Arno Abendschön

Versteinertes Holz

 

Mama legte nach dem Umzug Wert auf die Feststellung, dass wir keineswegs in einer Baracke lebten. Davon könne nicht die Rede sein, sagte sie, denn unser Holzhaus besitze einen steinernen Sockel, wie jedes richtige Haus. Sie schärfte so mein bis dahin wenig entwickeltes Unterscheidungsvermögen. Noch teilten wir jenes Holz-auf-Stein-Haus mit einer kinderreichen Familie. Sie war einkommensschwach und ihre Mitglieder schienen lebhafter als wir zu sein. Die Kommune, die uns den Steinbruch verkauft hatte, plante erst Sozialwohnungen für Bürger wie sie.

Der Abbau im Steinbruch war einige Jahre vorher eingestellt worden. Wir holten all unser Trink- und Brauchwasser anfangs nur aus dem Brunnen vor seinem Halbrund. In den sich begrünenden Wänden des Steinbruchs herumzuklettern, war mir verboten. Die Kinder jener Familie stiegen dort auf und ab, bis eines von ihnen, ein Mädchen, elf oder zwölf Jahre alt, in den Tod stürzte. Ihr Vater ist mir als Katzentöter in Erinnerung. Er warf die neugeborenen, kaum mehr als kleinfingerlangen Kätzchen zu diesem Zweck eines nach dem anderen gegen die glatteste der Felswände.

Hoch über jener Wand hatte das scharfe Auge des Jagdpächters in einer horizontalen Bruchspalte des gelblichen Sandsteins einen Fuchsbau entdeckt. Eines Tages genügte dem Pächter ein Schuss vor unseren Augen und er holte die Füchsin herunter. Wollte meine Mutter vielleicht den Pelz? Sie lehnte höflich dankend ab, sie besitze schon einen, trage ihn nur selten. Allein zu Hause öffnete ich Mamas Kleiderschrank, besah und befühlte ihren Feiertagsstaat: Kriegs- und Nachkriegsgarderobe, stark nach Mottenkugeln riechend. Da war auch der Fuchskragen mit dem präparierten Kopf, unheimlich die aufgesetzten Glasaugen. Ich warf die Schranktür rasch zu.

Als jene Leute ausgezogen waren, als die kommunale Wasserleitung zu uns gelegt und der Brunnen bald darauf versiegt war und als wir die kleine Steinhütte neben ihm, früher Schutzraum der Steinbrucharbeiter, zur Aufzucht von Küken nutzten – ging eines Nachts ein Felssturz nieder und streifte die Hütte. Ihre Seitenwand war beschädigt, die Küken hatten überlebt. Wir besahen die Steintrümmer, die zermahlenen Mauersteine, die großen und kleinen Felsbrocken. Mama wies mich auf eine gut erhaltene vertikale Struktur in all dem Chaos hin: „Das war mal ein versteinerter Baum.“ Auch er war fragmentiert. Nach und nach fanden seine Stücke ihre Liebhaber, wurden weggetragen. Mama bewahrte einige Teile jahrzehntelang auf und schenkte mir viel später zwei davon, als ich wieder einmal zu Besuch kam, einmal im Jahr in ihr neues, größeres Haus dort im Steinbruch.

Ich nehme die zwei Stücke jetzt nacheinander in die Hand. Sie sind handtellergroß und immer wieder mit mir umgezogen, kreuz und quer durch die Norddeutsche Tiefebene, weit von ihrem wie von meinem Ursprungsort. Die Steine sind fast das einzige Materielle, das ich von dort noch besitze (- versteinert am Ende auch das Verhältnis zu Mama). Ich lege die Steine zurück auf die Glasplatte der Etagere. Ich blicke auf die Pflanzen, die ich rundum ziehe. Sie gedeihen gut, ich darf zufrieden sein.

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