Arno Abendschön

Frühsommerwanderung

In Erkner ist der Anschlusszug weg, also gehe ich gleich los Richtung Wald, quer durch die Stadt. Sie lebte mal von der Teerdestillation und war so mit all den Gerüchen auch zum Kurort prädestiniert. Klingt wie ein Märchen aus alten Tagen, genauer: aus Gerhart Hauptmanns Zeiten. Kam Hauptmann mit seinem Bluthusten nach Erkner, um auch Teerdunst zu inhalieren? Er schrieb hier „Bahnwärter Thiel“ und „Vor Sonnenaufgang“. Ich passiere die Villa, in der er mit der kleinen, wachsenden Familie als Dauerpensionsgast vier Jahre lang lebte. Da ist jetzt das Gerhart-Hauptmann-Museum, das ich nachholen könnte, wenn es nicht für Jahre geschlossen wäre.

Dann bin ich im angenehm schattigen Wald, komme gut voran. Linkerhand ab und zu die Löcknitz. Der Maler Leistikow hat das Tal geliebt, es oft besucht und auch gemalt. Er war mit Hauptmann befreundet und brachte sich um, als die Syphilis ihm immer mehr zusetzte. Wie viel besser wir es heute doch haben, dank Fortschritt usw. Haben wir das?

Ich raste auf einer Bank an der Brücke von Klein Wall. Die Löcknitz gibt sich Mühe, malerisch zu wirken, unterstützt von blauen und roten Libellen und schwarzen Schmetterlingen. Blickwechsel mit einer roten Libelle, die auf meiner Wanderkarte gelandet ist. Sie starrt aus Facettenknopfaugen herüber, bewegt sich dabei nicht. Weiter auf breitem Waldweg nach Hangelsberg …

Unterwegs überquere ich die endlich fertiggestellte zweite Ferngasleitung. Weit von Nordosten kommt sie her … Das war jahrelang Deutschlands längste Baustelle, wie oft hat sie mich beim Wandern zum Ausweichen gezwungen. Jetzt liegen die Rohre in der Erde, es wächst Gras drüber. Man versichert uns, eine andere als die ursprünglich gedachte Funktion sei gegeben oder werde sich finden. Kein Märchen aus unseren Tagen!

Zu früh in Hangelsberg, als dass ich schon nach Berlin zurückfahren möchte. Ich suche eine Bank am Spreeufer und vielleicht gibt es nur diese eine, die ich gefunden habe. Sie steht vereinsamt da und ich gebe sie für eine Stunde nicht mehr frei, so schön ist der grün gerahmte Blick in die Landschaft: zwischen Bäumen am Fluss die Felder drüben, ein Wald dahinter und ein Fischreiher fliegt ab und zu durch das Bild. Er bewegt sich, wie es scheint, immer nur wohl überlegt, verharrt in hoher Position, stößt dann in einer wie präzis berechneten Flugbahn hinab aufs Wasser, ruhig, zielsicher und punktgenau. Ich verscheuche eine Assoziation.

Die Bank steht leicht erhöht auf der Kante, die hier Hochufer zu nennen übertrieben wäre. Ich kann das Wasser von oben vorüberfließen sehen, in ihm losgerissene Pflanzenteile, Fragmente von Strünken, sogar ein treibendes Seerosenblatt. Sanfte Wellen werden nur sporadisch sichtbar. Ich sehe stattdessen einen Wasserkörper, der sich als Ganzes in mäßigem Tempo ungeteilt flussabwärts schiebt: Allegro moderato, auf Berlin und das Ende zu, die Mündung in die Havel. Die Spree hat hier in Hangelsberg die gerade richtige Wassermenge und Strömungsgeschwindigkeit, um im Betrachter kontemplatives Wohlgefühl auslösen zu können. Er will gar nicht mehr fortgehen.

Heute ist der 31. Mai, Omas 126. Geburtstag. Lebte Oma noch, wäre ich jetzt der einzige Enkel der ältesten Frau der Welt. Zeit, zum Bahnhof zu gehen.

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