Arno Abendschön

Von Mäusen und Ratten

Rita rief ihn im Büro an. Sie hätten Mäuse in der Wohnung.

Carlo, zwischen Abscheu und Unglauben schwankend: Dann müsse sofort etwas geschehen.

Sie verabredeten sich für den späteren Nachmittag in der Stadt.

Während sie das Gartenfachgeschäft betraten, versicherte sie ihm, ein Irrtum sei ausgeschlossen. Sie habe es rascheln gehört; die Käserinde, die sie als Köder ausgelegt habe, sei ein Stück fortgezerrt worden, und dann habe sie etwas Graues, ungeheuer Flinkes die Fußbodenleiste entlangflitzen und hinter der Kommode verschwinden sehen. All dies Unglaubliche hatte sich in ihrem Wohnzimmer abgespielt.

Drinnen alles in reicher Auswahl vorhanden: Sämereien, Blumenzwiebeln, Blumenerde, Grillgeräte. Sie benötigten jetzt eine Mausefalle. Da, etwas gegen Wühlmäuse: Gift.

Wie konnten Mäuse überhaupt in ihre Wohnung kommen?

„Vom Treppenhaus her“, meinte Rita. „Wenn die Wohnungstür längere Zeit offen steht.“

„Oder durchs Mauerwerk. Das kommt bei alten Häusern vor.“ Carlo spürte Ekel in sich aufsteigen, als er diese furchtbare Möglichkeit ins Auge fasste.

Sie kauften dann zwei Fallen, eine herkömmliche, ein inländisches Produkt, und eine aus Frankreich importierte, die laut Beschreibung versprach, die kleinen Nager lebend zu fangen. Man könne sie dann wieder auf freien Fuß setzen, möglichst weit von der eigenen Wohnung. Carlo riet vom Kauf der französischen Mausefalle ab, aber Rita setzte ihren Willen durch. Und legte noch ein Buch über Mäuse im Allgemeinen in den Einkaufswagen. Wozu dies nun? Sie wollten doch nur eines: ihre eigenen Mäuse so schnell wie möglich loswerden.


Abends. Rita hat die humane Mausefalle im Wohnzimmer aufgestellt, einen länglichen Kasten aus durchsichtigem Plastik, an dessen innerer Rückwand der Köder befestigt ist. Sie sind beide mäuschenstill. Rita blättert lautlos in ihrem Buch über Mäuse.

Carlo denkt daran, dass er sich nur vor Mäusen ekelt, nicht vor Ratten. Diese fürchtet er allerdings. Er erinnert sich daran, wie er als Bub – es war in einem Dorf in den ligurischen Bergen – im Winter jeden Abend Brennholz aus dem Schuppen holen musste. Im Schuppen waren die Holzklötze bis unters Dach gestapelt. Er wusste, dass es rundherum Ratten gab. Vielleicht auch im Schuppen? Eines Abends glaubte er zu sehen, wie im gelblichen Schein der Laterne ein nervöses gelbbraunes Bündel hoch über ihm auf der obersten Lage hin- und herlief. Seitdem fürchtete er, der Holzstapel könnte ins Rutschen kommen. Plötzlich könnte die Ratte neben ihm sein. Würde sie ihn angreifen?

Bei Tag sorgte damals Romolo, ihr Hühnerhund, dafür, dass die Ratten nicht überhand nahmen. Ihr Hühnerstall stieß an das Terrain des Nachbarn, der in die Stadt gezogen war. Dort wuchs bereits alles zu, und in der Macchie lauerten die Biester, lüstern auf Hühnerfleisch und –blut. Einmal machte Carlo in der Dämmerung mit Romolo die Runde, und an diesem Abend erwischte der Hund mehrere von den Ratten. Er biss jedes Mal sofort zu. Carlo hörte es dann scharf im Genick knacken, die Ratte fiel leblos aus Romolos Maul zu Boden.

 

Jetzt zirpt und säuselt es in einer Ecke des Zimmers. Sie sehen sich an. Wieder Stille. Es raschelt ab und zu. Wird die Falltür vor dem Plastikhäuschen heruntergehen? Stattdessen hören sie, wie das trippelnde Geräusch sich entfernt, hinaus auf den Flur.

„Sie wird in die Küche gelaufen sein. Das hat sie heute Morgen auch so gemacht“, sagt Rita.

Der Speck in der Falle ist unangetastet. Rita wird es jetzt zu dumm. Sie stellt die zweite Falle in der Küche auf. Dann kommt sie zurück und liest weiter in ihrem Buch. Carlo fühlt sich unwohl, im Hals kribbelt und kratzt es. Hat er sich verkühlt?

Sie setzen ihr Gespräch fort. Mäuse, meint Rita, seien ihr eigentlich sympathisch. Im Grunde widerstrebe es ihr, Fallen zu stellen und die niedlichen Tiere – so sagt sie – umbringen zu wollen. Und sie weist auf eine Abbildung in ihrem Buch, die eine lieb und arglos posierende Hausmaus zeigt.

Ja, schon, antwortet Carlo, aber sie seien nun einmal Überträger von Krankheiten. Außerdem vermehrten sie sich in wahnwitzigem Tempo. „Übrigens, ich hab Halsschmerzen. Ich mach mir einen Glühwein und leg mich dann ins Bett – schwitzen.“

„So früh?“

Er geht in die Küche und erhitzt einen Viertelliter von dem Landwein, den sie gelegentlich zum Essen trinken. In der Flasche bleibt ein kleiner Rest zurück. Die Maus verhält sich still, auch diese Falle ist noch unberührt.

Carlo schlürft das heiße Getränk in kurzen, hastigen Zügen.

Jetzt liegt er im Bett und schwitzt schon tüchtig. Rita legt sich mit dem Buch daneben in ihre Hälfte.

Carlo schläft noch nicht. In seinen Adern tost das erhitzte Blut, und in seinem Kopf lösen einander Bilder aus seiner ligurischen Kindheit rasch ab. Sie vermehrten sich wirklich wie toll, die niedlichen kleinen Nager. Kam daher sein Ekel? Im Grunde hing auch diese Mäuseplage mit ihrer Hühnerhaltung zusammen. Sein Vater bewahrte die Papiersäcke mit dem Futtermehl in einem niedrigen Seitengebäude auf, in dem es bald von Mäusen wimmelte. Kaum ein Sack, den sie nicht angenagt hatten. Er sieht das Bild wieder vor sich: Der Alte hob einen Sack an, um ihn zu schultern – und dabei brach vor ihm in Hüfthöhe alles auseinander. Bestäubt mit gelbgrünem Mehl sprang die Mäusebrut auf den gestampften Lehmfußboden. Manchmal waren es zwanzig oder mehr auf einmal. Winzig. Und sie pfiffen mit dünnen, hohen Stimmchen. Wenn sie sich hinter die übrigen Säcke verzogen hatten, musste er, Carlo, das verschüttete Mehl zusammenfegen. Dazu hatte der Alte ihn ja mitgenommen …

„Da, es hat geschnappt! Ach Gott, kannst du nicht nachsehen?“

„Unmöglich, jetzt wo ich gerade so schwitze.“ Er hat das Geräusch aus der Küche auch gehört.

Rita geht dann hinüber – und kommt sofort zurück: „Sie lebt noch! Was soll ich bloß machen?“

„Gar nichts. Verenden lassen.“ O, wie ist er roh!

Rita bleibt dann ziemlich lange draußen. Er hört, wie sie die Wohnung verlässt.

Einige Minuten später sitzt sie neben ihm auf dem Bettrand. „Ich hab sie im Treppenhaus freigelassen. Sie kann sich nicht richtig bewegen. Querschnittslähmung oder so etwas. O wie furchtbar … Und wie soll ich jetzt einschlafen?“

„Trink den Rest Wein in der Flasche draußen.“

Sie tut es und beruhigt sich allmählich.

 

Am anderen Morgen: Keine Spur mehr im Treppenhaus.

Zum Glück traten weitere Mäuse dann in der Wohnung nicht mehr auf.

Das Buch über Mäuse verstaubt im untersten Regal.

 

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