Jens Richter

Doktor Sternberg und die Insel der Götter

Es war einmal vor langer Zeit.

Persischer Golf, 1920

Eine sanfte Brise blies in die Leinen des kleinen Seglers.
Diese blähten sich auf und trieben das Schiff mit gutem Tempo voran.
Doktor Sternberg, ein Archäologe in den Mittdreißigern lehnte träumend an der Reling und stierte über die See.
Die Wellen reflektierten die Strahlen der Sonne und dann tanzten sie über sein Gesicht.
Stundenlang verweilte er schon auf dem Deck.
Diese Ruhe behagte ihm überhaupt nicht.
Er fühlte sich krank, weil er zu nutzlosem Dasein verdammt war.
Da seine Augen schmerzten, schaute er vom Wasser auf.
Irgendein Tier flatterte dem Schiff entgegen.
Etwas blinkte an ihm.
Der Archäologe zog seinen Revolver und richtete ihn auf das Tier, als es in Höhe des Schiffs war.
Doch er hatte Skrupel, einfach so abzudrücken.
Vielleicht war es ein Greifenvogel und gehörte einem Fürsten vom nahen Land.
Oder es hatte einem Vogelhändler ein Schnippchen geschlagen und drehte die lang ersehnte erste Runde in der neu erworbenen Freiheit.
Er zielte auf den Flügel und drückte ab.
Das Tier stürzte getroffen auf das Deck.
Doch was war das?
Doktor Sternberg traute seinen Augen nicht.
In den Jahren seines wissenschaftlichen Lebens war ihm eine solche Kreatur noch nie zu Gesicht gekommen.
Das Vieh hatte die Schwingen einer Fledermaus, aber der Kopf, der Körper und die Gliedmaßen ähnelten der Gestalt eines dunklen Elfen.
Das Teil, was schon von weitem blinkte, war ein beryllfarbener Kristall.
Der Doktor versuchte der Kreatur den Kristall aus den Händen zu schlagen, den es krampfhaft festhielt und fauchend verteidigte.
Ein Seemann kam neugierig hinzu.
Er kreuzigte sich und sprach entsetzt. „Bei Gott, diese Ausgeburt der Hölle hat uns der Leibhaftige geschickt.“
Der Seemann griff nach seinen Dolch und rammte ihn dem Geschöpf in die Brust.
Mit einem stummen Schrei erlag es dem tödlichen Stoß und gab den Kristall frei.
„Das glaube ich sofort“,murmelte der Archäologe voller Unbehagen.
Das Tier war fortan das Hauptthema an Bord und spaltete die Besatzung in zwei Lager.
Einige hielten es für einen Exoten, die andere Partei glaubte, dass es sich hier um ein schlechtes Omen handelte.
Keine Seite war sich hundert Prozent schlüssig, doch über allen breitete sich eine unheimliche Anspannung aus.
Doktor Sternberg hatte den Kristall an sich genommen.
Er hatte so ein Gefühl, dass damit eine Menge nicht stimmte.
Allerdings wusste er auch nicht genau warum.
Den Kristall umgab eine merkwürdige Aura.
Er beschloss, der Sache näher auf den Grund zu gehen.
Nichts quälte ihn mehr, als eine Sache, die nicht aufgeklärt wird.
Später, in seiner Kajüte band er den Kristall um seinen Hals.
Dann legte er sich in seine Koje, grübelte noch eine Weile über das Ereignis der letzten Stunden nach und schlief darüber ein.
Er verfiel in einen tiefen Schlaf und hatte dabei einen merkwürdigen Traum.
Eine Priesterin schmiegte sich elegant im Rhythmus ihres mystischen Tanzes.
Verführerisch spitzte sie ihren Mund.
Sie drehte sich im Kreis und hielt sich dabei die Hände vor ihr Gesicht.
Auf ihrer Stirn war ein Tattoo zu sehen.
Der Doktor erkannte darauf ein Auge.
Schweißgebadet erwachte er aus seinem Traum.
Er hatte so eine Ahnung, dass er bald mit etwas Großen, ja Übermächtigen konfrontiert werden würde.

***

Im Verlaufe des nächsten Tages lief das Schiff in den Hafen der orientalischen Stadt Basra ein und ging dort vor Anker.
Zwei Beamte der Hafenbehörde kamen zum Anlegeplatz.
Ihre Aufgabe war es, die Zollformalitäten zu erledigen.
Und so wurde diese Angelegenheit von den beiden Herren zügig erledigt.
Als Doktor Sternberg an der Reihe war und sein Visum vorlegte, interessierten sie sich plötzlich für den Kristall an seiner Brust.
Sie baten Doktor Sternberg höflich, ihnen zu folgen und führten ihn zu einem fürstlichen Palast.
Die Beamten teilten dem Doktor auf dessen Anfrage mit, dass dieses prächtige Anwesen dem Großwesir gehörte.
Dieser regierte die Stadtstaat nach dem Tod des letzten Kalifen.
Immer wieder versicherten die Beamten ihm, dass er sich keineswegs als Gefangener sehen sollte.

***

In einer monumentalen Halle sollte Doktor Sternberg einen Augenblick warten.
Neugierig schaute er sich um.
Viele, der kostbaren Gegenstände zogen magisch seinen Blick an, besonders einige Porzellanfiguren in den Ecken der Halle.
Figuren von einem derartigen Wert hatte selbst er nicht in seiner privaten Sammlung zu Hause in der Schweiz.
Seine jahrelangen Reisen führten ihn zwar auf fast jeden Kontinent der Erde, doch für einzelne Kunst- und Kulturgegenstände interessierte er sich erst seit kurzer Zeit.
Speziell archäologische Einzelstücke hatten es ihm angetan.
Die Halle glich wahrlich einem Eldorado für Archäologen und Kunstliebhaber.
„Salem aleikum“, begrüßte ihn eine Stimme aus dem Hintergrund.
Sternberg zuckte in Gedanken versunken zusammen und drehte sich um.
Für einen kurzen Moment verschlug es ihm die Sprache, so dass er den Gruß nicht gleich erwidern konnte.
Das Gesicht des hinzugekommenen Mannes verbarg sich hinter einer eisernen Maske.
Dennoch lies sich dessen Anblick ertragen.
„Mir ist bewusst, dass mein Anblick Unbehagen auslöst und daher lebe ich in diesem Palast zurückgezogen, ähnlich einem Aussätzigen“, begann der maskierte Mann das Schweigen zu brechen.
„Was hab ich hier verloren?“, fragte Doktor Sternberg mürrisch.
Sogleich biss er sich wegen seiner Unfreundlichkeit auf die Lippen.
Immerhin war er in der Residenz eines königlichen Beraters.
Er durfte sich unmöglich im Ton vergreifen.
„Sie sind hier als ein freier Mann! Darauf haben sie mein Wort als Wesir. Mir geht es lediglich um den Kristall, den sie an ihrer Brust tragen. Es ist ein sehr wertvolles Stück aus der Hinterlassenschaft meines verstorbenen Herren.“
,Das ist also der Wesir.’, schlussfolgerte der Archäologe aus den Worten des maskierten Mannes.
„Einen Moment nur, Sire. Ich habe diesen Kristall einer seltsamen Kreatur abgejagt, die unseren Weg gekreuzt hatte. Ihnen dieses wertvolle Teil ohne jegliche Gegenleistung zu überlassen, halte ich für keine gute Idee.“
„Ich bin es gewohnt“, warnte der Wesir, „dass meine Wille in diesem Land Gesetz ist. Sie sollten nicht wegen ihrer Unverfrorenheit in meine Missgunst fallen. In diesem Kristall ist laut einer alten, ozeanischen Legende zu Folge eine unbekannte Macht eingebunden!“
„Ich weiß nicht recht, was sie mir damit sagen wollen, Sire“, brummte Doktor Sternberg.
Seine Instinkte erwachten.
Er witterte ein große Sache und darum lenkte er behutsam ein.
„Dass sie der Herrscher dieses Landes sind, darin besteht kein Zweifel. Aber auch ich bin es gewohnt, meine Trophäen zu behalten. Ich bin Doktor Sternberg, ein Archäologe und Kunstliebhaber aus der Schweiz. Ich durchforste, wenn eine Sache mein Interesse erweckt hat, den halben Erdball. Ich gebe ihnen ihren Kristall zurück, doch nicht ohne eine kleine Gegenleistung. Und Geld ist es nicht, was mich reizt. Bitte sagen sie mir die ganze Wahrheit über den Kristall und die darin eingebundene Macht.“
Der Wesir lachte hinter seiner Maske.
„Doktor Sternberg! Wer kennt diesen Namen nicht? Hatten sie je einen Wesir. als Auftraggeber?“
,Nein’, dachten beide.
„Nein“, antwortete Sternberg.
„Dann folgen sie mir bitte in die Kellergewölbe meines Palastes.“
Sie liefen durch zahlreiche dunkle Gänge, die nur vom Schein ihrer Fackeln erhellt waren.
,Man’, dachte Doktor Sternberg besorgt, ,wann sind wir endlich am Ziel angelangt?’
Ihm kam es vor, als hätten sie bereits etliche Meilen zurückgelegt.
Die Orientierung hatte er schon nach kurzer Zeit verloren.
Der Gedanke, einem gesichtslosen Typen so blind zu vertrauen, gefiel ihm nicht besonders gut.
Eine rostige Eisentür beendete den Gang abrupt.
„Hier sind wir am Ziel“, sprach der Wesir und öffnete die Tür.
Laut ächzten die Scharniere.
Im nachfolgenden Raum entzündete der Wesir weitere Fackeln.
Das leuchtete das Innere besser aus.
Der Raum war ohne jede Ausstattung.
Nur eine Menge Gerümpel und alte Truhen waren darin abgestellt.
An der gegenüber liegenden Wand hing ein Teppich, der mit Grundrissen, Koordinaten und vielerlei Symbolen wie eine Seekarte gestaltet war.
Man erkannte die Kontinente und die verschiedensten Inselgruppen darauf.
Die malaiischen Inseln waren auf dieser Karte eingekreist.
Hatte der Kristall irgend etwas mit diesem Kreis zu tun?
Doktor Sternberg trat an den Teppich heran und hielt den Kristall, einer inneren Eingebung folgen vor eine Fackel, sodass der Lichtstrahl durch den Kristall auf den Kreis fiel.
Er drehte den Kristall solange, bis eine eingeschliffene Gravur auf dem Kristall mit den abgebildeten Grundrissen auf dem Teppich übereinstimmte.
„Sie schlussfolgern sehr schnell“, lobte ihn der Wesir, der Doktor Sternberg von der Seite beobachtet hatte.
„Ich möchte ihnen auch nicht verheimlichen, dass noch eine weitere Person an den Kristallen interessiert ist. Lange Zeit hatte der alte Kalif zwei Wesire an diesem Hof. Der eine bin ich und der Zweite, Prinz Taruk, ist derzeit mein übelster Gegenspieler. Er übt sich in finsterer Magie und mir scheint es, er bedient sich dabei den Mächten der Unterwelt. Bevor der alte Kalif ohne Erben verstarb, schrieb er sein Testament. Darin wollte er mir das Kalifat überlassen und Prinz Taruk sollte zwei dieser Kristalle bekommen. Ein dritter Kristall gilt als verschollen. Der Legende zufolge erhält der Besitzer aller drei Kristalle große Macht. Da der alte Kalif aber erkannte, welch finsterer Mächte sich Taruk bediente, bekam er es mit der Angst zu tun. Darauf änderte er sein Testament. So bekam ich das Kalifat und einen Kristall. Taruk erhielt einen zweiten Kristall und sollte fortan das Land nicht mehr betreten dürfen. Wahrscheinlich ist der fehlende Kristall auf dieser Insel zu finden. Man nennt sie die Insel der Götter, wo die Mächte ihren Ursprung haben sollen. Dort müssen der Legende zufolge auch die Kristalle eingelöst werden. Wenn es Prinz Taruk gelingt, alle drei Kristalle einzulösen, so wird er die Herrschaft über dieses Land zurückerlangen. Diese düstere Zukunft möchte ich von meinem Volk abwenden und wenn es mein Leben kosten sollte.“
Ruhig bleiben!
Doktor Sternbergs Gedanken überschlugen sich.
Er fand diesen Hokuspokus einfach zu lächerlich, um ihn zu glauben.
Doch andererseits hörte sich die Version des Wesirs für ihn jedenfalls realistisch an.
Da war die Sache mit dem fliegenden Elfen und je mehr er darüber nachsann, desto verführerischer schien sein neuer Auftrag zu sein.
Doch eine Kleinigkeit passte nicht recht zu der Geschichte.
Warum widmete sich der Wesir erst jetzt dieser Aufgabe zu.
Doktor Sternberg fragte ihn danach.
„Ich wollte niemals den Helden spielen“, sprach der Wesir, „Meine große Leidenschaft ist die Astronomie. Einmal nur fasste ich den Mut und verfolgte Taruk durch die Straßen der Stadt. Er entfesselte ein Inferno, das mein Gesicht zu einer grässlichen Fratze entstellte. Seid diesem Tag lebe ich verborgen hinter dieser Maske. Ich bin den finsteren Mächten nicht gewachsen und habe immer auf einen Mann gehofft, der mit seinem Sachverstand diese Mächte bezwingen kann.“
Ein Schatten huschte durch den Fackelschein.
Der Wesir zog einen Dolch aus seinem Gürtel und warf ihn nach einer dunklen Kreatur.
Getroffen kreischte sie auf.
Der Archäologe eilte dahin und staunte aufs Neue.
Wieder lag ein beflügelter Elf zu seinen Füßen.
„Was ist das?“, fragte er angeekelt.
„Das sind die Spione von Prinz Taruk. Solch eine teuflische Ausgeburt hat mir auch den Kristall gestohlen, der jetzt an ihrer Brust hängt, Doktor Sternberg. Und Taruk weiß jetzt auch, dass wir zu der Insel der Götter aufbrechen müssen. Wir sollten uns von jetzt an auf die übelsten Gefahren einstellen.“

***

In nur einer Nacht traf man die Vorbereitungen für eine lange, gefahrvolle Reise.
Die Bediensteten des Wesirs machten die königliche Jacht seetüchtig, um mit der nächsten Ebbe in See zu stechen.
Das Ziel war die Insel der Götter.

***

Wild und unheimlich war die Insel.
Es bereitete ihnen einige Mühe, sich einen Weg durch den undurchdringlichen Dschungel zu bahnen.
Nur mit Hilfe von scharfen Krummsäbeln schlugen sich die Männer um Doktor Sternberg und den Wesir eine Schneise in den Dschungel.
„Wo“, fragte Sternberg sichtlich ausgelaugt, „sollen wir hier diesen gottverfluchten Kristall finden?“
Der Wesir deutete ins Dickicht.
Ein noch undeutlicher Umriss eines Felsmassivs war erkennbar und verbarg den zugewucherten Eingang einer Höhle.
Doktor Sternberg musste feststellen, dass die Höhle drinnen viel weiträumiger war, als es von außen schien.
Dabei befanden sie sich gerade einmal im Zugang zum Innersten.
Der Wesir entzündete eine Fackel, um den Gang auszuleuchten.
„Sie sind wirklich sicher, dass wir hier einen weiteren Kristall finden?“
Unsicher nickte der Wesir.
„Nicht unbedingt einen weiteren Kristall, aber zumindest jemanden, der uns bei der Suche weiterhelfen kann.“
Der Archäologe runzelte die Stirn.
„Sie werden es früh genug erfahren!“, beantwortete der Wesir Sternbergs sichtliche Ungeduld.
Sie folgten dem Gang immer tiefer in die Höhle und schwiegen auf dem weiteren Fußmarsch.
Beide waren von der Gewaltigkeit dieser unterirdischen Räume fasziniert.
Keine menschliche Hand konnte derartiges vollbringen.
Für Doktor Sternberg stand fest, dass unvorstellbare Kräfte an diesem Ort gewirkt hatten.
Schließlich erreichten sie eine in Stein gehauene Halle.
Bis unter die Decke waren hier religiöse Artefakte angesammelt.
„Ich ahnte bereits, dass jemand kommen wird“, raunte eine Frauenstimme im Hintergrund verborgen.
Der Archäologe fuhr erschrocken herum und griff nervös nach seinem Revolver.
Der Wesir hielt seinen Arm fest.
„Nein Doktor Sternberg. Sie ist eine Hohepriesterin und kann uns weiterhelfen.“
Der Archäologe entspannte sich und mustere die Frau in ihren kostbaren Gewändern, die wie aus dem Nichts auftauchte.
„Ihr sucht den dritten Kristall, in denen die Götter die Mächte gebannt haben. Eure Gedanken haben euch verraten. Und sicher kann ich euch an den Ort führen, an dem ihr den Kristall finden könnt, nur werdet wir dabei die eine oder andere Gefahr bestehen müssen.“
„Eine Gefahr bestehen!“, echote Sternberg säuerlich.
„Ich habe gewusst, dass es bei der Sache einen Haken gibt“, fügte er in Gedanken versunken hinzu.
Er sah dabei den Wesir fragend an, weil er ahnte, dass er von der Hohepriesterin keine genauere Antwort erhalten würde.
„An einem Ort, bei dem die Kristalle eingelöst werden“, antwortete der Wesir, „dem Jungbrunnen.“
„Bei dem Jungbrunnen...“, Der Doktor brach im Satz ab.
Er bemerkte auf der Stirn der Hohepriesterin ein Tattoo.
Es war ein Auge.
Verblüfft schaute er sie an.
Die Hohepriesterin lachte auf.
„Wie sie sehen junger Mann, es gibt keine Zufälle!“
Er kannte genau diesen Ausspruch von seinem Mentor, einem weltbekannten Professor der Archäologie und anerkannten Gralsforscher.
„Ihr werdet mir doch folgen?“
Sie führte die Männer noch tiefer in das Höhlenlabyrinth.
Dem Wesir und auch Doktor Sternberg war nicht recht wohl bei der Sache.
Beiden fehlte irgendwann die Orientierung und das passte ihnen ganz und gar nicht.
Außerdem spürte beide, dass die Worte der Hohepriesterin einen rätselhaften Sinn verbargen.

***

Taruk hatte es geschafft, eine Horde Eingeborene um sich zu scharen.
„Sucht die Fremden und bringt sie mir“, befahl er den Insulanern.
Er wusste zu gut, dass er mit seinen magischen Fähigkeiten jedes Hindernis bewältigen konnte.
Jedoch war es keine besondere Herausforderung für ihn, den primitiven Eingeborenen mit kleinen Zaubereien seinen Willen aufzudrängen.
Nein, die wahre Demonstration der Macht stand noch bevor.
Mit grimmiger Miene eilte er den Wilden hinterher.
Er hatte einige Mühe ihnen zu folgen.
Sie waren groß, muskulös und legten ein hohes Tempo vor.
Vor der Höhle warteten sie.
Die Eingeborenen hatten Respekt vor der Dunkelheit, die hinter dem Höhleneingang lauerte.
Diese typischen Verhaltensformen fand man bei fast allen unzivilisierten Naturvölkern.
Er reichte ihnen lodernde Fackeln und leuchtet den Höhleneingang aus.
„Geht jetzt da hinein und spürt die Fremden auf. Wenn ihr sie aufgefunden habt, so sendet mir einen Boten. Ich muss mich ausruhen und werde hier auf eure Rückkehr warten.“
Widerwillig betraten die Wilden die Höhle.
Als sie verschwunden waren, ließ er sich zur Rast nieder.
Der Umgang mit den Mächten der Finsternis raubte seine körperlichen Kräfte.
Und Kraft brauchte er!
Es dauerte eine kleine Ewigkeit, ehe ein Eingeborener zurückkam.
Laut hallten die Schritte des Rückkehrenden in den Gängen der Höhle wieder.
Taruk ließ sich von ihm sogleich zu seinen Gegenspielern führen.
Nach einiger Zeit durch ein Felslabyrinth, gelangten sie zum Tempel des Minotaurus.
Dieser heilige Raum lag tief unter der Erdoberfläche.
Eine riesige Statue mit menschlichem Körper und Stierkopf füllte die gegenüberliegende Wand aus.
Seine Eingeborenenschar umringte eine kleine Gruppe Gefangene.
Taruk erkannte unter den Eingeschlossenen den Wesir, den Archäologen und fühlte zudem die Aura einer Hohepriesterin.
Er fürchtet sich vor ihr.
„Geht jetzt alle“, befahl der Magier den Wilden.
Gehorsam zogen sie sich zurück.
Man konnte deutlich spüren, dass sie erleichtert aufatmeten.
Sie hatten eine Heidenrespekt vor der Statue.
Für sie war der stierköpfige Minotaurus ein unbekannter Gott.
Und unbekannte Götter bedeuteten Tod und Verderben.
„Wie ich sehe mein lieber Freund“, zischte Taruk den Wesir an, „hast du neue Verbündete gegen mich gefunden? Aber das wird dir nicht viel bringen. Die Kristalle gehören alle mir!“
„Niemals!“, entgegnete der Wesir entschlossen.
„Gib einfach her, was mir ohnehin bald gehört und ich verschone euer Leben.“
„Nein, Taruk. Schon oft habe ich mich von dir in die Enge treiben lassen. Dieses Mal werde ich meinen Kristall nicht verlieren.“
Prinz Taruk zuckte mit den Schultern.
„Macht mir nur keinen Vorwurf, dass ich euch nicht gewarnt hätte.“
Beschwörend hob der Magier seine Arme.
„Was tut er da?“, fragte Doktor Sternberg.
„Er benutzt seine Magie. Fragen sie mich besser nicht, was uns bei seinem Hokuspokus erwartet“, antwortete der Wesir.
Taruk stand mit ausgebreiteten Armen da und murmelte wirres Zeug.
Plötzlich geschahen seltsame Dinge.
Sternberg spürte instinktiv, dass hier etwas Mächtiges zum Leben erwachte.
Er suchte den Raum nach irgendwelchen Besonderheiten ab.
Die Statue zitterte und bewegte sich mit Getöse.
Sie bewegte sich!!!
Der Archäologe runzelte erstaunt die Stirn.
Selbst der Wesir und die Hohepriesterin waren entsetzt.
Alle Blicke blieben an dem Minotaurus hängen.
„Was geht hier vor?“
„Doktor Sternberg, ich hatte ihnen doch gesagt, dass er mächtig ist.“
Taruk nutzte die allgemeine Verwirrung und riss Sternberg den Kristall von der Brust.
Dann befahl er der steinernen Statue, „Töte alle!“
Die zum Leben erwachte Statue stampfte auf die Leute um den Wesir zu.

***

An der Stelle, vor der Minotaurus stand, war ein weiterer Gang.
Taruk lief dahin und verschwand im Dunkeln.
Sternberg wollte dem Magier folgen, doch die Statue hinderte ihn daran.
Mit dem Arm wischte sie ihn wie einen Insekt beiseite.
Der Archäologe hatte einen schmerzhaften Zusammenstoß mit der Höhlenwand.
Um seinen Kopf kreiselten die Sterne.
Benommen rappelte er sich wieder auf.
Angestrengt überlegte er, wie er die Statue stoppen könnte.
Dann kam er drauf.
Die Statue war aus Stein und sehr zerbrechlich.
In fieberhafter Eile nahm er sein Kletterseil, hechtete hinter dem Minotaurus her und ließ dabei das Seil über seinem Kopf kreisen.
Im rechten Moment ließ er das Seil los und dieses schlang sich um die Beine des Minotaurus.
Die Statue verhaspelte sich und stürzte zu Boden, wo sie zu tausenden Stücken zersprang.
Die Männer, der Wesir und die Priesterin hatten Glück.
Sie alle konnten sich mit einem beherzten Satz nach hinten vor dem niedergehenden Minotaurus retten.
„Man war das knapp“, knurrte Sternberg.
Er wollte sich nach dem Befinden seiner Begleiter erkundigen, doch dazu kam es nicht.
Auf dem Scherbenhaufen der Statue entdeckte er etwas Glänzendes.
„Seht alle hin“, jubelte er hysterisch, „da liegt der dritte Kristall.“
Auch der Wesir war von seinem Fund angetan.
Nur die Hohepriesterin teilte die Freude der beiden Männer nicht.
„Der Kristall nützt uns nicht mehr viel“, sprach sie.
„Taruk löst gerade die beiden anderen Kristalle ein. Jetzt kann es für uns bereits zu spät sein.“
Doktor Sternberg schüttelte den Kopf.
Diese Auffassung wollte er nicht teilen.
Er gab nie auf, wenn er so nah an einer Sache dran war.
„Wir müssen es wenigstens versuchen!.“
Voller Zuversicht schnappte er sich eine Fackel und den Kristall und stürmte in den Gang, in dem Taruk verschwunden war.
Seine Gefährten folgten ihm.
Sie kamen zu einer Halle, in deren Mitte eine Wasserfontaine in die Höhe schoss.
An anderer Stelle verschwand das Wasser wieder im Felsen.
Das war also der Jungbrunnen.
„Wo ist Taruk?“, fragte der Wesir.
„Er hat sich unsichtbar gemacht“, sagte die Priesterin.
„Einer der Kristalle gibt Taruk die Möglichkeit dazu.“
Der Archäologe fluchte.
Der zweite Kristall jedoch hatte seinen Zauber noch nicht entfaltet.
Sie hatten Taruk dabei gestört, seine Magie zu empfangen.
„Ich sehe ihn jedoch“, erklärte die Hohepriesterin und zeigte in Taruks Richtung.
Der Archäologe schlussfolgerte, dass das Auge auf ihrer Stirn den unsichtbaren Magier wahrnahm.
Er verwarf aber diesen Gedanken als bloße Einbildung.
Dennoch zog er seinen Revolver und feuerte die ganze Trommel in die angewiesene Richtung ab.
Doktor Sternberg musste dabei getroffen haben.
Es klang gerade so, als fiele ein menschlicher Körper in flaches Wasser.
Der leblose Taruk bekam seine Gestalt wieder.
Er triumphierte: „Habe ich es mir doch gedacht! Man sollte niemals die Flinte ins Korn werfen.“
Sie begaben sich alle zum Jungbrunnen, wo der Archäologe den aquamarinblauen Kristall aus dem Minotaurus im Wasser versenkte.
Der Kristall glühte grell auf und als er erloschen war, nahm der Archäologe eine kostbare Krone aus dem Brunnen.
Er musterte den Wesir von der Seite.
Anschließend trat er an diesen heran und setzte ihm die Krone auf das Haupt.
Ein weiteres Wunder geschah.
Die Mächte der Kristalle hatten sich miteinander vereint.
Der Wesir nahm sein altes Aussehen an.
Die eiserne Maske hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst und ein prächtiger Edelmann erschien.
Noch fassungslos tastete der Wesir Zentimeter für Zentimeter seines Gesichtes ab.
„Ich danke ihnen, Doktor Sternberg. Sie haben mir mein wahres Aussehen zurückgegeben. Dafür will ich sie reich beschenken!“
Der Archäologe winkte großherzig ab.
„Das ist für mich keine Ursache. Sie sind der würdige Erbe des alten Kalifen und ihnen gebührt allein die Krone. Für mich war unser Abenteuer eine ganz neue Erfahrung.“
Der Wesir nickte.
„Schön, nach unserer Rückkehr im Palast werde ich ihnen trotzdem eine kleine Anerkennung zukommen lassen.“
Danach wandte er sich an die Hohepriesterin.
„Wollen sie mit mir kommen? Meinem Hof fehlt eine gute Beraterin.“
Die Priesterin verneigte sich, um ihre Ergebenheit zu bekunden.

***

In Basra angekommen überreichte der neue Kalif Doktor Sternberg einen weiteren faustgroßen, rubinrot leuchtenden Kristall.
„Doktor Sternberg betrachten sie diesen Stein nicht als Bezahlung. Ich versichere ihnen, dass dieses wertvolle Stück der Teil eines weiteren Geheimnisses ist.“
„Geheimnisses ist“, wiederholte der Archäologe verwirrt.
„Sie werden gewiss“, hakte der Kalif wieder ein, „großes Interesse daran haben, den Schöpfern der Menschheit gegenüber zu treten. Nur wie und auf welche Art und Weise überlasse ich ihnen ganz allein.“
Sternberg verstand nur Bahnhof.
Er nahm den Kristall an sich und ließ ihn in seiner ledernen Umhängetasche verschwinden.
Das er schon bald die Fährte zu diesem Geheimnis aufnehmen würde, konnte er in diesem Moment noch nicht ansatzweise erahnen.
Sein Leben würde sich dadurch vom Grund auf verändern.
Er verabschiedete sich herzlich und schickte sich an, den Rückweg zum Hafen einzuschlagen.
„Doktor Sternberg“, rief der Kalif hinterher, „lassen sie mich bitte wissen, was es mit dem Stein auf sich hat.“
„Keine Ursache, Sire, darauf haben sie mein Wort.“

***

Und wenn der Archäologe nicht gestorben ist, reist er noch immer um den Erdball, um die letzten Geheimnissen alter Zivilisationen zu entschlüsseln.

-Ende-

(C) Jens Richter
1989

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.11.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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