Oliver Jäckel

Der Sohn der Sarazenin


Der
Sohn der Sarazenin (I)


"Es
tut mir leid, Kind," sagte die ältere Frau zu der jüngeren,
"aber ich fürchte, ich kann dir nicht helfen."
Nach
diesen Worten erhob sie sich leicht ächzend aus ihrer bisher
knieenden Haltung, schüttelte zur Bekräfigung noch einmal bedauernd
den Kopf und begab sich dann in den Halbschatten einer entlegenen
Ecke des ärmlich eingerichteten Wohnraumes. Dort ließ sie sich im
Schneidersitz auf ein paar Kissen nieder und betrachtete neugierig
das ihr fremde Mädchen. Nackt hatte es vor ihr gestanden, und
genauso stand es noch immer. Es machte keine Anstalten, diesen
Zustand zu ändern. Die schwache Glut der nahen Kochstelle sowie der
flackernde Schein zweier Öllämpchen beleuchteten den makellosen
Körper. Mehr noch, sie hoben ihn aus dem trostlosen Umfeld hervor,
machten ihn fast zu einer himmlischen Erscheinung.
"Wie
heißt Du?"
"Bahiya,
edle Herrin."
Die
Ältere kicherte leise. "Edle Herrin? So hat mich schon lange
keiner mehr genannt. Und wenn ich mich so umschaue, könnte ich mich
fast verspottet fühlen. Aber nun gut, Bahiya, Du kannst dich wieder
anziehen."
"Warum
könnt Ihr mir nicht helfen? Man sagt, Ihr seid die beste Heilerin
der Stadt! Ich habe mir so große Hoffnungen gemacht..."
"Du
hast die Frage schon selbst beantwortet: Ich bin Heilerin, und an dir
gibt es nichts zu heilen. Du bist so gesund, wie eine junge Frau in
Deinem Alter nur sein kann."
"Aber
die Schmerzen, die ich habe! Die Krämpfe und die Übelkeit... das
bilde ich mir doch nicht ein!"
"Zieh
dich wieder an, Kind," wiederholte die Heilerin geduldig, "dann
komm her und laß uns vernünftig reden."
Widerstrebend
kam Bahiya der Aufforderung nach. Sie holte ihr Gewand aus einem
einfachen Wandregal und streifte es sich über den Kopf. Langsam und
behutsam ging sie dabei vor, denn bei hastigen Bewegungen wurde ihr
augenblicklich schwindlig. Wie lange sollte sie das noch ertragen?
Sie hatte wirklich gehofft, ja, sich schon fast darauf eingestellt,
daß heute alles ein Ende nehmen würde!
Der
Heilerin gegenüber ließ sie sich nieder. Der Schneidersitz behagte
ihr allerdings nicht; sie bevorzugte es, die Beine seitlich
anzuziehen und sich mit einer Hand nach der anderen Seite
abzustützen, eine Haltung, die irgendwo zwischen Liegen und Sitzen
einzuordnen war.
Die
ältere Frau registrierte es mit einem flüchtigen Lächeln.
"Also,
Bahiya, laß uns offen reden! Du weißt, was diese Krankheit ist, die
Du zu haben glaubst, nicht wahr? Belüge mich nicht, denn wenn Du das
wagst, weise ich dich zur Tür hinaus und Du brauchst nie
wiederzukommen! Einfältigkeit ist etwas, was man eher Deinem Alter
zuschreibt als dem meinen."
Bahiya
senkte beschämt den Kopf. Mit beidem hatte die ältere Frau recht.
Natürlich
wußte sie, was ihr fehlte! Und ja, einfältig war sie auch!
Einfältig und dumm, sonst hätte sie dieses Problem nicht! Doch die
Dinge beim Namen zu nennen, fiel ihr schwer, weil sie es nicht
gewohnt war. Weil sie sich auch nicht daran gewöhnen wollte. Nein,
sie durfte sich nicht einmal daran gewöhnen! Denn wenn sie das tat,
würde sie sich eines Tages verplappern und die ganze Stadt würde
erfahren, was ihr bestgehütetes Geheimnis war. Und dann... dann wäre
sie tot.
Ein
Schauer lief ihr über den Rücken, wie immer, wenn ihr dieser
Gedanke kam.
Schließlich
sagte sie etwas kleinlaut, ohne weiter auf die Frage einzugehen: "Ich
hörte, Ihr könntet auch in solchen Fällen helfen."
"Oh...?"
Erneut
kicherte die Alte, die so alt gar nicht war.
Bahiya
schätzte sie nicht älter als 40 Jahre, obwohl manche ihr
nachsagten, sie sei schon über sechzig. Das hatten Personen, über
die man normalerweise nicht öffentlich sprach, eben so an sich. Die
Gerüchte, von denen ständig welche in Umlauf waren, wurden früher
oder später zu Mythen und Wundern. So konnte eben auch eine
Sechzigjährige makellos braunes, glänzendes Haar haben, ohne eine
einzige Silbersträhne darin. Und ein Gesicht, fast frei von Falten,
wenn man von denen absah, die sich in ihre Augenwinkel gegraben
hatten. Erstaunlich, wenn man bedachte, was diese Frau hinter sich
hatte! Tiefe Runzeln in der Stirn hätten besser zu ihr gepaßt. Das
nötigte Bahiya Respekt ab, denn wenn ihr Gegenüber trotz aller
Widrigkeiten oft und gerne lachte, unterstrich das nur ihre Stärke.
Eine Stärke, die sie selbst gut gebrauchen konnte. Doch halt! Wollte
etwa irgendwer behaupten, daß es ihr daran mangelte?
Fast
trotzig reckte Bahiya ihr Kinn vor, und obwohl sie damit nur auf
einen heimlichen Gedanken reagierte, bewirkte es auch, daß das
Kichern wieder verstummte.
"Nun,
wenn Du das gehört hast, muß ein wahrer Kern enthalten sein, nicht
wahr? Doch so leid es mir tut, ich kann nur wiederholen, was ich
bereits gesagt habe. Ich kann dir nicht helfen, nicht mehr. Du
hättest früher kommen müssen. Jetzt ist es zu spät, Dein Problem
verschwinden zu lassen. Du wirst es ertragen müssen, bis es sich von
selbst löst. Austragen, um genau zu sein. Ich vermute, es wird
Herbst werden, bis es soweit ist. Kommt das hin?"
Bahiya
nickte zustimmend. Sie hatte es selbst schon so oft berechnet, daß
jedes weitere Mal überflüssig war. Winter war es gewesen, als sie
in einer einzigen schicksalhaften Nacht ihr ganzes Leben zunichte
machte. Und warum? Wußte sie das überhaupt noch?
Weil
er mir gefallen hat.
-Gefallen...
gefallen....! Das reicht aber nicht, Du dumme Gans! Das reicht hinten
und vorne nicht! Außerdem wirft es ein schlechtes Licht auf dich!
Man könnte meinen, Du würdest mit jedem Dahergelaufenen, der dir
gefällt....-
"Es
geschah im Januar..." sagte Bahiya laut, um die innere Stimme
zum Schweigen zu bringen.
Die
Heilerin wiegte langsam den Kopf. "Demnach hättest Du im März
hier sein müssen. April wäre schon kritisch gewesen. Jetzt ist es
nahezu unmöglich, die Frucht Deines Leibes noch zu entfernen. Aber
Du hast Glück im Unglück: man sieht sie dir noch immer nicht an;
sie bläht dich kaum auf. Vielleicht wird das so bleiben. Wenn nicht,
solltest Du schon jetzt damit anfangen, nur weite Gewänder zu tragen
und keinen Gürtel. Wenn das Deinen Gewohnheiten widerspricht, ist es
besser, Verdacht zu erregen, wenn er sich kaum erhärten läßt. Denn
dann ist es nur ein Wandel Deines Geschmacks in Sachen Kleidung."
"Ihr
sagtet, jetzt ist es nahezu unmöglich...?"
"Du
paßt auf. Ja, das sagte ich. Ich kenne einen jüdischen Arzt, der
mit Freuden seine Methoden an dir anwenden würde. Doch die
Vorstellung, wie er Deinen makellosen Körper mit seinen Messern und
Zangen verunstaltet, mißfällt mir. Ganz zu schweigen von der
häßlichen Narbe, die zurückbleiben würde! Und ebenso
erwähnenswert erscheint mir, daß von zehn seiner Patienten zwei zu
sterben pflegen. Willst Du das riskieren?"
Die
Frage war rein rhetorisch, dennoch fühlte sich Bahiya zu einer
Antwort genötigt. "Wenn ich das Kind bekomme, werde ich auch
sterben."
"Das
ist Unsinn, und ich schätze, das weißt Du! Der Prophet liebt
Kinder."
"Nicht,
wenn sie außerhalb der Ehe gezeugt sind..."
"Oh
ja, das Patriarchat des Mannes... erzähle mir nichts davon! Ob vor
oder nach der Ehe, ob mit oder ohne..., was macht das schon für
einen Unterschied? Das Kind bleibt dasselbe."
"Ihr
klingt nicht sehr gottesfürchtig." wagte Bahiya einzuwenden,
woraufhin die Heilerin ein trockenes Lachen anstimmte.
"Ich
kann dich beruhigen. Ich lebe in Frieden mit Allah, dem
Großmächtigen. Ich habe ihm nie Vorwürfe gemacht, daß ich in
diese meine Lage geriet, daß ich von einer angesehenen Frau zur
Bettlerin wurde. Das ist allein mein Verschulden. Dennoch... oder
vielleicht weil ich mein Unvermögen erkenne, hält Allah seine
schützende Hand über mich. Ich komme meinen Verpflichtungen ihm
gegenüber nach, bete in der Moschee, achte Mohammeds Gebote. Ich
kenne keines, das mir verbietet, meine eigenen Gedanken zu denken."
Weil
Bahiya nichts dazu sagte, ihr aber anzusehen war, wie sie sich die
Worte durch den Kopf gehen ließ, beschloß die Heilerin, ihren
Einwand noch einmal aufzugreifen. Gedanken an den Tod zu
verschwenden, war in ihren Augen unratsam, wenn es galt, neues Leben
zu gebären... oder bildhaft gedacht: ihm auf sein überhebliches
Grinsen mit ausgestreckter Zunge zu antworten.
"Warum
glaubst Du, daß man dich töten wird? Du lebst in einer Stadt, die
von einem gerechten Bey geführt wird. Er duldet diese archaischen
Sitten und Gebräuche der Landbevölkerung nicht. Ich sollte das
beste Beispiel dafür sein, meinst Du nicht?"
Da
war etwas daran, was Bahiya schlecht abstreiten konnte. Trotzdem
wußte sie es besser. Die Situationen mochten sich ähneln, doch ihre
war ungleich schwieriger. Selbst wenn der Bey noch derselbe war wie
vor zwanzig Jahren, so lebte sie doch in einer anderen Zeit. Es
herrschte Krieg im Land. Christliche Horden bedrohten die Heilige
Stadt. Die Geschichten und Gerüchte, die auf den Wellen des Meeres
nach Gaza herunterschwappten, beeinflußten auch das Leben der
hiesigen Menschen. Obwohl nicht unmittelbar bedroht, nahmen sie doch
Anteil. Verzweiflung und Wut ergaben eine hochgefährliche Mischung,
der kaum durch Gesetze beizukommen war. Im Krieg wurden Verbrechen
anders bestraft als im Frieden. Man schlug einem Dieb beide Hände
ab, statt nur der einen, die im Vorübergehen die Tat beging. Und
wenn er von da an nicht auf allen Vieren kroch und wie ein Tier vom
Boden fraß, mußte er zwangsläufig verhungern. Das nahm man hin.
Genauso gleichmütig würden es die Oberen hinnehmen und auch dulden,
wenn die Menge nach der Steinigung einer Ehebrecherin verlangte. Sie
würde nicht bloß geächtet, nein! Wenn gar ein Kind dabei
herauskam, würde man zuerst dieses töten und danach die Mutter. Oh
ja, sie sah regelrecht vor sich, wie man sie in der Wüste an einen
Pfahl band und den Säugling vor ihr in den Sand legte. Er würde
schreien und schreien und schreien. Wenn er nicht verhungerte oder
die Sonne ihn ausdörrte, würde er des nachts, wenn er ganz heißer
war und nurmehr quengeln oder wimmern konnte, die Hyänen anlocken.
Sie würden ihn ein Stück fortzerren, bevor sie ihn rissen, aber
nicht weit genug, um es nicht mitansehen zu müssen. Und in der
zweiten Nacht kämen sie wieder, würden um den Pfahl herumstreunen,
knurren und die Zähne fletschen. Irgendwann würden sie erkennen,
daß keine Gefahr von ihr ausging, und sie würden fortführen, was
die Ameisen schon am Tage begonnen hatten...
Archaisch,
ja. Es gab kein besseres Wort dafür.
Bahiya
flüchtete vor diesem Bild, indem sie hastig aufstand.
Zu
hastig.
Die
Wände verschwammen vor ihren Augen, es wurde kurzzeitig dunkel und
die Knie drohten ihr nachzugeben. Die andere Frau reagierte schnell,
trat hinzu und schlang ihre Arme um sie, um den Sturz zu verhindern.
Reflexartig klammerte sich das Mädchen an ihr fest, lehnte den Kopf
gegen ihre rechte Schulter und fing dann an zu weinen.
Zuerst
war es ein lautloses Weinen, kaum mehr als ein Zittern des Körpers.
Daß es seine Zeit brauchte, um in hemmungsloses Schluchzen
überzugehen, mußte daran liegen, daß sich das Mädchen das Weinen
selbst verboten hatte. Wie oft mußte ihr in den letzten Monaten
danach zumute gewesen sein? Die an Leben erfahrenere Frau wußte aus
eigener Vergangenheit, wie schwer es war, aus Alpträumen
hochzuschrecken und- wenn der Gatte sich sorgenvoll nach der Ursache
erkundigte- das soeben erlebte zu verharmlosen. Sie wußte, wie
schwer es war, Geschichten zu erfinden, die ein Weinen nach dem
Schrecken rechtfertigten, wieder und wieder, bis es verdächtig
wurde. Da war es besser, zu lernen, mit all dem Druck und den Ängsten
zu leben, niemandem zu vertrauen, alles in sich hineinzufressen, auch
auf die Gefahr hin, daß es die Seele eines Tages zerreißen würde.
Die
Heilerin drückte Bahiya mit dem linken Arm fest an sich, und während
sie ihr mit der Rechten sanft über den Kopf strich, sprach sie
beruhigend auf sie ein. Sie wußte zwar nichts über die Umstände
der Schwangerschwaft, aber es war ihr auch nicht so wichtig. Ihr
Mitgefühl hatte das Mädchen allemal verdient, und wenn ihr das
jemand zum Vorwurf machen wollte, dann würde sie eben sagen, daß es
dem Kinde galt. Das Kind zu retten, sah sie als ihre heilige Aufgabe,
denn wie auch immer man es drehte und wendete, das Ungeborene war
unschuldig an den Verfehlungen der Mutter. Oh, dreimal Allmächtiger!
Verfehlungen- wie sie diesen Ausdruck doch haßte! Wie konnte dieses
Wort nur in ihren Geist gelangen? Es war eine Schöpfung jener, die
stets am Ehebruch beteiligt waren, jedoch nie Verantwortung dafür
übernehmen mußten! Lust und Leidenschaft gaben sich beide
Geschlechter mit Freuden hin, doch das böse Erwachen gab es nur für
die weibliche Seite. Die Öffentlichkeit verlangte nach der
Bestrafung der Frau, nicht aber nach der des Mannes. Das blieb eine
Angelegenheit unter dem betrogenen Gemahl und dessen Nebenbuhler, und
oft genug kam es vor, daß sich ersterer durch materiellen Zugewinn
entschädigen ließ. Und dann umarmten sie sich und feierten die
Wiederherstellung der eben ach so sehr befleckten Ehre...!
Sie
mußte sich zusammenreißen, um bei diesen Gedanken nicht laut zu
knurren. Stattdessen zählte sie ruhig die Möglichkeiten auf, die
ihr zu Bahiyas Lage einfielen.
In
einem stimmten alle überein: das Kind würde geboren werden. Es
jetzt noch zu töten, wo die Tragezeit schon zur Hälfte vorüber
war, war ebenso riskant wie verwerflich.


Als
sich Bahiya zu fortgeschrittener Stunde verabschiedete, fühlte sie
sich so gut wie schon lange nicht mehr. Hatte sie zunächst Zweifel
gehabt, die schäbige Hütte an der Stadtmauer aufzusuchen, war sie
nun felsenfest überzeugt, das richtige getan zu haben.
Es
war Nacht, die Gegend, in der die einfache Lehmhütte der Heilerin
stand, nahezu unbeleuchtet. Dennoch verließ sie das Haus durch eine
Hintertür und schlich ein ganzes Stück an der Mauer entlang, zu
deren Füßen sich Abfälle und Unrat häuften. Nachdem sie drei der
Wehrtürme passiert hatte, änderte sie die Richtung, huschte durch
kleine Gassen zwischen den Häusern, über Hinterhöfe und durch
Gärten, in Richtung Stadtzentrum. Bevor sie eine Straße überquerte,
hielt sie in den Schatten inne und vergewisserte sich, daß sie
niemand sehen würde. So erreichte sie über einige Umwege den großen
Basar, wo um diese Zeit kein geschäftiges Treiben mehr herrschte,
wohl aber geselliges Beisammensein in Teestuben und Badehäusern. Von
dort ging sie zügigen Schrittes auf den bewachten Hauptstraßen
entlang, bis sie das herrschaftliche Anwesen erreichte, das sie ihr
Zuhause nannte.
Sie
hatte nichts von ihren Lebensumständen erzählt und konnte nur
Vermutungen darüber anstellen, ob und wieviel die Heilerin erraten
hatte. Nach den Ratschlägen, die sie erteilt hatte, ahnte sie wenig.
Kaum einer davon war direkt auf ihre Situation anwendbar. Sie
glaubte, Bahiya sei mindestens verlobt, aber das traf nicht zu. Für
ein Mädchen ihres Alters war das ungewöhnlich. Sie war fünfzehn,
und alle ihre Freundinnen waren verheiratet und hatten bereits
mindestens ein Kind. Jene, die wenig glückliche Bindungen
eingegangen waren, beneideten sie um ihre Freiheit. Dabei hatte es
recht pragmatische Gründe, weshalb sie noch immer im Elternhaus
wohnte, und jederzeit rechnete sie damit, daß ihr heimliches Glück
ein Ende fand.
Der
Vater war ein einflußreicher Mann in Gaza, Berater des Beys und
Oberster Schreiber der Verwaltung. Er sah in seinen Töchtern ein
probates Mittel, die eigene Karriere weiter voranzutreiben, auf daß
die Söhne seine Titel erben mögen und die Familie in die höchsten
Kreise aufstieg. Für Bahiya, die er durchaus liebevoll die "schönste
Rose Gazas" nannte, fehlte ihm bisher ein passender
Schwiegersohn. Interesse hatten schon viele bekundet, einige auch
Bahiya selbst umworben. Doch Prestigegewinn allein reichte dem Vater
nicht; er wollte seine Töchter auch finanziell gut abgesichert
wissen und selbst natürlich auch noch etwas verdienen. Sie kannte
den Brautpreis nicht, den er für sie verlangte, hatte von ihren
beiden Brüdern jedoch schon Geschichten darüber gehört, wie
potentielle Ehemänner lachend abgewunken hatten oder wütend von
dannen gezogen waren. Dabei hatte sie selbst noch nicht einmal vage
Vorstellungen davon, was sie als Brautgabe verlangen würde, etwas,
was der Bräutigam noch zusätzlich zu leisten hatte.
Es
bedurfte somit nicht viel Phantasie, sich auszumalen, was ihr
bevorstand, wenn der Vater von ihrem Zustand erfuhr! Für ihn stand
weit mehr auf dem Spiel als seine Ehre. Die ganze Familie würde sie
lächerlich machen, die Errungenschaften früherer Generationen in
Frage stellen, die Ambitionen zukünftiger in nicht zu
unterschätzender Weise behindern. Eine solche Schmach ließ sich
nicht durch Verstoßen der Tochter sühnen, dafür mußte Blut
fließen....


Nur
wessen Blut?
Das
war die Frage, die sich Hassan Massoud Abdul Abbas immer wieder
stellte.
Als
er hörte, wie ein Sklave die Tochter am Eingangsportal begrüßte,
legte er die Dokumente, mit denen er sich beschäftigt hatte,
beiseite, nahm noch einen Zug an der Wasserpfeife und erhob sich
dann, um ihr entgegenzueilen. Seine Leibesfülle machte ihn etwas
langsamer als die Tochter, so daß sie sich an der Schwelle seines
Arbeitszimmers trafen, obwohl ihr Weg dorthin bedeutend länger war.
Freundlich lächelnd streckte er ihr beide Hände entgegen. Sie
ergriff sie, küßte zuerst den protzigen Ring an seiner rechten und
dann beide bärtige Wangen. Danach erzählte sie, was es neues in der
Nachbarschaft gab- nichts, was er nicht schon gewußt hätte-,
erkundigte sich nach seinem Wohlbefinden und seiner Arbeit und
wünschte ihm letztlich eine gute Nacht.
Hassan
lächelte während ihres kurzen Gesprächs überzeugend weiter und
sie erwiderte es, scheinbar genauso unbefangen. Das machte ihn stolz,
doch zugleich verursachte es ein schmerzhaftes Ziehen in seiner
Brust. Seine eigene Tochter versuchte, ihn hinters Licht zu führen,
aber das machte sie so gut, daß selbst er große Mühe hatte, es zu
durchschauen. Ohne Zweifel hatte er ihr etwas von seinem
Schauspieltalent mitgegeben. Davon besaß er reichlich, sonst hätte
er es nicht dorthin gebracht, wo er jetzt stand, und er könnte sich
nur schwer dort halten. Je höher das angestrebte Amt, desto stärker
wurde die Konkurrenz. Das klang zwar unglaubwürdig, lag aber auch
nicht in der Anzahl der Bewerber begründet, sondern in ihren
Fähigkeiten des Lügens und Täuschens.
Heute
hatte Bahiya einen schweren Fehler gemacht. Eine Leichtsinnigkeit,
die vielleicht durch ein für sie entscheidendes Ereignis begünstigt
wurde.
Als
sie sich abwandte und zwischen den zierlichen Säulen der
Empfangshalle verschwand, genügte Hassan ein Blick auf den Saum
ihres Gewandes, um zu wissen, wo sie gewesen war. Hätte es für ihn
noch Zweifel an der Schwangerschaft seiner Tochter gegeben, so wären
sie spätestens jetzt verflogen.
Wenn
er retten wollte, was zu retten war, mußte er handeln. Sofort.
Der
Sohn der Sarazenin (II)


Er
kannte das Haus der Ehebrecherin. Es gab wohl kaum eine Seele in der
Stadt, die das nicht tat. Um dorthin zu gelangen, nahm er fast
denselben Weg, auf dem seine Tochter zurückgekommen war, was ihm
stellenweise größere Schwierigkeiten bereitete als dem zierlichen
Mädchen.
Der
Versuch, in die Hütte hineinzugelangen, ohne sich vorher bemerkbar
zu machen, schlug jedoch fehl. Sie hatte beide Türen von innen
verriegelt. Um diese Stunde war wohl nichts anderes zu erwarten
gewesen.
Er
überlegte kurz.
Brachiale
Gewalt schied aus. Nicht, weil die Tür ein Hindernis gewesen wäre,
sondern wegen der dicht gedrängten Nachbarschaft. Das Stadtviertel
mochte nicht das angesehenste sein, Einbrüche an der Tagesordnung,
aber wenn dessen jemand gewahr wurde, hatte es der Einbrecher schwer.
Der niedere Stand aller hier Lebenden kettete sie zusammen.
Schlimmstenfalls würde sogar die patroullierende Wache auf der Mauer
aufmerksam werden. Er mußte es auf die gemeinhin übliche Art
versuchen.
Um
keine neugierigen Blicke oder gar Fragen zu riskieren- die Nachtwache
kam selten hier vorbei, aber sie kam-, wählte sich Hassan die
Hintertür zum Anklopfen aus. Dreimal tat er das und dennoch rührte
sich im Innern nichts. Er versuchte es noch einmal, diesmal
energischer. Mit der geballten Faust pochte er gegen das Holz, so daß
er sich schon Sorgen machte, es könne jemand hören, der es nicht
hören sollte. Verstohlen schaute er über die Schulter zur
Mauerkrone hinauf, um beruhigt festzustellen, daß der fackeltragende
Posten gute hundert Schritt entfernt war.
Endlich
knarrten in der Hütte Bodendielen. Hassan wandte seine
Aufmerksamkeit wieder der Tür zu.
"Wer
ist da?" zischte eine leise, wenig erfreute Frauenstimme.
"Jemand,
der nicht hier sein sollte." war Hassans Antwort. Wie wahr!
"Dann
verschwinde und laß mich schlafen!"
Das
hatte bereits etwas endgültiges, doch die Frau bewegte sich nicht
von der Tür fort. Zumindest hörte er es nicht. Sie war neugierig.
Gut!
Hassan
wußte ein zuverlässiges Mittel, wie sich Neugierde noch weiter
steigern ließ.
Er
bückte sich und schob ein Geldstück unter dem Türspalt hindurch.
Dann verharrte er in dieser Haltung, und ihm war, als könnte er
durch die Tür hindurch sehen, wie die Frau das Geldstück aufhob.
Fast berührten sich ihre Finger dabei. Als ihre Stimme erneut
erklang, sprach sie auf derselben Höhe. Jetzt hörte sie sich schon
nicht mehr so verärgert an und auch die Anrede ihrerseits änderte
sich.
"Sehr
großzügig von Euch."
"Nicht
wahr?" gurrte Hassan, beinahe vergnügt.
"Was
erwartet Ihr dafür?"
Ein
sehr vorsichtige Frage. Eine sehr kluge Frage. Er nickte anerkennend.
Die
Ehebrecherin war dafür bekannt, auch nach ihrem tiefen Sturz nicht
von ihrem Vergnügen ablassen zu können. Sie bestritt ihren
Lebensunterhalt damit, zumindest den weitaus größeren Teil. Sogar
der Bey wußte das. Aber solange man in den städtischen Dokumenten
ein für das Gemeinwohl nützliches Gewerbe aufführen könne, so
pflegte er zu sagen, ließe sich das dulden. Hassan fragte sich nicht
wirklich, ob der Bey tatsächlich die Heilkünste damit meinte; er
dankte nur tagtäglich dem Allmächtigen dafür, daß ihm sein
größter Widersacher ein Mittel in die Hand gegeben hatte, mit
welchem er gegen ihn vorgehen konnte. Wenn er doch nur hätte
beweisen können, daß selbst der strenggläubige Stadtvater die
verbotenen Dienste in Anspruch nahm! Jetzt war es zu spät. Nach der
heutigen Nacht würde es keine Gelegenheit mehr geben.
"Ich
erwarte, daß Du mir einen kurzen Moment meines Daseins versüßt,"
antwortete Hassan, im gleichen turtelnden Tonfall wie zuvor, "indem
Du mir mit Deiner samtenen Zunge ungeahnte Freuden bereitest."
Diesmal
dauerte es einen Moment, bis die Erwiderung kam. Ihm war klar, daß
die Ehebrecherin erst überlegen mußte, ob sie darauf eingehen oder
erbost abwiegeln sollte. Er ließ ihr die Zeit, die sie brauchte. Am
Ende bestätigte sie alles, was er von ihr wußte und dachte.
"Sind
wir einander bekannt?"
"Oh
Teure, Dein Ruhm in dieser Stadt überstrahlt den meinen bei weitem!
Ich kenne dich und es mag sein, daß Du auch mich schon einmal
gesehen hast."
Die
Münze wurde zurückgeschoben, aber deswegen machte sich Hassan keine
Sorgen. Er grinste nur, lauerte begierig auf die nächsten Worte.
"Kommt
morgen Mittag zur Moschee, damit ich meine Erinnerungen prüfen kann.
Wenn der letzte Ruf des Muezzins vom Minarett ertönt, pflückt eine
Feige vom Baum, der rechts vom Eingang steht. Gebt ihr einen Kuß,
aber eßt sie nicht! Ich werde Euch beobachten, als eine Frau unter
vielen. Wenn ich einverstanden bin, daß Ihr mich erneut aufsucht,
werde ich ebenfalls eine Feige pflücken."
Hassan
mußte sich zusammenreißen, um seinem Entzücken nicht in
unangebrachter Weise Ausdruck zu verleihen. Ebensoviel Anstrengung
kostete es ihn, sich die Frage zu verkneifen, was sie mit ihrer Feige
machen würde. Stattdessen stimmte er ein wehleidiges Klagen an: "Oh,
welch herrliche Versprechungen höre ich da? Der Duft einer süßen
Feige, die ich nicht essen darf, weckt mein Verlangen nur noch mehr!
Wie kannst Du so grausam sein, mich bis morgen warten zu lassen? Bis
dahin platze ich vor Begierde!"
Das
war möglicherweise nicht einmal gelogen. Sein vor Aufregung
wallendes Blut drang langsam in Körperregionen vor, die bis zum
heutigen Tag ausschließlich seiner Ehefrau vorbehalten waren. Das
beschämte ihn, aber er war machtlos dagegen. Niemals würde er eine
Unreine anfassen! Doch hatte er eben eine Schwäche für kluge
Frauen, und der sanfte Spott der fremden Stimme und die Art, wie sie
sich ausdrückte, verriet ihm, daß er in eben dieser Unreinen eine
kluge Frau vor sich hatte. Trotzdem- oder gerade deshalb- wäre es
eine bittere Ironie, wenn er seine Selbstbeherrschung wegen ihr
verlieren würde!
"Heute
kann ich Eurem Leiden keine Linderung verschaffen. Versucht es selbst
oder besser noch: schont Euren Körper bis morgen."
Das
war das Ende des Gesprächs, das wußte Hassan. Trotzdem konnte er es
nicht lassen, noch einmal die anzügliche Art zu versuchen. Während
seine Worte mühelos die Tür durchdrangen, nahmen diesmal zwei
Münzen den Weg durch den Spalt.
"Nur
Deine Zunge, Schönste der Schönen, mehr will ich gar nicht..."
Ein
unmißverständliches "Nein." war die Antwort. Das Geld kam
zurück. Hassan steckte es ein und erhob sich lächelnd. Dann blieb
er lauschend an der Tür stehen und wartete darauf, daß die
Bodendielen knarrten, bevor er sagte:


"Wir
müssen reden."


Die
Heilerin, die auch Hure war, hielt überrascht inne.
Die
plötzliche Ernsthaftigkeit der Worte brachten sie ein wenig aus der
Fassung. Es ärgerte sie, daß es ein Mann geschafft hatte, sie
dermaßen zu täuschen. Sie hatte wirklich geglaubt, einen Honig
säuselnden Freier vor der Tür zu haben. Daß der plötzliche
Stimmwandel auch eine Täuschung sein konnte, um doch noch zum Ziel
zu kommen, schloß sie aus. Zum Ziel, ja. Aber nicht ins Bett. Reden
wollte der nächtliche Besucher. Worüber? Wer konnte das sein?
Ein
reicher Mann, ohne Zweifel. Für zwei seiner Münzen müßte sie
ihren Körper eine ganze Woche zur Verfügung stellen. Aber sie
kannte ihn nicht, konnte kein passendes Gesicht zu der Stimme finden.
Demnach war er ein reicher Mann, der sich normalerweise nicht mit
ihresgleichen abgab. Die doppelzüngigen Prediger von Allahs Geboten
kannte sie schließlich alle in dieser Stadt, das glaubte sie
zumindest.
Sie
war neugierig zu erfahren, welcher von Gazas Oberen tatsächlich noch
rein war vor den Augen des Allmächtigen.
Doch
als sie zur Tür zurückgegangen war und eine Hand schon auf dem
Riegel lag, ließ etwas sie innehalten. Irgendeine Vorahnung, die
nicht guter Natur war. Sie war getäuscht worden, aber weshalb?
Welchen Sinn hatte dieses Spiel?
Es
gab eine Antwort, die naheliegend war und doch immer
unbefriedigender, je länger sie darüber nachdachte. Ein wahrhafter
Diener Mohammeds konnte gekommen sein, einer, der sie nicht länger
dulden wollte, ihr eine Falle zu stellen versuchte, um sie dann
davonjagen zu können. Davon war sie ausgegangen. Deshalb war sie
vorsichtig gewesen. Was sie jetzt dazu brachte, an dieser Erklärung
zu zweifeln, wußte sie eigentlich gar nicht. Es blieb eine Ahnung,
egal, wie sehr sie die Stirn in Falten legte. Und das machte sie ein
bißchen wütend, denn Ahnungen waren wenig befriedigend.
"Wer
seid Ihr?" fragte sie endlich und wünschte plötzlich, keine
Antwort mehr zu bekommen. Sie wünschte, daß der andere die Geduld
verloren hatte und gegangen war.
Ja,
Geduld hatte er! Es mußten Minuten vergangen sein, in denen er
geschwiegen hatte! Das paßte nicht zu ihrer Vorstellung eines
frommen Sittenwächters. Toben sollte er, toben und schreien, weil
sie das letzte Wort behalten hatte! Genau so war es!
Ein
Kräftemessen war es gewesen! Nichts weiter! Und doch so viel! Jetzt
wußte sie es. Er hatte sie auf die Probe gestellt, sie einzuschätzen
versucht. Das war sein erster Schritt zu einem Ziel, das ihr
weiterhin verborgen blieb. Reden?
Ja,
natürlich, Du alter Hurenbock, aber warum nicht am Tag?
"Mach
auf, dann wirst Du es erfahren!"
Sie
erschrak, weil sie zuerst glaubte, sie hätte ihren Gedanken laut
ausgesprochen. Doch dann sagte sie sich, daß die herrische Anweisung
nur die Antwort auf ihre Frage war. Sicher sein konnte sie natürlich
nicht, denn...
Denn
der Mann vor der Tür war ihr überle... Nein, ebenbürtig,
verbesserte sie schnell. Im besten Fall ebenbürtig. Er ließ sich
nicht ohne weiteres aus der Ruhe bringen. Und bei Allah, genau das
versuchte er gerade mit ihr! Sie aus der Ruhe zu bringen!
Was
auch immer er damit bezweckte, es bestärkte die dumpfe Ahnung, daß
er gefährlich war. Alle klugen Männer waren gefährlich. Umso mehr,
wenn sie sich nicht an dem baumelnden etwas zwischen ihren Beinen
packen und nach Belieben herumführen ließen! Zum Glück gab es
davon nicht allzu viele, aber das war im Moment nur ein schwacher
Trost.
"Meine
Neugierde kann bis morgen warten." behauptete sie, nachdem sie
sich einigermaßen beruhigt hatte.
"Meine
Fragen nicht."
"Das
ist Euer Problem."
"Es
kann Deines werden. Wir werden reden! Aber nicht durch Bretter
hindurch."
"Und
wenn ich nicht mit Euch reden möchte?"
"Werde
ich dich morgen dazu zwingen."
"Ach
ja? Wie?"
"Indem
ich dich von der Stadtwache holen lasse. Du hast die Wahl: eine
Unterhaltung in Deinen eigenen vier Wänden... oder in einer modrigen
Zelle."
Sie
zweifelte nicht daran, daß der Unbekannte dazu in der Lage war. Doch
wie er jetzt mit ihr sprach, machte sie wütend. Diese demütigende
Art wollte sie nicht hinnehmen, konnte sie nicht einfach hinnehmen!
Aber sie mußte sie hinnehmen, denn was blieb ihr schon anderes
übrig?
"Ihr
könnt mir weder befehlen noch drohen!" fauchte sie, obwohl sie
wußte, daß das nichts brachte, daß es nicht einmal stimmte. "Ich
bin eine freie Bürgerin dieser Stadt!"
"Bist
Du nicht. Du bist eine Geduldete. Eine Aussätzige, die alle ihre
Rechte verwirkt hat. Vergiß das nie!"
Das
war zu viel! Sie schlug den Riegel zurück und riß die Tür auf,
wurde jedoch enttäuscht, wenn sie gehofft hatte, der Mann würde
zurückschrecken.
Ruhig
und gelassen schaute er ihr entgegen.
Er
war einen Kopf kleiner als sie, rundlich gebaut, aber von
Fettleibigkeit noch ein gutes Stück entfernt. Sein volles Gesicht
wurde von einem gepflegten Bart umrahmt, der im Dunkeln aschfahl
leuchtete. Ein paar silberne Haarsträhnen lugten unter dem einfachen
Turban hervor. Der Rest seiner Kleidung war ebenso schmucklos wie
gewöhnlich. Er sah aus wie der Lagerarbeiter eines Teppichhändlers
oder wie einer der Straßenhändler, die mit Bauchläden durch die
Stadt zogen und Backwaren oder Erfrischungsgetränke verkauften. Oder
wie... wie was auch immer! Zu seinem Geld paßte die Kleidung
jedenfalls nicht, was dann wohl auf eine simple Maskerade hinauslief.
Er wollte in diesem Viertel nicht auffallen. Oder nicht erkannt
werden. Aber das war dasselbe.
Nein,
das ist nicht dasselbe!
Der
Mann prüfte mit kurzen Blicken die nähere Umgebung, dann drängte
er sich wortlos an ihr vorbei ins Haus.
Sie
biß die Zähne zusammen und schloß die Tür. Ein paar Atemzüge
blieb sie davor stehen, um sich nach ihrer schmachvollen Niederlage
neu zu sammeln. Schließlich drehte sie sich zu ihm um und fragte zum
dritten Mal, wer er sei und was er wolle. Dabei entdeckte sie den
Dolch, der ihm unter der Schärpe steckte.
Es
ließ sich schlecht behaupten, daß er ihn verbergen wollte, denn das
Gegenteil war der Fall. Merkwürdig war nur, daß er ihn auf dem
Rücken trug. Und provozierend war, daß er ihn zur Schau stellte,
indem er ihr ignorant den Rücken zukehrte. Das Wissen, daß alle
Männer Dolche als Statussymbol trugen, vermochte sie nicht wirklich
zu beruhigen.
Lauf
weg! sagte ihre Ahnung.
Aber
sie blieb.


"Ich
bin Hassan Massoud Abdul Abbas." antwortete er, in der Mitte des
Raumes stehenbleibend und sich flüchtig umschauend.
Hatte
er nicht vor kurzem eine modrige Zelle erwähnt? Diese ärmliche
Behausung war kaum besser! Erst der Klang seines Namens verlieh ihr
eine gewisse Würde, aber das auch nur solange, wie er
bedeutungsschwer in der Luft hängen blieb. Wenn sie ein Fenster
öffnete oder ein Licht entzündete, wäre es damit gleich wieder
vorbei!
Das
Innere der Hütte maß kaum mehr als sieben mal zehn Schritte. Zur
rechten gab es einen weiteren kleinen Raum, der wohl als Lager
diente, aber kaum groß genug sein dürfte, sich einmal darin
umzudrehen; genau war es wegen der Dunkelheit nicht zu erkennen. An
der linken Längsseite eine Sitzecke, bestehend aus einem niedrigen
Tisch mit ringsum verteilten Kissen auf dem nackten Boden,
desweiteren einen durch Vorhänge abgetrennten Bereich, der wohl die
Schlafstätte verbarg. Der Mittelpunkt des Raumes war die Kochstelle:
ein gemauerter Herd, über dem einige Töpfe und Pfannen hingen. Im
Innern des Herdes glomm noch die Asche des letzten Feuers, momentan
die einzige, schwache Lichtquelle. Es reichte gerade so, um
schemenhaft Regale entlang der Wände hervortreten zu lassen, die
irgendwelche wertlosen Kleinigkeiten bargen. Genauer wollte es Hassan
gar nicht wissen; was er sah, reichte, um einen gewissen Abscheu in
ihm zu wecken. Er mochte es überhaupt nicht, solche Häuser zu
betreten, weil seine heimliche Furcht, selbst einmal so tief sinken
zu können, größer war als der Triumph, weit darüber zu stehen.
"Ich
habe diesen Namen schon einmal gehört." sagte die Frau
vorsichtig. "Ihr seid ein Beamter des Bey."
"Das
ist richtig." bestätigte er, mit einem letzten abschätzigen
Blick die uninteressante Decke streifend. Erst danach drehte er sich
zu ihr um. "Doch um diese Stunde bin ich nicht amtlich hier. Es
ist meine Tochter, die mich zwingt, durch die Nacht zu schleichen wie
ein gemeiner Dieb."
"Und
was habe ich damit zu tun?"
Die
Frage war ernst gemeint, wie Hassan zweifelsfrei feststellte. Umso
größer mußte die Überraschung ausfallen, die er nach seiner
Erklärung zu sehen bekam.
"Meine
Tochter ist das Mädchen, das Du vor wenigen Stunden empfangen hast.
Hat sie dir ihren Namen verraten?"
"Bahiya?"
Er
wurde nicht enttäuscht.
Für
die Hure schien die Temperatur im Raum schlagartig zu fallen. Sie
schnappte regelrecht nach Luft und fing dann an, sich die Oberarme zu
reiben, als würde sie frieren. Ihr geweiteten Augen hielten seinem
Blick nicht länger stand. War da nicht auch ein Funken Angst in
ihnen? Es konnte sicher nicht schaden, denn so würde sie besser
kooperieren.
"Ich
will alles wissen, was ihr besprochen habt!"
"Ich
fürchte, was ich Euch sagen kann, wird Euch nicht zufrieden
stellen.“ antwortete sie, wieder ganz gefaßt. „Sie verriet nicht
viel. Sie hat sich mir nicht anvertraut."
"Versuch
einfach, mich zufrieden zu stellen!" wiederholte Hassan.
Wie
sich zeigte, wußte sie wirklich nichts. Nichts bedeutendes. Details
der Schwangerschaft, ja. Zeitpunkt der Empfängnis, voraussichtliche
Niederkunft. Dinge, die ihn nicht wirklich interessierten, die er
möglicherweise sogar selbst erraten hätte! Nach zwei Söhnen und
drei Töchtern wußte er, wie eine Schwangerschaft verlief. Selbst
wenn der Bauch nichts verriet, so taten es andere Symptome. Er wollte
auch nicht von den Ängsten hören, die seine Bahiya ausstand, denn
die hatte sie zu Recht! Sie drohte, alles zu zerstören, was er
mühsam aufgebaut hatte! Wer erwartete da, daß er sie
freudestrahlend in die Arme nahm und mit ihr gemeinsam nach einem
Namen für den verfluchten Enkel suchte?
"Der
Vater! Was weißt Du über den Vater?"
"Gar
nichts. Sie erwähnte ihn mit keinem Wort."
Er
glaubte ihr. Es hätte auch nicht zu Bahiyas bisherigem Verhalten
gepasst, wenn es anders gewesen wäre. Er würde es schon aus ihr
herausbekommen. Später. Wenn er mit dieser Frau hier fertig war.
"Du
hast ihr Hilfe und Beistand versprochen, nehme ich an?"
"Natürlich.
Das Kind ist ein heiliges Geschöpf."
"Eine
unheilige Brut ist es!" schnaubte Hassan, "Hat sie dich
bezahlt für Deine zukünftigen Dienste?"
Sie
zögerte nur kurz, aber das war auch schon zu lang. Und weil sie sich
dessen bewußt war, gab sie zu, ein Schmuckstück erhalten zu haben.
"Ich
will es wiederhaben!"
"Es
gehört mir." wagte sie zu widersprechen.
"Deine
Dienste werden nicht mehr benötigt! Glaubst Du, ich lasse meine
Tochter weiter mit dir verkehren? Du wirst vergessen, daß sie hier
war! Ich gebe dir Geld, damit Du die Stadt verlassen kannst und Dein
schändliches Mundwerk hältst!"
Seine
Rechte umfaßte die leicht ausgebeulte Schärpe vor seinem Bauch und
ließ sie zweimal auf und ab hüpfen. Ein vielversprechendes,
metallisches Klimpern war die Folge. Es war fast eine Enttäuschung
für ihn, zu sehen, wie sich die Hure mit einem flüchtigen Lächeln
abwandte und auf eines der Wandregale zutrat.


Dabei
war ihr gar nicht nach Lächeln zumute.
Es
war notwendig, um den Dicken in Sicherheit zu wiegen, ihn seine
Überlegenheit weiter auskosten zu lassen. In Wirklichkeit hatte er
daran deutlich eingebüßt, wahrscheinlich ohne es zu merken. Das
galt es auszunutzen!
Sie
glaubte ihm kein Wort. Er war nicht gekommen, sie mit Fragen zu
löchern und danach wieder zu gehen, geschweige denn, sie irgendwo
hingehen zu lassen! Das Risiko war viel zu groß für ihn. Selbst
wenn sie nichts wußte, womit sie ihn wirklich zufrieden stellen
konnte, wußte sie doch zu viel. Durch die uneheliche Schwangerschaft
der Tochter stand sein Ruf auf dem Spiel, seine Karriere.
Er
hatte sich verkleidet, bevor er hierher kam, wenn auch auf
primitivste Weise. Und jetzt wollte er den Schmuck, um alle Spuren zu
beseitigen, die ihn mit ihr in Verbindung bringen könnten. Schmuck
von der Art, wie ihn das Mädchen getragen hatte, konnten nicht viele
ihr eigen nennen.
Das
war ihr alles so klar, daß es sie trotz ihrer Angst beruhigte. Wenn
sie sich den kühlen Kopf bewahrte, mochte ihr die Flucht gelingen.
Wohin auch immer, zuerst einmal aus diesem Haus...
Vor
dem Regal musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, damit sie
eine Keramikdose vom obersten Brett angeln konnte. Dabei zitterte sie
plötzlich so sehr, daß sie sie fast fallengelassen hätte. Das
Gefäß konnte sie gerade noch vor die Brust pressen, der Deckel fiel
herunter und zersplitterte in tausend Teile. Eine kleine Aschewolke
stieg ihr in die Nase, aber sie schaffte es irgendwie, das Niesen zu
unterdrücken.
Allah
sei gepriesen! Und wenn der Kerl hinter mir die Wolke nicht gesehen
hat noch tausendmal mehr!
Laut
brummte sie etwas von Ungeschicklichkeit und davon, daß sie müde
sei und endlich schlafen wolle.
"Das
kannst Du gleich tun." erwiderte der Kerl hinter ihr, und sie
war sich absolut sicher, einen Holperer in dem Satz gehört zu haben.
Einen Holperer, der auf einem in letzter Sekunde ausgetauschten Wort
beruhte. Das wirst Du gleich tun, hatte es heißen sollen, das wirst
Du gleich tun.
Darauf
hoffend, daß ihr wehleidiger Seufzer echter klang, griff sie tief in
den Topf und fischte aus der schützenden Ascheschicht, die als
Tarnung diente, ein paar Schmuckstücke hervor. Armreifen, Broschen,
eine Kette, ein paar Ringe... ihre eiserne, nein, ihre goldene
Reserve. Dinge, die sie wirklich als Lohn erhalten oder von allzu
erschöpften Freiern gestohlen hatte. Es war nur eine halbe handvoll,
aber indem sie darin herumwühlte, sie gegeneinander und gegen die
Wand des Gefäßes klirren ließ, klang es nach viel mehr.
"Ich
finde ihn nicht," seufzte sie, "Es war ein Armreif, aber
ich weiß nicht mehr, wie er aussah. Könntet Ihr nicht einen Blick
darauf werfen?"
Kommentarlos
kam der Mann näher.
Sie
zählte seine Schritte.
Eins...
zwei... drei...
Bei
vier fuhr sie herum, schleuderte ihm eine ganze Ladung Asche ins
Gesicht und knallte ihm das Gefäß seitlich gegen den Kopf.
Letzteres hatte sie eigentlich nicht vorgehabt, denn das war ein
ernsthafter Angriff auf einen städtischen Beamten. Doch es ergab
sich einfach, und als sie die durchschlagende Wirkung sah, stieß sie
einen übermütigen Jauchzer aus. Der Turban hatte den Hieb zwar
etwas abgemildert, so daß der Mann nicht ganz umkippte, aber es war
schon mehr als ausreichend, daß er in den Knien einknickte und
benommen den Kopf schüttelte. Nicht einmal einen Fluch brachte er
über die Lippen, so sehr hatte sie ihn überrumpelt.
Sie
nutzte die gewonnene Zeit, um zur Tür hinauszustürzen.
Auf
der Straße wandte sie sich nach links, weil sie dort schon nach
wenigen Metern einen Knick machte und sie so aus dem Blickfeld
verschwinden konnte, bevor der andere überhaupt die Verfolgung
begann. Außerdem nahm sie einen schwachen Lichtschein hinter der
Kurve wahr. Sie konnte ihr Glück kaum fassen! Wenn dort der
Nachtwächter kam, würde sie sich nie wieder, nie wieder der Hurerei
hingeben!
Ich
schwöre es! Ich schwöre es bei allem, was mir noch heilig ist!
Sie
erreichte die Ecke und sah, daß es wirklich der Nachtwächter war.
Aber er kam nicht, er bewegte sich gemächlich in dieselbe Richtung,
drehte ihr den Rücken zu.
Sie
wollte nach ihm rufen, doch im selben Moment wurde sie selbst von
einem dumpfen Hieb getroffen. Der Schlag erwischte sie irgendwo
unterhalb der Schulterblätter und war so heftig, daß ihr glatt die
Luft wegblieb. Der Ruf erstickte. Nur ein leises Ächzen entwich
ihrem Mund.
Während
sie noch ein paar Schritte weiterstolperte- mehr durch die Wucht
getragen als durch eigene Kraft-, fragte sie sich, wie der dicke Mann
nur so schnell hatte sein können. Doch bevor sie zu einer Antwort
gelangte, geschah ihr dasselbe, was zuvor ihm geschehen war. Sie fiel
auf die Knie und zu ihrem Entsetzen noch weiter vornüber. Mit der
linken Hand fing sie den Sturz gerade noch auf, die rechte streckte
sie hilflos nach dem Nachtwächter aus.
So
nah war er. Und doch so weit weg, daß er nichts mitbekam.
Oder
wollte der Dreckskerl nichts merken? Steckten die beiden unter einer
Decke? War eine Geduldete es nicht wert, daß man sich um sie
kümmerte?
Müßige
Gedanken... müßige Fragen... vergiß das Atmen nicht!
Sie
versuchte es, aber es ging nicht. Ein sengendes Feuer wütete in
ihrer Lunge. Ein rasender Schmerz.
Aber
nur, wenn sie Luft holte... wenn sie es nicht tat, war alles gut.
Alles nur wie betäubt.
Atmen
ist Schmerz, also atme ich nicht.... die logische Schlussfolgerung.
Sie
kroch auf allen vieren dem Nachtwächter hinterher, wollte erneut
rufen, aber konnte es nicht. Es wurde nur ein seltsames Brummen,
vermischt mit Gegurgel und einem Pfeifen, das sie zutiefst ängstigte.
Außerdem schmerzte es genauso, wie das Atmen schmerzte.
Nicht
atmen, nicht rufen.
Nach
ein paar Metern kippte sie zur Seite, schnappte nach Luft, obwohl sie
es nicht wollte. Ein Reflex.
Nicht
atmen... atmen ist Schmerz... atmen ist ersticken... es kommt keine
Luft... also ist's gleich... ein Fisch... so fühlt sich ein Fisch
auf dem Trockenen...
Mit
letzter Kraft tastete sie nach ihrer Brust, spürte klebrige Nässe,
wo keine sein sollte und etwas kleines, spitzes im Tal zwischen den
Brüsten, was dort ebenfalls nicht hingehörte.
Mistkerl...
Da
waren seine Schuhe. Dicht neben ihrem Gesicht standen sie plötzlich.
Vom Unrat der Straße beschmutzt. Schlamm und Kot und kleine
Steinchen...
Sie
schloß die Augen. Sie wollte seine Schuhe nicht sehen.
Ich
hätte nichts verraten... hätte ich nicht.... Bahiya ist
schwanger.... hört ihr, Leute? ... Bahiya... ich hätte es nicht...
die Tochter von Hassan Massoud... oh, Großmächtiger, laß
wenigstens...
...
das Kind...
...
leben!


Der
Sohn der Sarazenin (III)


Beim
gemeinsamen Frühstück am nächsten Morgen waren im Hause Abbas fünf
Menschen zugegen: der Hausherr, seine Ehefrau, die Söhne Ali und
Bashir und die letzte unverheiratete Tochter, Bahiya.
Es
gab kleine Fladenbrote, kaum größer als eine Männerhand und
teilweise aus süßem Teig gebacken, verschiedene Marmeladen als
Aufstrich und für jene, die es herzhafter wollten, dicken Quark und
mit Kräutern garnierten Ziegenkäse. Auch Hummus fehlte nicht, ein
dicker Brei aus Linsen und Sesammus, gewürzt mit Salz, Kümmel,
Knoblauch und Zitronensaft, den man mit dem Brot aufzutunken pflegte.
Fleischliches stand jedoch nicht auf dem Tisch, denn es war
Fastenzeit. Zu all dem wurde aus kleinen Tassen Kaffee oder Tee
getrunken.
Schweigend
wurde gefrühstückt; jeder hing seinen Gedanken nach. In gewisser
Weise waren es ähnliche Gedanken, alle kreisten in mehr oder weniger
großem Radius um dasselbe Zentrum, und weil man das wohl ahnte, kam
es immer wieder vor, daß einer, sobald er sich unbeobachtet glaubte,
prüfende Blicke auf seine Tischnachbarn warf, als wolle er aus den
anderen Gesichtern etwas ablesen, was ihn selbst in seinen
Überlegungen weiterbrachte. Wenn sich zwei dabei ertappten, nickten
und lächelten sie sich an und schauten dann- sofern ihnen kein
sinniger Spruch einfiel- beschämt auf ihren Teller.
Desweiteren
entging niemandem, daß zwischen Hausherrn und Tochter, die sich am
runden Tischchen gegenüber saßen, besonders viele dieser lauernden
Blicke ausgetauscht wurden. Sie schienen ein richtiges Spiel daraus
zu machen, provozierten einander regelrecht. Beide sahen dabei sehr
zufrieden, ja, fast schon fröhlich aus, wie Menschen, die mit sich
ins reine gekommen sind, nachdem sie lange Zeit eine schwere Last
getragen hatten.
Natürlich
trug Bahiya die Last immer noch, was zwei Leute am Tisch wußten und
eine Person ahnte, dennoch bereitete ihr das Anlächeln des Vaters
keine Mühe. Damit sagte sie nur: 'Schau, Vater, ich habe ein reines
Gewissen; was also grübelst Du über mich?' Denn genau das tat er
hinter seiner freundlichen Fassade, das wußte sie mit Sicherheit.
Oder warum sollte er sie sonst so oft ansehen?
Das
Lächeln des Gegenübers hingegen bedeutete: 'Oh, Tochter, wenn Du
wüßtest, was ich trotz der Demütigung für ein stolzer Vater bin!
Du hast dich gut geschlagen bis hierhin, aber jetzt ist Dein Spiel
aus; ich übernehme die Führung!'
So
oder so ähnlich ging es weiter, während zwischendurch immer mal
jemand nach Tee oder Kaffee fragte oder nach den anderen Dingen auf
dem Tisch, die er selbst nicht erreichen konnte.
'Warum
wirkst Du nur so selbstzufrieden, Vater? Ich weiß, da stimmt etwas
nicht. Und ich weiß auch, es hat mit mir zu tun, aber trotzdem...
schau: ich verberge nichts! Ich bin die Unschuld in Person.'
'Ja,
lächele Du nur, solange Du noch kannst! Ich bin gespannt, wie lange
Du es noch durchhältst, denn die Unsicherheit dahinter schimmert
bereits hindurch.'
'Du
ahnst etwas, nicht wahr? Oder weißt Du sogar? Wie konntest Du es
herausfinden? Was habe ich falsch gemacht?'
Nein,
Schluß damit! Diese Fragen waren unangebracht, sie erschwerten das
Spiel ungemein! Bahiya mußte sich zwingen, ihr Lächeln nicht
urplötzlich erschlaffen zu lassen, den Blick nicht tiefer zu senken,
als nötig gewesen wäre, um den Teller zu erspähen. Ihren Bauch
hatte sie doch vor nicht einmal einer Stunde, gleich nach dem
Wachwerden betrachtet! Es schon wieder zu tun, würde nichts am
Umfang ändern, wäre aber ein untrügliches Signal für alle
anderen, daß es dort etwas zu sehen gab.
Nein,
gab es doch gar nicht! Jedenfalls nicht heute, vielleicht irgendwann
einmal...
Weite
Gewänder und keinen Gürtel!, rief sie sich in Erinnerung, nahm
einen weiteren Bissen von ihrem Quarkbrot, trank einen Schluck Kaffee
und schaute wieder auf.
Fast
hätte sie sich verschluckt, als sie diesmal alle Blicke fragend auf
sich ruhen sah. Die der Brüder zur Linken, die der Mutter zur
Rechten. Was war heute nur los? Ihr Herz fing an zu rasen; sie
glaubte sogar, feinen Schweiß auf der Stirn zu spüren. Doch wenn
sie jetzt aufstand, wäre alles vorbei!
Durchhalten!,
ermahnte sie sich, durchhalten und lächeln!
Als
sie sich erneut dem Vater zuwandte, war das fast ein Hilfegesuch:
'Worauf wartest Du? Sag doch endlich etwas! Alle wollen es hören
...'
'Worauf
wartest Du?' wäre auch die lautlose Antwort des Vaters
gewesen, mit Betonung auf dem Du. Doch diese erübrigte sich soeben.
Der
Hausherr sah, was alle anderen sahen: das plötzlich farblose
Gesicht, den Schweiß auf der Stirn, die fahrigen Bewegungen beim
Niederlegen des Brotes. Sie traf nicht einmal den Teller, drückte
es- anscheinend, ohne es zu merken- mit der Quarkseite auf die mit
Mosaiken verzierte Tischplatte.
Doch
im Gegensatz zu den sorgenvollen Gesichtern ringsum blieb seines fast
unberührt. Ausdruckslos wollte er schauen, ausdruckslos und kalt,
aber das wiederum wollte ihm nicht so recht gelingen. Dafür liebte
er seine Rose zu sehr. Ernsthaft, tadelnd, anklagend... das war kein
Problem. So konnte er dreinblicken, weil er das Recht dazu hatte,
weil sie selbst ihm das Recht dazu gab. Das Wehmütige, das noch
hinzukam und das er eigentlich ebenso wenig zur Schau stellen wollte,
beruhte auf seiner inneren Zerrissenheit.
'Tut
mir leid, Tochter, Du hast es so gewollt.'
"Nein,
ich wollte es nicht!" brach es laut aus Bahiya heraus, aber
nicht so laut, wie sie erwartet hätte. Tatsächlich klang es recht
mühsam, mehr wie das heisere Krächzen bei einer Erkältung. Sie
griff sich erschrocken an den Hals, doch wie sich zeigte, brachte das
keine Linderung.
"Ich
wollte es nicht." wiederholte sie leiser, ungläubig, erstaunt,
aber letztlich auch verstehend. Etwas mußte sie noch anhängen,
bevor sie starb...
Sterben
ist gar nicht so schwer.
...
irgendeine Erklärung, den Versuch einer Rechtfertigung, aber das
schaffte sie nicht mehr. Sie stammelte nur "Ich..." und
"Er... ", dann verdrehten sich ihre Augen ins Weiße und
sie kippte zur Seite.
Die
Mutter und die Brüder sprangen von ihren Kissen auf, erstere mit
einem leisen Schrei, letztere nicht weniger schockiert, aber
gefaßter. Alle gingen neben Bahiya in die Knie, und während Ali
eine Hand seiner Schwester ergriff, um nach dem Puls zu fühlen,
beugte sich Bashir nah über ihr Gesicht, um nach Atemzügen zu
lauschen oder sie auf der Haut zu erspüren. Derweil drängte die
Mutter nach einer Auskunft, indem sie die andere Hand zwischen die
ihren nahm und immer wieder fragte: "Lebt sie? Lebt meine
Tochter?" Sie selbst war in ihrem Schrecken nicht in der Lage,
eigene Untersuchungen anzustellen.
"Sie
atmet..." kam nach endlos scheinendem Warten die Antwort von
Bashir. "... aber sehr schwach."
Ali
ergänzte: "Ihren Puls kann ich kaum fühlen."
Doch
das war überflüssig, zumindest hörte es die Mutter schon nicht
mehr. Von Erleichterung durchflutet, drehte sie den Kopf zu ihrem
Gatten und zischte ihn an, was in Allahs Namen er bloß getan habe!
Erst dadurch wurde auch den Söhnen gewahr, daß sich ihr Vater von
den Ereignissen nicht sonderlich beeindruckt zeigte. Er hockte weiter
auf seinem Platz und schlürfte ruhig aus der Kaffeetasse, so als
ginge ihn das alles gar nichts an.
"Die
Frage ist nicht, was ich getan habe," sagte er ruhig und
betont, nachdem er die Tasse abgestellt hatte, "sondern was sie
getan hat."
Die
Frau atmete daraufhin hörbar durch, verkniff sich jedoch eine
Antwort.
"Was?"
fragte hingegen Ali.
"Wovon
redet ihr?" wollte sein Bruder wissen.
Unmittelbar
darauf, nach einer etwas verspäteten Erkenntnis, die beide zugleich
ereilte, wanderten ihre Blicke über den gedeckten Tisch. An ihren
eigenen Tellern und Tassen blieben sie hängen. Alis Hand fuhr zum
Dolch, doch Bashir ergriff ihn sofort am Arm und verhinderte so, daß
er aufsprang, um auf den Vater loszugehen.
Der
lächelte leise vor sich hin. "Würdest Du es tatsächlich
wagen? Es enttäuscht mich, zu sehen, wie Du über Deinen eigenen
Vater denkst! Habe ich nicht immer gut für dich gesorgt? Habe ich
dir nicht alles beigebracht, was Du weißt?" In Gedanken fragte
er sich allerdings, ob außer dem zielgenauen Werfen eines Messers
irgend etwas in diesem Hirn hängengelieben war. "Führst Du
nicht ein gutes Leben in meinem Hause? War nicht ich es, der dir
Deine baldige Hochzeit mit Adilah arrangierte? Hast Du vergessen, wer
es war...?"
Sicher
wäre ihm noch etwas eingefallen, was sein Sohn vergessen haben
könnte, doch er zeigte sich bereits einsichtig und entspannte sich
wieder.
"Verzeih,
Vater." murmelte er und noch etwas leiser: "Ich bin Deiner
nicht würdig..."
Er
hatte es trotzdem gehört und stimmte ihm durch sanftes Nicken zu.
Manchmal war Ali das wirklich nicht. Um wieviel vollkommener war doch
seine Tochter, die nun darnieder lag als wäre sie tot. Warum konnte
sie nicht Ali sein und Ali sie? Nicht nur, daß jemand mit Alis
Geistesfähigkeiten kaum in der Lage gewesen wäre, so ein Spiel mit
ihm zu treiben, nein, es wäre auch viel leichter gewesen, zu einer
Lösung zu kommen, die keine Restrisiken beinhaltete! Aber das waren
müßige Überlegungen, die weder jetzt noch sonst irgendwann zu
irgend etwas führten...
"Willst
Du es ihnen nicht erklären, Frau?" wandte sich Hassan an eben
diese, "Du hast doch anscheinend genauso viel gewußt wie ich?
Wolltest mich ebenso hintergehen wie sie..."
"Nein!"
entgegnete sie schnell. "Ich wußte es nicht. Ich konnte nicht
sicher sein. Man sieht es ja nicht! Ich hoffte, sie würde mit mir
reden und dann..."
Weiter
sprach sie nicht, aber was hätte folgen sollen, war nicht schwer zu
erraten. Hassan überging es. Es spielte im Moment keine Rolle.
Vielleicht würde er sich später noch mit ihr unterhalten. Jetzt
ging es um die Einweihung der Söhne, und er hoffte inständig, daß
das kein Fehler würde. Zwar hätte er sich gern noch eine Weile an
ihren dummen Gesichtern ergötzt, doch wenn er zu lange wartete,
würde das Vergnügen ins Gegenteil umschlagen, weil sie
offensichtlich nicht von selbst errieten, was vorgefallen war.
"Eure
Schwester hat Schande über dieses Haus gebracht! Sie hat den Namen
der Familie beschmutzt! Sie erwartet ein Kind, und es würde mich
nicht wundern, wenn sie selbst nicht wüßte, wer der Vater ist!"
"Wie
kannst Du so etwas sagen?" wandte seine Frau vorwurfsvoll ein.
Jedoch klang der Versuch, Zweifel zu wecken, nicht allzu kraftvoll.
Sie schloß die Möglichkeit wohl selbst nicht ganz aus.
Keiner
der Söhne antwortete; sie schauten abwechselnd zwischen ihm, der
Mutter und der Schwester hin und her. Das war ihm durchaus recht; er
hatte keine Lust auf lange Diskussionen. Mit ein paar klaren
Anweisungen sollte sich alles erledigt haben.
"Ich
denke, es versteht sich von selbst, daß dies ein Geheimnis innerhalb
des engsten Familienkreises bleibt? Und, Ali, was ist wohl der engste
Familienkreis?"
Der
Gefragte mußte nicht lange überlegen, Allah sei gedankt!
"Alle
in diesem Raum."
"So
ist es. Und laßt euch gesagt sein: Wenn mich ein Fremder auf unser
Geheimnis anspricht, werde ich nicht lange nach demjenigen suchen,
der es verraten hat! Ich werde von allen Wiedergutmachung verlangen,
einschließlich mir selbst. Denn wie könnte die Familie mit solch
einer Schmach weiterexistieren?" Er machte eine kurze Pause, um
der Bedeutung der Worte gerecht zu werden, dann fuhr er fort: "Bahiya
muß aus der Stadt fortgeschafft werden! Das ist eure Aufgabe, Ali
und Bashir. Bringt sie zum Landsitz nach Beerscheba. Er liegt
außerhalb und somit günstiger als dieses Haus hier. Dort sollte
kaum jemand vorbeikommen. Einer von euch wird immer in ihrer Nähe
sein, sie abschirmen, falls es doch nötig ist! Sie wird eine
Gefangene sein, um es möglichst einfach auszudrücken. Aber sie
bleibt auch eure Schwester, also behandelt sie als solche! Sie wird
ihr Kind dort zur Welt bringen, so Allah es will. Danach können wir
sie zurückholen."
Niemand
fragte, ob das Kind dabei sein würde, wenn es soweit war. Das war
gut. Es zeigte ihm, daß auch andere zu denken vermochten.
"Sie
wird es im Oktober bekommen," ergriff Hassan noch einmal das
Wort. Den überraschten Blick, den seine Frau ihm daraufhin zuwarf,
kostete er voll aus. "Bis dahin versucht ihr herauszufinden, wer
der Vater des Bastards ist! Vielleicht ist sie euch gegenüber
zugänglicher. Außerdem sollte ihr demnächst klar werden, daß
Heimlichkeiten keinen Sinn mehr haben."
"Ich
werde ihn töten, Vater!" bot sich Ali an, kaum daß Hassan zu
Ende gesprochen hatte. Das war wohl nicht anders zu erwarten gewesen,
aber statt einer Zusage gewährte er ihm nur einen vagen
Hoffnungsschimmer.
"Darüber
reden wir ein andermal."
Eine
Weile schwiegen alle.
Bashir
drückte seiner Schwester die Augenlider zu, weil er den Anblick wohl
nicht länger ertragen konnte. Danach strich er ihr sanft über das
Haar. Es war fast rührend anzusehen. Seine Mutter beobachtete ihn
dabei. Ali malte sich derweil Dinge aus, deren Art an seinem
schwachen Grinsen zu erraten war. Und Hassan nahm den letzten Schluck
aus seiner Tasse. Der Kaffee war schon kalt, so daß er unwillkürlich
das Gesicht verzog.
Schließlich
fragte seine Frau: "Was erwartest Du von mir?"
"Du
und ich, meine Teure, wir werden den Anschein einer tadellosen
Familie aufrecht erhalten. Ich frage mich, ob das nicht das schwerste
von allem ist..."


Der
Sohn der Sarazenin (IV)


Tage
vergingen.
Wochen
verstrichen.
Für
Hassan Massoud Abdul Abbas verlief alles nach Plan. Nun, fast alles.
In einer Sache schien er sich geirrt zu haben: daß Bahiya schon bald
aufgeben würde. Oder kam es darauf an, welche Zeitspanne man einem
'schon bald' zubilligte?
Was
die Preisgabe des väterlichen Namens anging, stellte sie seine
Geduld gehörig auf die Probe! Welchen Grund konnte es dafür noch
geben? War sie etwa verliebt? Das war das, was seiner Frau dazu
einfiel, und je länger er darüber nachdachte, desto schlüssiger
schien es auch ihm zu sein. Bahiya wollte den Vater decken, weil sie
wohl insgeheim wußte, daß aus ihrer Hingabe nichts werden konnte,
daß er mit einer Hochzeit der beiden nicht einverstanden sein würde.
Aber ohne Hochzeit müßte die Familienehre auf andere Weise
wiederhergestellt werden, so daß entweder das Vermögen des Mannes
oder seine Gesundheit beträchtlich darunter litten. Nach allem, was
Hassan bereits riskiert hatte, tendierte er klar zu letzterem. Wenn
er es geschickt anstellte, konnte aus letzterem sogar beides werden,
denn Tote brauchten ihren Besitz ja nicht mehr.
Wäre
der Vater ein angesehener Mann, gäbe es dieses Problem nicht. Es
würden sich sogar Mittel und Wege finden, ihn zur Hochzeit mit
seiner Tochter zu zwingen- falls er sich dieser verweigerte-, denn so
ehrlos es für die Frau war, ein uneheliches Kind zu empfangen, so
ehrlos war es auch, eines zu zeugen und danach zu verschwinden.
Keinen wahrhaft Gläubigen ließ es kalt, wenn seine lästerlichen
Affären an die Öffentlichkeit zu gelangen drohten! Nur manchmal
schienen die Betreffenden diese Grundsätze gesellschaftlichen
Zusammenlebens zu vergessen. So wie der Bey.
Hassan
grinste, als er an ihn dachte.
Als
der Bey vom Tod der Hure erfuhr, setzte er fast seinen hohen Posten
aufs Spiel, so geschockt war er. So unendlich traurig. Es war ein
Jammer, daß er das nicht hatte ausnutzen können! Er wagte es nicht,
weil es ihm zu riskant erschien. Der Bey verlangte die lückenlose
Aufklärung des Mordfalles; es spiele dabei überhaupt keine Rolle,
daß das Opfer unbedeutend und sogar geächtet gewesen sei. In seiner
Stadt würde er keine Mörder dulden! Ja, einmal redete er sich sogar
so sehr in Rage, daß er behauptete, er regiere lieber eine Stadt
voller Huren als eine voller Mordgesindel! Hassan hätte am liebsten
laut gelacht, aber das wäre wohl unangebracht gewesen. Stattdessen
riet er seinem Herrn eindringlich, derartiges nicht noch einmal zu
äußern, selbst wenn er ihm im entferntesten Sinne zustimmen würde.
Genauso legte er ihm schließlich nahe, den Mordfall zu vergessen,
die Spürhunde, die er darauf angesetzt hatte, zurückzurufen. Es
könne üble Nachrede daraus entstehen, wenn er sich zu sehr um eine
Hure schere. Daß ihm jeder Bürger der Stadt am Herzen liege, habe
er nach zwei Wochen angestrengter Ermittlungen zur Genüge gezeigt.
Der
Grund für das Zureden war einfach: Hassan fürchtete, daß
tatsächlich jemand Hinweise finden könnte, die ihn belasteten. Wie
auch immer. Wo auch immer. Unangenehme Gerüchte besagten jedenfalls,
daß manche der Leute, die in solchen Angelegenheiten für den Bey
tätig wurden, selbst gehörig Dreck am Stecken hatten. Normalerweise
gab er nicht viel auf Gerüchte; er nutzte sie bloß, um die Stimmung
im Volk zu überwachen und keine Neuigkeiten zu verpassen. Doch
irgendwie konnte er sich schon vorstellen, daß sich Verbrecher am
einfachsten durch andere Verbrecher fassen ließen, weil sie eben
wußten, wie sie dachten, wie sie vorgingen, wo sie einen Fehler
gemacht haben könnten. Er selbst hielt sich zwar nicht für einen
Mörder- nicht in dem Sinne, den er dem Begriff zumaß, nicht als
Beruf sozusagen-, und somit konnte sich nach seiner Überlegung auch
niemand in ihn hineinversetzen..., trotzdem konnte er durchaus viele
Fehler begangen haben.
Doch
darüber wollte er nicht länger nachdenken. Es hatte sich ja ohnehin
erledigt. Die Ehebrecherin war bestattet, ihre wenigen Besitztümer
an Bedürftige verteilt, und in ihrem Haus wohnten bereits andere,
nicht weniger bedauernswerte Gestalten. Das Leben in der Stadt ging
weiter wie eh und je. Manche mußten vielleicht Abstriche machen und
ihre fragwürdigen Leiden anderswo behandeln lassen, aber was
bedeutete das schon? Hassan lachte innerlich darüber, und auch, wenn
aus seiner Sicht noch nicht alles im Lot war, war er doch froh,
zumindest den Faden fest in der Hand zu halten, an welchem das Lot
pendelte.
Er
war geduldig.
Er
hatte Zeit.
Und
wenn es schwer wurde, die Ruhe zu bewahren, hatte er genug um sich
herum, womit er sich ablenken konnte. Über seine Tochter, in ihrem
noblen Verlies, ließ sich nur schwerlich dasselbe sagen. Sie würde
schon mürbe werden... irgendwann. Und falls nicht, würde sie
spätestens im Oktober ihr Schweigen brechen. Ihr Kind würde das
letzte Druckmittel sein.
In
jedem seiner Gebete brachte er den Wunsch zum Ausdruck, daß er davon
keinen Gebrauch machen müsse.


Bahiyas
Verlies war ein zweigeschossiges Haus auf dem Lande, dessen
herrschaftlicher Status mehr durch die darum gezogene Mauer als durch
äußeren Schmuck zur Geltung kam. Der Vater bezeichnete es zwar als
seinen Landsitz, hielt sich selbst jedoch kaum jemals hier auf.
Inmitten von Feldern und Plantagen gelegen, versprach es Ruhe und
Abgeschiedenheit, wonach ihn nur selten verlangte. Er mochte den
Trubel der Stadt viel zu sehr, als daß er lange Zeit ohne ihn
auskäme, und zum Nachdenken reichte ihm wohl die Stille in der
Moschee. Bahiya hingegen lernte die Vorzüge ihres Gefängnisses
schon bald zu schätzen.
Es
gab für sie keinen Zweifel daran, daß es ein Gefängnis war. Die
Einsamkeit, die sie in den Mauern umfing und die sie auch sah, wenn
sie vom Balkon in die leere Weite hinausblickte, drückte in den
ersten Tagen sehr auf ihre Stimmung. Die einzigen sichtbaren Menschen
waren die Arbeiter auf den Feldern, zu weit entfernt, um von ihren
Scherzen oder von den Liedern, die sie bestimmt sangen, etwas
mitzubekommen. Zum Reden hatte sie nur ihren Bruder Bashir, der es
jedoch vorzog, wie ein Wachhund durchs Haus zu schleichen oder außen
darum herum. Das schmerzte, denn eigentlich hatte sie immer ein gutes
Verhältnis zu ihren Brüdern gehabt. Auch schmerzte das Fehlen der
Freundinnen, das Herumalbern mit ihnen, das gemeinsame Einkaufen auf
dem Basar, die Besuche der Moschee, das Knuddeln ihrer Kinder. (Wenn
sie an die Kinder dachte, strich sich Bahiya unwillkürlich über den
eigenen Bauch.) Selbst die Mutter fehlte ihr. Beim Aushelfen in der
Küche oder beim Bewältigen des sonstigen Haushalts hatten sie zwar
auch nur über Belanglosigkeiten gesprochen, aber selbst das war
besser als die drückende Stille vor Ort. Hier gab es nur
zwitschernde Vögel, lärmende Insekten und manchmal etwas Wind, der
Blätter rascheln oder Sandkörner gegen die Hauswand prasseln ließ.
Es
brauchte ungefähr eine Woche, bis Bahiya bemerkte, wie gut ihr das
alles tat.
Keine
Lügen mehr, wenn ihr plötzlich unwohl wurde... keine
Schauspielerei. Keine Angst, in der Öffentlichkeit zu versagen!
Jetzt konnte sie ganz einfach schwanger sein, sich voll und ganz
darauf konzentrieren, die Erfahrung wirklich erleben und ja, sie
sogar auskosten! Es war, als würde ihr Körper sie dafür belohnen,
daß all die Anspannungen verflogen waren, daß sie ihn zu nichts
mehr zwang, bloß, um irgendeine heikle Situation durchzustehen. Sie
konnte wieder mit ihm im Einklang leben. Sie fühlte sich gut.
Von
Zeit zu Zeit, wenn sie am Herd stand und für zwei Leute ein Mahl
zubereitete, summte sie sogar leise vor sich hin.
Doch
sie wäre nicht die Tochter von Hassan Massoud gewesen, hätte sie
dabei nicht immer darauf geachtet, daß ihr Bruder gerade nicht in
der Nähe war! Er durfte es nicht hören. Trotz all der
Unbeschwertheit, mit der sie in den Tag hineinleben konnte, galt es,
ein Grundmaß an Vorsicht zu bewahren! Die bedrückende Einsamkeit
stand einem längerfristigen Rausch ohnehin im Wege; auf Dauer konnte
sie schließlich nicht auf andere Menschen um sich herum verzichten.
Das rief ihr immer wieder zu Bewußtsein, daß sie nicht zu ihrem
Vergnügen hier war! Ihr Vater hatte sie eingesperrt, um am Ende das
zu bekommen, was er wollte: einen Namen... oder das Kind. Bahiya
konnte nicht einmal mit Gewißheit ausschließen, daß er ihr beides
nehmen würde, wenn es ihm notwendig erschien.
Ihr
Kampf war noch nicht zu Ende! Zuerst mußte es einen Sieger geben!
Sie mußte über ihren Vater triumphieren, und sie traute sich
durchaus zu, das zu schaffen. Weil er Niederlagen nicht gewohnt war,
weil er sich stets so überlegen fühlte, daß er mit Niederlagen gar
nicht rechnete.
Der
Name, den er hören wollte, bedeutete ihr nichts. Nun ja, kaum noch
etwas, verbesserte sie. Jeden Tag weniger. Doch das machte alles
nicht einfacher.
Nachdem
sie endlich eingesehen hatte, daß es damals keinen Beginn einer
Liebschaft gegeben hatte, sondern nur eine Begegnung, fiel es ihr
auch immer leichter, den Namen in Gedanken mit einem gewissen Abscheu
zu sprechen, mit einem gehörigen Maß an Verachtung und von
Verwünschungen begleitet. Trotzdem widerstrebte es ihr, ihn zu
verraten, denn genauso sehr verachtete und verwünschte sie sich
selbst, weil sie sich auf das verhängnisvolle Spiel eingelassen
hatte. Die Schwangerschaft war die Strafe dafür. Allah hatte sie ihr
auferlegt. Damit mußte sie alleine fertig werden, denn der Tod des
Vaters würde in den Augen der Richter nur ein Drittel der Sühne
ausmachen. Er war ein Ungläubiger gewesen, und weil sie sich mit
einem solchen eingelassen hatte, mußte auch sie sterben. Und das
Kind.
Das
war nach wie vor die schlimmste Vorstellung. Es ging ihr nicht um
Rache (noch nicht?); es ging darum, sich selbst und das Kind zu
schützen!
Wenn
ihr nichts einfiel...
"Bahiya!"
...
würde sie fliehen müssen. Ein Gedanke, der ihr so gar nicht gefiel,
vor dem sie sich beinahe fürchtete. Wohin sollte sie? Womit? Wie
weit...?
"Bahiya,
warum hörst Du nicht? Ich habe schon dreimal nach dir gerufen!"
Sie
saß in der Küche, mit dem Rücken zur Tür, und als sie endlich die
Stimme des Bruders vernahm, schnitt sie sich beinahe in den Finger
vor Schreck. Sie war dabei gewesen, Kräuter klein zu hacken, mit
denen sie den Bauch zweier Tauben füllen wollte, ungeachtet der
mütterlichen Ansichten, daß man Kräuter lieber im ganzen beließ.
Nun drehte sie sich schuldbewußt auf ihrem Schemel herum und schaute
entschuldigend wie fragend ihren Bruder Ali an. Daß er dort stand,
anstelle von Bahir, erinnerte sie daran, daß sie bereits die vierte
Woche hier war. Bahir war gegangen, Ali gekommen, Bahir gegangen, Ali
gekommen...
Er
stand im Türrahmen und wirkte leicht verärgert. In den Händen
hielt er fünf Lederschläuche, die er ihr nun entgegenstreckte.
"Fülle
diese mit Milch, Wasser oder mit kaltem Tee! Was immer wir entbehren
können! Und mache fünf Päckchen mit haltbarem Essen zurecht: Brot,
Würste, getrocknetes Fleisch... sei nicht knauserig! Dann komm' nach
draußen und bringe alles mit!"
Sie
stand etwas verdutzt auf und nahm die Schläuche entgegen. Doch bevor
sie fragen konnte, für wen oder was diese Dinge benötigt wurden,
hatte er schon kehrtgemacht und war verschwunden. Ohne zu zögern,
machte sie sich daran, der Aufforderung nachzukommen.
Zunächst
schuf sie etwas Platz auf dem Tisch, indem sie alles für das
Mittagsmahl bestimmte beiseite schob. Dann holte sie fünf kleine
Tücher aus einem Regal, die sie nebeneinander ausbreitete. Darauf
verteilte sie die gewünschten Nahrungsmittel, legte noch
Knoblauchzehen und Zwiebeln dazu sowie kleine Extrapäckchen, die ein
Pulver aus zerstoßenen Bohnen, Fleisch und Gewürzen enthielten, was
mit Wasser aufgekocht eine ganz gute Suppe ergeben würde. Zum Schluß
verknotete sie die Ecken der Tücher miteinander.
Die
Lederschläuche füllte sie mit Wasser aus einem großen Faß, denn
Tee hätte sie erst kochen müssen, und das Auftreten des Bruders
ließ eher auf Eile schließen. Milch hingegen erschien ihr wegen der
Hitze draußen unangebracht.
Damit
sie nicht mehrmals laufen mußte, stapelte sie die Proviantpakete im
angewinkelten linken Arm, ergriff die Schläuche allesamt mit der
rechten und machte sich dermaßen bepackt auf den Weg in den Hof.
Beide
Torflügel standen einladend offen.
Die
fünf Gäste mußten es jedoch wirklich eilig haben, denn sie saßen
noch immer im Sattel ihrer Pferde und hatten nicht einmal den Bogen
passiert. Sie standen halb draußen und halb drinnen und unterhielten
sich angeregt mit ihrem Bruder. Drei Dutzend Schritte waren es bis zu
der Gruppe, und Bahiya seufzte leise, weil es nicht so aussah, als ob
ihr jemand helfen wolle. Sie wurde nicht einmal bemerkt, bis sie am
Tor angekommen war und den Fremden Allahs Frieden gewünscht hatte.
Gleich darauf erkannte sie, daß sie wohl- Höflichkeit hin oder her-
etwas ziemlich unpassendes gesagt hatte.
"Der
Friede sei mit dir, Schönste der Schönen." antwortete lächelnd
einer der gut gerüsteten Reiter. "Wir ziehen in den Krieg und
hoffen, daß er dich nicht erreichen wird."
"Nach
Jerusalem." fügte Ali mit einem Seitenblick hinzu.
Die
Erleuchtung, die Bahiya in diesem Augenblick überkam, war so
gewaltig, daß sie beinahe alles fallengelassen hätte. Ihr war, als
sei in einem wirklich dunklen Verlies eine Tür aufgestoßen worden,
und das hereinflutende Licht wies ihr den einzig möglichen Ausweg.
Jerusalem... Krieg....
Sie
selbst erkannte ihre Stimme kaum wieder, so rauh und belegt klang sie
bei ihrer Antwort.
"Ich
werde für unseren Sieg beten."
Fast
hätte sie 'meinen Sieg' gesagt.


An
einem Nachmittag Ende Juni saß Hassan im Innenhof seines Hauses auf
einer Bank und ging seiner Arbeit nach.
Er
war aus der Amtsstube geflüchtet, weil ihm die Luft dort zu stickig
und die Gerüche zu unangenehm geworden waren. Bei den herrschenden
Temperaturen dauerte es nie lange, bis die überall verteilten
Duftschalen vor den Ausdünstungen der Schreiber kapitulieren mußten.
Im eigenen Garten war es da weit angenehmer. Hier duftete es nach
Blumen und Kräutern, Palmen spendeten Schatten, und in einem kleinen
Teich ließen sich bei Bedarf die Füße kühlen.
Vor
sich hatte er ein Gestell aufgebaut, auf dem ein dickes Buch ruhte.
Dort hinein übertrug er Zahlen und Anmerkungen, welche er aus
Briefen und Listen entnahm, die überall auf der Bank verstreut
lagen. Keine sehr anstrengende Arbeit, aber dennoch eine, die
Konzentration und Ausdauer erforderte.
Seine
Konzentration wurde jedoch gestört, als plötzlich eine gewisse
Unruhe im Haus ausbrach. Jemand eilte rufend von Zimmer zu Zimmer,
erst in der unteren Etage, dann in der oberen.
Hassan
schaute entnervt auf, als die Stimme klar von der Arkade über ihm
ertönte, die den gesamten Hof umfaßte. Es war Ali.
"Vater,
da bist Du ja!"
Er
war zu früh dran; sein Bruder war erst vor vier Tagen aufgebrochen,
um ihn in Berscheeba abzulösen. Folglich mußte Ali den Weg, für
den man gute drei Tage brauchte, an nur einem bewältigt haben. Oder
er hatte nicht auf seine Ablösung gewartet und war früher
aufgebrochen! Wie auch immer, Hassan würde es gleich erfahren und
versuchte derweil, sich gedanklich auf den nahenden Ärger
vorzubereiten.
Es
dauerte nicht lange, bis Ali in den Innenhof gestürzt kam. Auch sein
Anblick bestätigte sämtliche Verahnungen.
Er
sah übernächtigt aus und hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht,
sich vom Staub zu befreien, der ihn von Kopf bis Fuß bedeckte.
Ströme von Schweiß hatten deutliche Spuren hinterlassen:
verkrustete Haare, schmutzige Linien im Gesicht, dunkle Flecken unter
den Achselhöhlen. Sein Hemd stand vorne ungebührlich weit offen, so
daß auch seine vor Nässe triefende Brustbehaarung zu sehen war.
"Vater....!"
fing er, völlig außer Atem, wieder zu rufen an, obwohl das nun
völlig überflüssig war. Hassan, der ihm ein paar Schritte entgegen
gegangen war, befürchtete, er würde auch den Rest von Würde und
Anstand vergessen. Erst im letzten Moment erinnerte sich der Sohn
daran, was von ihm zur Begrüßung erwartet wurde. Er beugte die Knie
und ergriff die rechte Hand des Vaters, bevor dieser Gelegenheit
gehabt hätte, den Federkiel beiseite zu legen. Etwas unwirsch ob
dieses Drängens- und auch um zu verhindern, daß etwas von der
widerwärtigen Nässe darauf gelangte- entzog er sie ihm, bevor der
übliche Kuß erfolgen konnte.
"Wie
kannst Du es wagen, mir so gegenüber zu treten?" unterband
Hassan von vornherein sämtliche Worte.
"Vater...
verzeih'... ich mußte... ich wollte doch nur..."
"Hör
auf, so zu stammeln! Und steh auf! Bist Du so durch die ganze Stadt
geeilt? Hat dich auch jeder gesehen? Ich hoffe für dich, daß es
einen triftigen Grund dafür gibt, daß Du mir wie ein verwahrloster
Bettler vor Augen trittst? Etwas, das es mir einfacher macht, den
baldigen Spott der Leute zu ertragen?"
"Ja,
Vater, den gibt es..."
"So?
Ich höre!"
"Der
Sturm... Jerusalem... der Sturm auf Jerusalem hat begonnen!"
"Ah,
pah!"
Hassan
hob wutschnaubend die Hand, um seinen Sohn zu schlagen, aber dann
fiel ihm ein, daß er ihn nicht wirklich berühren wollte. Ruckartig
wandte er sich von ihm ab und ging zu seiner Bank zurück. Dort ließ
er sich wieder vor seinem Buch nieder, während Ali ihm folgte wie
ein Hund, der tatsächlich geprügelt worden war. Ignorieren war in
diesem Fall besser als Schläge, entschied Hassan. Doch es gelang ihm
nicht so recht, denn Alis Anwesenheit verhinderte, daß er sich ohne
weiteres wieder in seine Arbeit vertiefen konnte.
"Glaubst
Du, damit erzählst Du mir etwas neues? Jerusalem, Jerusalem! Seit
Tagen und Wochen höre ich nichts anderes mehr! Was denkst Du wohl,
was ich hier tue? Was ist das, was hier überall herumliegt?"
"Ich
weiß es nicht..."
"Natürlich
weißt Du das nicht! Wenn Du klüger wärst, könntest Du's
vielleicht erraten! Ich will es dir sagen: es sind unbeantwortete
Briefe und ausufernde Korrespondenzen! Höfliche Anfragen und
unverschämte Forderungen! Schmeichelei und Erpressung! ... Das
übliche Wortgeplänkel höherer Ebenen! All das kommt aus Jerusalem,
aus den Amtsstuben des dortigen Bey, aus den Quartieren seiner
Garnisonskommandanten, aus den Häusern bedeutender Fernhändler! Ja,
und auch aus den Zelten der verbündeten Heerführer, die zusammen
mit unseren Feinden die gesamte Gegend kahlfressen! Und was wollen
sie? Alle dasselbe: noch mehr zu fressen! Desweiteren Holz für die
Schmiedefeuer und Eisen für den Amboss! Stein, um Schäden zu
reparieren oder zusätzliche Wälle in den Straßen zu errichten!
Tücher und Stoffe, um Wunden zu verbinden und Krankenlager zu
errichten; Räucherwerk für selbige, um den Gestank des Todes aus
ihnen zu vertreiben! Waffen und Rüstzeug, selbstverständlich! Am
besten gleich mit Männern darin! ..."
Hassan
hatte einige der Schreiben ergriffen und wild mit ihnen
herumgefuchtelt. Nun ließ er sie achtlos zu Boden fallen und raffte
an anderer Stelle sogleich neue zusammen, um das Spiel zu
wiederholen.
"Und
das hier? Das sind die Bitten und Klagen unserer Leute, und ich kann
dir sagen: ich bin unsagbar froh darüber, daß die wenigsten in
dieser Stadt des Schreibens mächtig sind! Sonst wäre es noch viel
mehr! Die große Masse stürmt tagtäglich auf die Verwaltung ein und
muß bald mit Waffengewalt abgewiesen werden! Unsere Händler jammern
über die horrenden Abgaben, die Frauen über den Fortgang von
Ehemännern und Söhnen! Die Lagerhäuser der Stadt sind leer, die
geheimen Geldverstecke der Gemeinen ebenso! Gaza kann kein Korn mehr
erübrigen, wenn es selbst nicht hungern will! Denn auf den Feldern
gibt es kaum noch genug Arbeiter, um die nächste Ernte einzubringen!
Sie sind bereits alle in Jerusalem, ob mit oder ohne Rüstzeug; wir
können niemanden mehr schicken, wenn das Leben in der Stadt nicht
vollends zum Erliegen kommen soll! Wir wollen auch nichts mehr
schicken, denn wie es scheint, ist schon die letzte Lieferung nicht
angekommen! Den Bittstellern und Forderern dies klar zu machen, ist
eine schwere Aufgabe, also störe mich nicht dabei! Ich will von
Jerusalem nichts mehr hören, bis die Stadt frei... oder gefallen
ist!"
Ali,
der bisher kein Wort mehr zu sagen wagte, schien nach dem
abschließenden Satz einen ganzen Kopf größer zu werden. Er reckte
das Kinn vor und antwortete fast trotzig: "Jerusalem wird nicht
fallen! Jerusalem darf nicht fallen!"
"Was
kümmert es dich?" fragte Hassan, durch eine abfällige
Handbewegung seinen Unwillen unterstreichend, überhaupt weiter
darüber zu reden. "Bist Du je dort gewesen?"
"Nein,
Vater. Aber wenn es fällt, wird unser Feind doppelt triumphieren!
Laß uns beten, daß dies nicht geschieht!"
Hassan
antwortete nicht darauf; er bemerkte die Andeutung nicht einmal.
Vielleicht, weil er diesen Sohn nicht für imstande hielt, versteckte
Andeutungen zu machen. Er wiederholte nur stumm, daß er zu tun habe,
indem er auf sein Buch und die herumliegenden Schreiben deutete und
fing dann an, sie vom Boden aufzusammeln. Einen Moment schaute ihm
Ali stirnrunzelnd zu, dann bückte auch er sich, um seinem Vater zu
helfen. Bis sie den letzten Brief aus einem dornigen Rosenstrauch
geborgen hatten, blieb ihm genug Zeit, sich seinen nächsten Satz
noch gründlicher zu überlegen.
"Laß
uns beten, Vater," wiederholte er, als sie sich beide erhoben,
"daß der Mann, der uns verhöhnt, vor den Mauern Jerusalems
sein Ende findet!"
Das
hatte gesessen! Diesmal war es ein Volltreffer! Ali kostete es voll
aus.
"Was
sagst Du da?" flüsterte Hassan, plötzlich nicht mehr in der
Lage, lauter zu sprechen. Als sein Sohn nicht antwortete, packte er
ihn an den Schultern, zog ihn nahe zu sich heran und fragte noch
einmal, im selben, gefährlich leisen Ton: "Was soll das
heißen?"
So
sehr sich Ali über seinen rhetorischen Erfolg auch freute, er mußte
dennoch erst schlucken, als er das Funkeln in des Vaters Augen sah.
"Der
Vater des Kindes meiner Schwester, Deiner Tochter, ist ein
Kreuzritter aus Byzanz."
Den
darauf folgenden Wutschrei konnte die gesamte Nachbarschaft
vernehmen. Doch selbst wenn sich Hassan in diesem Moment darüber im
klaren gewesen wäre, wer nun alles die Ohren spitzte, hätte er sich
nicht beruhigen können. Nicht beruhigen wollen! Das war einfach zu
unfaßbar für ihn!
Er
stieß den Sohn so heftig von sich, daß dieser rückwärts in ein
nahes Gesträuch stolperte und sich nur mühsam auf den Beinen halten
konnte. Danach packte er das Buch, schleuderte es ihm kurzerhand
hinterher und verpaßte zum Abschluß auch dem Gestell noch einen
Tritt, der es geradewegs in den Teich katapultierte. Er riß sich den
Turban vom Kopf, tobte und schrie, bis er kaum noch Luft bekam. Und
als er dann nicht mehr schreien konnte, raufte er sich nur noch
verzweifelt die Haare, während er unaufhörlich mit großen
Schritten den Innenhof durchmaß.
Schließlich,
als es eigentlich so aussah, als hätte er sich wieder unter
Kontrolle, zog er seinen Dolch und schritt an Ali vorbei ins Haus.
"Das
ist zu viel! Ich bringe sie um!" murmelte er dabei.
Es
waren diese Worte, die dem Sohn dabei halfen, den eigenen Schock zu
überwinden.
"Nein!
Nein, das darfst Du nicht!"
Noch
nie hatte er den Vater so wütend erlebt. Auch wenn er Grund hatte,
es zu sein, verlor er nie die Beherrschung. Und es schien, als sei
dieser Ausnahmefall noch nicht vorüber, denn ein normaler Vater
würde so nicht auf die Straße gehen: ohne Kopfbedeckung, mit
zerzausten Haaren, glutrotem Gesicht und einer Waffe in der Hand!
Ali
rappelte sich auf, eilte hinter ihm her und hielt ihn am Arm fest.
Hassan
schüttelte ihn ab wie ein lästiges Anhängsel und schritt unbeirrt
weiter.
"Das
darfst Du nicht! Sie kann doch nichts dafür! Er hat sie gezwungen!
Er hat ihr Gewalt angetan! Oh, Vater, wenn sie sich nicht so große
Sorgen gemacht hätte, wie Du es aufnimmst, hätte sie es dir
erzählt! Sie wollte nicht, daß Du dich grämst! Vater, ich bitte
dich, sie ist meine Schwester! Töte sie nicht! Nicht sie hat den Tod
verdient..."
Sie
hatten bereits die Vorhalle erreicht, als Hassan endlich stehen
blieb.
Es
rührte ihn, wie Ali seine Schwester verteidigte. Allein die Worte
rührten ihn. Er mußte zugeben, daß sein Sohn recht hatte. Bahiya
würde ihn nicht dermaßen bloßstellen, indem sie freiwillig mit
einem Ungläubigen verkehrte! Und es paßte auch zu ihr, daß sie
diese Schande- als solche mußte sie ihren Zustand wohl empfinden,
auch wenn sie keine Schuld traf!- für sich behalten würde, daß sie
ihn nicht unnötig mit ihren Sorgen belastete. Noch nie hatte er sich
wegen ihr Gedanken machen müssen, außer, was ihre Ablehnung
gegenüber günstigen Heiratsvorschlägen anging. Bahiya war sein ein
und alles. Sie zu verstoßen, würde ihm das Herz brechen. Sie zu
töten, würde ihn selbst zugrunde richten.
Dem
Großmächtigen sei gedankt, daß er keines von beidem tun mußte!
Dem
Großmächtigen sei ebenso gedankt, daß ihn Ali, der Taugenichts,
vor einem großen Fehler bewahrt hatte!
Die
Erleichterung kam so unerwartet über ihn, daß er beschämt den Kopf
senkte und zu weinen anfing. Daran war nichts falsches. Daran war
nichts schwächliches. Auch ein Hassan Massoud Abdul Abbas durfte
weinen, wenigstens lautlos.
Ali
legte tröstend einen Arm um seinen Vater.
***


Es
ist das Jahr 402 nach der Hidschra, als das Heilige Land von einem
strengen Winter befallen wird.
Über
Nacht bedeckt Schnee die Straßen und die Dächer Gazas. Eine
hauchdünne Schicht nur, doch auch das ist viel mehr als hierzulande
üblich. In den Chroniken der Geschichtsschreiber muß man weit
zurückblättern, um von ähnlichen Erscheinungen zu lesen. Für
jeden in Gaza, der nicht über das Meer zu reisen pflegt, um in
fernen Ländern Handel zu treiben, ist es ein völlig neuer Anblick,
und er vermittelt ihm eine vage Vorstellung davon, unter welchen
Bedingungen die barbarischen Völker im hohen Norden leben.
Überall
glitztert und funkelt es im Licht der noch jungen Morgensonne.
Das
ungewohnte Leuchten schmerzt in den Augen.
Doch
es hat etwas himmlisches an sich, und deshalb stehen viele Leute
andächtig vor ihren Häusern, staunend, in Ehrfurcht verharrend.
Hassan
überblickt das ganze von einem Fenster im Obergeschoß seines
Hauses. Er hält seinen zweijährigen Enkel im Arm, der mindestens
ebenso fasziniert ist wie all die Erwachsenen. Das rechte Ärmchen
hat er um den Hals des Großvaters geschlungen, während er am linken
Daumen lutschend in die weiße Pracht hinausschaut. Ganz still ist
er. Nur manchmal läßt er ein leises Glucksen hören, das freudig
und aufgeregt klingt. Immer dann lächelt Hassan, und auf seinem
bärtigen Gesicht zeigt sich ein Ausdruck wahren Glücks.
An
manchen Tagen, vor allem während der Arbeit, wenn er ein
entsprechendes Schreiben in die Hände bekommt, da denkt er noch an
Jerusalem. Er denkt an Blut und Rauch und Trümmer und an ungezählte
Tote vor den Mauern. Vor allem an den einen, an den jungen Krieger
aus Byzanz, der sterbend den Hals seines bereits toten Pferdes
umklammert. Er sieht die Furcht in seinen Augen, aber auch das Flehen
nach Erlösung. Hassan gewährt sie ihm...
'Nicht!'
Er
gewährt sie nicht, denn er hat Stunden damit zugebracht, zwischen
den Toten und Verwundeten umherzugehen und nach ihm zu suchen. Nach
dem einem, auf den die Beschreibung paßt, die Ali ihm gegeben hat,
die jener von Bahiya bekommen hat: jung, kräftig, mit dunklen Haaren
und dem Anflug eines Bartes im Gesicht ... im Besitz eines schwarzes
Pferdes. Erst später wird Hassan klar, daß diese Beschreibung auf
nahezu jeden Mann gepaßt hätte, den man auf fünfzig Schritte in
einer Nebelbank erspäht. Das ist der Grund, weshalb er nicht
wirklich aufhören kann, an jenen Tag zu denken. Damals ist er
überzeugt, den richtigen gefunden zu haben, und seine Wut und sein
Abscheu sind größer als sein Mitgefühl. Triumphierend schaut er
auf ihn herab, Ali neben sich. Der junge Mann bettelt nach Wasser
oder nach dem Tod durch eine Klinge. Doch er bekommt kein Wasser, und
er soll langsam sterben. Hassan schaut ihm dabei zu, bis die
ruhelosen Lippen leicht offenstehend erstarren und das letzte Licht
in den fremden Augen erlischt. Danach überkommt ihn tiefe
Zufriedenheit, und er denkt: Allah ist groß. Zumindest an diesem Tag
denkt er das. Und auch noch am nächsten. Und die folgenden Wochen.
Doch
die Zweifel kommen schneller als das Vergessen. Und wie so oft
erweisen sie sich als hartnäckiger.
Zwei
Jahre hat er nun gehabt, das Gesicht zu vergessen. Aber er kann es
nicht, und des öfteren ertappt er sich dabei, wie er es mit jenem
des heranwachsenden Enkels vergleicht. Bis auf die immer dunkler und
dichter sprießenden Haare gibt es keine Ähnlichkeit. Aber wie
töricht muß man eigentlich sein, um zu glauben, zwischen dem
unschuldigen Gesicht eines Kleinkindes und der im Tod verzerrten
Fratze eines Erwachsenen könne überhaupt eine Ähnlichkeit
bestehen?
Von
Zeit zu Zeit bringt es Hassan tatsächlich fertig, sich selbst für
seine Ruhelosigkeit zu verfluchen.
Aber
Schluß jetzt! Heute ist ein schlechter Tag, daran zu denken!
Heute
liegt Schnee in Gaza, eine himmlische weiße Decke, leuchtend,
funkelnd, glitzernd. Sie bedeckt nicht nur Häuser und Straßen,
sondern auch die Seelen und Gemüter der Menschen. Mit jedem Atemzug
nehmen sie ein Stück von der Ruhe und dem Frieden in sich auf. Das
sollte auch er endlich tun!
Beim
Barte des Propheten, das sollte er wirklich!
Der
Muezzin ruft vom Minarett der großen Moschee.
Vom
Stadtrand ertönt die Glocke einer christlichen Kirche.
Nie
ist Jerusalem weiter weg gewesen als in diesem Augenblick.


Die
Tür des Zimmers öffnet und schließt sich hinter ihm, und an den
Schritten hört er, wie Bahiya hinter ihn tritt.
"Woran
denkst Du?" fragt sie nach einer Weile.
"An
Allahs Größe." antwortet Hassan, ohne lange zu überlegen.
Damit hat er alles und nichts gesagt, vor allen Dingen die Wahrheit.
Er
weiß das.
Bahiya
weiß das.
Und
vielleicht weiß es sogar der kleine Ameer, der sich vom Klang der
mütterlichen Stimme hat ablenken lassen und nun die Hände nach ihr
austreckt.
"Allah!"
plärrt er nach, aber es klingt wie 'Al-lerr', und weil die
Erwachsenen das zum Lachen komisch finden, stimmt auch er mit ein. 
 
__________________________________________________________________________________
Randbemerkung:
Die Geschichte ist natürlich pseudohistorisch, aber so eine Rubrik gibt's nicht. Schon ein Grundschullehrer würde sie mir um die Ohren hauen. Das fängt mit Begrifflichkeiten wie Sarazenen an, geht über byzantinische Kreuzritter und endet... naja... irgendwo, bei falschen Jahreszahlen. Ist mir alles klar. Daß es so ist, liegt an den Umständen, unter denen sie entstand. (Rollenspiel in einer Was-wäre-gewesen-wenn-Welt) Sie gefällt mir aber trotzdem, und wenn ich mal Lust habe, passe ich sie vielleicht an die gängigen Geschichtsbücher an.
Wer bis hierher gekommen ist, hat sich hoffentlich trotz all dem nicht zu sehr geärgert. ;)

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Der Beitrag wurde von Oliver Jäckel auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.07.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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