Francois Loeb

DER NABEL DES LEBENS

DER NABEL DES LEBENS

Die alte Dame, die ich im Pflegeheim aufgrund des Nachbarschaftsnetzwerks regelmässig in ihrem bescheidenen Zimmer besuche, ist eine facettenreiche Persönlichkeit. Sie kann auf ein langes, erfülltes Leben zurückblicken. Hat viel erlebt. Von Vormüttern gelernt. Besitzt einen riesigen Schatz an Wissen. Mit ihren beinahe 97 Lebensjahren ist sie vital, nur das Gehen, selbst das Aufstehen, fällt ihr schwer.

Einmal die Woche ausser der Ferienzeit besuche ich sie nach dem Feierabend in meiner Apotheke, in der ich als Helferin tätig bin, die Kundschaft höflich bediene. Was für Menschen da auftauchen. Wie zahlreich und unterschiedlich die Probleme, die Beschwerden sind, ist kaum aufzählbar. Der Job ist spannend und verantwortungsvoll, obwohl ich der Chefin jedes Rezept vor Übergabe an die Kundschaft zeigen muss, die dann ihr Plazet zu erteilen hat. Ist für mich auch ein Schutz, denn die Schrift der Ärzte ist so vertrackt und öfters kaum lesbar. Echte Hieroglyphen sind auf den Rezeptscheinen zu finden. Klar, bereits die alten Ägypter übten sich in Heilkunst.

Doch zurück zu meinen Besuchen bei der alten Dame. Besser gesagt beim heutigen Besuch, bei dem ich ihr als kleines Mitbringsel Lakritzpastillen in einer Metalldose mitbringe, die sie so sehr liebt, eigentlich jedoch wegen der blutdrucksteigernden Wirkung nicht geniessen sollte. Doch, sagt Vera, so ihr Name und ich darf sie duzen, was ich als besondere Ehre betrachte, in meinem Alter sind kleine Freuden, auch wenn ungesund, lebensverlängernd.

Durch dicken, zähen Nebel bin ich heute zu ihr gelangt. Gespenstisch verfolgten mich Schatten, hervorgerufen von in gelblicher Suppe strahlenden Strassenlaternen. Angsteinflössend der Spaziergang. Meine Schritte hallten mit siebenundzwanzig genau gezählten Echos tief in meinem Ohr. Was das Ohrolot bestätigte. Erreichten mein Trommelfell als düstere Tonfolge ohne jede Sonnen-Thronfolge.

Vera ist heute trotz der Aussensuppe bestens gelaunt. Begrüsst mich strahlend. Bietet mir als erstes aus der Konfektschachtel, die bereitsfesttäglich geschmückt ist, von ihrer jüngsten Enkelin hergestellte Süssigkeiten, an, die ich dankbar annehme. Schmecken verführerisch und lösen in meinem tief verunsicherten Innenohr weihnachtliche Summgesänge aus. Berichte ihr von meinem gespenstischen Gang zu ihrem Pflegeheim.
Da strahlt sie über beide Wangen, als sei soeben die Sonne aufgegangen, hätte über den Nebel und das Dunkel gesiegt. Vera führt ihre Augen-Blicke in ihr Inneres, auf dem direkten Weg zu ihrer Seele. Beginnt mit der Stimme einer jungen Frau zu erzählen. Wie durch ein Wunder verändern sich dabei Veras Gesichtszüge. Die Falten verschwinden. Die Augen funkeln. Und ich kann es kaum glauben, ihre Haare glänzen in strahlendem Blond!

„Weisst du“, beginnt sie, „dass Nebel eine Nabelschnur haben? Wo diese auch vorkommen, allenfalls erscheinen, ob in der Natur oder in unserem Leben, die Sicht verdunkeln, uns die Orientierung verlieren lassen. Sie sind einerseits verbunden mit dem Nebel selbst, der ihre Mutter ist. Andererseits mit dem Unbekannten, das uns erschauern lässt. So oft bin ich der Nabelschnur begegnet. Dem Nabelstrang. Und immer wenn ich am Verzweifeln war, jede Hoffnung verlor, hat sie sich losgerissen, und die Sonnenstrahlen, manchmal auch die des Mondes, erlösten mich. Merke dir das für die Zukunft deines vor dir liegenden langen Lebens! Du wirst es nicht bereuen. Selbst dann nicht, wenn du wie ich so alt sein, bald das Lebensende erreicht haben wirst. Denn dann wird sich deine Nabelschnur des Lebensnebels neu verbinden. Mit wem und womit, das werde ich wie du einst erleben.“

Mit diesen Worten kehrten ihre alten Züge zurück und mit einem tiefen Seufzer und der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen verabschiedet Vera mich. Ich trete vor die Tür des Pflegeheims, und heller Sonnenschein begleitet mich auf dem Weg in mein Zuhause.


Und als Bonus ein weiterer DREISATZROMAN aus meiner Feder:

S O N N E N S T R A H L

Mitten im dicken drückend Nebel
Ein Sonnenstrahl sich aufmacht auf seine
Verschlungenen unerforschten neuen Wege.

Dringt tief in die eigen Seele
Erleuchtet unser fragend
Oft zweifelnd Sein.

Verwandelt Klein zu Gross
Durch Erkennen dass unser Leben
Der Gewinn des eigen Lebendigseins.


Herzlichst
François Loeb

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.12.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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