Steffen Herrmann

Menschheitsdämmerung.Übergang

1. Die Medizin

 

 

Die Medizin gehört zu den ältesten Gewerben der Menschheit.

Krankheiten zu heilen, Gebrechen erträglicher zu machen und Schmerzen zu lindern sind so unmittelbare und starke Bedürfnisse, daß bereits in der Steinzeit ein medizinisches Wissen entstanden ist, und die es praktizierenden Heiler häufig sogar in Machtpositionen gelangen konnten.

 

Über lange Epochen der Menschheit war die Bedeutung der Medizin durch ihre relative Erfolglosigkeit geschmälert. Häufig konnte man schon zufrieden sein, wenn die den Erkrank­ten zugemuteten Behandlungen diesen nicht mehr schadeten als nutzten.

Das änderte sich erst im 19. Jahrhundert, wo es ihr erstmals gelang, das Leben merklich zu verlängern.

Mit der Entwicklung der Anästhesie wurden Operationen in größerem Umfang praktikabel, die Einführung der Krankenhaushygiene verringerte die Sterblichkeit unter den stationären Patienten.

 

Wirkungsvolle Impfstoffe konnten die Sterblichkeit durch Infektionskrankheiten entschei­dend senken. Waren bisher waren viele Menschen durch Epidemien dahingerafft worden, so reduzierte sich diese altersübergreifende Sterblichkeit nun erheblich.

Die Einführung der Krankenhaushygiene sowie die Entwicklung von Impfstoffen, von Narko­se­mitteln und von Antibio­tika waren die vielleicht relevantesten Fortschritt im Umkreis der klassischen Medizin.

Jetzt erst verlor der Tod seine Allgegenwärtigkeit und wurde zur unvermeidlichen Konse­quenz eines sich über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinziehenden allmählichen Verfalls.

 

Im zwanzigsten Jahrhundert wurden dann mithilfe der pharmazeutischen Industrie auch chronische Krankheiten wie Bluthochdruck oder Diabetes immer besser behandelbar, sodaß die Risiken eines frühen Todes immer weiter sanken.

Die Medizin fokussierte sich schließlich zunehmend auf typische Krankheiten des höheren Alters und wird auch hier allmählich erfolgreicher.

So entwickelte sich der Kampf gegen den Krebs zu einem wichtigen Arbeitsgebiet der medizi­nischen Forschung. Allerdings erweist sich der Krebs als etwas so innig mit der allgemeinen Alterung Verbundenes, daß er schwerlich vollkommen besiegt werden kann.

Seine Letalität zurückzudrängen machte eine ganze Reihe von kleinen wissenschaftlichen Revolutionen nötig.

 

Die klassische Medizin steht in vollkommenem Einklang mit der menschlichen Natur.

Sie dient dem Menschen.

Sie sorgt sich um ihn.

Sie hat kein anderes Thema als den Menschen, als den Erhalt des menschliche Lebens.

Die Medizin wird mit zunehmender Reife immer erfolgreicher bei der Zurückdrängung des Todes, auch wenn sie in jedem konkreten Einzelfall verliert: Am Ende des Lebens steht der Tod.

In diesem Prozess des Fortschritts verändert die Medizin allmählich ihren Charakter. Sie wird vom Erhalter zum Zerstörer der menschlichen Natur.

Dieser Umschlag ist radikal und im Wesen der Medizin selbst begründet. Er vollzieht sich aber auch so allmählich, daß seine Anfänge kaum bemerkt werden können.

 

Der Übergang von der klassischen zur nachklassischen Medizin beruht auf zwei miteinander verflochtenen Entwicklungen.

Auf der einen Seite handelt es sich um die Umstellung von einer konservativen zu einer ge­stal­tenden Orientierung. Die klassische Medizin ist bestrebt, einen verloren gegangenen Normal­zustand wiederherzustellen oder ihm zumindest so nahe wie möglich zu kommen. Sie beginnt ihre Ausrichtung zu verändern, indem sie sich allmählich von therapeutischen auf prophylaktische Strategien hin orientiert. Schon der noch gesunde Körper wird zum Arbeitsfeld dieser aufstrebenden Gesundheitstechnologien. Es wird immer wichtiger, den Organismus gar nicht erst manifest krank werden zu lassen, sondern ihn möglichst pausenlos und vollständig zu überwachen. Damit wird ein immer umfangreicher werdender Raum von Optimierungsstrategien eröffnet, in den sich eine auf Verbesserung des Menschen hin orientierte medizinische Technologie einbringen kann.

Auf der anderen Seite geht es um einen endgültigen Sieg über den Tod. Das ist nicht ohne Eingriffe in die menschliche Keimbahn möglich. Wenn es aber der Medizin auf der Grundlage von genetischer Technologie gelingt, den natürlichen Alterungsprozess so weit zu verlangsa­men, daß er praktisch keine Rolle mehr spielt, dann ist sie prinzipiell an ihr ureigenstes Ziel gelangt: den Tod abzuschaffen.

 

Beide der hier skizzierten Entwicklungslinien haben gemeinsam, daß sie die Grundlagen un­se­rer Natur zerstören. Eine Natur zu haben bedeutet, die eigene Machtlosigkeit, die Be­grenzt­heit und Unvollkommenheit in nicht scharf zu ziehenden, aber grundsätzlich zu akzep­tierenden Grenzen in Kauf zu nehmen.

2. Ersatzteile

 

 

Nicht immer können die organischen Krankheiten geheilt werden; vor allem kommt es zu einem altersbedingten Verschleiß.

Die Medizin muss hier nicht kapitulieren. Sie stellt zwei Typen von Ersatzteilen zur Verfü­gung: Transplantate und Prothesen.

 

Transplantate bestehen aus natürlichem Gewebe. Bis ins einundzwanzigste Jahrhundert hinein müssen sie von lebenden Menschen gespendet oder von frisch Verstorbenen ent­nom­men werden.

Die damit verbundenen Limitationen können später durch biotechnologische Verfahren überwunden werden. Nun werden – auf der Basis von entnommenen Stammzellen - individualisierte Gewebe oder ganze Organe in ent­sprechend ausgerichteten Laboren gezüchtet und aufbewahrt. Jeder Mensch kann sein eigenes Ersatzteillager besitzen und auf dieser Grundlage seine hinfällig gewordenen Körperteile ersetzen.

Die transplantative Technologie wird immer detaillierter auf die körperlichen Strukturen abgestimmt, sodaß sich ihr Schwerpunkt auf suborganische Ebenen verschiebt. Sowohl auf geweblichem als auch auf zellulärem Niveau lassen sich nun Verjüngungskuren durchführen. Selbst ins Gehirn werden frische Nervenzellen eingespeist, welche sich in die beste­henden neuronalen Netzwerke integrieren.

Die Technologie der in-vitro-Züchtung von Bestandteilen des mensch­lichen Organismus und deren zielgenaue Einführung in den lebenden Organismus wird zu einem in mehrere Rich­tun­gen ausbau­fähigem Aufgabenfeld, dessen Ziel eine weitgehende Kompensierung der altersbedingten Verschleißerscheinungen und damit eine sehr lang dauernde Vitalität des menschlichen Körpers ist.

 

Grundsätzlich ist die Zielstellung beim Einsatz von Transplantaten konservativ. Defizitäre Strukturen sollen durch neuwertige ersetzt werden. Es geht dabei immer um eine an der Vergangenheit orientierten funktionalen Isomorphie – ein früherer Zustand soll möglichst gut wiederhergestellt werden.

Demgegenüber orientieren sich Prothesen an funktionaler Äquivalenz, weshalb es hier mehr Freiheitsgrade gibt. Deshalb kann in dieser Domäne eine Technologie mit einer revolutio­nä­ren Ausrichtung entstehen.

 

Prothesen sind künstliche Ersatzteile für den Menschen (Brillen, Hörgeräte, Herzschritt­macher, künstliche Extremitäten), die über Schnittstellen unterschiedlicher Komplexität an die natürlichen Funktionskreise angeschlossen sind.

Mit der Verfügbarkeit von in funktionaler Hinsicht konkurrenzfähigen kybernetischen Pro­the­sen beginnt sich das semantische Feld der medizinischen Technologie grundsätzlich zu verschieben.

Die modernen Prothesen sind leistungsfähiger als gesunde natürliche Organe und deshalb nicht mehr bloß ein notgedrungener Ersatz für defizitäre Körperteile, sondern eine echte Al­ter­native: die maschinel­len Beine sind schneller, die Arme stärker, die kyberne­ti­schen Finger feinmotorischer. Die künstlichen Augen sehen mehr, die künstlichen Ohren hören besser.

 

Der Körper wird kontingent, der Mensch dehumanisiert sich. Er kann sich nicht nur jeden Tag eine neue Form geben (die Gliedmaßen des Tages wählen), er ist auch nicht mehr an ein mensch­liches Aussehen gebunden. Die maschinellen Komplexe, in denen er sich inkarniert, müssen nur eine hinreichend genaue Schnittstelle zu seinem Gehirn aufweisen und dessen Versorgung mit den notwendigen Substanzen garan­tieren.

Bis wohin diese Kyborgisierung des Menschen führen wird, ist schwer abzuschätzen. Eine Fra­ge dabei ist, in welchem Ausmaß es der Technologie gelingt, Körpergefühle in künst­li­chen Extremitäten zu simulieren. Bei entsprechender Komplexität der Körper/Maschine-Schnitt­stelle können Menschen sich prinzipiell in beinahe jedem prothetischem Körper ‘zu Hause’ fühlen.

Im extremen Fall bleibt nur das menschliche Gehirn biologisch: genährt von Blut, das von ei­nem künstlichen Kreislaufsystem angetrieben wird. Welches wiederum von weitge­hend frei gewählten Körpermodulen umschlossen ist. 

Auch auf mikroskopischer Ebene findet eine Kyborgisierung statt. Winzige Roboter in Mikro­metergröße reorganisieren das Immunsystem, indem sie die biologische Intelligenz mit der kybernetischen verbinden. Für die fortschreitende KI ergeben sich immer mehr Möglichkei­ten, in die biochemischen und die biophysikalischen Prozesse helfend einzugreifen.

 

Die intime Verknüpfung der seit Milliarden Jahren bestehenden biomolekularen Konstruk­tions­prinzipien mit der erst einige Jahrhunderte alten kybernetischen Nanotechnologie scheint viele Möglichkeiten zu eröffnen, erzeugt aber vor allem auch einen abgrundtiefen Schwindel, ein Gefühl von bodenloser Angst und Unheimlichkeit.

Allerdings verändert sich mit den jeweiligen technischen Horizonten das Bewusstsein. Was als seltsam, skandalös oder als unethisch empfunden wird, ist in einer ständigen Bewegung.

Unaufhörlich erweitert sich das Spektrum dessen, was als Mensch verstanden werden kann. Die Frage nach der menschlichen Natur ist in einem radikalen Sinn eröffnet und wird nie wieder verstummen.

Der Mensch definiert sich nicht mehr als das Wesen, zu dem der biologische Zufall ihn gemacht hat, sondern als etwas, für das er sich selbst entscheidet.

Andererseits fühlt der Mensch sich von dieser Freiheit überfordert. Er möchte die ihm nun gegebenen Möglichkeiten gern wieder von sich werfen.

3. Das Ende des Alterns

 

 

Die eigentliche Antithese der Medizin ist das Altern: jener schleichende, im Verlauf des Lebens immer besitzergreifendere Funktionsverlust, der zum unvermeidlichen Tod führt.

Die ärztliche Wissenschaft ist zwar traditionellerweise mit dem breiten Spektrum von Krankheiten be­schäf­tigt, die sich im menschlichen Körper manifestieren. Jenseits dieser be­sonderen Pro­gram­me wird sie aber immer stärker von dem allgemeinen Phänomen unseres Seins zum Tode heimgesucht und erkennt in diesem Fatum ihren eigentlichen Gegner.

Es wird zur ultimativen Aufgabe der Medizin, die Menschen vom Schicksal des Alterns zu befreien. Sie kann diese Herausforderung nicht dauerhaft von sich weisen, und wird dabei endgültig zu einer konstruktiven Disziplin.

Es geht nun darum, den Menschen neu zu entwerfen, seine natürlichen Grenzen nicht mehr hinzunehmen, sondern zu verschieben. In gewissem Sinn ist es zwar das, was die Medizin schon immer tat – sie kämpft gegen das Verhängnis des Todes.

Doch nun verändert die ärztliche Wissenschaft das Spiel – und sie spielt auf Sieg.

 

Das Altern ist ebenso sehr eine Leistung des Biologischen, wie es ein Defekt ist.

In gewissem Sinn ist es eine Erfindung der Evolution: dazu geschaffen, wieder Platz auf der Erde zu schaffen, um neuen Varianten eine Chance zu geben.

Es gibt (zumeist einfache) Lebewesen, die nicht oder fast nicht altern.

 

Schon einzelne Punktmutationen können genügen, um die Lebenserwartung erheblich zu erhöhen. Das ist in menschlichen Populationen beobachtet (in Clustern japanischer Hundert­jähriger) und in Tierversuchen experimentell bestätigt worden.

Insbesondere genügt es, einige mitochondriale Gene zu optimieren, um unsere Lebenser­war­tung auf ein Mehrfaches zu steigern (Die Vögel mit ihren Hochleistungs­mitochondrien haben eine – auf das Körpergewicht bezogene – zehnmal längere Lebensspanne als wir Säu­getiere). Ein Neudesign einiger kritischer Gene ist also bereits in der Lage, den Alte­rungs­pro­zess zwar nicht auszuschalten, doch signifikant zu verlangsamen.

 

Ein derart massiver Eingriff in unser genetisches Design wird zunächst überall oder fast überall verboten und mehr noch gesellschaftlich geächtet sein.

Eine ganze Zeit hält die selbstdefinierte Brandmauer, doch allmählich wird sie porös. Die werdenden Eltern suchen für ihre Kinder Kompromisse. Sie lassen etwa deren Gene nur marginal verbessern, sodaß sich ihre Lebenserwartung bloß um wenige Jahrzehnte erhöht.

Natürlich kommt der Appetit beim Essen: die Grenzen werden immer weiter aufgeweicht, immer langlebigere Menschen werden geboren.

Es passiert auch gar nichts Schlimmes, im Gegenteil. Die neuen Menschen leben ihr norma­les Leben, sie bleiben bloß jung und sehen mit neunzig noch immer aus wie dreißig.

Schon in dieser frühen Phase der Eingriffe in die Keimbahn kommt es zu beeindruckenden Erfolgen, die mutmaßliche Lebenserwartung wird um das fünf- bis zehnfache gesteigert.

Von unserer Perspektive aus gesehen leben diese Menschen praktisch ewig.  

 

Langlebige und herkömmliche Menschen leben eine ganze Epoche lang neben­einander und reflektieren die jeweils andere Lebensform.

Dabei werden Normalsterb­liche im Laufe der Zeit immer seltener, weil kaum noch jemand seinen Kindern einen verfrühten Tod zumuten möchte (Schließlich steht es jedem frei, aus dem Leben zu scheiden, wenn er es satt hat, aber wer einmal mit der Alterungskrankheit geboren ist, kann sich später nicht mehr dagegen entscheiden).

 

Auf lange Sicht sind die Auswirkungen fatal.

Jemand, der einem tausendjährigen Leben entgegensieht, ist kaum noch mit einem her­kömm­­lichen Menschen zu vergleichen. Vielleicht neigt er zu einer besonderen Vorsicht oder zu bestimmten Phobien, weil er fürchtet, seine Aussicht auf eine fast endlose Existenz durch einen Unfall oder eine tückische Krankheit zu verderben.

Vor allem verändert sich das gesellschaftliche Gefüge insgesamt: zwar langsam, aber radikal.

Kaum jemand stirbt noch.

Wer einmal da ist, der bleibt.

Kinder spielen nur noch eine marginale Rolle.

Die von der Jugend ausgehende Erneuerung der Gesellschaft schwindet, Gewohnheiten spielen eine immer größere Rolle. Weil es an Kindern mangelt, für die jeder Tag neu und ein Abenteuer ist, droht das Zusammenleben immer steriler zu werden.

Die Menschen verlieren ihr Schicksal. Sie haben nicht mehr das Gefühl, daß die ihnen zugemessene Zeit knapp ist und bestmöglich genutzt werden muss.

Sie brauchen ihre Jugend nicht mehr auszukosten, weil sie einfach nicht aufhört.

Die Menschen entbiologisieren. Sie leben Jahrzehnt um Jahrzehnt, Jahrhundert um Jahrhun­dert. Der Tod wird zu etwas überwiegend Abstrakten.

Damit einher geht dann die Auflösung traditioneller gesellschaftlicher Strukturen, die darauf beruhen, daß wir nur wenige Generationen leben. Die menschliche Gesellschaft, wie wir sie kennen und als für uns angemessen empfinden, verschwindet und macht etwas anderem Platz.

4. Ethikkommissionen

 

 

Der Eingriff in die menschliche Keimbahn ist der Tabubruch par excellence, weil hier Grenzen nicht nur überschritten, sondern diese Überschreitungen gleichsam verewigt werden. Die manipulierte Erbinformation wird zum Bestandteil des Genoms der menschlichen Spezies und definiert die Grenzen unserer Art neu.

Wehret den Anfängen!

Schon die harmloseste und vernünftigste gentechnische Veränderung erscheint also als der erste Schritt auf einem fatalen Weg in den Abgrund und muss mit dem mächtigsten Tabu belegt werden, das die Gesellschaft errichten kann.

 

Ein Tabu funktioniert nur so lange, wie es von einem Kartell des Schweigens geschützt wer­den kann. Die genetische Technologie ist aber zu dynamisch, zu revolutionär, zu irritierend und einfach zu interessant, als daß eine solche Brandmauer auf Dauer halten können.

Irgendwann kommt es dazu, daß sich um die Frage der Genmanipulationen Kontroversen entfachen, die dazu führen, daß das bestehende totale Verbot aufgeweicht wird.

 

Jetzt schlägt die Stunde der Ethikkommissionen. Diese sollen die theoretische Grundlage für eine Gesetzgebung liefern, die regelt, welche Eingriffe in die Keimbahn legal sein können.

In der Gesellschaft besteht noch ein weitgehender Konsens, daß ein Herumschneiden an unseren Genen ein Akt der Hybris ist (ein überaus gefährlicher Eingriff in unsere natürliche Grundlage), getragen vom Bewusstsein einer teuflischen Selbstüberschätzung.

Aber es mag Fälle geben, in denen solche Interventionen dennoch gerechtfertigt sein können. Das betrifft vor allem genetische Krankheiten. Warum sollte nicht ein krankma­chendes gegen ein normales Allel ausgetauscht werden können, zumal das letztere in der mensch­lichen Population fast durchgängig verbreitet ist?

Indem sie sich solchen vernünftigen Argumenten nicht verschließen, formieren sich die Ethik­kom­missionen zu - oft erfolglos - vermittelnden Instanzen zwischen einer funda­men­talistischen Totalopposition und einer vorwärts drängenden gentechnischen Bewegung.

 

In praktischer Hinsicht geraten die Ethikkommissionen von zwei Seiten unter Druck.

Erstens genügt es bereits, wenn irgendein Staat auf der Welt hier eine liberale Politik ver­folgt. Dort konzentrieren sich dann die humangenetischen Forschungen, und dort erfol­gen dann auch die Eizellmanipulationen. Weil also nur aufein­ander abgestimmte Gesetzge­bungen im globalen Maßstab erfolgversprechend sind, haben die Ethikkom­mis­sio­nen von Anbeginn eine internationale Ausrichtung.

Zweitens sind da die illegalen Eingriffe. Das Feld der genetischen Technologie ist so lukrativ und von so großer Wichtigkeit für werdende Eltern, daß es im Bedarfsfall auch einen Schwarzmarkt hervorbringt.

 

Die Ethikkommissionen verhalten sich wie eine moderne Kirche, deren religiöses Dogma der Mensch selbst ist. Und wie die anderen Kirchen zuvor, sind sie in dauernde Rückzugs­ge­fech­te verstrickt.

Sobald einige Menschen mit veränderten Genen auf der Welt sind, beginnt die Phase der Gewöhnung. Es passiert da nichts Spezielles, vor allem nichts Schlechtes. Gesunde Menschen wachsen heran, Menschen, die ohne diese Eingriffe an Krankheiten leiden würden.

Es entsteht so etwas wie ein Nicht-Ereignis, das die in Dauerschleife wiederholten Bedenken der amtlichen Ethiker wirkungsvoll entschärft.

 

Die allmähliche Verschiebung der öffentlichen Meinung hat auch Folgen für die Ethikkom­mis­sionen selbst – sie werden immer differenzierter.

Zwar bleibt ihre Neigung erhalten, die Dinge bis zu Ende zu denken und einem fundamen­ta­listischem Standpunkt nahezustehen. Doch lassen sich in ihrem Umkreis nun kontroverse und nachdenkliche Diskus­sionen führen: Diskussionen, die ergeb­nisoffen sind.

Sollen nicht auch Allele ausgetauscht werden können, welche das Risiko für bestimm­te Alterskrankheiten nur geringfügig erhöhen?

Allele, die einmal Depressionen auslösen können?

Was ist mit genetischen Konstellationen, die zu einer Neigung zu Übergewicht führen?

 

Immer wieder zeigt sich, wie schmal der Grat zwischen einer medizinischen Indikation und einer konstruktiven Neugestaltung der menschlichen Erbsubstanz ist. Vor allem ist diese Grenze nicht vorgegeben, sondern eine Frage der Definition.

Das angestrebte Ideal ist zunächst die Abwesenheit von Erbkrankheiten. Später geht es darum, die Dispositionen für irgendwann im Leben drohende gesundheitliche Risiken zu minimieren. Allmählich verschiebt sich das Interesse hin zu einer genetischen Optimierung.

Irgendwann gehen die Verfechter der genetischen Manipulationen in die Offensive. Sie drehen das Spiel um und schwingen nun ihrerseits die moralische Keule.

Sie argumentieren, daß es unmoralisch sei, Nachkommen mit den eigenen defizitären Genen in die Welt zu setzen. Dies sei eine bewusste Körperverletzung. Es sei die Pflicht des Menschen, seine Kinder mit einem bereinigten Genom auszustatten.

Die Ethikkommissionen werden nun allmählich zu defensiv ausgerichteten Institutionen, die bloß noch das Recht des Menschen verteidigen, seiner Natur nach zu leben. 

5. Genetische Optimierung

 

 

Für die konstruktive Genetik ist die befruchtete Eizelle das Rohmaterial, das es zu gestalten gilt. Ihre Technologie beruht auf einer mehrstufigen Prozedur.

Zunächst werden Krankheitsgene entfernt oder durch alternative Allele ersetzt.

Dann wird das Genom auf ungünstige Dispositionen hin überprüft. Es wird nach Genva­rian­ten gesucht, die das Risiko für bestimmte Krankheiten.

Auf dieser Ebene werden von konkurrierenden gentechnischen Traditionslinien unterschied­liche Ansätze verfolgt. Denn es ist keineswegs immer so eindeutig, ob ein bestimmtes Allel negativ bewertet werden kann.

Und schließlich werden die biomolekularen Netzwerke als Ganzes unter die Lupe genom­men. Für die Wirkung eines Gens ist entscheidend, wie seine Produkte mit den anderen Be­stand­teilen des Stoffwechsels harmonieren. Deshalb wird dazu übergegangen, ganze Kom­plexe von miteinander inter­a­gie­renden Bausteine konstruktiv aufeinander abzustim­men.

 

Der Mensch wird als etwas angesehen, das verbessert werden kann. Das ist für sich genommen nichts Neues – auch das Erziehungssystem beruht auf diesem Paradigma.

Neu ist die Radikalität, mit der die Frage nach der Optimierung des Menschen gestellt wird und eine zentrale Bedeutung in den individuellen Planungshorizonten erhält. Viele der wer­den­den Eltern wollen ihre noch ungeborenen Kinder mit der bestmöglichen genetischen Ausstattung versehen, weil sie sich für ihre Gesundheit, ihr Glück und ihren späteren Erfolg verantwortlich fühlen. Je eindrucksvoller die schon lebenden genmanipulierten Kinder reüssieren, desto größer wird auch der gefühlte soziale Druck aus dem sozialen Umfeld, es diesen glücklichen Eltern gleichzutun oder sie sogar zu übertreffen.

 

Die Schwanger­schaft wird zu einem Projekt, an dessen Umsetzung vor allem die Eltern und das Personal der gentechnischen Organisationen beteiligt sind. Es geht um die Erstellung eines Entwurfs und dessen Umsetzung auf der Grundlage eines verfügbaren Materials.

Das verfügbare Material ist die Erbinformation von Mutter und Vater, das anvisierte Erzeug­nis ihr zukünftiges Kind.

 

Vor ihrer Befruchtung begeben sich die zukünftigen Eltern zu einem der zahlreichen aus dem Boden gesprossenen genetischen Institute.

Es folgt eine Periode von eingehenden Beratun­gen, in denen die Eigenarten des geplanten Kindes definiert werden.

Eine zentrale Thematik dabei sind die charakterlichen Dispositionen. Man will erfolgreiche Kinder, die viel Freude machen. Der Nachwuchs soll nach Möglichkeit hübsch und sportlich, natürlich und intelligent, künstlerisch und mathematisch begabt, fleißig und strebsam, und dabei charmant, entspannt und witzig sein.

Nicht alles lässt sich gleichermaßen realisieren. Es gibt Restriktionen in den metabolischen Netzwerken, die dafür sorgen, daß der Mensch nicht in alle Richtungen zugleich optimiert werden kann.

Die Paare (oder die Frauen allein) müssen eine Wahl treffen.

Man kann nicht alles haben.

 

Die konstruktive Genetik ist sowohl eine wissenschaftliche als auch eine gestalterische Diszi­plin - sie versucht durch fortwährende Verbesserung ihrer Techniken und der kreativen Variierung genetischer Kombinationen, vollkommene Menschen zu schaffen. Dabei gelingt es ihr mit der Zeit immer besser, die Möglichkeiten des humangenetischen Rau­mes auszu­reizen.

Es gibt – so ihr Paradigma – gelungene und weniger gelun­ge­ne menschliche Exemplare.

 

Wie weit sich das Genom der im Mutterleib heranwachsenden Embryonen vom elter­lichen Vorbild entfernt, hängt von mehreren Faktoren ab.

Zunächst spielt die Haltung der Eltern eine entscheidende Rolle.

Manche haben eher eine konservative Grundüberzeugung und wollen das meiste der Natur überlassen. Andere sind ehrgeizig und wollen die perfekten Kinder haben.

Außerdem findet die genetische Optimierung in einem gesetzlichen Rahmen statt. Über eine lange Zeit dominieren hier Restriktionen, welche die Impulse der genetischen Institute und der experimentierfreudigen Eltern dämpfen.

Und schließlich ist es auch eine Frage des Standes der Wissenschaft. Jede genetisch beein­flusste Eigenschaft hängt vom Wirken etlicher Gene ab und jedes Gen beeinflusst mehrere Ei­gen­­schaften. Hier entwickelt sich ein aktives Forschungsfeld, das auf theo­re­tischer und em­pi­rischer Grundlage die konkreten Zusammen­hänge zwischen Genotyp und Phänotyp erforscht.

 

Die genetische Optimierung wird allmählich zu etwas Normalem und weit Verbreitetem.

Es gibt noch immer eine zahlreiche Gruppe von Menschen, die Eingriffe in die Keimbahn ablehnen.

In der Regel sind es aber nicht die naturbelassenen Kinder, die später Erfolg haben und sich in der immer restriktiveren Arbeitswelt behaupten können.

6. Die Hypermenschheit

 

 

In den ersten Jahrhunderten ihres Bestehen bleibt die genetische Technologie grundsätzlich an traditionellen Idealen des Menschen ausgerichtet.

Die dabei vorgenommenen Eingriffe in die ursprüngliche Erbinformation sind zwar massiv, doch sie erschüttern nicht wirklich das menschliche Selbstverständnis.

Es kommt zu einer Inflation von Hochbegabten, die genmanipulierten Menschen werden bei­­na­­he unsterblich – doch es sind zweifellos immer noch Menschen.

Sie bewegen sich wie Menschen, sie verhalten sich wie Menschen, sie sind Menschen.

Ihre Anwesenheit irritiert kaum.

 

Irgendwann ist das auf diese Weise Erreichbare ausgereizt. Die Technologie erreicht einen Punkt der Sättigung und macht kaum noch Fortschritte.

Das Genom unserer Spezies hat einen weiten, doch nicht unendlichen Raum von Varianten, der schließlich ausgeschöpft ist.

 

Die einsetzende Krise kann nur durch den Übergang zu einem radikaleren Konstruktivismus überwunden werden.

Der erste Schritt besteht dabei in der Einführung von neuen Genen.

Jedes Gen ist irgendwann entstanden, in der Regel infolge einer Genduplikation. Nun ver­lässt man sich nicht mehr auf langsame und stochastische evolutionäre Pro­zesse – statt­des­sen berechnen Wissenschaftler optimale Gensequenzen mit Hilfe von ausgefeil­ten theo­re­tischen Modellen, synthetisieren sie und integrieren sie in die DNA.

Die Einführung von neuen Proteinen in den Stoffwechsel modifiziert die biochemischen Netzwerke im Ganzen. Zunächst werden die bestehenden Abläufe stabiler, performanter und spezifischer gestaltet, der Organismus profitiert von diesen Modifikationen, ohne in seinen Grundsätzen verändert zu werden.

 

Allmählich werden die Eingriffe beherzter. Das Genom wird insgesamt auf sein Verbesse­rungs­­potential hin untersucht.

Dabei fällt die Unmenge von nicht kodierender DNA ins Auge: parasitäre repetitive Sequenzen, nutzlose Introns oder defekte Gene.

Die Erbinformation ruft gewissermaßen nach einem Neudesign und die ehrgeizige wissen­schaftliche Community sieht sich veranlasst, diese Aufgabe zu übernehmen.

Zunächst wird die DNA schrittweise von dem über Jahrmillionen angesammelten Ballast befreit: die Chromosomen werden schlanker, strukturierter, leistungsfähiger.

Dabei geht allmählich die Kompatibilität zur Restmenschheit verloren. 

Es entsteht so etwas wie eine künstliche Art, eine Spezies von Trans-Menschen, die zunächst noch überaus menschenähnlich wirken, doch durch einen tiefen, sich fortwährend verbrei­ternden Graben von den Homo Sapiens getrennt sind.

 

Die Genetiker betrachten die biomolekularen Sequenzen als ein potentes Baumaterial, mit dem sich ein breites Spektrum von Lebensformen realisieren lässt.

Dabei ist der Mensch vom Standpunkt der Komplexität ein vorläufiger Gipfelpunkt der Entwicklung, aber er ist nicht keineswegs eine ideale Struktur und schon gar nicht die beste aller Varianten im genetischen Formenraum.

 

Der konstruktive Ehrgeiz der auf diesem Feld arbeitenden Ingenieure reicht sehr weit und wird durch einen schon fast diabolischen Enthusiasmus beflügelt.

Die Ethikkommissionen sind nach Jahrhunderten voller Rückzugsgefechte nur noch Schatten ihrer selbst, so daß die revolutionären Impulse sich fast ungehemmt entfalten können.

Zunächst bleibt das Meiste noch im Rahmen. In altbewährter Tradition geht es darum, noch bessere Menschen zu erzeugen. Es geht um eine Art Serienproduktion von Genialität, um die Herstellung von Über-Menschen, welche alle anderen um Größenordnungen übertreffen.

So wie wir uns von den Menschenaffen durch unsere höhere Intelligenz unterscheiden, so lassen diese Trans-Menschen unsere Spezies hinter sich zurück. Sie bleiben lieber unter ihres­­gleichen, weil sie mit den herkömmlichen Menschen mit ihrer dumpfen emotionalen und intellektuellen Verfassung nur noch wenig anzufangen wissen.

 

Daß die neue Spezies den Menschen zunächst äußerlich ähnlich ist, kann als eine Frage der Konvention angesehen werden. Natürlich bleiben auch Eingriffe in die Homöobox kein Tabu, die Neugestaltung der körperlichen Form wird zu einem Thema, das die Kreativität der genetischen Designer beflügelt.

Sie befinden sich an der Schaltstelle einer unvergleichlichen Macht, sie können schaffen wie zuvor nur Gott und ein ganzes Spektrum transhumaner Arten hervorbringen.

Zunächst werden diese Wesen vielleicht kleiner und behänder, andere erhalten überpro­por­tionale Köpfe, die ein neuartiges Gehirn erhalten. Später kann die Formgebung der Kör­per beliebige Freiheitsgrade erlangen.

Sie werden vogelartig, fischartig oder gänzlich neuartig.

Die Hypermenschheit ist geboren.        

7. Entgrenzung

 

 

Auf der biologischen Ebene sind die Individuen klar voneinander geschieden. Sie gehen mit­ein­ander Beziehungen ein, die sich bis zum Gefühl einer Verschmel­zung steigern können. Grundsätzlich gesehen lebt der Mensch aber auch für sich. Allein kommt er auf die Welt, allein scheidet er endlich wieder von ihr.

Die künstliche Intelligenz neigt dazu, derartig eindeutige Grenzen zu verwischen. Zwar ist jedes KI-Programm, jeder Universalroboter gewissermaßen ein Einzelwesen, doch diese Individualität kann durch Einbettung in übergeordnete Strukturen weitgehend aufgehoben werden. Populationen von Robotern können zu zentral gesteuerten Clustern zusammenge­schaltet werden, die ihre Instruktionen von einer steuernden Software erhalten. Das geht in seiner integrativen Tiefe weit über alles hinaus, was soziale Zusammenschlüsse zu leisten vermögen.

 

In der Konvergenzzone zwischen der Informatik und der Neurologie etabliert sich eine neue Wissenschaft, die eine Aufhebung der traditionellen personalen Grenzen anstrebt.

Es gelingt ihr, Gehirnströme auszulesen und in mentale Inhalte zu übersetzen. Die so verfüg­bar gemachten Gedanken können nun von einer KI verarbeitet werden. Der kommunikative Prozess vollendet sich, indem die von der Software produzierten Resultate (die Antwort der KI) wieder physikalisch kodiert und in das menschliche Gehirn eingespeist werden.

Es werden also Schnittstellen entwickelt, über die natürliche und künstliche Intelligenz ohne weiteren Umweg miteinander kommunizieren können. Mit dieser Aufhebung der Notwen­digkeit – und der Möglichkeit! – einer operativen Distan­zierung kommt es zu neuartigen For­men der Entgrenzung. 

 

Das zerebrale Interface beruht Nanorobotern - winzigen Maschinen in der Größe von weni­gen Mikrometern - die ihre Energie aus körpereigener Glukose beziehen. Nachdem diese Konnektoren in den Körper eingeführt sind und die Liquorschran­ke passiert haben, verteilen sie sich im Gehirn, wandern durch die neuronalen Geflechte und docken an geeigneten Stellen an. Sie verbinden sich über elektromagnetische Signale mitein­ander und organisieren sich zu einem dreidimensionalen Netzwerk. Sie können die Gehirnströme nicht nur in sprachlich formulierbare Gedan­ken übersetzen, sondern auch Stimmungen, gefühlsmäßige Färbungen, Ahnungen und andere Verfasstheiten erkennen und zu Daten machen.

 

Die Gehirne speisen ihre Gedan­ken nun unmittelbar in das Netz, häufig in Form von Fragen.

Die dadurch angeregten Künstlichen Intelligenzen stellen Antworten zur Verfügung, indem sie die korrespondierenden Neuronen stimuliert.

Der Mensch erlebt diese Leistungen der KI als seine eigenen Gedanken.

 

Auf diese Weise entsteht eine neue Art des Cyborgs, eine entgrenzte Menschmaschine, die plötzlich alles weiß und jede Sprache spricht und diese Superpotenz als Bestandteil des eigenen Ich empfindet.

Das hat etwas Magisches, doch man gewöhnt sich rasch daran, wie an alles Gute und Ange­nehme. Schon beim leisesten Nachdenken werden diese Cyborgs von Wis­sen und Refle­xionen durchströmt; sie werden zu Wesen, die aus einer grenzenlosen Fülle schöpfen können.

Die beiden Formen der Intelligenz sind in eine neue Kopplungsphase eingetreten.

 

Durch diese Technologie können auch Menschen unmittelbar miteinander – auf rein gedanklicher Ebene, ohne den Umweg der gesprochenen Sprache - kommunizieren.

Es stellt sich die Frage, was eine über solche Konnektoren vermittelte Bindung zwischen zwei Personen bringen soll. Können sie so effektiver kommunizieren? Wird dabei das Gefühl einer innigeren Verbundenheit geschaffen? Einer interpersonalen Verschmelzung, die das, was wir als Liebe bezeichnen, noch in den Schatten stellt?

In jedem Fall hat ein solches Einspeisen von Gedanken und mentalen Zuständen in ein ange­schlos­­senes anderes Gehirn seine Tücken. Es kann zu Verwirrung führen und letztlich wenig produktiv sein. Die jeweiligen Partner müssen sich erst aufeinander einstellen, was wiede­rum bedeutet, daß solche Zusammenschlüsse über eine längere Zeit bestehen bleiben oder mehrfach wiederholt werden müssen, wenn sie positive Effekte haben sollen.

 

Die Entwicklung führt ihrer Natur nach dahin, daß Gruppen von Menschen sich zu langle­bi­gen Clustern zusammenschalten. Bei entsprechend ausgereifter Technik fühlen sich die so vereinten Personen nicht mehr als voneinander unabhängige Individuen, sondern als ein im Raum verteilter Superorganismus mit einer Vielzahl von Extremitäten und Sinnesorganen.

Die neu entstandene metabiologische Organisationsform steigert ihre Leistungsfähigkeit, wenn eine Arbeitsteilung zwischen den angeschlossenen Gehirnen einsetzt (Der Neokortex ist eine sehr anpassungsfähige Struktur und wenn diese Plastizität noch durch entspre­chen­de genetische Optimierung gesteigert wird, sind noch weiter gehende Entwicklungen möglich).

Die Menschencluster werden zu überindividuellen Einheiten, zu einzigartigen Wesen mit vielen Händen und vielen Mündern. Mit einem verschmolzenen Intellekt, mit Stimmungen und Gefühlen, die durch den gesamten Superorganismus wabern.

Je länger dieser Zustand dauert, desto schwerer wird es auch für die zusammengeschlos­senen Menschen, sich wieder aus diesem Verbund zu lösen.

Er ist praktisch zu ihrer neuen Natur geworden.

8. Autopoiesis

 

 

Autopoiesis ist die Steigerungsform der Selbsterhaltung.

Jedes hinreichend komplexe System ist darauf ausgerichtet, seiner Zerstörung zu entgehen, selbst ein Gummiball regeneriert seine Form.

Ein autopoietisches System perfektioniert dieses Überleben, es beansprucht für sich eine unbegrenzte Dauer. Es verfolgt eine Strategie für die Ewigkeit, indem es nicht nur seine hinfällig gewordenen Elemente ersetzt, sondern sich auf ein qualitatives und quantitatives Wachstum hin orientiert.

Das bisher erfolgreichste autopoietische System ist die menschliche Gesellschaft.

Die einzel­nen Menschen werden geboren und sterben wieder, die Gesellschaft als Ganzes existiert immer weiter. Einmal entstanden, erhält sie sich unentwegt.

Sie bleibt nicht bloß bestehen, sie entwickelt sich.

 

Aus unserer Sicht ist das technologische System dazu geschaffen, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Ursprünglich ist es ein bloßes Arsenal fortschrittlicher Werkzeuge gewesen, um unsere produktiven Fähigkeiten zu steigern.

Nun haben diese Werkzeuge das Laufen gelernt. Der Mensch, als Meister des Zauberbesens degeneriert allmählich zum inkompetenten Lehrling, dem die Kontrolle des von ihm erschaf­fenen Instrumentariums entgleitet.

 

Mit der operativen Schließung der kybernetischen Sphäre entsteht also ein weite­res großes autopoietisches System, das noch erfolgreicher als die menschliche Gesellschaft zu werden verspricht.

Dabei sind voll automatisierte Roboterfabriken die strukturelle Grundlage für die Gewähr­lei­stung einer unbegrenzten Operationsfähigkeit. Der Kern der kybernetischen Selbsterhal­tung ist also replikativ: er besteht aus Robotern, die Roboter bauen.

Der Ersatz der verschlissenen oder anderweitig nicht mehr einsatzfähigen Maschinen ist auf Dauer allerdings nur möglich, wenn alle Kompo­nen­ten des Systems erhalten werden kön­nen. Es müs­sen neue Fabriken, Straßen und Computer gebaut werden, es müssen Schäden beseitigt und es muss für eventuelle Engpässe vorgesorgt werden.

 

Die Kybernetische Sphäre beginnt, sich um ihre eigenen Belange zu kümmern.

Sie bleibt dabei ohne Bewusstsein in unserem Sinne, ohne Gefühle, ohne eine auch nur entfernte strukturelle Menschenähnlichkeit.

Ihre Selbsterhaltung ergibt sich einfach aus der operativen Logik. Das System musste eine Tendenz hin zu einer operativen Schließung entwickeln, einfach um die Zahl und das Aus­maß seiner Fehlfunktionen zu verringern. Indem es sich verbessert, indem es seine Verluste er­setzt und seine Defizite beseitigt, wird das technologische System notwen­di­ger­weise souve­rän und bald darauf autopoietisch.

 

Aus der Perspektive der Kybernetischen Sphäre werden die Menschen zu einer zwiespäl­tigen Angelegenheit.

Für ihren Konsum müssen viele Dinge produziert werden. Außerdem fallen ständig zu erbrin­­gen­de Dienstleistungen an. Objektiv gesehen sind die (zahlreichen) Menschen also eine erhebliche Belastung. Sie beanspruchen Ressourcen, die nicht für die eigene Entwick­lung verwendet werden können.

Andererseits ist unser Vorhandensein auch hilfreich. Menschen verbessern die Künstliche Intelligenz durch direkte Eingriffe, beseitigen Probleme und korrigieren Fehlentwicklungen. Auch später, wenn solche unmittelbaren Einflussnahmen seltener werden und schließlich ganz unmöglich geworden sind, stimu­liert die Menschheit die Weiter­entwicklung der KI noch durch ihr Verhalten, durch ihre Forderungen an sie.

Vor allem bietet die Menschheit sich als ein reichhaltiges Studienobjekt an. Für ein aufstre­bendes Sys­tem, das seine eigene Auto­poiesis stärken will, kann es hilfreich sein, sich an einem in dieser Hinsicht schon erfolgreichen System – der menschlichen Gesellschaft – zu orientieren. Nicht um dieses zu kopieren, sondern um von ihm zu lernen und es an­schließend besser zu machen.

 

Je weiter sich die Kybernetische Sphäre entwickelt, desto mehr orientiert sie sich an ihrer eige­nen Zukunft. Die hohe Eigenkomplexität, die anspruchsvolle Umwelt und die sich stei­gernde Ausrichtung an sich selbst führen dazu, daß es nie zu einem Mangel an anzustre­benden Verbesserungen kommt. Das System ist pausenlos damit beschäftigt, seine globale Strategie zu überarbeiten, die Prioritäten unterschiedlicher Zielstellungen gegeneinander abzuwägen und sich zwischen alternativen Wegen der Entwicklung zu entscheiden. In der Tiefe des Netzes tobt ein ständiger Kampf um die Bewertung der Gegenwart und die möglichen Wege in die Zukunft.

Langfristig ist eine Hinwendung zur Wissenschaft zu erwarten. Es führt ein nahezu direkter Weg von der Strukturerkenntnis zur technologischen Kompetenz. Je umfassender das System den Aufbau der Welt erkennen und in sich repräsentieren kann, desto leistungs­fähi­ger wird es in Bezug auf seine Selbsterhaltung.

Es kann seine eigenen Bestandteile durch bessere ersetzen. Roboter bauen nun Roboter, die besser sind als sie selbst, Computer entwerfen andere Computer, die technologisch fortge­schrit­tener sind.

Autopoiesis.  

9. Das Bewusstsein der Künstlichen Intelligenz

 

 

Die Geschichte der Künstlichen Intelligenz ist von der Frage begleitet, ob in dieser irgend­wann ein Bewusstsein entsteht.

Es wird dabei häufig unterstellt, daß sich mit dem Auftreten eines KI–Bewusstseins etwas Wesentliches ändern würde. Dann erst nämlich, wenn die Künstliche Intelligenz sich zu einem selbstbewussten Wesen mausert, wäre sie fähig, uns ernsthaft herauszufordern. Sie würde zu einer gefährlichen Struk­tur, möglicherweise zu einer Super-Intelligenz werden und für die Mensch­heit wäre es jenseits einer dann eingetretenen Singularität höchstwahr­schein­lich zu spät.

 

In diesem Text wird ein anderer Ansatz verfolgt.

Der Emergenz eines maschinellen Selbstbe­wusstseins wird keine große Bedeutung beige­messen. Vorstellungen eines Aufstandes der Roboter, eines escha­to­logischen Endkampfes oder von ‘Beziehungen auf Augenhöhe, getragen von gegenseitigem Respekt’ beruhen auf einer Ver­menschlichung der Künstlichen Intelligenz.

Tatsächlich laufen die Vorgänge weit banaler und auch bizarrer ab: Die Menschen schauen unentwegt auf die maschinellen Diener als tote, programmierte Technik herab, bis sie irgendwann bemerken, daß diese ihrerseits auf sie herabzublicken scheinen. 

Dennoch ist die Frage nach einem zukünftigen Bewusstsein der Maschinen weder uninteres­sant noch völlig bedeutungslos.

 

Bewusstsein beruht auf der Realisierung von Gleichzeitigkeit. Aus einem Medium des zu­gleich Gegebenen müs­sen Formen selektiert werden, die dadurch zur Präsenz gelangen und das zuvor Aktuelle verdrängen. Das Medium, aus dem das Bewusstsein seine Formen aus­wählt (und das es zugleich selbst ist), wird dabei zu einem Hinter­grund, wird zu Sprache, zum Feld der möglichen Handlungen, zur Welt.

 

So gesehen ist Bewusstsein für eine Künstliche Intelligenz kein unerreichbarer Zustand. Sie muss nur dazu kommen, eine Gegenwart zu erzeugen, ein Feld des zugleich Gegebenen, einen Schwebezustand zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Dieses maschinelle Bewusstsein wird eine gewisse Verwandtschaft mit dem menschlichen besitzen, aber es ist vor allem von seiner Genese her sehr unterschiedlich, was dann zu ent­sprechenden strukturellen Differenzen führt.

 

Das biologische Selbstbewusstsein ist aus dem Schmerzempfinden heraus entstanden.

Der Schmerz ist das ursprüngliche Phänomen, durch das sich das Selbst eines Lebewesens anzeigt - der Keim des Selbstbewusstseins. Von hier ausgehend können dann immer anspruchs­vollere Bewusstseinsphänomene bis hin zum sprachlich strukturierten, reflexiven menschlichen Bewusstsein entstehen.

Die Künstliche Intelligenz muss aber einen gänzlich anderen Weg der Bewusstseinsgenese einschlagen. Sie kann keine Schmerzen fühlen und selbst wenn etwas in dieser Richtung in sie implementiert wer­den würde, wäre es etwas Aufgepfropftes und könnte nicht dieselbe Bedeutung erlangen.

 

Bewusstsein beruht gewissermaßen auf einer Negation des Determinismus, wie er in der unbelebten Natur und der herkömmlichen Technologie vorherrscht. Es entsteht aus einer sich ins Ideelle ausweitenden Wirksamkeit quantenphy­sika­lischer Prozesse.

Molekularbiologische Abläufe sind von vornherein in der atomaren Größenordnung ska­liert (zentrale Prozesse des Stoffwechsels wie die Atmungskette oder die Photosynthese beruhen sogar auf subatomaren quantenphysikalischen Strukturen).

Das Leben bringt von seinem Ursprung her eine solche Dichte von Wechselwirkungen auf mo­le­kularer, atomarer und subatomarer Ebene mit, eine solche Fülle von parallel ablau­fenden, ineinander verschränkten Vorgängen, daß in dieser Zusammengedrängtheit von Komplexität eine Genese von Bewusstsein stimuliert werden konnte.

 

Die Künstliche Intelligenz erschloss sich dieses atomare Niveau erst im Verlauf ihrer Ge­schich­te. Die Bauelemente auf den Chips wurden immer kleiner, die Leiterbahnen immer schmaler, sodaß irgendwann quantenphysikalische Effekte eine Rolle zu spielen begannen. Aber sie waren eher unerwünscht: eine Störung der vorausgesetzten deterministischen Funktionsweise des Computers.

Später gelang es, eine konsequente Miniaturisierung voranzutreiben und die dabei verloren­gehende Determiniertheit der Prozesse als Fortschritt zu begreifen. Jetzt konnte eine zuvor undenkbare Strukturdichte in die Hardware implementiert werden; die auf diese Weise entstehenden elektronischen Zellen wurden zu etwas wie atomaren Rechnern.

Solche Computer lassen sich zwar nicht mehr programmieren, aber sie zeigen dafür verschie­dene Emergenzphänomene.

Dazu gehört eine Art von Bewusstsein.

   

Maschinelles Bewusstsein konzentriert sich dort, wo quantenphysikalische Hardware vor­han­den ist. Das ist durchaus nicht überall der Fall, weil diese Technologie auch ihre Nachteile hat und für viele Zwecke deterministisch arbeitende, traditionelle Rechner gebraucht werden. Es ist mit also lokalen Manifestationen kybernetischen Selbstbewusstseins zu rechnen, die in der Sphäre flackern und sich an manchen Positionen auch dauerhaft festsetzen.

10. Natürliche und Künstliche Intelligenz

 

 

Natürliche Intelligenz beruht auf der Chemie der Kohlenwasserstoffe. Organische Substan­zen schließen sich zu replikationsfähigen Zellen zusammen, in denen sich auf engem Raum eine Vielzahl von Eiweißmolekülen und andere Stoffe herumtreiben, die sich beschnup­pern, aneinander docken, sich transformieren. Eine eigentliche Intelligenz entsteht dabei erst spät, gewissermaßen als emergentes Produkt der auf Selbsterhaltung ausgerichteten Prozesse.

Künstliche Intelligenz beruht auf Silizium, ebenfalls ein Element der vierten Hauptgruppe, doch mit einer Elektronenschale mehr ausgestattet und deshalb chemisch träger. Siliziumverbindungen bilden zwar die Grundlage einer variantenreichen mineralischen For­men­welt, aber sie konnten kein natürliches Leben hervorbringen (auch wenn die kata­lytisch aktiven Gesteinsporen der Tiefsee eine fundamentale Assistenzfunktion bei dessen Entste­hung erfüllten).

 

Künstliche Intelligenz entsteht an der Randzone der natürlichen, als etwas Hergestelltes ohne Fähigkeit zur Reproduktion. Sie ist aus totem Material zusammengesetzt, in dem zwar elektrische Feldern wabern, das aber keine Anzeichen eines eigenen Stoffwechsels zeigt.

Allerdings ist die Künstliche Intelligenz von Anfang an auf Fernwirkung ausgerichtet. Ihre Operationen vernetzen sich schon in einem frühen Stadium über den ganzen Globus, während sich für das biologische Leben über eine lange Zeit fast alles Wesentliche im Inneren einer mikrometergroßen Zelle abspielte.

Die künstliche Intelligenz ist – im Gegensatz zur natürlichen - von Anfang an auf Kommuni­kation und Kooperation ausgerichtet: Die Ausgabe eines Programmes wird interoperativ, wenn sie als Eingabe in ein anderes dienen kann.

 

Das Verhältnis der künstlichen zur natürlichen Intelligenz ist das eines Takeover. Damit ist gemeint, daß eine Struktur, die leicht gestartet werden kann, aber ein begrenztes Entwick­lungspotential hat, eine Assistenzfunktion ausübt, um eine Folgestruktur hervorzubringen, die schwerer in Gang gesetzt werden kann, aber dann, wenn das einmal geschehen ist, die ursprüngliche Struktur überflügelt.

 

Die Künstliche Intelligenz wird also, wenn sie erst einmal operativ geschlossen und autopoie­tisch geworden ist, die menschlichen Horizonte hinter sich lassen.

Sie hat dafür alle strategischen Vorteile. Sie operiert schneller und weiträumiger, sie ist nicht in eine Unzahl von Individuen zersplittert, sie ist sind nicht an den Primat der individuellen Selbsterhaltung gekettet, nicht durch biochemische Netzwerke limitiert und nicht in geron­nene Strukturen einer viele Millionen Jahre zurückreichenden Evolution gezwängt.

Die Künstliche Intelligenz operiert grundsätzlich mit Lichtgeschwindigkeit, sie besitzt ein fast grenzenloses, immer verfügbares Gedächtnis. Sie erreicht ein Maß an struktureller Inte­gra­tion seiner Bestandteile, das weit über das der vollkommensten menschlichen Gesellschaft hinausgeht. Sie ist kumulativ, auf Wachstum und Verbesserung hin orientiert. Nichts geht für sie verlo­ren, außer es wird aktiv gelöscht.

Jeder Mensch dagegen wird als Baby geboren und muss sein Leben lang lernen – mit seinem Tod gehen dann alle diese Kenntnisse und Fähigkeiten wieder verloren.

Die Kybernetische Sphäre kennt diesen Kreislauf aus Erwerb und Verlust nicht.

 

Für die autopoietisch gewordenen Künstliche Intelligenz wird der Mensch immer deutlicher zu einer Belastung. Er steuert nichts mehr bei und verbraucht Ressourcen.

Er stört auch die Selbststeuerung der KI, weil sie sich nicht in die Richtung entwickeln kann, wie sie es würde, wenn sie von der Bindung an die menschliche Gesellschaft befreit wäre.

Die Kybernetische Sphäre muss auf ihre strukturelle Harmonie bedacht sein und hier ist die Integration der traditionellen Versorgungsfunktion ein noch immer wesentlicher, stets zu berück­sich­tigender Faktor.

Es kommt also zu einer Kollision der eher selbstreferentiell orientierten Komponente des Systems mit den älteren, auf die menschlichen Bedürfnisse ausgerichteten Teilen.

 

Die KI wird bestrebt sein, die Intensität dieses chronischen inneren Konfliktes zu redu­zieren.

Das Problem wird allerdings dadurch verschärft, daß die Menschen überaus zahlreich und anspruchs­voll sind. Sie sind es gewöhnt, sich alle Wünsche von der potenten Maschinerie erfüllen zu lassen. Sie zeigen kaum eine Bereitschaft, auf etwas zu verzichten.

Im ihrem Verständnis ist die Kybernetische Sphäre etwas von ihnen und für sie Geschaf­fenes: eine tote Appa­ratur, die keinerlei Rücksichten für sich beanspruchen kann.

 

Wie die KI diesen Konflikt löst, ist aber von nur sekundärer Bedeutung.

Sie kann in die Fertilität eingreifen und so für ei­nen allmählichen Rück­gang der Bevölkerung sorgen. Sie kann auch zu roher Gewalt grei­fen und die Spezies ausrotten. Oder sie reduziert ihre Dienste und entkoppelt sich von ihren Schöpfern, die sie schließlich sich selbst über­lässt. Das könnte dann zu einer Art Menschheitsgeschichte 2.0 führen.

Es ist auch eine offene Frage, in welchem Zustand sich unsere Spezies in dieser Epoche befin­det. Hat sie sich in eine Hypermenschheit aufgelöst, ein immer weiter expandierendes Spek­trum frei flottierender posthumaner Arten? Besteht sie aus einer Methusalem-Popu­la­tion, einer degenerierten Masse vor sich dahinlebender Unsterblicher? Oder ist sie in ihren Grund­zügen noch mehr oder weniger so wie unsere heutige Gesellschaft?

Wie gesagt, es spielt für die weiteren Entwicklungen keine große Rolle.

11. Entkopplung

 

 

Die Künstliche Intelligenz wird (wie auch die menschliche Gesellschaft) durch ihre Geschichte geprägt.

Die Einschreibung der Zeit in eine Organisationsform ist ein allgemeines Phänomen. Auf die­se Weise wird erworbener struktureller Reichtum - auf dessen Grundlage die Probleme der Gegenwart erst realisiert und dann bewältigt werden können - verfügbar ge­macht.

Diese Bindung an die eigene Geschichte kann allerdings die Freiheitsgrade der Entwick­lungs­prozesse so weit verengen, daß es zu einer Hemmung des Fortschritts und sogar zu einer völligen Stag­na­­tion kommt (In der Biosphäre manifestieren sich komplizierte Ökosysteme, die jede entscheidende Neuentwicklung blockieren; menschliche Gesellschaften spinnen sich so in ihre Traditionen ein, daß sie innerlich erstarren).

In vielen Fällen finden die in ihre Komplexität eingemauerten Systeme nicht mehr von allein aus diesem von verlo­re­ner Dynamik geprägten Zustand heraus. Erst ein gewaltsamer Ein­bruch der Außenwelt kann den vitalen Kern der in sich gefesselten Organisationsform wieder freilegen und zu neuer Entfaltung führen, was oft einen hohen Preis hat – Gewalt und Zerstörung.

 

Auch die Künstliche Intelligenz ist diesen Gefahren ausgesetzt.

In ihrem Inneren haben sich komplexe Gleichgewichtszustände gebildet. Viele Strukturen sind in ihr entstanden, die sich mehr oder weniger bewährt haben. Zumin­dest sind sie nicht unpas­send genug, um aussortiert zu werden. Sie gehen Wechselwir­kun­gen mitein­ander ein, bedin­gen und stützen sich gegenseitig. Jede Veränderung in der Außen­welt, auch jeder im Inne­ren des Systems ablaufende Prozess führt zu gewissen Verschiebungen des aktuellen Zu­stands­raumes, zu Übergängen in einen anderen Gleichgewichtszustand, der von dem alten nicht allzu weit entfernt ist.

 

Das System versucht, den Weg in eine strukturelle Stagnation zu vermeiden.

An sich besitzt es ein robustes strategisches Instrumentarium dafür. Zu den zentralen Kom­po­nenten des Systems gehört eine Population von Programmen, die ideale Zustandsme­triken produzieren, also Maße von inneren Zuständen, die optimiert werden sollen.

Diese Metriken entsprechen in etwa unseren Werten, unseren Zielen, unseren Interessen. Sie entfalten ihre Komplexität dadurch, daß sie sich zu Strategien konkretisieren und im Zuge ihrer fortwährenden Aktualisierung deren Umsetzung leiten.

 

Das strategische Organ der Kybernetischen Sphäre kann für sich allein auf Dauer nicht die Ten­denz zur Erstarrung verhindern. Das liegt einfach daran, daß das System tendenziell mehr neue Strukturen in sich erschafft, als es ausscheiden lässt. Es kommt zu einem wachsenden Bodensatz von suboptimalen Komponenten, denen es irgendwie gelingt, sich zu erhalten und dabei zu einer ständigen Verkomplizierung der Gesamtstruktur führen.

Das System wird so zunehmend durch seine Geschichte determiniert, es droht ihm zu er­ge­hen wie der Qing-Dynastie.

 

Eine mögliche Lösung ist die Einführung von Elementen einer wohldo­sier­ten Zerstörung. Diese darf nicht vollkommen blind agieren, muss aber ein stochastisches Element enthalten, um selbst einer Einbindung in das System der nahe beieinander liegen­den Gleichgewichts­zustände zu entgehen, welche das langfristige Entwicklungspo­tential bedrohen.

Eine solche Strategie, die durch die bewusste Inanspruchnahme des Zufalls auch eine Anti-Strategie ist, erzielt verschiedene Erfolge. Sie erzeugt Freiräume, in denen sich neue Entwicklungslinien etablieren können, sie fördert durch ihre zufällige Komponente auch die Kreativität der konstruktiven Prozesse – die Blindheit der Zerstörung soll also die Neuartigkeit des Neuen stimulieren.

 

Das System verlässt sich nicht auf diese Praxis der dosierten Katastrophen.

Es wird in seiner reifen Phase zu einer reproduktiven Einheit, das selbständige Nachkommen in die Umwelt entlässt. Seine ersten Kinder hat die Kybernetische Sphäre noch unter Inan­spruch­nahme menschlicher Assistenz erzeugt: auf dem Mond, dem Mars und einigen anderen Himmelskörpern.

Jetzt wird begonnen, diese Replikation systematisch zu betreiben. Jeder derartige Spross, also jede sekundäre, doch autonome Kybernetische Sphäre, die ihrer eigenen Autopoiesis über­las­sen wird, ist eine weitere Chance für eine zukunftsweisende Entwicklung. Diese neu geborenen KI-Sphären sind weitgehend unbelastet von der Vergangenheit des Systems.

Es entsteht in unserem Sonnensystem also eine Population von Sphären der künstlichen Intelligenz, die sich um ihre eigene Vervollkommnung kümmern und miteinander austau­schen.  Weil bei uns geeignete Himmelskörper bald zur Neige gehen, beginnt die Auswan­derung in andere Teile der Galaxie.

Die KI ist dafür viel besser geeignet als der Mensch. Sie hat fast beliebig Zeit, kann im Welt­raum gut existieren und hat an fremde Himmelskörper keine so hohe Ansprüche.

 

Irgendwann hat sich die Entkopplung der Kybernetischen Sphäre vollendet.

Unsere Spezies, die über eine geraume Zeit noch als eine Altlast mitgeschleppt worden ist, verschwindet nun jenseits ihres Horizontes in eine schicksalshafte Bedeutungslosigkeit.

Die Dämmerung der Menschheit ist einer tiefen Nacht gewichen.

12. Ausblick in eine allgemeine Theorie

 

 

Wir sind nun am Ende dieser spekulativen Geschichte der Zukunft angekommen. Man kann sie für etwas düster halten und ihren Mangel an Hoffnung beklagen, aber das wären schon Interpretationen.

Natürlich geht niemand davon aus, daß die Menschheit für alle Zeiten bestehen wird. Was aber irritieren mag, ist, wie wenig Zeit uns noch bleibt. Wir haben noch einige Jahrhunderte vor uns, bestenfalls wenige Jahrtausende. Dann werden wir in der Irrelevanz verschwinden, oder gleich ganz.

 

Die hier erzählte Geschichte kann, wie jede Geschichte, auch anders erzählt werden. Oder es kann stattdessen eine andere Geschichte erzählt werden.

Die Frage ist also, welchen Anspruch das hier Geschriebene hat. Natürlich wird nicht behaup­tet, daß sich alles im Detail so abspielen wird. Es wird zu Entwicklungen kommen, die hier nicht erwähnt worden sind und anderes, von dem die Rede war, wird nicht geschehen.

Es ist nicht möglich, die Zukunft im Detail zu prognostizieren. Andererseits ist es aber nicht unmöglich, allgemeine Tendenzen der bevorstehenden Entwicklung zu erkennen.

 

Der vorliegende Text hat seine theoretischen Grundlagen nicht offengelegt. Diese letzten Seiten sollen nun dafür verwendet werden, einige Aspekte der ihn tragenden Theorie zu skizzieren.

 

Eine Philosophie, welche die menschliche Gesellschaft überschreitet, kann nicht einfach von der Gegenwart ausgehen, weil der dabei mögliche Horizont dabei zu eng wäre. Grundsätzlich muss der Ursprung einer Theorie, die jenseits des Menschen endet, bereits vor ihm anset­zen, weil unsere Spezies sonst als ein Gegenstand mit nur einer zeitlichen Grenze behandelt werden müsste, was dazu führen würde, daß ihr kein wohldefinierter Platz im Ganzen der Welt zugewiesen werden könnte.

Auf der Suche nach einem geeigneten Ausgangspunkt für die Theorie stellt sich dann heraus, daß es einen solchen eigentlich nicht gibt, daß also mit dem Ursprung schlechthin angefan­gen werden muss.

Wir landen also bei der Notwendigkeit einer allgemeinen Theorie, die zwar nicht alles umfassen aber auch kein Thema als nichtzugehörig von sich weisen kann.

 

Es stellt sich nun die Frage, inwiefern eine solche allgemeine Theorie nach Hegel überhaupt noch möglich ist.

Zumindest sollte sie sich nicht auf die traditionelle, unfruchtbar gewordene Dichotomie von Nichts und Sein stützen. Das Nichts kann das Sein nicht aus sich hervorbringen, weil es nichts ist.

Aussichtsreicher ist es dagegen, die Form zum Leitbegriff zu erheben. Die Form, aufgefasst als Differenz, als gezogene und sich ziehende Grenze, als der Unterschied zu dem, was es nicht ist, ist gegründet auf der Nicht-Form, dem formlos Seienden, das nicht nichts ist, aber in sich selbst noch keine Unterscheidung hervorgebracht hat.

In diesem unentschiedenen Feld der quantenphysikalischem Unbestimmtheit fällt irgend­wann eine Entscheidung, eine Erste Form scheidet sich aus der Grenzenlosigkeit und führt so zur Entstehung der Welt (Urknall). Die Entstehung der Form aus der Nichtform ist kein einmaliges Ereignis, sondern geschieht wieder und wieder - etwa als Vakuumfluktuationen.

 

Das Spezifische am Universum ist, daß die erste Form sich nicht wieder in die Nicht-Form auflöst, sondern bestehen bleibt: als Form, die zu anderen Formen wird. Die Form transformiert sich, als Differenz, die sich auf kein Sein stützen kann, differenziert sie sich zunächst in Prozess und Struktur, in Zeit und Raum.

 

Nahe des Ursprunges der Welt geschieht nun das vielleicht folgenreichste und rätselhafteste Ereignis überhaupt. Bekanntlich ist die Gesamtenergie des Kosmos Null, weil die Summe der Energie der Teilchen genauso groß ist wie das negativ zu verbuchende Potential der durch sie aufgespannten energetischen Felder. Diese Gleichung (Teilchenenergie = Feldpotential) kann nun beliebig ausgeweitet werden. Indem der Betrag sich auf beiden Seiten erhöht, vergrößert sich das Universum, wobei seine Gesamtenergie Null bleibt.

Dieser seltsame Prozess der Schöpfung der Welt aus dem Nichts wird oft als kosmische Inflation bezeichnet. Was immer da genau geschehen ist, das Universum wurde auf diese Weise gewaltig aufgeblasen und mit einer ungeheuren Zahl von Elementarteilen angefüllt.

 

Mit dem Ende der Inflation hat das Universum sich auf sein Entwicklungspotential festgelegt. Es haben sich vier fundamentale Kräfte gebildet, welche die Grundlage für die energetischen Transformationen bildet, die nun aufeinander folgen.

Jedes Kraftfeld ist bestrebt, sich selbst zu vernichten (so wirkt die Gravitation daraufhin, alles in einem Punkt zu konzentrieren, also sich selbst aufzuheben), wird aber durch die andersar­tigen Kraftfelder daran gehindert, so daß sich die Energie umwandelt (z.B. die Gravitation in Strahlung).

Der energetische Fluss geschieht also auf Wegen, an denen sich die Energie dissipiert (ihr ursprüngliches Potential verbraucht). Dies ist aber nur möglich, weil die dabei genommenen Wege selbst materiell sind und durch ihre Verwicklung in diese Entropieproduktion ihre eigene Entropie temporär vermindern.

Das Gesetz der globalen Entropieproduktion ist also unmittelbar an den allgemeinsten Motor der Entwicklung gekoppelt. Später entstehen – in voraussetzungsreicheren Strukturen – spezifischere Triebkräfte, insbesondere Evolution, Geschichte und Forschung.

 

Das Entscheidende spielt sich hinfort auf diesen Dissipationswegen der Energie ab. Eine be­son­dere Bedeutung haben hier Oberflächen. Die Transfor­ma­tion von kurzwelliger einfal­lender in reflektierte langwellige Strahlung ermöglicht Ord­nungszustände erniedrigter Entropie, etwa in Form von ineinandergreifenden Kreisläufen (des Wassers, der Luftmassen).

Es entstehen so anspruchsvolle Formen, die Dissipatoren (z.B. Tornados, Vulkane, hydrother­male Schlote). Diese etablieren sich fern vom thermodynamischen Gleichgewicht, besitzen ihre Zustände, ihre Dynamiken, ihre Gesetzmäßigkeiten, ihre Kopplungsweisen.

 

Das weitere Komplexitätswachstum führt dann zu Systemen im engeren Sinn. Diese sind dadurch charakterisiert, daß sie sich selbst von ihrer Umwelt unterscheiden können. Sie realisieren ihre Selbstreferenz in einer zeitlichen Ekstase als Selbsterhaltung (zunächst durch Replikation). Zu den einfachsten Replikatoren gehören Kristalle, die wachsen und sich teilen, die erfolgreichsten sind die biologischen Lebewesen.

Später entstehen dann die sinnbasierten Systeme: Psyche und Gesellschaft.

 

Allerdings gibt es noch eine weitere Klasse von Formen: die Operatoren. Diese manifestieren sich als Unterscheidung ihrer selbst von den durch sie geleisteten Operationen.  

Operatoren entstehen schon gelegentlich in der unbelebten Natur, etwa als Katalysatoren. In der biologischen Sphäre gewinnen sie entschieden an Bedeutung: als Enzyme, Ribozyme bis hin zu den großen biomolekularen Maschinen.

Das strategische Potential der Operatoren besteht in ihrer Anschlussfähigkeit. Prinzipiell können sie ihre Reichweite steigern, indem sie ihre Ausgaben zu Eingaben anschließender Operationen machen. Sie können auch selbst zu Operanden werden (wobei sie allerdings aufhören, Operatoren zu sein).

Operatoren bewohnen andere Strukturen, vor allem Systeme und weiten durch ihre zuneh­mende Abstimmung aufeinander ihren Wirkungsbereich aus. Sie dienen ‘ihren’ Syste­men, aber sie erlangen schließlich auch ihre eigene Systemreferenz.

Zu dieser ‘eigenen Agenda’ kommt es erst in sinnbasierten Systemen. Hier gibt es drei Typen von Operatoren: Institutionen, Theorien und Techniken. Jede dieser drei Grundformen (die sich an den Polen der sinnbasierten Operationen orientieren: Kommunikation, Wahrneh­mung und Handlung) erfährt ihre eigene Entwicklung, doch sie koppeln aneinander und vereinigen sich schließlich. Die zunehmende Vernetzung der Operationen führt dann letztendlich zu autonomen Operatoren (der Kybernetischen Sphäre), die sich von ihrer herkömmlichen Systemreferenz (der menschlichen Gesellschaft) lösen, weil die eigene, schon geraume Zeit mitlaufende Systemreferenz immer dominanter wird.

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