Irene Beddies

Es raschelt im Karton


 
„Puh, was für eine Hitze!“
Es ist ein heißer Tag im August. Klaus und Bettina raffen sich auf, um Getränke aus dem Keller heraufzuholen.
Sie füllen einen Einkaufsbeutel mit Flaschen.
„Hörst du das auch?“, fragt Klaus plötzlich. Bettina sieht ihn irritiert an.
Ein leises, kratzendes Geräusch schreckt beide auf. Sie lauschen. Stille.
„Da war wohl nichts“, vermutet Bettina.
Ein deutlicheres Rascheln folgt.
„Woher kommen die Laute?“ Beide drehen sich vorsichtig um.
„Was kann das denn sein?“
Ratlos schauen sie sich an.
Wieder ein feines Rascheln! Es kommt links aus dem Bord, in dem mehrere lose verschnürte Weinkartons stehen.
Klaus deutet auf einen der oberen, an dem eine Ecke beschädigt ist.
„Bist du sicher, es kommt aus diesem Karton?“, frag Bettina. Sie hält ihr Ohr an den Karton. Nichts.
Plötzlich ein zartes Kratzen in ihm.

„Was ist denn im Karton?“, fragt Klaus.
„Lass mal sehen: < Friesenbaum> steht darauf.“
 „Wieso gerade da drin? Vielleicht Schmetterlingsraupen?“
Klaus, der Schmetterlingsfreund,  guckt seine Frau an. Sie grinst, sie hat einen anderen Verdacht.
„Nimm du den Beutel mit Getränken, ich nehme den Pappkarton mit rauf“, sagt sie.

Oben stellt Bettina den Karton in die Badewanne. Klaus sieht sie verständnislos an. Sie zuckt mit den Schultern und lässt Wasser ins Waschbecken, schüttelt Waschpulver dazu und löst vorsichtig die Schnur des Kartons. Dann klappt sie den Deckel hoch.

„Ach du grünes Ei“, ruft Klaus und hält sich entsetzt die Nase zu. Ein scharfer Geruch nach Mäuseurin steigt auf.
Und dann sehen sie die Bescherung: fein zernagtes Papier von der grünen Papierdecke, die sie als Unterlage für den Ständer des friesischen Weihnachtsbaums* benutzen. Es ist zu einer Art Nest zusammengetragen. Die kleinen roten Weihnachtskugeln darunter, die sie jedes Jahr statt der Äpfel an die Querstäbe hängen, kommen sofort ins Seifenwasser. Kleine Holzfiguren finden den Weg dahin ebenfalls.
 
„Was für eine Sauerei“, seufzt Klaus, „ekelhaft! Wie…“
Und da läuft auch schon ein Mäusekind verängstigt durch die Badewanne.
„O wie süß, so ein Mäuseteenager, wirklich niedlich!“, schwärmt Bettina, die sonst Angst vor Mäusen hat.
Sie sieht vergnügt auf das Tierchen. Ihr Mann schüttelt den Kopf.
„Typisch Frau“, murmelt er, „sieht sie ein Kind, kommt sie gleich aus dem Häuschen:“

Mit Schwung kippt er den Karton kurzerhand mit all dem übrigen Papier und Schmuck  in die Wanne aus.
Noch drei Mäuschen kommen zum Vorschein, rennen in der Badewanne umher und versuchen, sich unter dem Papierwust zu verstecken.
 „Wie sollen wir die denn einfangen?“
„Lass dir was einfallen, Bettina“, brummt er.
Sie überlegt, während sie den Kram mit dem Stiel Ihrer Haarbürste durchwühlt.
„Wo nur sind die Salzteigfiguren, die an den friesischen Weihnachtsbaum gehören? Der ganze hübsche Schmuck ist weg!“, ruft sie entsetzt.
Nun grinst ihr Mann: „Na, wo wohl?“ 
Reste von roten Schleifen, mit denen die Salzteigfiguren am Friesenbaum festgemacht werden, liegen zwischen den grünen Papierfetzen.
„Hier ist noch der Fuß von Adam!“
„Und hier noch ein Teil vom Segelschiff!“  
Die Mäusekinder und ihre Mutter haben ganze Sache gemacht, als sie offenbar vom harten Salzteig gelebt haben.
„Die armen Mäuse! Was mögen sie getrunken haben?“, überlegt Bettina laut.
„Und wo ist die Mäusemutter?  Hat sie ihre Kinder verlassen, weil sie alt genug sind?“, überlegt der praktisch denkende Klaus.
„Sie ist wohl noch im Keller. Da müssen wir morgen eine Falle kaufen.“

Mit Kehrblech und Handfeger füllen sie den losen Kram in eine Mülltüte.
Die geretteten Kugeln und Holzfigürchen wäscht Bettina gründlich ab, ebenso ihre Haarbürste.
Währenddessen tummeln sich die Mäuse in der Badewanne, aus der sie nicht entkommen können.

„Wie um alles in der Welt sollen wir sie loswerden?“, fragt Bettina ihren Mann, „wir können sie doch nicht totschlagen!“
„Haben wir nicht ein größeres Gefäß, das wir hinterher mit einem Tuch verschließen können?“, fragt er.
Bettina sucht in der Speisekammer und kehrt mit einem großen Glas, in dem sie einst saure Gurken gekauft hatte, ins Bad zurück und eine  schweißtreibende Jagd beginnt. Einer von beiden hält abwechselnd das Glas, während der andere mit einem starken Stück Pappe versucht, die Mäuse in das Glas zu treiben.
Aber immer, wenn sie denken, dass jetzt nur noch eine Maus hinein muss, schwupps, schlüpft eine gefangene schon wieder heraus.
Und die Jagd beginnt aufs Neue.
 
Endlich ist es geschafft. Klaus bindet ein grobgewebtes Tuch über das Glas, und ab geht es ins Auto.
Klaus und Bettina fahren ein Stück in die Landschaft. Am nächstgelegenen  Feldweg öffnen sie das Glas und schütten die Mäuschen heraus. Die scheinen völlig verdutzt, denn das Gras ist feucht, und es fängt an zu regnen.
„Husch, husch“, jagen die beiden sie ins Korn.
„Hoffentlich, werden sie am Leben bleiben“…
“oder einem Raubvogel eine begehrte Mahlzeit bereiten. Aber das wird Mutter Natur entscheiden“, meint Klaus.
„Wir haben die Mäusekinder jedenfalls nicht getötet,  wir haben ihnen eine Chance gegeben“, stellt Bettina zufrieden fest.
 
„Im Winter müssen wir neue Figuren für unseren geliebten Baum bei einem Bäcker auf der Insel bestellen“, jammert sie im Auto.
 
Übrigens, eine Maus haben sie im Keller in den nächsten Wochen nicht gefangen.
 
 
©I. Beddies
 
·     * Über den friesischen Weihnachtsbaum seht bei Google nach!



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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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