Bernhard Pappe

Traum-Raum


Ich betrete diesen Raum durch eine recht enge und niedrige Tür. Innen weiße, schmucklose Wände, ein gestampfter Lehmboden. Durch verhangene Fenster fällt lediglich schummriges Licht. Meine Augen gewöhnen sich langsam daran. Auf Bänken, die mit dem Mauerwerk eins sind, drängen sich Menschen. Ich eile möglichst geräuschlos zu einem freien Platz.
Gleich neben der Tür steht barfüßig ein Mann, der nur in einen grobgewebten Kaftan gehüllt ist. Durch mein Kommen ist die Tür einen Spalt offengeblieben, er verschließt sie sorgfältig. Die Menschen ringsum schauen ihn fordernd an, er möge mit seiner unterbrochenen Rede fortfahren. Männer und Frauen, beugen sich weit zu ihm vor, um ja keine seiner Geste, ja keines seiner Worte zu verpassen, signalisieren mit ihrem Kopfnicken stille Zustimmung, ohne Erwiderungen und ohne Fragen. Der Mann steht den Menschen gelassen gegenüber. Sein freundliches hageres Gesicht, welches ein dünner Bart zierte, wirkt wohlwollend und entspannt. Auf dem Boden neben ihm sehe ich Münzen in verschiedenen Farben. Sind sie ein Lohn für seine Ausführungen oder spricht er über Geld?
Ich blicke auf den Redner, mustere seine Anhänger und frage mich nach meiner Rolle in diesem Raum. Männer und Frauen hatten mich mit ernsten Blicken für die Störung beim Eintreten bestraft. Niemand nimmt mehr Notiz von mir. Bin ich etwa kein Fremder unter ihnen, sondern gehöre jener verschworenen Gemeinschaft an, die offensichtlich die Öffentlichkeit scheut? Wer spricht da - ein Philosoph oder ein Prophet? Die Ekstase seiner Worte breitet sich nicht in mir aus. Ich habe Fragen, schweige jedoch. Seine Glaubenssätze überzeugen mich nicht, noch nicht. Sie sickern langsam in mich ein. Ein Gedanke durchzuckt mich. Was, wenn ich eines Tages durch die Welt wandere, um sie zu verbreiten?

Ich öffne die Augen. Der Traumfetzen ist wieder auferstanden. Alles ist so klar - der Raum, die Menschenmenge, der Redner. An Schlaf ist nicht mehr zu denken und stehe deshalb auf. Das Nachdenken über den Traum wird alle Müdigkeit verdrängen. Ich weiß um dieses Gefühl seit Monaten.
Ich gehe ins Bad, streife das Oberteil des Pyjamas ab und spitze mir händeweise kaltes Wasser ins Gesicht. Mein Bild im Spiegel, Tropfen rinnen an meinen Gesichtszügen hinab. Ein Gefühl der Unwirklichkeit überkommt mich, da scheint die Erinnerung an eine buddhistische Meditation auf: Schaue in einen Spiegel. Sei neugierig, aber entspannt. Halte deine Augen offen, widerstehe dem Reflex des Zwinkerns. Dein Gesicht wird sich wandeln und du wirst in das Antlitz früherer Leben schauen können. Zuerst passiert nichts, doch dann wandelt sich mein Gesicht im Spiegel. Zumeist wird es jünger, hagerer, aber es altert auch… Ein Wimpernschlag beendet abrupt den Reigen der Bilder. Meine rechte Hand berührt sanft mein Gesicht, weich ist es und dennoch fest. Ich ziehe das Pyjamaoberteil an, durchquere das Wohnzimmer und trete hinaus auf den Balkon.
Die Nacht ist kühl, mich fröstelt ein wenig, aber ich bleibe, umklammere mit beiden Händen das Geländer und schaue hinauf zum Himmel. Der Lichtschmutz der Großstadt mildert seine Schwärze, legt sich zugleich über das Funkeln der Sterne. Ich fühle mich wie der Kapitän auf der Brücke – volle Kraft voraus pflügt die kleine Erde durch den riesigen Kosmos. Sie dreht sich unablässig, aber mir schwindelt nicht dabei. Ich löse meine Hände vom Balkongeländer und treten einen Schritt zurück. Ich muss nichts umklammern, um zu dieser frühen Stunde Halt zu haben. Eine weitere Erinnerung steigt in mir auf. Ich war wohl noch keine 10 Jahre alt, da verfolgten mich im Traum Skelette, durch viele Nächte hindurch. Damals hatte ich Angst davor einzuschlafen. In meinem Traum lief ich stets weg, die Skelette erreichten mich nie. Irgendwann war es mit dem Traum vorbei. Vielleicht bin ich einmal nicht weggerannt, sondern habe ihnen furchtlos in ihre leeren Augen geblickt. Eine schöne Vorstellung kindlichen Mutes. Ich will mich nicht selbst belügen, ich weiß nicht mehr, was damals passiert ist.
Die nächtliche Kühle immer mehr spürend kehre ich in die Wohnung zurück. Vor wenigen Wochen brachte ich eine andere Art von Mut auf. Ich schrieb meinen Traumfetzen auf. Zuerst nur für mich, doch dann schickte ich die Worte hinaus in die Welt; deren kurzer Kommentar: Wozu das alles? Was willst du damit aussagen? Da ist kein Anfang, kein Ende, kein Ziel. Ich hatte etwas von der Welt erwartet, was diese gar nicht leisten kann, nämlich sich in meinen Traum einzufühlen, weil er für andere Menschen belanglos ist. Jemand drückte die Löschtaste, der Server war von meinem Traum befreit, aber nicht mein Ich.
Meine Augenlider werden schwerer. Die Nacht ist noch nicht zu Ende, auch wenn der Tag bereits über den Horizont lugt. Zurück in meinem Bett, schließe ich die Augen. Was ist, wenn ich dieser Redner an der Tür bin und ich mir in meinem Traum selbst zusehe? Damals, es waren Zeiten des Umbruchs. Ich scharrte Menschen um mich, ließ mich von ihnen in ein Gremium wählen. Jeder wollte wissen, was die stürmischen Zeiten für ihn bereithielten. Ich sammelte Informationen, versuchte zu erklären und war dennoch nicht in der Lage, die Menschen auf die Woge der heranrollenden Veränderungen vorzubereiten. Wie auch, denn es war keine Woge, sondern eine Flut, die jedwede Illusion einfach mit sich riss.
Ein tiefer, vermeintlich traumloser Schlaf umfängt mich, ein Wecker mit nervigen Signalen beendet ihn. Ich bleibe für eine Minute mit geöffneten Augen liegen. Was ist Traum und was ist Wirklichkeit? Habe ich tatsächlich auf dem Balkon gestanden, um über einen Traum nachzudenken oder verschachtelten sich Träume geschickt ineinander? Der Tag wartet auf mich, verdrängt die Frage. Vielleicht kehrt sie am Abend zurück, wenn ich den Pyjama überstreife und die Zeit für Träume erneut anbricht.

© BPa / 07-2023

Der Traumfetzen in der Geschichte ist mir immer noch präsent, auch wenn er mir nicht mehr so häufig
aufscheint. Die Story ist Fiktion und Autobiografie zugleich. Ich hielt das für eine interessante Mischung,
aber vielleicht habe ich auch das nur geträumt.
Bernhard Pappe, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.07.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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