Martina Wiemers

aus meinem Tagebuch

Aus meinem Tagebuch Neumark, Geiseltal 26. Juni 1966,

10:30 Uhr Ein letztes Mal gehen meine Eltern, Großeltern und ich durch unser Haus. Im Keller, auf dem zurückgelassenen Regal, leere Näpfe und Gläser. Sie erinnern an geräucherte hausgeschlachtete Brat- und Leberwürste, an Schinken, eingekochte Marmeladen und Kompott. Alle Räume und auch der Keller sind sonst leer, die Fenster geputzt und selbst die Fußböden wurden ein letztes Mal gefegt. Man will sich von den Nachbarn nichts nachsagen lassen. Wir gehen durch die Tür nach draußen und schließen ab.
10:45 Uhr, 1. Signalton
Wir und alle Nachbarn verlassen die noch unversehrten 7 Grundstücke in unserer Straße und gehen hinter die Absperrung. Den alten Herrn Baatz holt man gewaltsam aus seinem Haus. Er fängt an zu schreien. Die zwei Polizisten können den gebrechlichen Mann, seinen Ziegenbock Edwin und den wütend bellenden Dackel Max nur mühsam zurückhalten.
10:50 Uhr, zweiter Signalton
Alle Häuser werden nochmal auf Menschen kontrolliert. Angespannte Stille.
11:00 Uhr, Rums.
11:10 Uhr, Rums
11:20 Uhr nach Kontrolle der Häuserschutthaufen Karl-Marx-Straße 14 und 22, Entwarnung.
„Nun sind es nur noch 5“, flüstert Brunhilde Vogel, die Freundin meiner Mutter. Übermorgen sind wir und die Lehmanns dran. Mein Vater spendiert zum Abschied 1l Bergmannsschnaps. Die leere Flasche wirft er in die Trümmer des gesprengten Hauses. Der Bergbauverein hat für den Transport 1 Traktor, mit 2 Hängern für unsere restlichen Habseligkeiten und die von Herrn Baats zur Verfügung gestellt.
11:40 Uhr Ein letztes Winken und Auf Wiedersehen.
Der alte Herr Baats wird künftig in einer kleinen Wohnung in Braunsbedra, mit Balkon wohnen. Er muss nun nicht mehr heizen, hat es warm und das Klo in der Wohnung. Dackel und Ziegenbock verfrachtet man mit auf den Anhänger.
Für uns, die "Familie Naumann" stehen zwei Neubauwohnungen mit Balkon, Bad, Heizung, Innentoilette und kleinem Garten in Merseburg bereit.
Ich, 16. Jahre alt, habe die 10. Klasse mit guten Noten abgeschlossen, den Lehrvertrag in der Tasche, freue mich und schaue nicht zurück. Endlich weg vom dörflichen Mief und der spießigen Enge. Die große weite Welt liegt mir zu Füßen.

Braunsbedra, 23.September 2023,

12:00 Uhr
Schlendere am Ufer des Geiseltalsees. Laufe über die Seebrücke (nachempfunden der ehemaligen Karl-Marx- Straße in Neumark) bleibe in der Mitte stehen. Hier etwa sind meine Wurzeln. Schaue in die Tiefe.
12:30 Uhr Gehe an Bord der MS Geiseltal.
Setze mich abseits von den Touristen. „Meine Damen und Herren, ich begrüße sie recht herzlich und hoffe sie haben 2 vergnügliche Stunden an Bord. Essen und Trinken können sie bei unserem Personal bestellen. Ich empfehle ihnen Wein vom Weinberg aus Mücheln, Schlachteplatte aus der heimischen Metzgerei, dazu original Bergmannsschnaps“ tönt es aus dem Bordfunk.
Das Schiff legt ab und fährt über das ehemalige Grundstück meiner Kindheit.
Es wurde in den 1920 ziger Jahren bebaut von meinen Großeltern, vorfinanziert durch die Bergbaubank, nach Bombentreffer weiter abgezahlt, 1945 repariert. Mein Vater wurde hier 1926 geboren, meine Eltern lebten nach der Hochzeit 1949 mit den Großeltern unter einem Dach. Mein Bruder und ich erblickten hier, durch Hausgeburt, das Licht der Welt.

Ende 1966 werden fast alle Bewohner des Dorfes ausgesiedelt. Der Ort Neumark fällt, bis auf eine Handvoll Häuser und der katholischen Kirche dem Braunkohlebergbau zum Opfer.

Das ist jetzt 57 Jahre her.
Erst seit Kurzem kehre ich ab und zu zum Klassentreffen zurück. Rekultiviert wurden die Kohlengruben, moderne Häuser, Marinas, Touristenattraktionen, urige Kneipen, Strandbäder, Tauchstationen und Surfanlagen gebaut. An den Ufern tummeln sich junge Familien mit Kindern, fahren Rad, Paddeln auf dem See oder verbringen Urlaubstage auf gemieteten Hausbooten und in Ferienwohnungen.
„Es lebt sich gut hier. Wir waren in den Neunzigern fast die Ersten, die ein Haus bauten und Wurzeln schlugen. Schule, Kita, Kindergarten alles fußläufig“, antwortet lächelnd die junge Frau neben mir auf der Bank, als ich fragte.

Ich bleibe bis zur Dunkelheit. Betrachte den erleuchteten begehbaren Laufsteg deren Verlauf der ehemaligen Karl-Marx- Straße angeglichen wurde. 

Ich bin traurig, fühle mich wehleidig. Habe ich Heimweh nach der dörflichen Enge wo wir Kindern sorgenfrei zwischen Schutt, Trümmerdreck, giftiger Luft aus Leuna, Buna und Lützkendorf sorglos spielten?
Wochentags gab es nach der Schule zu Hause meist Suppe oder auch mal nur Kartoffeln mit Salz, Öl oder Quark.
Vom wöchentlichen Sonntagsbraten bekam mein Vater das größte Stück. Wir Kinder waren selten krank und wenn doch, durften und sollten alle Kinder aus unserer Straße gemeinsam miteinander spielen (rückblickend Masernparty genannt).
Auf dem Plumsklo im Hof spülten wir mit Wasser aus der Schüssel nach. Gebadet wurde im Sommer in der Zinkbadewanne im Garten und im Winter in der Küche. Die Hausaufgaben kontrollierte meine Mutter.
Zur Schule fuhr ich 3 Kilometer mit ihrem alten Rad, sprang mit den Nachbarskindern nackt in den Teich voller Entengrütze, um mich abzukühlen, aß Maulbeeren von den Bäumen, die man damals im Krieg als Futter für Seidenraupen angepflanzte.
Mein ausgebeulter Trainingsanzug war nicht schön, aber praktisch beim Spielen und zum Futterholen für die Kaninchen.
Selten war mir langweilig. An den Wochenenden schaute ich Kindesendungen und abends mit den Eltern Abenteuerfilme oder Sendungen mit Quizmeister.

Ob meinen Eltern und Großeltern damals der Neubeginn in der Kreisstadt schwerfiel weiß ich nicht. Ich habe sie jedenfalls nie jammern und klagen hören.
(C) Martina  Wiemers

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.03.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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