit abfinden, daß Großvater nie existiert hat“, meinte er schließlich mit bekümmertem Gesichtsausdruck.
 
„Aber wir sind doch Opas Nachkommen!“ rief Little Joe verzweifelt. „Wenn er nicht gelebt hätte, wären wir nicht auf dieser verdammten Welt!“
 
 „Dann“, meinte Bob bedeutungsschwer, „müssen wir uns damit abfinden, daß wir ebenfalls nicht existieren.“
 

 
Dies war der Zeitpunkt, an dem ich abreiste. Ich möchte nicht behaupten, daß mein Abschied sich in Panik vollzogen hätte, aber ich war relativ rasch entschlossen, und wohl nie in meinem Leben habe ich die Koffer schneller gepackt als damals.
 
Erst am heimatlichen Flughafen, als ich wieder festen Boden unter den Füßen fühlte, als die alten Leute wieder wirklich alt und die jungen jung waren, wagte ich aufzuatmen. Und nachdem ich im nächsten McDonalds einen Big Mac gegessen und zwei Cola getrunken hatte, stellte ich zufrieden fest, daß ich ganz gut auch ohne Großvater existieren konnte.
 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.12.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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