Brigitte Waldner

Der Jüngling im Zug


Als ich vor vierzig Jahren in Wien arbeitete,
pendelte ich oft am Wochenende 400 km heim
und sonntags wieder zurück.
Auf der Strecke durch die Steiermark stieg ein junger Mann zu,
der sich mir gegenüber hinsetzte,
als da gerade ein Platz frei geworden war.
Ich blätterte in einer Modezeitschrift,
die mir meine Mutter beim Kiosk am Bahnhof kaufte,
und die damals ungefähr 42 Schilling kostete.
Das sind heute umgerechnet rund drei Euro.
Aber heute kostet sie schon beträchtlich mehr.

Der junge Mann sprach mich an und wir plauderten
nett miteinander. Er wollte alles Mögliche von mir wissen,
auch, wie viel ich als Schreibkraft monatlich verdiente.
Das waren damals brutto 12.000 Schilling.
Das sind umgerechnet rund 873 Euro.
Das war Anfang der achtziger Jahre für die Position einer Schreibkraft
mit Englisch schon ganz gut.
Ich habe mir nichts dabei gedacht, ihm das zu erzählen.

Ich kann mich heute nicht mehr genau erinnern, was er beruflich machte,
vielleicht war er Student, vielleicht ein Handwerker.
Irgendwie glaube ich, mich verschwommen zu erinnern,
er war Schlosser oder Mechaniker. So in dieser Richtung.
Er war so billig angezogen, dass er genauso gut auch
als Hilfsarbeiter durchgegangen wäre.

Nach einer Weile fragte er mich,
ob er mich in Wien irgendwo treffen könnte.
Er hätte mich gerne als Freundin.
Wir haben einen Termin vereinbart, uns
in ein paar Tagen nach der Arbeit
in einem Fastfood-Restaurant zu treffen,
obwohl ich mir nicht sicher war,
ob ich das möchte.
Nach einer Weile, als wir Wien schon um einiges näher waren,
fragte er mich, was die Modezeitschrift kostet.
Dann sagte er: „Aber, wenn wir dann zusammen sind,
und du meine Freundin bist,
dann darfst du die Modezeitung nicht mehr kaufen.“
Ich habe gesagt: „Die hat mir meine Mutter geschenkt.
Warum sollte ich sie nicht haben?“
Er sagte: „Sag deiner Mutter, sie soll dir nächstes Mal das Geld geben,
was die Zeitung kostet. Sie ist zu teuer und das nicht wert,
das ist Geldverschwendung.
Wenn wir dann zusammen sind, dann werden wir ein
gemeinsames Bankkonto haben,
und auf das musst du das Geld einzahlen, weil wir es sparen.“
Er hat mir dann auch noch erklärt, dass ER das Konto verwalten wird,
und ich ihn fragen muss, bevor ich mir was nehme.
Er will das so, weil seine Eltern das genauso machten.
Ich habe versucht, mir den Schock nicht anmerken zu lassen,
weil ich mich nicht getraut habe, etwas dagegen zu sagen.
Ich war es gewöhnt, über mein Geld selber zu verfügen.

Es war wie ein Schlag gegen meinen Magen, der mich
eine Zeit lang stumm machte.
Als ich mich gedanklich erfangen hatte,
fragte ich ihn, ob ich dann noch arbeiten gehen darf,
wenn wir zusammen sind, oder ob ich nach dem ersten Kind
zu Hause bleiben muss.
Er antwortete sofort: „Du musst sogar arbeiten gehen,
damit das Geld reicht für die Miete und dass wir uns was leisten können.“
Diese Frage habe ich immer allen Männern gestellt,
die sich für mich interessierten,
aber ich war nicht wirklich daran interessiert,
mein eventuelles Kind fremderziehen zu lassen
und bis zur Pension in Büros in Vollzeit arbeiten zu müssen.
Ich wollte nur wissen, wie ich dran bin
und so bekam ich eine ehrliche Antwort,
aber nie die, die ich hören wollte.

Ich war unter 25 und die Zugbekanntschaft ein paar Jahre älter.
Ich kann mich nicht mehr erinnern,
wie sein Name war und wie sein Gesicht aussah.
Hübsch war er jedenfalls nicht, aber sehr schlank
und eventuell Nichtraucher wie ich.
Ich hatte in diesen Momenten kein Interesse,
ihn wieder zu sehen.
Das habe ich ihm aber nicht gesagt.
Ich dachte mir, der kann dort ruhig auf mich warten.
Als ich von der Rückfahrt nach Wien in meine Wohnung gelangte,
habe ich wie immer rund um 22 Uhr sofort meine Mutter angerufen,
um ihr zu sagen, dass ich gut angekommen bin.
Dann habe ich ihr von dieser Begegnung erzählt.
Sie hat gelacht und gesagt: „Der hat kein Geld. Vergiss den,
wenn einer so kleinlich ist! Der wird nie ein Geld haben.“

Ich habe ihn komplett vergessen,
aber seine ehrlich gemeinten Worte nicht.
An dem Abend, wo das Treffen sein sollte,
habe ich nicht einmal mehr daran gedacht.
Sein Wunsch, mich zur Freundin zu wollen,
basierte wohl eher auf finanziellem Interesse
und hatte mit Liebe nichts zu tun.
Es war für ihn ein Mittel, zu Geld zu kommen.
Mein Verdacht war, das gemeinsame Konto
wäre sein Konto gewesen, aber nicht „unseres“.
Ich hoffe, dass er eine Freundin fand,
die bereit war,
sich von ihm finanziell bevormunden zu lassen.

Dass diese Modezeitschrift Geldverschwendung ist,
haben wir uns allerdings langfristig zu Herzen genommen,
meine Mutter und ich.
Seit sie wesentlich teurer und schlechter wurde,
haben wir sie seltener gekauft
und heute kaufe ich sie gar nicht mehr.
Früher waren oft gute Kleiderschnitte drinnen,
Wir kauften jedes Modeheft und sammelten diese,
als wir uns noch selber Kleider nähten. 
Wir haben keines weggeworfen, ich habe sie heute noch
und manchmal blättere ich noch darin.

© Brigitte Waldner

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.07.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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