Mama legte nach dem Umzug Wert auf die Feststellung, dass wir keineswegs in einer
Baracke lebten. Davon könne nicht die Rede sein, sagte sie, denn unser
Holzhaus besitze einen steinernen Sockel, wie jedes richtige Haus. Sie
schärfte so mein bis dahin wenig entwickeltes Unterscheidungsvermögen.
Noch teilten wir jenes Holz-auf-Stein-Haus mit einer kinderreichen Familie. Sie
war einkommensschwach und ihre Mitglieder schienen lebhafter als wir zu sein. Die
Kommune, die uns den Steinbruch verkauft hatte, plante erst Sozialwohnungen
für Bürger wie sie.
Der Abbau im Steinbruch war einige
Jahre vorher eingestellt worden. Wir holten all unser Trink- und Brauchwasser
anfangs nur aus dem Brunnen vor seinem Halbrund. In den sich begrünenden
Wänden des Steinbruchs herumzuklettern, war mir verboten. Die Kinder jener
Familie stiegen dort auf und ab, bis eines von ihnen, ein Mädchen, elf oder
zwölf Jahre alt, in den Tod stürzte. Ihr Vater ist mir als
Katzentöter in Erinnerung. Er warf die neugeborenen, kaum mehr als
kleinfingerlangen Kätzchen zu diesem Zweck eines nach dem anderen gegen die
glatteste der Felswände.
Hoch über jener Wand hatte das
scharfe Auge des Jagdpächters in einer horizontalen Bruchspalte des
gelblichen Sandsteins einen Fuchsbau entdeckt. Eines Tages genügte dem
Pächter ein Schuss vor unseren Augen und er holte die Füchsin herunter.
Wollte meine Mutter vielleicht den Pelz? Sie lehnte höflich dankend ab, sie
besitze schon einen, trage ihn nur selten. Allein zu Hause öffnete ich Mamas
Kleiderschrank, besah und befühlte ihren Feiertagsstaat: Kriegs- und
Nachkriegsgarderobe, stark nach Mottenkugeln riechend. Da war auch der
Fuchskragen mit dem präparierten Kopf, unheimlich die aufgesetzten
Glasaugen. Ich warf die Schranktür rasch zu.
Als jene Leute
ausgezogen waren, als die kommunale Wasserleitung zu uns gelegt und der Brunnen
bald darauf versiegt war und als wir die kleine Steinhütte neben ihm,
früher Schutzraum der Steinbrucharbeiter, zur Aufzucht von Küken
nutzten – ging eines Nachts ein Felssturz nieder und streifte die
Hütte. Ihre Seitenwand war beschädigt, die Küken hatten
überlebt. Wir besahen die Steintrümmer, die zermahlenen Mauersteine,
die großen und kleinen Felsbrocken. Mama wies mich auf eine gut erhaltene
vertikale Struktur in all dem Chaos hin: „Das war mal ein versteinerter
Baum.“ Auch er war fragmentiert. Nach und nach fanden seine Stücke
ihre Liebhaber, wurden weggetragen. Mama bewahrte einige Teile jahrzehntelang auf
und schenkte mir viel später zwei davon, als ich wieder einmal zu Besuch
kam, einmal im Jahr in ihr neues, größeres Haus dort im Steinbruch.
Ich nehme die zwei Stücke jetzt nacheinander in die Hand. Sie sind
handtellergroß und immer wieder mit mir umgezogen, kreuz und quer durch die
Norddeutsche Tiefebene, weit von ihrem wie von meinem Ursprungsort. Die Steine
sind fast das einzige Materielle, das ich von dort noch besitze (- versteinert am
Ende auch das Verhältnis zu Mama). Ich lege die Steine zurück auf die
Glasplatte der Etagere. Ich blicke auf die Pflanzen, die ich rundum ziehe. Sie
gedeihen gut, ich darf zufrieden sein.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.11.2023.
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